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Von der alten Dame und anderen Geschichten

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15.01.17 15:01
12 Ab 12 Jahren
Heterosexualität
Fertiggestellt


Von der alten Dame und anderen Geschichten


»Und als ich auf meinem Weg zur Küche an der Bibliothek vorbei kam, hörte ich ein Flüstern. Sein oder nicht sein, das ist hier die Frage, als zitiere jemand Shakespeares Hamlet! Da bin ich natürlich etwas neugierig geworden, es war ja spät nachts. Aber als ich die Tür öffnete, war da nichts und niemand! Ich sage dir, Adele, das war wirklich unheimlich«, schloss Emily ihren Bericht und stellte das letzte abgewaschene Glas zur Seite.
Adele griff es sich, um es abzutrocknen. »Ach was«, sagte sie bloß.
»Glaubst du vielleicht, ich lüge? « Emily klang beleidigt.
»Ich glaube, du hast zu viel Phantasie, meine Liebe. Das kommt von den Groschenromanen, die du immer liest. « Obwohl Adele noch recht neu im Haus der Crawfords war, war ihr Emilys Vorliebe für diese Trivialliteratur, insbesondere Schauergeschichten, bereits aufgefallen. »Das was du da gehört hast, war sicher bloß der Wind! «
Das Herrenhaus der Crawfords war alt und bot dem Wind viele Gelegenheiten, um die Ecken zu pfeifen und schaurige Geräusche zu erzeugen.
»Darauf würde ich nicht wetten«, schaltete sich nun auch Evangeline, das dritte Hausmädchen des Hauses Crawford in den Klatsch und Tratsch ihrer Kolleginnen ein. »Ich habe spät nachts auch schon Stimmen und seltsame Geräusche aus der Bibliothek  gehört. Glaub mir, seit Mister Crawfords Tod gehen hier merkwürdige Dinge vor sich…«
Das überraschte Adele. Im Gegensatz zu der überdrehten, kindlichen Emily, wirkte Evangeline auf Adele immer sehr bodenständig und erwachsen. Kaum zu fassen, dass sie solch einen Unsinn glaubte. Sie konnte nicht anders, als den Kopf zu schütteln.
»Wenn du’s nicht glaubst, kannst du Madam Crawford ja den Tee in die Bibliothek bringen«, meinte Emily grinsend und deutete auf den Servierwagen mit dem Tee und dem Gebäck, den Evangeline vorbereitet hatte. »Oder traust du dich nicht? «
Adele hängte ihr Tuch an den Haken und stellte das letzte Glas in den Schrank. »Meinetwegen. «
Als ob ihr diese kindischen Schauermärchen Angst machen könnten. Immerhin lebten sie in einer Zeit des Fortschritts, in der Logik und Wissenschaft jeden Tag über Aberglauben und Furcht triumphierten. Wenn Emily eine völlig unnötige und unsinnige Mutprobe wollte, bitteschön, an ihr sollte es nicht scheitern.

