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Die Regenwolken hingen tief über der bleigrauen Oberfläche der Schelde, in der sich die auf der anderen Seite des Flusses stehenden, ebenso grauen Gebäude der Hafenverwaltung spiegelten. Es würde wohl nur noch Minuten dauern, bis es begann zu regnen. Ich drehte mich zum Tisch, um das Glas wieder zu ergreifen, dann schaute ich wieder hinaus. Was für ein beschissener Tag war das bisher - der Abschluß einer beschissenen Woche... eines beschissenen Monats. Immerhin beendete dieser Tag das bisher ebenso beschissene Jahr noch nicht, aber viel blieb am 30. September davon nicht mehr.
Das goldgelbe Wunder, das ein Drittel des Glases füllte, umfing mich mit seinem Vergessen verheißenden Aroma, bevor ich den Rand wieder an die Lippen legte und den Flüssigkeitsspiegel langsam meinem Mund näherte. Das war der letzte Rest aus der Flasche. Ich versuchte, das leichte Brennen auf der Zunge ganz auszukosten, bevor ich dem flüssigen Feuer erlaubte, durch meine Kehle zu rinnen. So bald würde es keinen neuen geben - echten Jamaika-Rum, aus echtem Zuckerrohr. In keinem Geschäft der Provinz hatte ich bisher etwas ähnliches gefunden. Leider würde der Klient, der mir die Flasche vor Jahren als Dank für meine Diskretion geschenkt hatte, kaum plötzlich mit einer neuen vorbeikommen.
Der Regen trommelte so plötzlich an die Fenster, das ich zusammenschrak und fast etwas von dem guten Zeug vergoß - ein Wolkenbruch wie ein Meteroidenschauer. Die Tropfen flossen zu kleinen Bächlein zusammen, die an der Glasscheibe herunterliefen und sich rasch zu Strömen verbreiterten. Die Fenster strahlten nun eine winterliche Kälte aus, die mich etwas frösteln ließ. Der Rum würde mich hoffentlich wieder wärmen.
"Ähermm", räusperte sich da jemand hinter mir.
Nicht das Glas fallen lassen, ging mir durch den Kopf. Ich presste die Finger um die glatte Oberfläche und drehte mich zu dem Ankömmling.
Da stand eine fast unförmig zu nennende Gestalt vor meinem Schreibtisch, gehüllt in einen schätzungsweise drei Nummern zu großen und damit fast bodenlangen schwarzen Regenmantel mit einer ausladenden Kaputze. Die Tür des Büros wurde durch den Schließmechanismus gerade wieder sanft ins Schloß gedrückt. War ein Teil des Prasseln das Klopfen an meiner Bürotür gewesen? Nur gut, daß ich die Tür nicht abschloß, wenn ich im Büro war.
Ich stellte gemächlich das Glas auf den Tisch und versuchte, den Eindruck zu erwecken, gerade eine Art kreativer Pause eingelegt zu haben. "Was kann ich für Sie tun, äh...", und das war es dann mit der Professionalität. Verbarg sich ein Mann oder eine hochgewachsene Frau in dem Mantel. Durch das Zwielicht sah ich im Schatten der Kaputze nur kurz zwei aufblitzende Flächen; auch noch eine Sonnenbrille, wie es schien, da wollte jemand auf keinen Fall erkannt werden.
"Meine Person tut nichts zur Sache", erklang eine wohlmodulierende Frauenstimme in gepflegtem Französisch. "Ich bedarf Ihrer Dienste in einer delikaten Angelegenheit", ergänzte sie dann.
Ich erhob mich, ging um den Tisch und rückte ihr den Klientenstuhl zurecht. "Nehmen Sie doch bitte Platz, meine Dame."
Ihr Mantel klaffte beim Sitzen unter dem letzten Knopf etwas auseinander und erlaubte den Blick auf schlanke Beine in einer schlichten, schwarzen Hose, deren Enden säuberlich in die Schäfte der an den Füßen steckenden, ebenfalls schwarzen, halbhohen Gummistiefel, schätzungsweise Größe 40, gefaltet waren. Sie war allerdings von Kopf bis Fuß noch völlig trocken.
"Ich habe gehört, Sie haben auch überregionale Verbindungen", begann die Dame, bevor ich um den Tisch zu meinem Stuhl gehen konnte.
Ich stützte die Hände und die Hälfte meines Gesäßes auf der Schreibtischkante ab und nickte: "Das stimmt. Je nach Entfernung muß ich Sie jedoch bitten, bereits bei Vertragsschluß eine Anzahlung auf meine zu erwartenden Spesen zu leisten." Schon weil ich mir aktuell sonst nicht mal eine Fahrt in die nächste Stadt leisten konnte.
