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Killerviren

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06.10.23 18:55
16 Ab 16 Jahren
Fertiggestellt

Leuvenhook verdrehte den Hals und schaute neugierig in den Automatischen Postschacht hinauf. Er sah nur eine Reihe von Ketten, in deren reichlich eingefettete Glieder einige Zahnräder griffen. Doch diese Räder standen still und auch weiter oben, in der Finsternis, war keine Bewegung zu erkennen.

Leuvenhook vergewisserte sich anhand seiner Notizen und des Schildes eben dem Postschacht noch einmal, daß er an der richtigen Stelle stand. Hier sollte er ein Päckchen in Empfang nehmen, das für die RingOrsta 27 bestimmt war, eine medizinische Versuchsstation des Royal Ministry of War and Imperial Affairs. Tatsächlich erwartete er hier die erste WIA-Sendung seiner bisherigen Laufbahn, obwohl der Raum-Transport dieser Sendungen doch den Kurierschiffen der RSN vorbehalten war.

Im Schacht knirschte es und Leuvenhook riskierte wieder einen Blick. Langsam kamen die Zahnräder in Bewegung, bewegten die Ketten und die daran kardanisch aufgehängten kleinen Gondeln, die die Postsendungen enthalten mußten. Leuvenhook zog den Kopf zurück, als die Gondeln auf ihn zukamen. Doch er mußte wieder warten. Die Räder waren jetzt in voller Bewegung und eine nach der anderen wanderten die Gondeln in ziemlichem Tempo an der Öffnung vorbei, vor der Leuvenhook stand, weiter in die Tiefe. Doch schließlich kamen die Räder quietschend wieder zum Stillstand, und diesmal hing eine Gondel genau vor der Öffnung. Und die Gondel trug auch die richtige Nummer, stellte Leuvenhook erfreut fest. Der Verbindungsoffizier der Dragon zückte seinen Dienstschlüssel und öffnete den Metallkasten. Darin lag ein mittelgroßes Päckchen, schon etwas verknautscht und mit rundgestoßenen Ecken. "Spec.7523, via RoPo et RSN-Kurier" stand darauf, der Adressat "RingOrsta 27", der Absender "RM-WIA, Institut de lavage de cereveau, Terra". Der gelbe Warnaufkleber besagte: "Warning, Actung!! Zerbrecen moeglic!! Infection moeglic!!" Der Zustand des Päckchens ließ Leuvenhook erwägen, dem WIA vorzuschlagen, seine Sendungen zukünftig nur per Kurier und nicht per RoPo zu schicken. Vorsichtig schüttelte er das Päckchen, aber es war kein verdächtiges Klingeln von Scherben zu vernehmen.

Die Zahnräder und Ketten im Automatischen Postschacht 77-a ratterten wieder los, als Leuvenhook durch die Flure der Robot-Post zurück in die Wartehalle von Luna-Port wanderte.

*

Unter einem Arm das Päckchen, unter dem anderen das zusammengerollte Plakat, das er in der Wartehalle erstanden hatte, betrat Leuvenhook die 'Postbox' der Dragon. Der Zweite Funker, den Leuvenhook während seiner Dienstzeit für gewöhnlich kaum zu Gesicht bekam, saß auf dem einzigen Stuhl der Funkkabine, hatte die Ohrhörer des Lastrefu auf und machte kleine Zeichen auf einem Papierzettelchen.

Midshipman Mallah sah auf, als das Türschloß einschnappte, tippte sich zum Gruß kurz an die Stirn und lauschte dann wieder auf die Stimme aus dem Lastrefu.

Da Leuvenhook nicht an die Postfächer kam, solange sein Kollege den Stuhl besetzte, stellte er das Päckchen auf die Ablage vor das Radio, das Plakat legte er auf den Lastrefu. Er wartete mit seiner Frage, bis die Durchsage beendet war und Mallah ihre Notizen vervollständigt hatte. "Wer führt?"

Mallah überflog den Zettel. "So wie es bisher aussieht, Cambridge. Aber Reading liegt dicht dahinter. Und die Saison hat ja gerade erst begonnen."

