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Sätze: | 71 | |
Wörter: | 1.219 | |
Zeichen: | 6.973 |
Ich weiß, dass er kommen wird! Er wird mit seiner Familie in das Haus nebenan einziehen, das jetzt noch leer steht. Unsere Blicke werden sich das erste Mal an der Auffahrt treffen, wenn ich gerade vom Joggen komme und er einen Karton von der Ladefläche des kleinen Umzugswagens zum Haus tragen will. Wir werden uns verlieben, werden zusammen im Park spazieren gehen, wo er mich das erste Mal küssen wird, werden in die nahen Berge zum Campen fahren, werden abends Pizza essen gehen, uns ein Eis zum Nachtisch teilen und dann werden wir gemeinsam zum Schulball gehen. So wird es kommen! Ich weiß noch nicht, wie er heißen wird, weil Helen sich da noch nicht entschieden hat, aber ich weiß, dass er kommt. Dass er eine kleine Schwester haben wird, die einen Zwerghasen namens Cherry besitzt und dass er gut in Mathe ist und ein wenig kurzsichtig, dass er gerne Pfefferminztee trinkt und Spaghetti isst. Dass alles weiß ich schon. Sie hat es nämlich aufgeschrieben. Helen hat es ganz zu Beginn auf die erste Seite geschrieben, über eine Überschrift, die "Verlaufsplan" heißt. Deshalb bin ich mir so sicher, dass es geschehen wird. Ich muss nur warten - hier, auf Seite Fünfzehn.
Und das tue ich. Ich warte hier auf Seite 15 darauf, dass Helen weiterschreibt. Dass sie Zeit und Muße findet, sich hinzusetzen und die Handlung mit ihrem Stift weiterzuspinnen. Ich muss zugeben, dass ich nun schon lange warte. Die ersten Wochen hat es Spaß gemacht. Ich habe mich in dem Alltag eingelebt, den Helen für mich entworfen hat. Ich gehe jeden Tag zur Schule, habe Mathe und Englisch, Spanischunterricht, nach der Pause Sport, Geschichte und Kunst, gehe dann in meine Laufgruppe, die sich im Schulstadion trifft und laufe meine Runden bis ich dann nach Hause jogge, wo ich dusche und Hausaufgaben mache und dann - dann setze ich mch in der Dämmerung ans Fenster und male mir aus, wie es sein wird, wenn er kommt.
Julius ist nicht so geduldig. Nach ein paar Wochen schon war er übel gelaunt, weil er sich langweilte. Julius geht in meine Klasse, aber weil er nur eine Nebenrolle ist, ist sein Alltag weniger ausgestaltet als meiner und er sitzt den ganzen Nachmittag nur zu Hause herum. Ein wenig Mitleid habe ich mit ihm, aber ich sagte ihm stets, dass er sich nicht so aufführen soll, dass Helen schon bald weiterschreiben wird. Doch ich muss zugeben, dass die Wochen ins Land zogen und nichts geschah. Julius fluchte und sagte, er werde jetzt einfach selbst aktiv werden. Ich lachte ihn aus. Was wolle er denn tun? Er konnte nicht weiter weg, als in die Kleinstadt, die Helen für uns entworfen hat. Er kann keine großen Dinge unternehmen, die weitreichende Folgen hätten, weil Helen die nicht geschrieben hat. Nur Helen kann die Handlung fortführen, kann mit ihrem Stift Dinge in Bewegung setzen, die weitreichende Konsequenzen haben. Doch Julius antwortete, dass ihm weitreichende Konsequenzen egal seien und so begann er, mit irgendwelchen Mädchen an unserer Schule, die nur als Statistinnen oder subsumierte Zahlwörter in der Geschichte auftauschen herumzumachen. Für die Geschichte spielte es keine Rolle, ob sie etwas mit Julius gehabt hatten oder nicht, es würde niemals erwähnt werden. Deshalb ging das. Und weil den Mädchen ebenso langweilig war, ließen sie sich darauf ein. Ich absolvierte indes meine Übungen, meinen Unterricht und mein Training. Die Wochen gingen ins Land und dann die Monate.