Sie wischte das mit einer kurzen Bewegung ihrer schlanken, schwarz behandschuhten Rechten beiseite. "Selbstverständlich."
Die Sonne kam zögerlich wieder heraus und erhellte mein Büro so weit, daß ich unter der Kaputze ein helles, wohlgeformtes, aber nicht mehr jugendliches Kinn und dezent geschminkte Lippen erahnen konnte.
"In welcher Art ist Ihr Anliegen 'delikat', wie Sie sagten?" wollte ich wissen. Lieber ruppig wirken, als plötzlich einen Auftrag an den Hacken zu haben, der einen um die halbe Welt führte.
"Es darf darüber nichts ruchbar werden." War das die Antwort auf meine Frage?
"Absolute Verschwiegenheit ist die Kernkompetenz meiner Firma", erklärte ich und hoffte, es hatte nicht zu pikiert geklungen.
"Ich mache mir keine Sorgen um _Ihre_ Verschwiegenheit", stellte sie klar, "aber ich gehe davon aus, daß auch andere Personen in vielleicht notwendige Nachforschungen eingebunden werden müssen." Oha, das klang sowohl aufwendig als auch... interessant. "Sie wollen, daß ich jemanden für Sie ausfindig mache?" fragte ich hoffnungsvoll. Dann sollte ich besser keinen Pauschalpreis sondern eine Bezahlung nach Stunden verlangen. Damit würde zumindest das Jahr vielleicht noch die Kurve kriegen können - von 'beschissen' zu 'erträglich'.
Die Dame löste den Druckknopf der rechten Außentasche ihres Regenmantels und reichte mir einen daraus gezogenen Briefumschlag. Blitzte da eine zarte Goldkette um ihren Hals auf?
Auf dem verschlossenen Umschlag stand der Name des Empfängers, mit blauer Tinte auf das hochwertige, leicht strukturierte Papier geschrieben, aber keine Adresse, nur eine mit Bleistift ergänzte Notiz von der selben Hand: 'MarsOrsta II'. Ich konnte nicht verhindern, daß mir der Unterkiefer herunterklappte. Ausgerechnet.
Kein Wunder, daß sie nicht erkannt werden wollte. Auch wenn der Krieg mit dem Mars seit siebzehn Jahren beigelegt war, war das Verhältnis zwischen der Marsrepublik und dem Empire nicht das Beste, und insbesondere private Kontakte galten noch immer als zumindest anrüchig. Wenn es sich bei dem Adressaten, dessen Name nicht nach einem Marsianer klang, tatsächlich um einen Bürger des Empires - vermutlich aus der Provinz Noordzee - handelte, und er sich nicht auf der imperialen MarsOrsta I, sondern auf ihrem marsianischen Gegenstück aufhielt... "Ich gehe davon aus, das sie mich nicht aufgesucht hätten, wenn der Adressat nicht ein Bürger des Empires wäre", stocherte ich nach.
"Ein RSN Offizier", hauchte die Dame, ihr Stimme schien plötzlich etwas belegt.
Ein Royal Space Navy Offizier! Das wurde ja immer schöner. Die Vernunft gebot, spätestens an diesem Punkt den Auftrag abzulehnen. Aber unterhalb der großen, dunklen Gläsern der Sonnenbrille reflektierte nun etwas im Sonnenlicht, was eine die Wange herunterlaufende Träne sein mochte.
Um die offiziellen RSN-Nachrichtenkanäle zu benutzen, hätte sie den Brief nur auf der anderen Straßenseite in den RSN-Briefkasten werfen müssen. Name und Dienstgrad hätte gereicht, um den Adressaten sicher zu erreichen, selbst auf dem Mars. Für die Beförderung wäre aber die Angabe einer Absendeadresse obligatorisch gewesen. Im Zweifelsfalle hätte sie seinen Dienstgrad im nächsten RSN-Büro in Erfahrung bringen können, auch dort hätte sie allerdings ihren Namen und ihre Adresse angeben müssen...
"Und sie können den Brief nicht einfach regulär befördern lassen?" vergewisserte ich mich.
Sie seufzte etwas zittrig, jetzt wiesen beide Wangen glitzernde Spuren auf, aber sie behielt ihre aufrechte Sitzposition. "In dem Falle hätte ich mich nicht an Sie gewandt", erklärte die Dame mit definitiv belegter Stimme.