Adele atmete tief ein, als sie nach höflichem Anklopfen die Bibliothek betrat. Der Geruch nach gegerbtem Leder und altem Papier und Pergament drang ihr in die Nase, gemischt mit dem Duft aus der Teekanne, die sie auf dem Servierwagen vor sich herschob und dem harzigen Parfüm der Holzscheite, die im großen Kamin an der Stirnseite des Raumes lagen und als lustiges Feuer vor sich hin prasselten.
Durch die Buntglasscheiben fiel das letzte rot-goldene Abendlicht und malte bunte Flecken auf die Eichendielen, beleuchtete das Jugendportrait der Witwe Crawford und ihres Gatten, welches über dem Kamin hing.
Beinahe hätte das Hausmädchen laut aufgelacht.
Nein, die Bibliothek war auch nach Emilys Schauergeschichten alles andere als beängstigend. Ganz im Gegenteil, diese ganze Atmosphäre war äußerst beruhigend und ließ Adele an einen Abend voller guter, ernsthafter Lektüre denken. Das einzig geisterhafte hier waren die langen Schatten, welche die Möbel auf Boden und Wände warfen.
»Ich bringe den Tee«, erklärte Adele leise, wie es sich gehörte, als sie an den großen, ledernen Ohrensessel trat, in den sich die Hausherrin zu ihrer allabendlichen Lektüre und der letzten Tasse Tee des Tages niedergelassen hatte.
Madam Crawford selbst war eine Frau von kleinem Wuchs und hagerer Gestalt. Das Ölportrait über dem Kamin verriet, dass sie einmal hübsch gewesen war, doch das Alter hatte ihr kastanienbraunes Haar ergrauen und die grün-grauen Augen trüb werden lassen.
Dennoch strahlte Madam Crawford eine Würde aus, die derjenigen der Königin von England  in nichts nachzustehen schien.
»Danke Adele«, sagte sie und sah das Mädchen einen Moment prüfend durch ihre kleinen, runden Brillengläser an.
Adele versuchte währenddessen, sich auf das Eingießen des Tees zu konzentrieren. Sie fühlte sich unbehaglich unter dem Blick der alten Dame.
»Sei doch so gut und zieh noch kurz das Grammophon auf«, wies Madam Crawford Adele an, als sie die Teetasse entgegen nahm.
Das Mädchen nickte und drehte an der kleinen Kurbel um das Federwerk aufzuziehen. Einen Moment später ertönte rauschend die Stimme einer jungen Sopranistin, welche davon sang, sie habe geträumt in marmornen Hallen zu wohnen; eins von Madam Crawfords Lieblingsliedern.
»Ach ja…«, seufzte die Witwe versonnen, »…die Oper…« Sie hielt inne und richtete sich etwas auf, als habe sie soeben eine Entscheidung von großer Wichtigkeit getroffen. »Sag Evangeline, sie soll mir morgen zwei Karten reservieren lassen. Ich hörte, sie spielen Mozarts Zauberflöte und Richard kann etwas Kultur vertragen.« Sie hielt erneut inne. »Ich hoffe, sein Zimmer ist bereit?«
»Natürlich«, antwortete Adele während sie die Öllampe auf dem Beistelltisch entzündete.
Selbstverständlich war alles für den Besuch von Madam Crawfords Enkel Richard bereit. Emily hatte das Zimmer mit solch einem Feuereifer hergerichtet, dass der junge Mann bereits am Mittag hätte einziehen können.
»Sehr gut. Ihr könnt dann auch zu Bett gehen.« Die Witwe schien zufrieden.
»Sehr wohl, Madam.«
So leise wie möglich verließ Adele die Bibliothek.
Madam Crawford blieb allein mit der Erinnerung an ihren lieben, alten Mortimer zurück. Ganz klar schien es ihr makaber, hier zu sitzen und Tee zu trinken, schließlich war ihr Gatte nicht nur in diesem Raum sondern auch exakt in diesem Sessel aus dem Leben geschieden. Doch andererseits war es auch genau dieser abgewetzte Ledersessel, in dem sie sich Mortimer am nächsten fühlte.
Seufzend lehnte sie sich zurück.

