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Das Ende aller Zeiten

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08.04.24 22:41
12 Ab 12 Jahren
Fertiggestellt

Er ging langsam durch sein Viertel, alles war ihm vertraut, nichts war neu und das eigentlich Neue war für ihn, die ungewöhnliche Zeit, in der er durch sein Viertel ging. Es war, als er das Haus verließ, kurz vor vier gewesen. Anfangs hatte er das Gefühl, für die Kühle der Nacht zu leicht bekleidet zu sein. Das hatte sich aber schnell gelegt, er führte das auf das Gefühl der Leere zurück, die sich in ihm breitmachte und alle anderen Gefühle überlagerte. Nach einiger Zeit gelangte er an die Durchgangsstraße, die das Viertel in zwei Hälften teilt. Er überquerte die Straße an einer zu dieser Zeit nutzlos wirkenden Ampel. Trotzdem hatte er geduldig darauf gewartet, bis die Ampel auf Grün sprang. Reine Gewohnheit, seit Kindheitstagen eingeübt. Gemächlich ging er vorbei am Forsthaus in den Wald, sofort umgab ihn absolute Dunkelheit. Selbst beim Überqueren der Autobahn herrsche um diese Zeit relativer Ruhe. Ein Sattelschlepper fuhr mit brummendem Motor unter der Überführung hindurch, als er sich auf dem Scheitelpunkt der Brücke befand. Danach wieder Ruhe und Dunkelheit. Er kam nach einiger Zeit zu einer Stelle, an der zwei Bänke rechts des Weges standen. Auf einer der Bänke ließ er sich nieder. Tagsüber traf er hier oft auf Männer, alle so alt oder fast so alt, wie er selbst, die aber weniger lauffreudig als er waren. Oft hielt er dann zu einem kurzen Plausch an, sprach mit ihnen über dies und jenes, hörte sich ihre kleinen Sorgen und Nöte an, bevor er weiterging. Ihm fiel auf, dass er sich in dieser Nacht das erste Mal auf eine der Bänke gesetzt hatte. Er hatte immer Furcht davor, die sitzenden alten Männer würden seine Energie aufsaugen und ihn damit dazu verurteilen, gemeinsam mit ihnen, schwätzend, die Zeit zu vertrödeln, bis er eines Tages bewegungsunfähig mit Bank und Wald verschmelzen würde. Jetzt, allein in der Nacht, befiel ihn diese Furcht nicht, seine Gedanken waren mit weit entfernten Zeiten beschäftigt, die nie wieder zurückkehren würden; und jetzt war das Ende da, niemand mehr lebte, mit dem er diese Erinnerungen teilen wollte und konnte.

