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Sätze: | 95 | |
Wörter: | 1.365 | |
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Wind blies in mein Gesicht, während ich in die Tiefe stürzte. Ich hatte keine Erinnerung an das, was davor geschah. Selbst mein Name, meine Identität, war mir verschleiert. Wie die Wolkendecke, die ich gleich durchbrechen würde; die wir gleich durchbrechen würden. Denn um mich herum fielen noch andere Leute, die wahrscheinlich auch nicht wussten, was hier gerade passierte. War es überhaupt wichtig? Bald würden wir alle auf den Erdboden klatschen, und dann wäre unser kurzes Leben, in dem es nur den freien Fall gab, zu Ende. Die Ersten waren schon unter mir in den Wolken verschwunden.
Nun war es für mich auch bald soweit. Ich schrie nicht, denn in meinem Inneren hatte sich ein merkwürdiges Gefühl von Resignation breit gemacht. So erwartete ich die Wolkendecke in freudiger Erwartung - wie den Abschiedskuss einer geliebten Person. Ich fragte mich, ob es den anderen Leuten hier auch so ging. Ich lächelte beider Vorstellung, dass uns jenseits dieser ätherischen Mauer ein Paradies erwarten würde.
Während die Wolken mich mit einer nassen Umarmung empfingen, hörte ich höllischen Lärm, der meine Hoffnung auf ein Paradies im Keim erstickte. Nun konnte ich aufglimmende Lichter sehen, die mit ohrenbetäubendem Getöse einhergingen. Das ganze hatte schon etwas Ästhetisches; eine Komposition vom Teufel höchstpersönlich.
Als ich die Wolkendecke vollständig durchdrungen hatte, sah ich es nun klar vor Augen: Wir stürzten gerade mitten durch eine verheerende Luftschlacht. Myriaden von Kampfflugzeugen schossen sich gegenseitig vom Himmel. Sie schienen uns nicht zu beachten, was die Lage aber nicht ungefährlicher machte. So dauerte es auch nicht lange, bis die ersten Unglückseligen von uns entweder in die Schusslinie gerieten oder direkt mit einem der Flugzeuge kollidierten. Direkt unter mir geriet eine arme Frau in einen der Propeller, worauf ich mit ihrem Blut besprenkelt wurde - als wäre ich die Leinwand für irgendein makaberes Kunstwerk.
Es waren nur noch wenige von uns übrig, als wir dieses Äquivalent eines Schlachthauses verließen. Das schien aber nur wie das Herauszögern des Unvermeidlichen. Wir alle würden bald tot sein. Doch es war noch immer kein Boden in Sicht. Passierte das gerade wirklich, oder war ich einem
sehr real wirkenden Traum gefangen? Ich werde jetzt die Augen schließen, und wenn ich sie wieder öffne, werde ich als die Person aufwachen, die ich wirklich bin.
Also kniff ich meine Augen zu. Der Wind, der mir ins Gesicht peitschte, wurde schwächer. Ich begann immer langsamer zu fallen, bis ich auf der Stelle zu schweben schien. Aus Angst, wieder ins Nichts zu fallen, hielt ich meine Augen fest geschlossen. Ich fühlte, wie die Verwandlung um mich herum ihren Lauf nahm. Während die Welt um mich herum neu geformt wurde, fragte ich mich, ob man mich auch neu formen würde. War dieser ganze Prozess eine Art Reset-Knopf für mein Leben? Und war mein altes Leben so schrecklich, dass ich diese Transformation dankbar über mich ergehen lassen sollte?
„Du kannst jetzt deine Augen wieder öffnen, Setzling.“
Erschrocken öffnete ich die Augen und stellte fest, dass ich mich nicht nur auf festem Boden befand, sondern auch in einem riesigen Garten. Soweit das Auge reichte, sah man verschiedenste Blumen, Büsche, Hecken, Bäume und allerhand anderer Pflanzen.
Meine Aufmerksamkeit galt jedoch dieser untersetzten, alten Frau, die mit ihrem Äußeren mit der restlichen Umgebung zu verschmelzen schien. Sie trug ein gelbes, ärmelloses Kleid, was ihr das Aussehen einer auf den Kopf gestellten Osterglocke verlieh. Aus ihren fleischigen Armen wuchsen willkürlich Efeuranken heraus, die sich wirr um ihren massiven Körper schlängelten. Was aussah, wie kurzgeschorene, weiße Haare, waren genauer betrachtet winzige Blütenblätter, wie man sie an Gänseblümchen findet.
„Wer sind Sie?“, fragte ich.
