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Den Finger am Puls

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23.06.25 22:26
16 Ab 16 Jahren
Fertiggestellt

Es war damals, als ich etwa fünfzehn war. Ich lebte in einem Heim in Brandenburg, am sprichwörtlichen Arsch der Welt. Besagter Tag war eigentlich ein Tag wie jeder andere - noch. Ich lag in meinem Bett und schaute The Lincoln Lawyer auf Netflix. Nichts besonderes, Alltag eben. Da stand er plötzlich im Türrahmen. Felix. Ein schelmisches Lächeln umspielte seine Lippen. "Martin. Was geht?" Er fragte gan unschuldig, doch das war er nicht. "Nur ne Serie suchten. Und das würde ich gern allein tun", sagte ich resigniert. Sein spielerisches Lächeln verschwand auf einen Schlag. "Wieso so genervt?", wollte er wissen. Doch er wusste es. Jedes Mal, wenn er wie jetzt in meinem Zimmer steht, gibt es gleich stress. Aus völlig unlogischen, banalen oder einfach nicht vorhandenen Gründen. Nun musterte Felix mit gespieltem Interesse mein Bügelbrett, auf dem das Bügeleisen derzeit abkühlte, mit dem ich vor etwa einer Stunde meine Anzüge für das Schülerpraktikum gebügelt habe. Er nahm es hoch. Ein wenig dampfte es noch. Ohne Vorwarnung warf er das heiße Bügeleisen nach mir. Instinktiv duckte ich mich, doch das war eigentlich gar nicht nötig. Felix wirft nämlich wie eine Pussy. "Wenn ich in deinem Zimmer auftauche, hast du gefälligst Respekt zu haben!", warf er mir mit erhobener Stimme entgegen. Das meinte ich: Stress aus irgendeinem unlogischen, banalen oder einfach nicht vorhandenen Grund. Und Respekt? Das meint er doch nicht ernst. Ich hatte absolut keine Lust auf diese Diskussion und begab mich Richtung Flur. Mit erhöhter Geschwindigkeit aber mir meine Panik nicht anmerken lassend eilte ich zu der Treppe, die ins Erdgeschoss und zum Büro der Betreuer führte. Ich kam jedoch nicht sehr weit, eh Felix sich mir in den Weg stellte. "Wo willst du denn hin? Unser Gespräch war noch nicht vorbei. Respekt, Martin. Respekt", sagte er noch einmal mit Nachdruck. Da war es wieder - dieses schelmische Lächeln, dass ich so abgrundtief hasste. Während seiner Worte bewegte er sich langsam auf mich zu, bis meine Brust fast seine berührte. In seinem Kreis schienen diese Alphamännchen-Spiele wohl normal zu sein. In meinem jedoch nicht. Aus diesem Grund stieß ich ihn mit beiden Händen von mir weg. Und blitzschnell eskalierte es ...

Und ich ließ es geschehen: ich steckte einen Schlag nach dem anderen ein. Nicht weil ich nicht anders konnte. Ich habe mir selbst bereits frühzeitig beigebracht, wie man einen Angreifer binnen Sekunden mit nur einem Schlag tötet. Rabbit Punch, Genick, Luftröhre; es boten sich durch mangelnde Deckung seinerseits im Laufe des Geschehens mehr Gelegenheiten als ich zählen konnte. Doch das war es nicht wert, zu töten - noch nicht. Das ganze wäre vorbei, sobald ein Betreuer oder ein anderes Kind hier hoch zu einem der Zimmer wollte und danach würde ich die Wunden einfach kühlen. Fertig. Nachdem Felix einige sehr intensive Schlagsalven abgefeuert hat, stand er auf. Nun hielt er es für eine besonders gute Idee, auf mich einzutreten. Nur den Kopf verschonte er netterweise. Aber weit kam er eh nicht. Denn es bot sich natürlich schnell die perfekte Gelegenheit, ihm die Beine wegzuziehen. Mit einem lauten Knall fiel er hin. Ich rappelte mich auf und setzte meinen Weg zur Treppe fort. Jedenfalls so lange, bis ich es sah: das Messer. Ich erkannte es wieder. Ein brandneues Edelstahl-Steakmesser, rasiermesserscharf. Und eigentlich sollte es sich nicht in Felix' Besitz befinden, sondern in der Küche im Erdgeschoss. Ich blieb stehen und starrte nur auf das Messer. In dieser Sekunde hatte sich für unser beider Schicksal einfach alles geändert. Den Gedanken "einfach Augen zu und durch" konnte ich nun verwerfen. Ab jetzt ging es um alles.

Wir taktierten und musterten den Gegenüber doch ein wenig mit den Augen. Nicht lange, aber genug Zeit, um mir meinen dicken Pullover auszuziehen und ihn mir um den linken Arm zu binden. Und dann ging alles sehr schnell: ich wollte nicht nur passiv agieren, während er mich wie eine Weihnachtsgans aufschneidet, also stürmte ich zuerst auf ihn los. Zweimal versuchte er, zuzustechen. ich spürte das Edelstahl über meinem Pullover am Arm, doch es drang nicht durch.