Sie waren früher als üblich zu Bett gegangen, das Fernsehen bot nichts, was ihn und seine Liebe interessierte. So hatten sich noch gemeinsam ein Glas Weißwein gegönnt, hatten sich wie jede Nacht mit immer den gleichen Worten für den nächsten Morgen verabredet, hatten einen Kuss ausgetauscht und ein wenig aneinander gekuschelt. Dann war seine Liebe eingeschlafen und er hatte lustlos ein paar Seiten in einem Buch gelesen, dessen Inhalt ihn kaum interessierte. So hatte er das Licht gelöscht und da er nicht gleich einschlafen konnte, zählte er die Sekunden, die vergingen bis der Rauchmelder über ihm an der Decke erneut blinkte. Immer wieder zählte er gleichmäßig 21, 22, 23…, er wurde nicht mit sich einig, ob der Abstand zwischen dem Aufblinken zehn oder elf Sekunden war. So war er bald eingeschlafen. Er wachte auf, der Grund war ihm nicht klar und horchte in die Dunkelheit. Irgendetwas, das spürte er, stimmte nicht. Anfangs war ihm nicht klar, was ungewöhnlich war. Als es ihm aufging, schaltete er seine Nachttischlampe ein. Ein Blick genügte ihm und ein kurzes Fühlen am Arm seiner Liebe, brachte letzte Gewissheit, die Verabredung für den Morgen entfiel, seine Liebe würde ihn nie wieder anlächeln. Er hatte sicherheitshalber, noch bevor er sich anzog, den Rettungsdienst gerufen, Wohnungs- und Haustür geöffnet und dann auf der Bettkante sitzend, die Hand seiner toten Liebe haltend, auf das Ertönen des Martinshorns gewartet. Nachdem er den Rettungskräften den Weg ins Schlafzimmer gewiesen hatte, hatte er sich Wohnzimmer zurückgezogen und die Fachleute ihre Arbeit machen lassen. Schon nach kurzer Zeit kam der Arzt gemeinsam mit einem Rettungsassistenten aus dem Schlafzimmer heraus. Der Arzt schüttelte den Kopf, als er den fragenden Blick des Mannes bemerkte. Ein weiterer Rettungsassistent erledigte die nötigen Formalitäten, fragte nach der Krankenkassenkarte der Verstorbenen, die der Mann aus ihrer Brieftasche entnahm. Der Arzt fragte nach Vorerkrankungen, der Mann berichtete von ihrer Herzschwäche. Er nickte und stellte den Totenschein aus. Dann wurde es still in der Wohnung, unerträglich still. Eine Zeit lang hatte er, sobald er allein war, hemmungslos geweint. Als die Tränen versiegten, ging er ins Schlafzimmer. Er beseitigte die Spuren, die der Rettungsdienst hinterlassen hatte, dann hatte er seine Liebe hergerichtet. Sie sah jetzt wieder so aus, entspannt in ihrem Bett liegend, wie er sie vorgefunden hatte, als er das Licht angemacht hatte. Er wusste, was jetzt er jetzt zu tun hatte, aber er unterließ es. Ob jetzt oder später, was machte das jetzt noch für einen Unterschied? Er gab seiner toten Liebe einen Kuss, sagte, dass er kurz seine Gedanken ordnen wolle und gleich wiederkäme, dann war er gegangen.

Still und in sich gekehrt, saß er eine Weile auf der Bank. Seine Gedanken kreisten um das Leben, das in dieser Nacht für immer vorbei war. Das Datum, an dem er seine spätere Liebe kennengelernt hatte, was ihm immer noch präsent, obwohl der Tag wenig Bedeutung hatte, schließlich hatten sie sich an diesem Tag nur flüchtig gesehen, hatten sie ihn immer gefeiert. Der Tag, an dem sie erkannt hatten, dass sie für einander bestimmt waren, war der alles entscheidende Tag in ihrem Leben gewesen. Nur ungefähr konnte er sich erinnern, wann das gewesen war. Aber auch dieser Tag war nur einer von vielen. Die Summe aller Tage, die sie gemeinsam verbracht hatten, erfüllte ihn mit einer tiefen Zufriedenheit. Das war ab sofort Vergangenheit, beinahe hätte ihn in diesem Moment die Angst vor der Zukunft überwältigt. Da er jetzt fröstelte, erhob er sich und ging zurück. Die gleichmäßige und monotone Folge seiner Schritte gaben ihm auf dem Heimweg die Zuversicht, dass er genug Stärke hatte, sein weiteres Leben zu gestalten. Wie auch immer der Rest seiner Tage aussehen möge, die Erinnerung an den langen gemeinsamen Weg, den er mit seiner Liebe gegangen war, würde ihn begleiten. Wieder in der Wohnung beugte er sich über den toten Körper seiner Liebe und drückte ihr einen Kuss auf die Stirn. Dann nahm er entschlossen den vorbereiteten Ordner aus dem Schrank. Legte das Schreiben mit den letzten Verfügungen seiner Liebe, die Police ihrer Sterbeversicherung, ihren Personalausweis, ihre Versicherungskarte und ein Kärtchen mit der Telefonnummer des Bestatters nebeneinander auf den Esstisch. All das ließ er erst einmal unbeachtet, die letzten Verfügungen kannte er, Police, Personalausweis und Versicherungskarte waren für den Bestatter und der Bestatter hatte Zeit, warum diesen Menschen im Schlaf stören, schließlich haben Tote keine Eile.