Als Madam Crawford erwachte, war die Lampe auf dem Tisch ausgegangen. War sie eingeschlafen? Das war doch überhaupt nicht ihre Gewohnheit.  Wie spät war es eigentlich?
Blinzelnd blickte sie zur Uhr auf dem Kaminsims. Doch das, was sie dort am Kamin sah, erschreckte sie so sehr, dass sie nicht einmal einen Laut von sich geben konnte.
Dort, vom schummrigen Schein der Glut nur spärlich beleuchtet, standen zwei fremde Männer.
Sicherlich Einbrecher, schoss es der alten Dame durch den Kopf. Nun war sie dankbar für den Schreck, der sie in diesem ersten Moment hatte stumm werden lassen.
Die beiden Fremden hatten sie nicht bemerkt und sie hatte auch nicht vor, sich bemerkbar zu machen. Wenn sie still blieb, waren ihre Chancen mit dem Leben davon zu kommen, bestimmt am größten. Man hörte ja so vieles von Raub, Mord und Totschlag. Die Zeitungen waren voll davon.
»In der Tat, höchst bemerkenswert«, hörte Madam Crawford einen der Männer sagen. Es war der Größere von beiden, wie sie mit verstohlenem Blick an der Lehne vorbei erkannte. Mit seinem eleganten Inverness-Mantel, der Deerstalker-Mütze und der Pfeife, wollte er so gar nicht in Madam Crawfords Bild eines Einbrechers passen.
Sein Kumpan, ein mittelgroßer, athletischer Mann, war in einen gut sitzenden Anzug gekleidet und sah ebenfalls eher wie ein veritabler Gentleman, als wie ein niederträchtiger Einbrecher aus. Ja, mit dem Tweed-Jacket und dem intelligenten Blick wirkte er eher wie jemand, der vielleicht Arzt oder sogar Professor an einer Universität sein mochte.
»Höchst geschmacklos, wenn Sie mich fragen«, erwiderte der Kleinere auf die Feststellung des ersten. »Wer sich so etwas aufhängt, kann nicht ganz bei Trost sein.«
Offenbar unterhielten die Männer sich über das Portrait über dem Kamin. Doch bevor sie Gelegenheit hatte, sich angemessen über diese Frechheit zu echauffieren, traf sie der nächste Schreck in dieser Nacht, der Madam Crawford sprachlos machte.
Wo eben noch das Jugendportrait Mortimers und ihrer selbst gehangen hatte, in eben diesem Rahmen, hing nun ein gänzlich anderes Bild. Und die Witwe musste zugeben, dass dieses wirklich durch und durch geschmacklos war.
Eine Schauergestalt mit breitem Grinsen und fast kahlem Haupt, welches Madam Crawford an einen Schädel erinnerte, glotzte aus hervorgetretenen, wässrigen Augen, in denen sich der Wahnsinn zu spiegeln schien, in die Bibliothek. Als wäre der pure Anblick dieses Portraits einer Leiche noch nicht schauderhaft genug, strahlte es etwas aus, was Madam Crawfords Herz einen Moment lang aussetzen ließ, etwas Grausames und ganz und gar Unmoralisches. Und dennoch war die alte Dame auf geradezu abscheuliche Art gebannt von diesem Bildnis des Schreckens. Es besaß eine Lebendigkeit, die ihm das Grauen eines fürchterlichen Unfalls verlieh, bei dem man nicht hinsehen wollte, aber dennoch nicht fähig war, den Blick abzuwenden.
Ja, es schien sogar so, als faulte und rottete die Gestalt gerade jetzt, unter dem faszinierten Blick der Madam weiter, mit jedem Moment etwas mehr.
Je länger die alte Dame hinsah, umso bekannter kam ihr dieses Portrait vor. So seltsam es auch klingen mochte, sie hatte das Gefühl, dieses Bild zu kennen, obwohl sie hätte schwören können, dass sie es in diesem Augenblick zum ersten Mal sah. Und genauso verhielt es sich, wie sie feststellte, auch mit den beiden Gentlemen, welche sich mittlerweile in ein leises Gespräch vertieft hatten; keinen hatte sie je zuvor gesehen und doch kamen sie ihr bekannt vor.
Aus dem Schatten eines wuchtigen Bücherschranks aus Erlenholz, trat nun ein kleines Mädchen, vielleicht gerade zwölf Jahre alt. Adrett war das junge Fräulein anzusehen, ihr blaues Kleid und die blütenweiße Schürze brachten Farbe in die Bibliothek. Doch wo, in Gottes Namen, war die Kleine denn nur so plötzlich hergekommen? Kleine Mädchen wuchsen  schließlich nicht einfach aus dem Boden!
»Verzeihung«, sagte das Mädchen höflich und knickste artig vor den beiden Erwachsenen. »Haben die Herren vielleicht ein weißes Kaninchen gesehen?«
Als wäre es das natürlichste der Welt, mitten in der Nacht in einer fremden Bibliothek von einem kleinen Mädchen nach einem weißen Kaninchen gefragt zu werden, lüpfte der Mann seine Deerstalker-Mütze und erklärte freundlich, dass er nichts dergleichen gesehen habe. Sein Begleiter pflichtete ihm bei.