Plötzlich schaffte er es, mich gegen die Wand zu pressen und das Messer ganz langsam in Richtung meiner Bauchregion zu bewegen. Als ich plötzlich seinen Arm zu fassen bekam. Ich hatte mich zu der Zeit bereits tiefgehend mit der Anatomie des Kampfes befasst, also drückte ich mit meinem Daumen seinen Median-Nerv so fest ein, wie ich konnte. Auf diese Weise schaffte ich es, die Kontrolle über die Hand zu bekommen. Er widerstrebte zwar, hatte aber genau an diesem Punkt durch den Druck auf diesem Vitalpunkt nicht mehr die Kraft, sich aktiv zu wehren, während ich seine rechte Hand immer weiter mit Messerspitze voran auf seine Seite manövrierte. Und dann geschah es: wie in warme Butter drang das Steakmesser in seine Seite ein. Ich musterte ihn und erstmals sah ich in seiner Miene keine Selbstgefälligkeit oder Häme. Für den Bruchteil eines Moments konnte ich die nackte Angst in seinem Gesicht sehen, während er an sich herab sah. Das Blut, das aus der Wunde aussah, war dunkler als es üblich wäre. Wahrscheinlich hatte ich also seine Leber durchstochen. Nach einem kurzen Moment, indem er ungläubig darüber, was gerade passiert ist, seine Wunde gemustert hat, schaute er wieder auf. Wilde Entschlossenheit funkelte in seinen Augen, als er seine beiden Hände um meinen Hals schloss und mich noch stärker gegen die Wand presste. Ich bekam keine Luft mehr und überlegte panisch, was ich tun könnte. Ich habe mich mental auf vieles vorbereitet, aber nicht darauf, dass Felix versuchen würde, trotz eines Messers in der Seite mich zu erwürgen. Nach etwa zwanzig Sekunden fiel mir ein altbewährter Move ein, von dem ich vor einigen Monaten gelesen habe, den ich selbst aber noch nicht einmal am Dummy ausprobieren konnte, bis ich ihn drauf hatte. Also quasi auf gut Glück: ich nahm all die Restkraft, die ich noch besaß und trat so hart ich konnte gegen Felix' Kniescheibe. Ich hörte ein dumpfes Geräusch. Nicht wie beim Brechen eines Knochens, aber es ging definitiv in eine ähnliche Richtung. Felix schrie auf und stolperte Rückwärts. Was ich zu diesem Zeitpunkt gar nicht mehr auf dem Schirm hatte: die Treppe. Direkt hinter uns führte eine Wendeltreppe mit etwa fünfzehn oder zwanzig Stufen ins Erdgeschoss. Felix stolperte zurück. Vor Schmerz konnte er sicher nicht einen klaren Gedanken fassen; das Messer steckt noch immer bis zum Anschlag in seiner Seite und nun habe ich ihm auch noch die Kniescheibe zertrümmert. Und der Adrenalinstoß, dem er nach der Stichwunde ausgesetzt gewesen war, schien ebenfalls nachzulassen. Er war kurz davor, zusammen zu brechen. Doch noch stolperte er panisch rückwärts, bis er die Treppen hinunter fiel. Als er unten ankam, stand sein Arm seltsam ab. Er hatte ihn sich wohl auf dem Weg nach unten gebrochen. Nun kam die gesamte Truppe von etwa sieben bis zehn Kindern, sowie zwei Betreuern angerannt, wahrscheinlich in der Annahme, dass sich hier oben jemand prügelt. Ein Reaktionsvermögen wie ein Toastbrot hat die ganze Gruppe offenbar. Und die verschiedenen Gesichter, die Blicke starr auf Felix' Leiche gerichtet, werde ich nie vergessen. Das gilt übrigens für den ganzen Abend.

Als man sich wieder etwas gefasst hatte, Felix' Puls abgetastet hatte und ich, immernoch im blutgetränken T-Shirt, erläutert hatte, was passiert ist, riefen wir die Polizei. Glücklicherweise wurde ich von den Betreuern in Schutz genommen. Und auch die Tatsache, dass das ganze so lange ging obwohl den Betreuern klar war, dass ich es mit demselben Ausgang viel früher hätte beenden können, sprach eindeutig für mich. Ich war dafür bekannt, mich sehr viel mit solchen Kampfsportarten zu befassen, die sich mehr auf Anatomie als auf Stärke, Muskeln und Gewicht konzentrieren. Ich legte mich da nicht auf eine Sportart fest, es ging mir eher um die Ausführung der Schläge. Und mein anfänglicher Respekt, Felix nicht nach der ersten Schlagabgabe das Genick, die Würbelsäule oder den Kehlkopf zu brechen, kam mir sehr zugute.

Die gesamte Tat der Auslöschung eines Menschenlebens wurde somit zu meinem Glück ohne weitere Folgen für mich als Notwehr eingestuft. Aber bis heute erinnere ich mich aus gutem Grund noch an jedes Detail, jedes Wort, das gewechselt wurde. Einfach alles.

Autorennotiz

Ein menschliches Leben zu beenden, ist eine sehr ernste Angelegenheit. Als ich mit 15 für circa ein Jahr in einem Heim nähe Fehrbellin, Brandenburg war, wurde ich recht bald regelmäßig von einer Person gemobbt. Ohne triftigen Grund. Dem habe ich dann ungestraft und tatsächlich legal ein endgültiges Ende bereitet.

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Sätze: 107
Wörter: 1.442
Zeichen: 8.329

Kategorisierung

Diese Story wird neben Entwicklung auch in den Genres Action, Angst und Tragödie gelistet.