Ihm fielen die letzten Verfügungen seiner Liebe ein, er wusste, was sie wünschte, er hatte versprochen, ihre Wünsche zu erfüllen – keine Trauerfeier und ein anonymes Grab. Ihr war wohl nicht bewusst gewesen, wie schwer ihm der Verzicht auf die Trauerfeier fallen würde. Ihm wurde jetzt klar, er musste hier und jetzt Abschied nehmen. So wollte er die letzten Stunden mit ihr gemeinsam verbringen. Vom Telefontischchen nahm er den Notizblock und einen Bleistift, ging ins Schlafzimmer und setzte sich auf zu seiner Liebe auf die Bettkante. Die Ruhe, der friedlich daliegenden Toten, übertrug sich auf ihn. Akribisch schrieb er die Namen aller, die er unterrichten musste, auf den Notizblock. Als ihm kein weiterer Name mehr einfiel, las er die Liste der Namen seiner Liebe vor, dann nahm er ihre inzwischen erkalteten Hände und hielt diese zwischen seinen Händen geborgen. Oft hatte er ihr so die Hände gewärmt, jetzt tat er es zum letzten Mal. Nach einiger Zeit schmerzte ihm durch die verkrampfte Haltung auf der Bettkante der Rücken. So legte er die Hände der Verstorbenen wieder auf ihren toten Körper, legte sich auf sein Bett und löschte das Licht. Einmal schlief er kurz ein, dann lag er wach. Die Zeit verlief langsam, aber für ihn doch zu schnell, denn es waren die letzten gemeinsamen Stunden. Er hoffte, sie würden nie vergehen. Er setzte sich ein Ziel, um acht Uhr wollte er aufstehen, Kaffee ansetzen, sich für den Tag zurechtmachen und den Bestatter anrufen.

Die digitalen Ziffern des Weckers sprangen auf acht Uhr, noch eine Minute blieb er liegen, dann stand er auf. Seine Bewegungen wirkten jetzt, da endgültig das Ende nahte, bleischwer. Als er die Kaffeemaschine in Gang gesetzt hatte, fiel ihm auf, er setzte die gleichen sechs Tassen Kaffee an, wie er es seit Jahrzehnten getan hatte. Im Bad machte er sich für den Tag zurecht, rief den Bestatter an, zog sich an, füllte Kaffee in zwei Tassen, die er auf ein Tablett gestellt hatte und goss den restlichen Kaffee in eine Isolierkanne. Ganz so hatte er es seit Jahren täglich gemacht. Das Tablett trug er ins Schlafzimmer, stellte eine Tasse Kaffee auf den Nachttisch seiner Liebe, nahm sich die andere Tasse und trank den Kaffee in kleinen Schlucken. Eine Hand ließ er dabei auf den Händen seiner Liebe liegen. Er blieb fast regungslos auf der Bettkante sitzen. Als nach geraumer Zeit der Bestatter die Türklingel betätigte, verabschiedete er sich von seiner Liebe, erhob sich, warf noch einmal einen Blick zurück, ging zur Tür und betätigte den Türöffner.

Alles, was jetzt noch zu geschehen hatte, war unwichtig. Ein paar Unterschriften, einige Fragen beantworten und ein langes gemeinsames Leben war abgewickelt.

Autorennotiz

Die Story ist ist einer der Zeiten entstanden, in der ich von der Angst geprägt war, eines Tages allein da zu stehen. Ich schrieb die Geschichte so, wie ich mir das Ende gewünscht hätte - nicht für mich, für die Frau, die ich liebte. Damals wurde die Krise überwunden. Das wirkliche Ende der Liebe war dramatischer, aber eben glückliche fünf Jahre später.

Das Original dieser Geschichte findet Ihr hier: erzaehlungen.moosecker-hassels.de/text/text_02_pdf.php?v=oeffentliche_adobe&d=leben.pdf

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Klatschkopies Profilbild
Klatschkopie Am 14.10.2022 um 0:32 Uhr
Den Mann, den du in diesem Text beschreibst, möchte man einfach nur in den Arm nehmen und ihn ganz lange an sich drücken. Sehr emotional, sehr ergreifend geschrieben.

Autor

BerndMooseckers Profilbild BerndMoosecker

Bewertung

Eine Bewertung

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Sätze: 81
Wörter: 1.617
Zeichen: 9.350

Kurzbeschreibung

Er findet seine Frau in der Nacht tot in ihrem Bett und versucht mit diesem plötzlichen Verlust umzugehen.

Kategorisierung

Diese Story wird neben Familie auch in den Genres Liebe, Trauriges und gelistet.

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