Das war eine Herzensangelegenheit! Wenn das Weinen Theater war, war sie eine begnadete Schauspielerin, die nicht alles gab, denn die Körpersprache gehörte für eine überzeugende Darstellung schließlich dazu. War es kein Theater, dann hatte sie lebenslange Übung im Haltung bewahren. Das sprach für den Adel und damit war auch klar, warum sie ihren Namen und ihre Adresse nicht angeben konnte: niemand durfte etwas von der Verbindung zwischen dieser Frau und dem Empfänger des Briefes wissen. Jetzt mußte ich über diese vermutete heimliche Liebesbeziehung ebenfalls seufzen. Aber den Preis würde das nicht senken.
*
Ich fuhr mit dem Zug nach Amsterdam, um mir in der dortigen Botschaft ein Visum für den Mars und seine Territorien zu besorgen. Da es ein geschäftlicher Aufenthalt werden sollte und ich zwar den über alle Maßen umständlichen Aufwand und die Reisedauer wenig schätzte, aber als Transportunternehmer im Dienst bisher nie Probleme mit den imperalen oder marsianischen Behörden wegen eines Besuches gehabt hatte, konzentrierte ich mich auf die gute Seite des Ganzen: eine so hohe Bezahlung, daß aus dem 'beschissenen' ein 'ordentliches' Jahr werden würde. Die gut sechzig Prozent Anzahlung hatte ich in Form eines übertragbaren Wechsels der GZC erhalten, deren Verrechnung von meiner Bank anstandslos akzeptiert wurde. Auch hier hatte meine Klientin ihre Spuren verwischt, denn diese Art von Wechseln stellte die Genetische Züchtungs Cooperation jährlich zu Tausenden für ihre Dividendenempfänger im ganzen Sonsyst aus, um die Gebühren interplanetarer Bankgeschäfte zu vermeiden. Da die GZC allerdings zum größten Teil von Geldgebern aus dem Adel finanziert wurde, konnte ich es damit wohl als gesichert ansehen, daß es sich bei der hilfesuchenden Dame um ein Mitglied des terranischen Adels handelte.
Wenn mein Kontakt in der marsianischen Botschaft Dienst hatte, konnte ich neben der Beantragung des Visums auch versuchen herauszufinden, ob sich wirklich ein RSN Offizier auf MarsOrsta II aufhielt. Bevor der Aufenthaltsort des Empfängers nicht durch mehr als eine Bleistiftnotiz verifiziert war, war die Reise ins Sonsyst ein zu hoher Aufwand. Da für meine nach Stunden und Spesen bezahlende Klientin der Flug zum Mars den größten Posten ausmachen würde, wußte sie meine Entscheidung sicher auch zu schätzen. Notfalls würde ich ihr über die Telefonnummer der Maastrichter Immobilienverwaltungsgesellschaft, die sie mir zur Kontaktaufnahme nach Abschluß des Auftrages gegeben hatte, den Abbruch des Auftrages mitteilen und ihr die Anzahlung abzüglich der bis dahin gerechtfertigten Zahlungen erstatten - so weh mir das tun würde.
Um 11 Uhr wurde ich an den Schalter vorgelassen. Damit hatte ich tatsächlich eine gute Chance, meinen Kontakt zu treffen, denn er pflegte im Café im Lichthof der Botschaft Punkt 12 Uhr sein Mittagessen einzunehmen. Ich blätterte durch die mir bekannten Seiten des Formulars, machte meine Häkchen und Einträge an den passenden Stellen und stutzte auf der vorletzten Seite über einen per Stempel ergänzten Zusatz zum Geldungsbereich des Visums: 'Keine Gültigkeit für MarsOrsta II'.
"Genosse, hier muß ein Fehler vorliegen", sprach ich den Visumsbeamten hinter der Glasscheibe des Schalters an und drehte die Seite mit dem Stempel in die für ihn richtige Richtung. "Ich wollte ein Visum für einen geschäftlichen Besuch in der marsianischen Volksrepublik. Wie soll das gehen, ohne die MarsOrsta II zu besuchen? Fast alle marsianischen Betriebe haben ihre Außenhandelsbüros auf der Orsta."
So wie der Mann die Augen verdrehte, hatte er diese oder ähnliche Fragen in letzter Zeit wohl öfter beantworten müssen. "Nein das ist kein Fehler, Genossin. Besuche auf der MarsOrsta II sind bis auf Weiteres nicht möglich. Aber ich darf Sie beruhigen, sämtliche Außenhandelsbüros haben aktuell eine Dependance auf MarsOrsta I, und selbstverständlich können Sie auch die Verwaltungssitze aller Betriebe in Elysium besuchen, es wurde ein Shuttle-Dienst zwischen MarsOrsta I und dem Mars eingerichtet."