Madam Crawford war sich mittlerweile ganz sicher, dass sie entweder träumte, oder aber ein klassischer Fall von Altersschwachsinn geworden war. Während sie noch überlegte, ob letzteres bei vollem Bewusstsein dieser Tatsache überhaupt möglich war, betraten schon wieder neue Figuren die Bühne dieses kuriosen Theaters, zu welchem ihr Geist die Bibliothek – aus welchen Gründen auch immer - hatte werden lassen. Aus der Ecke mit dem Erlen-Schrank trat eine ebenso eindrucksvolle, wie auch beklemmende Gestalt, eingehüllt in einen Mantel, der aus Nebel zu bestehen schien. Auf dem Kopf der Gestalt saß eine golden schimmernde Krone, die jedoch den Eindruck machte, von Rost zerfressen zu sein.
Auch Gefolge brachte dieser düstere König mit sich; zwei Frauen, üppige Dirnen, in langen, fahlen Gewändern und mit ebenso langem, grauem Haar, das ihnen ungekämmt von den Köpfen hing.
Aus der gegenüberliegenden Ecke klang derweil das Lachen junger Mädchen hinüber. Leicht bekleidet und mit Pfeil und Bogen bewaffnet, als wären sie geradewegs einer griechischen Sage entstiegen, tanzten sie ausgelassen zwischen den Regalen.
Herrje, Madam Crawford konnte sich beim besten Willen nicht erinnern, wann das letzte Mal so viele Leute, so viel Leben in diesem alten Gemäuer gewesen war.
Einige der Amazonen sahen argwöhnisch zu den geisterhaften Gestalten des Königs und seinem Gefolge hinüber, die sich nun schnurstracks und mit der Eleganz wallenden Nebels auf das Mädchen, das noch immer nach seinem Kaninchen suchte, zubewegten.
Die alte Dame vernahm einen Laut, als säusle der Wind in dürren Blättern, als der König das Mädchen erreichte und erst als das Kind antwortete, erkannte sie, dass es keineswegs der Wind, sondern die Stimme des Königs gewesen war. Wie Madam Crawford aus dem halben Gespräch heraushören konnte, wollte der Unhold aus Nebel das Kind wohl mit sich nehmen – weiß Gott zu welchem Zweck -  und machte ihm allerhand Versprechungen; das Mädchen jedoch lehnte standhaft ab. Doch der unheimliche König bedrängte das arme Ding weiter, kam ihr immer näher, während sie sichtlich ängstlich zurückwich.
Gerade wollte die Gestalt sich auf das Mädchen stürzen, es mitnehmen und sei es auch mit Gewalt, da stand Madam Crawford auf.
»Nun ist aber wirklich genug!«, rief sie zutiefst verärgert.
Was auch immer der Grund für all das sein mochte, einem unschuldigen Kind etwas anzutun, das ging in jedem Fall zu weit!

Für einen Moment war die Szenerie wie erstarrt, aller Augen – selbst diejenigen des schaurigen Portraits wie es schien – waren auf die alte Frau gerichtet.
Wie von weit her erklang der Ruf »Nimmermehr!«, krächzend und heiser wie ein Rabenschrei und eilig verschwand alles Volk aus dem Raum, als habe ein plötzlicher Windstoß die Gestalten weggeweht. Die fantastischen und schaurigen Figuren flüchteten vor der wachen, nüchternen Realität, die sie schlafend geglaubt hatten, verschwanden zwischen Buchdeckeln, versteckten sich in den Seiten.

Alles, was blieb, waren die im fahlen Mondlicht geheimnisvoll schimmernden Titel auf den Buchrücken.
Und mit einem Mal wurde der Madam völlig klar, warum ihr all diese Gestalten so bekannt vorgekommen waren, ohne dass sie je einer von ihnen begegnet wäre. Es waren die Figuren aus den Büchern, die Mortimer und sie selbst hier angesammelt hatten.
Warum war ihr das nicht schon viel eher aufgefallen?
Hatte sie es vielleicht doch geahnt – sei es auch nur unbewusst - und einfach nicht wahrhaben wollen? Schließlich waren zum Leben erwachte Buchfiguren ganz und gar absurd.