„So viel geht gerade in dir vor, Setzling, und das ist deine erste Frage?“
„Was soll schon in mir vorgehen? Ich bin ein Niemand in Niemandsland. Sie wissen wenigstens, wer Sie sind.“
„Oh, ich weiß, wer ich bin. Ich bin die Gärtnerin. Was dich angeht, du bist nur ein Niemand, weil du dich dazu entscheidest. Und das hier ist ganz gewiss kein Niemandsland. Dies ist mein Garten. Es ist der Boden, auf dem du erblühen wirst, kleiner Setzling, oh ja. Ein nährreicher Boden vollkommen neuer Möglichkeiten, ja, ja.“
„Ich hab keine Ahnung, wovon Sie reden, und weiß auch nicht, warum Sie mich 'Setzling' nennen. Ich will einfach nur nach Hause, wo immer das auch ist.“
„Dein Zuhause gibt es nicht mehr! Es ist fort! Es ist alles fort! Diese Welt ist unsere zweite Chance und du wurdest ausersehen, dich neu zu erschaffen; um diese Welt mit mir neu zu erschaffen.“
Auch, wenn ich mich nicht an mein Zuhause erinnerte, machte mich der Gedanke traurig, dass es fort war. Selbst wenn ich mich an alles erinnern würde, gäbe es nichts, wohin ich zurückkehren könnte … jemals. Meine komplette Vergangenheit war ausgelöscht und ich fühlte mich machtloser denn je.
Als könnte diese Frau meine Gedanken lesen sagte sie: „Trauere nicht um deine sterbliche Vergangenheit, in der du einer von vielen warst. Tritt aus dem Schatten der Bedeutungslosigkeit hervor und man wird dich hier als eine Gottheit verehren.“
Eine Gottheit. War dies mein Schicksal? War ich vom Himmel gefallen, um diesen neuen Ort hier mit zu erschaffen? Das hier ist vielleicht meine einzige Chance mein Selbst zu finden. Und selbst wenn nicht, war ich auf diese Gärtnerin, wie sie sich nennt, angewiesen. Ich war ein blindes Huhn, was entweder geschlachtet oder auf einer großen, grünen Wiese freigelassen werden würde.
„Wie?“, sagte ich.
„Folge mir.“
Bei der ganzen Skurrilität dieses Ortes und der Situation, überraschte es mich nicht, als weitere Efeuranken, Schlangen gleich, unter dem Saum ihres Kleides hervorlugten, um ihrer Herrin als Fortbewegungsmittel zu dienen.
Sie führte mich zu einem monströsen Hügel, der komplett mit Apfelbäumen übersät war. „Wir müssen bis ganz nach oben, Setzling.“
So begannen wir unseren Aufstieg. Ohne weitere Worte mit mir zu wechseln, führte sie mich durch ein Meer von Bäumen. Diese Stille war, angesichts meiner Aufregung, die reinste Folter. Ich glaube, wir waren schon etwa eine halbe Stunde unterwegs, als ich langsam ungeduldig wurde. Meine Frage, wie lang es denn noch dauere, erübrigte sich aber dann, angesichts dem, was mir nun ins Auge fiel: Es war ein weiterer Apfelbaum. Aber er war überhaupt nicht, wie die anderen hier auf diesem Hügel. Dieser hier hatte goldene Blätter und Äpfel von so reinem, glänzenden Rot, dass es Rubine hätten sein können.
„Dies hier ist die Quelle aller Macht, die diesen Garten durchströmt. Koste von einem seiner Früchte und du wirst das bekommen, wonach es dir verlangt.“, sagte die Gärtnerin.
Es war vielleicht Einbildung, aber ich fühlte die Macht dieses Baumes. Es war einfach berauschend. So streckte ich meine Hand aus und pflückte mir den größten und schönsten Apfel, den ich finden konnte. Es war unglaublich, wie glatt seine Oberfläche war; solche Reinheit in meiner Hand.
„Worauf wartest du noch? Du bist nur ein Biss von deiner Bestimmung entfernt!“
Sie hatte Recht. Wahre Götter nehmen sich das, was ihnen zusteht, ohne zu zögern. Also biss ich ein großzügiges Stück vom Apfel ab. Obwohl das der erste Geschmack war, den ich neu kennenlernte, war ich mir doch sicher, dass es das Köstlichste war, was ich je gekostet habe. Mein gesamter Körper surrte und ich spürte förmlich, wie mich die Macht dieses Ortes durchströmte.
Ich wollte gerade etwas sagen, als ich merkte, dass mir der Atem stockte. Alles in mir zog sich zusammen und meine Poren sonderten kalten Schweiß ab. „W-Wa passier mi mir?“, bekam ich noch heraus gepresst.
„Du stirbst, kleiner Setzling.“, sagte diese hinterhältige Hexe, mit einem verschlagenen Grinsen auf ihren Lippen, während ihre Efeuauswüchse um ihren Körper tanzten.
Bevor ich etwas erwidern konnte, wurde um mich herum alles so dunkel, wie das Mysterium meiner verlorenen Vergangenheit.
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