"Ist das eine vorübergehende Sperrung oder ist der Besuch der MarsOrsta II für längere Zeit nicht möglich", erkundigte ich mich. Immerhin handelte es sich bei dieser sogenannten Orsta um ein demilitarisiertes Kriegsschiff der Marsmarine, das seit dem Friedensschluß '27 geostationär seine Runden um den Planeten zog. Vielleicht mußte nach siebzehn Jahren einfach einmal etwas repariert werden.
"Ich kann Ihnen keine Auskunft darüber geben, wie lange MarsOrsta II nicht freigegeben ist, Genossin. Wollen Sie trotzdem ein Visum, oder hat es sich damit erledigt?"
Besser haben als brauchen, wie man so sagt. "Nein, ich wünsche das Visum auch unter diesen Voraussetzungen. Die ganze Sache hat mich nur ein wenig verwirrt." Hoffentlich hatte mein Kontakt heute Dienst. Ich füllte den Rest aus, unterschrieb und reichte dem Botschaftsbeamten dann das Formular. Er kontrollierte alles und streckte dann noch einmal die Hand aus. "Ihren Paß bitte, Genossin. In einer halben Stunde können sie ihn mit dem Visum wieder abholen. Selbstverständlich können sie die Wartezeit auch in unserem Café im Lichthof verbringen."
Ich nickte, überreichte den Paß und verließ die Schalterhalle in Richtung Lichthof. Es war zehn vor 12, und ich beglückwünschte mich zu meiner perfekten Planung.
Im Café bestellte ich einen Marsianischen Tee und ja, ich weiß was sie jetzt denken. Aber in der Botschaft bekommt man für wenig Geld den guten Stoff. Der schmeckt ein bißchen wie Assam mit Grünteearomen, also die Richtung Gunpowder. Der im sonstigen Empire erhältliche ist eher der Ausschuß, den die Marsianer selber nicht wollen. Kein Wunder, das der auf Terra nur wenig Liebhaber hat - und im Rest des Sonsyst wird er auch nur getrunken, weil er viel billiger ist als die Tees von Terra.
Als mein Tee kam, war es Punkt 12. Jetzt mußte nur noch mein Kontakt... und da kam er auch schon. "Guten Tag, Genossin Koskinen", begrüßte ich sie, bevor sie sich einen Tisch aussuchen konnte.
Sie kam gleich auf mich zu und reichte mir die Hand. "Frau Willems, schön sie wieder einmal zu sehen. Darf ich Sie auf ihren Tee einladen?"
Ich nahm dankend an, sie ließ sich einen der fertig angerichteten Teller aus dem Servierwagen neben der Kasse geben und bestellte auch einen Marsianischen Tee für sich. Als sie sich mit ihrem frugalen Mittagessen aus Salat, Käse und den auf der Erde seltsam fehlfarbig wirkenden Marsbrot zu mir setzte, begann sie gleich die Konversation. "Sie wollen wieder einmal meinen schönen Planeten besuchen?"
Ich freute mich, daß sie es mir so leicht machte, lächelte sie an und nickte. "Ich habe mich bei der Beantragung meines Visums allerdings gewundert, daß aktuell offenbar MarsOrsta II gesperrt ist. Ich hoffe, das ist nicht wegen eines Unfalles sondern wegen routinemäßiger Wartungsarbeiten."
"Ja, alles Routine, sie müssen sich keine Sorgen machen. Sie ist ja auch gar nicht allgemein gesperrt, zur Zeit gibt es nur keinen zivilen Flugverkehr zwischen MarsOrsta II und dem Mars."
"Ach, soetwas wie ein Manöver?" konnte ich mir nicht verkneifen.
"Aber nein, natürlich nicht. Die MarsOrsta II ist entmilitarisiert, das wissen sie doch. Aber sie ist natürlich auch prädestiniert als ungestörtes, diplomatisches Parkett." So wie sie mich dabei anschaute, mußte das der Schlüssel zum Ganzen sein. Sie würde mir so öffentlich sicher keine detaillierteren Informationen geben, aber ich hatte ja noch andere Kanäle.
"Es ist sehr beruhigend zu hören, das MarsOrsta II so sicher ist, daß sich unser beider Regierungsvertreter jederzeit dorthin begeben würden, Genossin Koskinen."