Seufzend sank die alte Dame zurück in den Ledersessel, nicht wissend, ob das, was sie gerade gesehen hatte, Traum, Wahn oder doch die Wirklichkeit gewesen war.
»Ach, mein lieber Morty… Das hätte dir gefallen…«, murmelte sie leise.
Ja, die nächtlichen Ereignisse in der Bibliothek wären tatsächlich ganz nach Mortimers Geschmack gewesen, hatte er doch seit jeher ein Faible für das Mystische, Übernatürliche und Unerklärliche. Gerade die Geschichten, in denen sich Realität und Phantasie trafen und so untrennbar vermischten, dass man nicht mehr wusste, wo das Eine aufhörte und das Andere begann, waren ihm die Liebsten gewesen. Ganz zu schweigen von den Berichten von Geistererscheinungen und Séancen, die er regelrecht sammelte.
Mortimer war immer überzeugt gewesen, dass es mehr in der Welt gab, als Mensch und Wissenschaft verstehen konnten.

Oh, natürlich hatte Madam Crawford die anderen Damen tuscheln gehört, wenn sie sich zu Bridge und anderen Kartenspielen trafen. Selbst niedere Bedienstete verbargen ihren Klatsch und Tratsch besser als die meisten Damen und Herren von Stand.
Schon in jungen Jahren hatte Mortimer den Ruf eines schrulligen Phantasten, der den Boden der Tatsachen nicht mehr sah, weil er mit dem Kopf in den Wolken schwebte.
Eigentlich hatte niemand so recht verstanden, wie sich eine hübsche und durch und durch ernsthafte junge Dame, wie Madam Crawford es damals gewesen war, sich auf solch einen hoffnungslosen Traumtänzer hatte einlassen können. Dennoch  waren alle der offenkundigen Meinung gewesen, dass es vielleicht ganz gut so war. Die Gesellschaft hatte geglaubt, die junge Miss könnte Mortimer etwas zur Vernunft bringen. Doch erstaunlicherweise geschah eigentlich eher das Gegenteil: Mortimer brachte Magie und Chaos in das vernünftige, geordnete Leben der jungen Frau. Und zu ihrer eigenen Überraschung gefiel es ihr.
Sie mochte, dass Mortimer die Welt zuweilen mit den Augen eines übergroßen Kindes betrachtet hatte.
Wenn jemand Stein und Bein schwor, einen Geist gesehen zu haben, verurteilte er diese Person nie vorschnell und tat es als Hirngespinst ab, sondern schenkte der Behauptung Glauben, bis zweifelsfrei etwas Anderes bewiesen werden konnte. Auch das hatte ihr an ihm gefallen.
Und entgegen der allgemeinen Meinung ging Mortimer sogar höchst wissenschaftlich vor, wenn er sich mit seinen unerklärlichen Phänomenen beschäftigte. Selbst das Sterben hatte er mehr als eine Forschungsreise, eine Entdeckerfahrt in eine andere, geheimnisvolle Welt betrachtet.

Die Erinnerung an ihren Gatten trieb der alten Dame die Tränen in die Augen. Nach diesem merkwürdigen Erlebnis war die Trauer um Mortimer frisch und schmerzhaft wie am ersten Tag. Es war, als sei eine alte, verheilt geglaubte Wunde unerwartet aufgebrochen und hätte wieder begonnen zu bluten.
Bald war alle Würde von der kleinen Gestalt Madam Crawfords gewichen und die alte Dame weinte wie ein müdes Kind, das keinen Schlaf finden konnte.

»Aber, aber Mylady, wer wird denn weinen?«
Sie sah erschrocken auf, als sie eine eisig kalte Hand auf ihrer Schulter fühlte und die Stimme mit dem starken, osteuropäischen Akzent hörte.
Der Mann, zu dem Hand und Stimme gehörten war groß, geradezu beängstigend ragte er über der kleinen Madam auf, und ausgesprochen dünn.
Madam Crawford war selbst hager, aber dieser Fremde übertraf sie noch bei weitem, als hätte er seit Jahren nichts mehr zu sich genommen. Sein Gesicht war alt, die Haut wächsern und eingefallen, als wäre er gerade einer Gruft entstiegen, doch der Griff um ihre Schulter wirkte alles andere als gebrechlich.
Der Fremde lächelte. Es wirkte hinterhältig auf die Madam, in seinen Augen funkelte Gier und schließlich offenbarte er zwei monströse Fangzähne.
Madam Crawfords Gedanken überschlugen sich. Dieser Fremde, war er etwa auch eine literarische Figur? Der Schurke aus dem Vampir-Roman dieses verrückten Iren vielleicht? Und was noch viel wichtiger war: Drohte ihr von diesem Wesen ernsthafte Gefahr?