"Na, dann habe ich ja das richtige Plakat gekauft", freute Leuvenhook sich, entrollte das besagte Plakat und zeigte es stolz der Reading-University Absolventin, mit der er den Arbeitsplatz teilte. Es war die Vergrößerung eines Zielfotos und zeigte Readings Olympischen Herren-Achter in voller Fahrt.

"Wow!" bewunderte Mallah. Dann suchte sie Klebestreifen, um das Plakat an die Wand über den häßlichen Fleck zu kleben, den die ätzende Säure einer breitgeschlagenen Drachenfliege hinterlassen hatte und der bisher allen Versuchen, ihn hinter einer Schicht Farbe verschwinden zu lassen, widerstanden hatte. Gemeinschaftlich befestigten MSM und CPO das Plakat, dann trat Leuvenhook ein Stück zurück, um die Wirkung zu prüfen und stieß sich den Ellbogen.

Von einem zarten Klirren begleitet fiel das Päckchen des WIA zu Boden.

Als Leuvenhook das Päckchen aufhob, hatte es schon eine feuchte Stelle. Zumindest einer der Probenbehälter mußte zu Bruch gegangen sein. Leuvenhook und Mallah sahen das Päckchen und dann einander an.

Der Zweite Funker ließ zwischen den Zähnen heftig einen Gutteil ihres Lungeninhalts entweichen. "Von der WIA, ja?" fragte sie dann und schaute noch einmal auf das Päckchen, "und ansteckend?"

Leuvenhook war nicht ganz wohl in seiner Haut. "Das muß ich wohl melden", gestand er sich und Mallah ein. Mit der nun allerdings wohl überflüssigen Vorsicht, die beim Umgang mit zerbrechlichen Gütern angemessen war, legte Leuvenhook das Päckchen in Fach 44 und schloß es ein.

Mallah drückte sich an ihm vorbei zur Tür. "Ich hab Feierabend und bin schon seit zehn Minuten gar nicht mehr da", sagte sie im Hinausgehen.

*

Nachdem Leuvenhook dem Kapitän über die Gegensprechanlage zur Brücke mitgeteilt hatte, daß ein beschädigtes Päckchen der WIA in der 'Postbox' lag - ohne im einzelnen auszuführen, wie es zu dieser Beschädigung gekommen war - bemühte sich der Kapitän in die Funkkabine. Er bat Leuvenhook, ihm die Postsendung zu zeigen. Mit gerunzelter Stirn besah er sich die Beschriftung und den feuchten Fleck, der inzwischen einen Durchmesser von etwa sieben Zentimetern hatte. Leuvenhook erhielt das Päckchen zurück zur Verwahrung und der Kapitän strich sich einige Minuten schweigend über das bärtige Kinn.

"Machen sie mir eine Verbindung mit der medizinischen Forschungsabteilung des WIA,  CPO. Verlangen sie den Mikrobiologen Doktor Wang", sagte der Kapitän dann und lehnte sich mit verschränkten Armen an den Schrank mit den Postfächern. Leuvenhook beeilte sich, den Lastrefu zu bedienen.

Doktor Wang war für den Kapitän der Dragon zu sprechen, der Kapitän ergriff das zweite Micro und stellte den Lautsprecher an. Nach ein wenig Smalltalk kam der Kapitän zur Sache. "Was weißt du über Spec.7523?"

"Specimen 7523?" vergewisserte sich Doktor Wang. "Die 75er laufen bei uns unter 'Killerviren', ein übles Zeug. Mal sehen... 7520, 21, 23: Präparat im Versuchsstadium", las Wang vor und murmelte dann etwas vor sich hin. "Um es kurz zu machen...", sagte er dann, "...Verbreitung der Viren durch die Luft, Inkubationszeit zwei bis drei Tage. Die Viren sind allerdings instabil, sie bleiben an der Luft nur etwa eine Stunde virulent und ein infizierter Proband ist nicht ansteckend. Das sind die üblichen Sicherheitsvorkehrungen bei Versuchspräparaten." Im geschlossenen Atmosphäre-System der Dragon reichte allerdings schon eine halbe Stunde, bis die Viren im ganzen Schiff verteilt waren.