Sie grinste breit. "Nicht wahr?" Dann bewegten wir uns in dem Gespräch in seichtere Gewässer - sie fragte nach meiner Auftragslage und ich nach ihren Kindern.
*
Zurück in Antwerpen nutzte ich die vom Nachmittag verbliebene Zeit, noch ein wenig tiefer in der MarsOrsta II-Angelegenheit zu bohren. Ein Besuch des RSN-Archivs schien mir ein guter Anfang, um etwas mehr über den Adressaten des Briefes, den ich überbringen sollte, herauszubekommen. Wenn er sich wirklich auf MarsOrsta II aufhielt, würde über seine Person vielleicht auch klar werden, was genau auf dem 'diplomatischen Parkett' der MarsOrsta stattfand - und wie ich selbst eine Freigabe dafür erhielt, um den Brief zu übergeben.
In der Straßenbahn versuchte ich, die das Mars-Empire-Verhältnis betreffenden Schlagzeilen der letzten Wochen zu rekapitulieren. Es gab Gerüchte über Pläne eines neuen Handelsvertrages zwischen dem Empire und Mars. Außerdem hatte es erste Schritte bei der gemeinsamen Aufarbeitung der Kriegsverbrechen während des Marskrieges gegeben. Die Organisation der notwendigen Vorarbeiten für die längst überfälligen Untersuchungen der auf beiden Seiten verübten Untaten mochte tatsächlich eine Sperrung der Orsta rechtfertigen - oder es fand sogar schon ein Prozess statt. Aber gehörte der RSN-Mann zu einem terranischen Militärgericht, war er Zeuge, Angeklagter oder Betroffener? Oder einfach nur ein Wachmann, der mit anderen für die Sicherheit sorgte?
Es regnete wieder, als ich aus der Straßenbahn stieg. Ich schlug den Mantelkragen hoch und lief über die Straße unter das Vordach des RSN-Archivs. Gerade kamen ein paar der dort arbeitenden Beamten heraus, spannten angesichts des stärker werdenden Regens ihre Schirme auf und beschwerten sich über das Wetter. Für einen Moment war ich versucht, in ihre Klagen einzustimmen, aber dann fiel mir ein, warum ich hier war - und daß ich zur Erfüllung meines Auftrages etwa sieben Wochen in Kapseln aus Plastic und Metall verbringen würde, in denen nicht einmal die Luft natürlichen Ursprungs war. Unwillkürlich atmete ich tief die feuchte, im Gegensatz zum Vortag bereits herbstlich, nach gefallenem Laub riechende Luft ein. Wie verzweifelt mußte man sein, wenn man der Erde für Jahre oder vielleicht sogar für immer den Rücken kehrte, um nach monatelanger Reise durch das Sonsyst im Ring zu versuchen, sein Glück zu machen? Aber ich hatte ja selbst schon mit dem Gedanken gespielt.
Noch ein tiefer Atemzug und auf diese Weise gewappnet gegen die trockene Archivluft, durchschritt ich die automatische Glas-Schiebetür in das hell erleuchtete Foyer. Ich gab meinen Mantel an der Garderobe ab, meinen Benutzerausweis mit Lichtbild am Empfang und fuhr dann mit dem Paternoster hinauf in Stockwerk 4, zu den 'Buchstaben G bis L'. Ich hatte den - wahrscheinlich - vollständigen Namen des Mannes, doch wie viele Vincent Cornelis Leuvenhooks mochte es in der RSN geben?
Erfreulicherweise hatte ich mir zu viele Sorgen gemacht. Es gab einen Vincent Aaron, einen Vincent Baltazar und es gab einen Vincent Cornelis Leuvenhook. Der war '04 auf Terra, wie vermutet in der Provinz Noordzee geboren. Seinen 40. Geburtstag hatte er vor zwei Monaten gehabt. Bei der RSN hatte er, genau vor zweiundzwanzig Jahren, am 01.10.'22 seinen Dienst an Bord der RSS Prinses van Oranje als Hilfsfunker angetreten. '24 wurde er auf die RSS Dragon versetzt, zunächst ebenfalls als Hilfsfunker, dann als Verbindungsoffizier und später auch mit protokollarischen Aufgaben betraut. '32 der Wechsel ins Diplomatische Corps der RSN, auf Empfehlung aus dem Stab der kaiserlichen Schwester! Seit '40 war er der Leiter der Diplomatischen Kommission der RSN zur Normalisierung der Imperialen Beziehung zum Mars. Da hatte jemand die richtigen Leute in der richtigen Art und Weise auf sich aufmerksam gemacht. Die geheimnisvolle Dame, die mir den Brief zur Auslieferung übergeben hatte, mochte auch aus dem Stab der kaiserlichen Schwester kommen.