Sie war dankbar, dass sie keine Gelegenheit bekam, es herauszufinden, denn ein Retter in der Not war bereits zur Stelle.
Die schlanke Klinge eines Degens schob sich blitzschnell zwischen die ungleichen Gestalten, bevor die Fänge des Unholds auch nur in die Nähe von Madam Crawfords Hals kommen konnten. Sie gehörte einem jungen Recken mit breitkrempigem Hut mit Feder und einem alt-blauen Waffenrock, auf dem ein weißes Kreuz thronte.
Mühelos erkannte die alte Dame den Helden des Abenteuerromans, den ihre beiden Söhne, James und Viktor, immer so gerne gelesen hatten.
»Scher dich zurück nach Transsylvanien, wo du hingehörst!«, bluffte der Junge selbstbewusst und sein französischer Akzent ließ keinen Zweifel an seiner Herkunft.
Tatsächlich ließ der Vampir fauchend von der Madam ab, verbarg sich in den tiefen Schatten der Regale.
»Danke sehr«, brachte die alte Dame noch immer erschrocken und schluchzend hervor.
Der Junge zog schwungvoll seinen Hut und vollführte eine tiefe Verbeugung. »Stets zu Diensten, Madame.«
Zwischen den Büchern im Regal hinter ihm, lugten neugierig und zugleich scheu einige Feen und Kobolde zu Madam Crawfords Sessel. Sie konnte auch einige der Amazonen zwischen den Regalen am Kamin hervor spähen sehen. Offenbar hatte sie die Wesen sehr erschreckt und das tat ihr zutiefst leid. Sie räusperte sich.
»Bitte verzeihen Sie, Ladies und Gentlemen«, setzte sie nicht laut, aber in der Stille der Bibliothek gut hörbar, an. »Es war keines Falls meine Absicht, Sie zu verscheuchen. Allerdings war ich nicht darauf gefasst, heute Abend einer so außergewöhnlichen Versammlung beiwohnen zu dürfen. «
Hinter einem Regal nahe der Tür erklang vielstimmiges Gekicher und schließlich traten einige blumengeschmückte Mädchen zögernd hervor. Vermutlich Nymphen aus griechischen Sagen oder dergleichen. Tanzend umkreisten sie die Hausherrin in ihrem Sessel, noch immer argwöhnisch, doch bald leichtfüßig und sicher, dass von der alten Dame keine Gefahr drohte.
Alsbald löste sich eine von ihnen aus dem Ringelreihen. Ihr blondes Haar war von weißen Lilien bekränzt und ihr Gewand dunkel und glänzend wie das Gefieder des stattlichen Raben, der sich auf der Athene-Büste auf dem Kamin niedergelassen hatte und alles argwöhnisch und hoheitsvoll im Blick hielt.
Auffordernd reichte sie der Madam die Hand.
Die alte Dame überlegte nicht lange, denn wie oft hatte man wohl, egal ob in Wahn oder Wirklichkeit, die Gelegenheit mit Nymphen zu tanzen?
Als Madam Crawford die Hand der Nymphe ergriff, begab sich einmal mehr höchst seltsames, denn zusehends wurde aus der alten Frau wieder ein junges Mädchen. Der strenge, von der Zeit graugefärbte Dutt wurde wieder zu kastanienfarbenen Locken, ihre Augen wurden klarer und aus dem hageren Leib wurde der zierliche Mädchenkörper, den das Jugendportrait zeigte.

Von der Verwandlung berauscht und beflügelt, ließ sie sich von den Nymphen zu wildem Tanz hinreißen und vergaß ihren Kummer schnell.
Nunmehr lachend drehte sie sich mit den Mädchen aus Fabeln und Mythen im Kreis, bis sie endlich eine Stimme vernahm, die ihren Namen rief: »Clementine. «
Sie wandte sich um und dort, am Kamin, die silberne Taschenuhr seines Vaters in der Hand, stand kein anderer als ihr Mortimer, ebenfalls in verjüngter Gestalt.
Augenblicklich ließ Clementine die Hände der Nymphen los und lief auf ihren Gatten zu, schmiegte ihre Wange an seine Brust.
Nie war sie glücklicher gewesen, ihn zu sehen. Wie aus weiter Ferne, hörte sie die literarischen Figuren jubeln, als er sich zu ihr beugte und sie küsste.
Zu der Flötenmusik von Faunen und dem dumpfen Takt eines Herzschlags, der seinen Ursprung unter den Dielen haben mochte, feierten Clementine und Mortimer das wohl außergewöhnlichste und großartigste Fest, das die altehrwürdige Bibliothek je gesehen hatte.