Nun ist es fast ein Jahr her. Julius glaubt nicht mehr daran, dass Helen überhaupt noch einmal weiterschreiben wird. Er sagt, sie habe uns vergessen und ich solle endlich aufhören zu warten und es ebenso machen wie er - "alles mitnehmen was geht", nennt er es. Ob er mir zeigen solle, wie es funktioniere, fügte er mit süffisantem Grinsen hinzu. Ich wandte mich von ihm ab. Äußerlich diejenige mit dem festen Glauben, dass es jeder Zeit weitergehen könne. Doch innerlich beschlich mich nun die Angst. Ich spürte sie in meinem Bauch - ein Knoten, der nach oben wanderte und mir heiß werden ließ. Was, wenn er Recht hatte? Wenn Helen nicht weiterschrieb? Wenn sie keien Zeit hatte, sich hinzusetzen und den Stift in die Hand zu nehmen, wenn ihr die Ideen ausgeblieben waren, die Motivation fehlte oder - und dieser Gedanke setzte mir am meisten zu - was, wenn sie das Interesse verloren hatte? Ich wollte weinen, damit meine Nerven sich wieder entspannten, doch es gelang mir nicht. Die Angst blieb in mir. War ich nicht genug gewesen? War ich zu langweilig, zu farblos? Aber ich konnte doch nur mit dem arbeiten, was Helen mir mitgegeben hatte. Die Nacht senkte sich über die Stadt und meine Verzweiflung hatte mich gefangen. Irgendwann - endlich - fing ich an zu weinen, die Verzweiflung kam aus mir heraus und ich tat mir - zum ersten Mal überhaupt - selbst leid. Da wartete ich geduldig Tag für Tag und nichts geschah! Ich tat alles, was Helen von mir wollte - aber sie ließ mich das Ziel, das sie mir versprochen hatte, nie erreichen.
Irgendwann wurde ich wieder ruhig und ordnete meine Gedanken. Welche Möglichkeiten hatte ich nun?
Ich kann hier vielleicht nicht weg, aber ich kann mit dem arbeiten, was Helen bereits entworfen hat. Ich kann in die Bibliothek gehen und dort in den Büchern stöbern, kann eines nach dem anderen mit nach Hause nehmen und mich darin vertiefen. Ich kann alleine in den Park gehen, kann tief durchatmen und den Vögeln lauschen, meinen Fotoapparat mitnehmen und Bilder machen. Ich kann in den Bastelladen der Stadt gehen und Material kaufen, um ein Album zu basteln und dort die Bilder aus dem Park und die Gedanken aus den Büchern einkleben. Ich kann in das Fitnesscenter gehen und einen Yogakurs besuchen, ich kann an der Volkshochschule einen Kurs im Nähen, in Heimwerken, in Erster Hilfe oder sogar in Chinesisch besuchen. Denn Helen hat nicht festgelegt, dass ich eines dieser Dinge nicht kann. Ich kann mit meiner Mutter einen Kuchen backen oder mit ihr Schuhe kaufen gehen, kann meinen Großvater im Altenheim besuchen und bei den wöchentlichen Musikproben meines Vaters zuhören. Ich kann mit meinen Eltern zum Bowling oder zum Pizza essen gehen, ich kann auch ins Kino - und sei es auch allein! Ich könnte sogar mit anderen Figuren aus der Stadt eine Gruppe gründen, die einen Spielplatz baut oder eine Tauschbörse organisert. Denn Helen hat nicht festgelegt, dass ich das nie getan hätte.
Ich werde weiter auf Seite 15 sein, wenn er kommt - aber ich werde nicht mehr diesselbe sein, die noch vor einigen Monaten am Fenster saß und auf ihn gewartet hat. Und wenn er nicht kommt - dann seis's drum!
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