*
Die Verwaltung des Antwerpener Raumhafens, die 'Hafenbehörde', kontrollierte seit ihrem Bestehen den Umschlag der Handelsgüter zwischen Terra und Mars. Die findigen Beamten hatten schon kurz nach der Unabhängigkeitserklärung der ehemaligen terranischen Kolonie das 'Konsulat für systweiten Handel' auf dem Mars gegründet, um diesen Handel nicht zum Erliegen kommen zu lassen. Und wie es der Zufall wollte, leitete meine Schulfreundin Saskia das antwerpener Büro des Konsulates. Da mein kleines aber feines Transportunternehmen natürlich vereinzelt auch den Versand von Handelsgütern zum Mars übernahm, kannte ich tatsächlich viele Mitarbeiter der Hafenbehörde und des Konsulates, denn wir hatten einander, insbesondere in den schwierigen Zeiten vor der Anerkennung der Unabhängigkeitserklärung durch Terra, auch gegenseitig... unterstützt. Sicher wußten die Konsulatsmitarbeiter etwas über die Arbeit der Diplomatischen Kommission der RSN zur Normalisierung der Imperialen Beziehung zum Mars, denn der Handel war ja ein wesentlicher Teil dieser Beziehungen.
Ich fuhr also mit der Straßenbahn wieder in Richtung meines Büros, stieg eine Station vorher an der Hafenbehörde aus und suchte kurz vor Dienstschluß noch Saskia auf. Nach unserer üblichen, herzlichen Begrüßung fragte ich unverblümt: "Warum ist MarsOrsta II eigentlich zur Zeit gesperrt?"
"Die Konferenz zur Ausarbeitung eines neuen Handelsvertrages zwischen Mars und dem Empire werden dort stattfinden", erklärte sie. "Stand das nicht auch schon in der Zeitung?"
"Nicht sehr konkret - und definitiv nicht mit einer Ortsangabe", war ich sicher. "Meinst du es ist möglich, einem dort involvierten Diplomaten in einer Pause mal einen Brief zuzustecken?"
"Keine Chance. Das ist eine geschlossene Gesellschaft." Saskia schüttelte den Kopf, aber dann hielt sie nachdenklich damit inne. "Allerdings ist auch unser Konsulat an der Konferenz beteiligt, und Du bist Logistikerin... Ich könnte Dich zur Sonderkonsulin für logistische Angelegenheiten machen. Dann kannst du mit jedem beliebigen der beteiligten Diplomaten auch gemeinsam Mittagspause machen und einen Brief übergeben."
"Naja, bevor ich mich auf den Weg zur MarsOrsta mache, möchte ich sicher sein, daß sich die Person, für die der Brief gedacht ist, auch tatsächlich dort befindet. Aber wenn das der Fall ist, nehme ich Dein Angebot sehr gerne an."
Saskia lächelte. "Es tut mir so leid, daß ich heute in der Sache allerdings nichts mehr für Dich tun kann, erst morgen ab 9 Uhr wieder. Ich habe jetzt Feierabend." Tatsächlich stand ihre Aktentasche mit den metallenen Haken für die Anhängung am Gepäckträger des Fahrrades schon auf dem Tisch. "Bitte mach doch das Licht aus, wenn Du gehst - aber laß die Finger von der Liste auf meinem Schreibtisch."
Ich wünschte ihr einen schönen Feierabend und ließ meinen Blick im Hinausgehen über die höchst komfortabel aufgefächerten Seiten der Teilnehmerliste der Konferenz auf Saskias Schreibtisch schweifen. Unter der Überschrift 'Diplomatische Kommission der RSN zur Normalisierung der Imperialen Beziehung zum Mars, während der Konferenz ständig anwesend:', stand 'Commander in Space V.C.Leuvenhook' an erster Stelle. Und natürlich machte ich auch das Licht aus.