Im Osten erwachte der Morgen, als der Rabe auf dem Kaminsims erneut sein heiseres »Nimmermehr« rief und das erste Licht des neuen Tages wischte ihn hinfort, ebenso wie das unglückliche Mädchen, das sich am Kamin den Dolch ihres toten Liebsten ins Herz stieß. Die Nymphen und die Faune vergingen, die Nachmahre und Vampire flohen zurück in ihre Schauerromane und schließlich wischte das Morgenrot auch Clementine und Mortimer fort; trug sie hin zu silbernen Ufern und Palästen aus Glas und Gold und vom Spuk der Nacht blieben nur Staub und Asche im Kamin.


Zaghaft klopfte Adele an die Tür der Bibliothek.
Als Evangeline berichtet hatte, dass Madam Crawfords Bett unberührt gewesen war, hatte sie sogleich den Verdacht gehabt, dass die alte Dame wohl in der Bibliothek eingeschlafen war. Als keine Reaktion von drinnen folgte, stieß Adele die Tür vorsichtig auf.
»Madam Crawf…« Sie beendete die Frage, die sie begonnen hatte nicht, stattdessen stieß sie einen kurzen Schrei aus, der Emily und Evangeline veranlasste, zu ihr zu eilen.
»Großer Gott! «, stieß Evangeline, die Adele über die Schulter sah, aus.
Emily hingegen konnte nicht an den anderen beiden Hausmädchen vorbei sehen. »Was ist denn los? «
Einen Moment standen Evangeline und Adele wie erstarrt wo sie waren, dann jedoch fasste Adele sich ein Herz und betrat den Raum.
»Ach du meine Güte«, entfuhr es nun auch Emily.

Dort, vor dem Sessel lag die Gestalt der Madam auf dem Boden und regte sich nicht.
Adele trat an den Körper des Hausherrin heran, kniete sich nieder und tastete nach dem Puls der Madam. Doch es war zwecklos, die alte Dame war längst tot. Als wäre ihr Herz beim Aufstehen einfach stehen geblieben, lag Clementine Crawford kalt und steif auf den Dielen. Adele schüttelte den Kopf.
»Was machen wir denn jetzt? «, fragte Emily unsicher.
»Am besten gehst du Herrn Richard entgegen, Emily«, meinte Evangeline gefasster als sie aussah, »und versuchst, ihm den Verlust seiner Frau Großmutter so schonend wie möglich beizubringen. Adele, du gehst und rufst den Bestatter. Und ich werde…« Sie hielt nervös inne. »…ich weiß noch nicht, was ich werde, aber mir fällt schon was ein.«
Evangeline scheuchte die Mädchen aus der Bibliothek.
Auf der Schwelle sah Adele sich noch einmal um und lauschte in die morgendliche Stille. War da nicht ein Geräusch, wie von einem Herzschlag zu vernehmen? Dumpf und langsam, als käme es aus dem Boden?
Einen letzten Moment lang hielt sie lauschend inne, dann schüttelte sie den Kopf. So ein Unsinn, das war bestimmt nur Einbildung.
Leise zog sie die Tür hinter sich zu und der Rest war Schweigen.

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Kurzbeschreibung

Schon lange Tuscheln die Hausmädchen, dass in der Bibliothek des Hauses Crawford des Nachts Unheimliches vor sich geht, seit Hausherr Mortimer Crawford verstorben ist. Als die Witwe Crawford schliesslich eines Abends entgegen ihrer Gewohnheit in der Bibliothek einschläft, wird sie Zeuge eines aussergewöhnliches Schauspiels.

Kategorisierung

Diese Story wird neben Trauriges auch in den Genres Historik, Mystery, Schmerz & Trost gelistet.

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