"Und wieso 'Killerviren'", fragte der Kapitän nach.

Doktor Wang grunzte eine chinesische Unflätigkeit in sein Micro. "Diese Information ist geheim - und das weißt du!"

"Wir haben hier ein beschädigtes Päckchen mit einigen Probenbehältern von Specimen 7523", erklärte der Kapitän geduldig. "Wenn die Beschädigung durch die Robot-Post nicht länger als eine Stunde zurückliegt, habe ich ein kontaminiertes Schiff. Und ich würde doch gerne wissen, mit welchen Symptomen ich bei meiner Mannschaft zu rechnen habe."

Die Verwünschung, die Wang von sich gab, hatte Leuvenhook schon einmal in der Mannschaftslatrine der Princess of Orange gehört, doch er hätte niemals gedacht, diese Worte einmal über einen Lastrefu der Royal Space Navy vernehmen zu müssen. Seinem Gesichtsausdruck nach verstand auch der Kapitän Balinesisch. "Es gibt keinen Grund, persönlich zu werden", wies er seinen Gesprächspartner milde zurecht.

Doktor Wang hatte sich wieder etwas beruhigt. "Nach meinen Unterlagen ist Specimen 7523 ein Produkt des Instituts für Gehirnwäsche. Dort werden auf das Gehirn wirkende Substanzen für den Kriegseinsatz hergestellt. Für eine gewisse Fernwirkung werden diese Substanzen auch in Viren eingeschleust... und die Bezeichnung 'Killerviren' bezieht sich natürlich auf die Art der Wirkung der aktiven Substanz..."

"Weiter", ermunterte der Kapitän den Arzt, als die Pause sich ausdehnte.

"Nungut. Die aktive Substanz von Specimen 7523 blockiert die Tötungshemmung - deswegen 'Killerviren'... was die Symptome betrifft, so kann ich dir allerdings auch nicht weiterhelfen. Dazu steht hier nichts. Offenbar gab es noch keine in-vivo-Tests von Specimen 7523. Es ist durchaus möglich, daß die Einschleusung in das Trägervirus zu der einen oder andern Mutation geführt hat. Die Ausgangssubstanz jedenfalls hat in einer Gruppe von Menschen ausgesprochen blutige Folgen."

"Was ist mit Gegenmitteln?" fragte der Kapitän wieder.

"Nichts bekannt."

"Na, dann wollen wir mal hoffen, daß die Viren bereits inaktiv waren, als sie an Bord kamen... hab ganz herzlichen Dank." Der Kapitän beendete die Funkverbindung, legte das Micro beiseite und drehte sich zu Leuvenhook. "Wann ist ihnen der feuchte Fleck an dem Päckchen aufgefallen, CPO?"

"Einige Minuten nachdem ich an Bord kam, Sir", antwortete Leuvenhook wahrheitsgemäß. Er hielt es nicht für erforderlich zu erwähnen, daß das Päckchen den 'finalen' Stoß erst an Bord der Dragon erhalten hatte.

*

Zweieinhalb Tage später erreichte die Dragon den Ring. Die Besatzung war noch vollständig und bisher war es auch zu keinerlei Zwischenfällen handgreiflicher Art gekommen. Allerdings vermißte die Kajütengenossin von MSM Mallah seit dem Morgen eine kleine persönliche Preziose. Und beim Frühstück war Leuvenhook zum ersten Mal aufgefallen, wie verführerisch die goldene Uhr des Cheffunkers funkelte.

Als Leuvenhook das Päckchen mit Specimen 7523 auf der RingOstra 27 dem zuständigen Lieutenant aushändigte, war der feuchte Fleck inzwischen getrocknet. Wäre er gefragt worden, hätte der CPO Auskunft über die Art der Mutation der 'Killerviren' geben können, deren aktive Substanz nicht mehr zur Blockierung der Tötungshemmung führte, sondern eher eine gewisse Ambivalenz gegenüber definierten Besitzverhältnissen erzeugte.

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Wenn doch mal eine Postsendung beschädigt wird...