*
Als frisch ernannte Sonderkonsulin und damit Konferenzteilnehmerin kam ich in den Genuß einer Reise auf Kosten des Empires, kein Visum benötigt: Hinflug mit RSN Kurier RSS Hermes, als Direktflug von Lunaport zur MarsOrsta II, Abflug von Lunaport am 3. Oktober, planmäßige Ankunft auf MarsOrsta II am 13. Oktober, einen Tag nach dem planmäßigen Start der Arbeitsgruppe Logistik; Abflug planmäßig am 27. Oktober mit RSN Kurier RSS Zephyr, einen Tag nach der planmäßigen Übergabe der Ergebnisse der Arbeitsgruppe Logistik an den federführenden Leiter der Diplomatische Komission der RSN CS Leuvenhook, planmäßige Rückkunft in Lunaport am 7. November; RSN-Shuttledienst zwischen Antwerpen und Lunaport für Hin- und Rückflug inklusive.
Das war natürlich viel komfortabler - und sehr viel schneller -, als eines der Linienschiffe, mit dem ich allein für den Hinflug zur MarsOrsta I fünfundzwanzig Tage gebraucht hätte. Für meinen Klienten würde es so ebenfalls preiswerter werden, da die Auslagen für den Flug entfielen und es insgesamt weniger Tage im Sonsyst waren, aber das bereits bezahlte Visum würde ich natürlich trotzdem in Rechnung stellen, ebenso wie die Gebühr, die ich für die Ernennung zur Sonderkonsulin entrichten durfte. Insgesamt waren mit der Anzahlung auf diese Weise bereits fast 92 Prozent der nach dem aktuellen Stand der Dinge tatsächlich anfallenden Kosten beglichen, da natürlich auch die Verpflegung für die Konferenzteilnehmer inklusive war.
Ich hatte einen halben Tag, alles für die Reise und die Konferenz zu packen und erhielt von Saskia noch einen dicken Ordner mit Unterlagen zu den Minimalforderungen des Handelsbüros an die Ausgestaltung der logistischen Details des neuen Handelsvertrages - und zu einigen wünschenswerten Ergänzungen. Auf dem Flug hatte ich genügend Zeit, Saskias Material gründlich durchzuarbeiten. Und es war wunderbar, auf der gesamten Reises wie eine wichtige Persönlichkeit behandelt zu werden: die Abholung mit einer chauffierten Luxuslimousine zum Raumhafen, das Nachtragen des Gepäcks bei jedem Transportwechsel, und schließlich sogar das Warten der RSS Hermes auf mich, da das avisierte Shuttle wegen eines Maschinenschadens ausfiel und erst Ersatz besorgt werden mußte.
Ich war der einzige Konferenzteilnehmer an Bord der RSS Hermes, hatte eine Kabine für mich allein und genoß einfach den Flug, nachdem ich mich auf meinen Auftrag bei der Konferenz vorbereitet hatte. Es war schon fast unverschämt von mir, für diesen Luxus auch noch meinen Auftraggeber zur Kasse zu bitten. Aber sie würde es wohl verschmerzen können. Tatsächlich konnte ich mich durch die bevorzugte Behandlung, wie sie laut den Operetten und Lichtspielen den gewöhnlich adligen Diplomaten stets zuteil wurde, selbst wie eine 'richtige' Diplomatin fühlen.
*
Ich stieß am 13. Oktober nach einem ereignislosen Flug gut vorbereitet und in bester Stimmung zu der bereits seit einem Tag zusammensitzenden Arbeitsgruppe, zu der sowohl auf imperialer als auch auf marsianischer Seite tatsächlich einige Bekannte von mir gehörten. Ich wurde auf den aktuellen Stand gebracht und tat bei den Verhandlungen mein Möglichstes, zumindest die Minimalforderungen des Handelbüros in allen logistischen Belangen durchzusetzen.
Die Begrüßung der Arbeitsgruppen durch CS Leuvenhook am Abend des 11. Oktober hatte ich natürlich verpaßt, aber am Abend des 13. wurde mir, wie einigen anderen Nachzüglern, noch eine schriftliche Einladung zu einer Soirée am 16. Oktober überbracht, die die pünktlich eingetroffenen Diplomaten bereits bei der offiziellen Begrüßung erhalten hatten. Um Abendkleidung wurde gebeten. Ab dem Morgen des 14. Oktober versuchte ich also in jeder freien Minute, ein passendes Abendkleid zu besorgen, da ich das eine, das ich besaß, nicht auf meine Reise mitgenommen hatte. Alle Firmenbüros und Geschäfte auf MarsOrsta II waren aufgrund der Konferenz geschlossen und verlassen, aber es bestand ja vielleicht die Möglichkeit, MarsOrsta I dafür aufzusuchen. Doch es stellte sich heraus, das die Konferenzteilnehmer, bis zu ihrem jeweils geplanten Abflug, gewissermaßen unter Quarantäne standen. Ich hatte nur deswegen noch an der Konferenz teilnehmen können, weil eine bis zu vier Tage verspätete Anreise bei den Vereinbarungen der Konferenzrahmenbedingungen vor zwei Jahren vertraglich festgeschrieben worden war, so daß auch unplanmäßige Verzögerungen durch technische Probleme der Raumschiffe abgedeckt wurden.
Am Abend des 15. bekam ich schließlich den Hinweis, daß der Protokollattaché der Konferenz in meiner Sache vielleicht helfen konnte. Der Mann war ein schon recht betagter Marsianer in einer sich kaum von den Felduniformen seiner Heimat unterscheidenden, rotbraunen Uniform, der zu meiner Schilderung des Problems zunächst nur weise nickte. Dann strich sich schweigend mehrfach über den Schnauzbart.
Da die Marsianer gewöhnlich Pragmatiker sind und viele zeremonielle Gepflogenheiten Terras daher auch bewußt ad acta gelegt haben, erstaunte mich seine schließlich präsentierte Lösung sehr: "Ich werde Ihnen innerhalb einer Stunde eine Schneiderin schicken, die Ihre Maße nimmt, damit Sie rechtzeitig ein angemessenes Abendkleid für die Soirée erhalten."
"Ich hatte erwartet, daß vielleicht auch für eine Frau die Teilnahme in einem Anzug möglich ist, Genosse", entgegnete ich darauf spontan.
Das brachte ihn zum Lachen. "Ja, oder Uniform, das wäre völlig angemessen - wenn _wir_ die Soirée ausrichten würden, Genossin. Aber die Terraner haben den Abend geplant. Schon um unseren guten Willen zu zeigen, werden wir uns den etwas überholten Protokoll-Vorstellungen Ihrer Seite beugen. Und das Abendkleid dürfen sie später gerne mit nach Hause nehmen, um als Sonderbotschafterin die Kunstfertigkeit unserer Handwerker auch auf Terra bekannt zu machen, Sonderkonsulin Willems."
*
Das anlaßgemäß bodenlange Abendkleid war, abgesehen von einigen hellgrauen Elementen, aus rotbrauner Seide, die mein blondes Haar in ungeahnter Weise zum Strahlen brachte. Ellbogenlange Handschuhe aus der selben Seide und ein zurückhaltend mit farbig passendem Bernstein geschmückter Haarkamm vervollständigten meine Abendgarderobe. Meine eigenen, bequemen, schwarzen Alltags-Lederschuhe waren vielleicht nicht angemessen, aber wurden vom Saum des Kleides verdeckt. Und im Rock gab es zwei Taschen. Ich würde, wenn sich mir auf Terra die Möglichkeit gab, mit Sicherheit die Kunstfertigkeit und den Erfindungsreichtum der marsianischen Handwerkskunst preisen.
Die Soirée fand in der festlich geschmückten, ehemaligen Messe des Schiffes statt, ein Streicherquintett sorgte schon für einen musikalischen Hintergrund und der recht große Raum füllte sich rasch mit Damen in farbenprächtigen Abendroben und Herren in Frack oder Ausgehuniform. Und dann entdeckte ich nahe der rechten Wand einen hochgewachsenen Herrn in nachtblauer RSN-Uniform, mit blondem Haar und schmalem Gesicht, um den sich schon eine Traube anderer Anwesender gesammelt hatte. Das war CS Leuvenhook.
Ich näherte mich dem Grüppchen und wartete dann artig, bis die ihn bereits Umlagernden alle ihr Sprüchlein losgeworden waren. Endlich kam ich an die Reihe. Den gefalteten Brief unter Fingern und Handfläche reichte ich ihm meine rechte Hand, zu der er seine Rechte ausstreckte. Mit der Linken öffnete ich wie beiläufig den farblich so gar nicht zu meinem Kleid passenden, blauen Fächer, um unsere Hände für den Moment der Übergabe zu verdecken. Seine linke Augenbraue rutschte überrascht nach oben, während er sich zu einem angedeuteten Handkuß hinunter beugte, den Brief ließ er sehr gekonnt in seinem Ärmel verschwinden.
"Ich freue mich, Sie endlich persönlich kennenzulernen, Commander Leuvenhook", flötete ich auf Flämisch. "Ich habe schon im Vorfeld der Konferenz so viel Gutes über Sie gehört. Unter Ihrer Ägide stehen die Verhandlungen sicher unter einem guten Stern."
Leuvenhook war von seinem anfänglichen Erstaunen nichts mehr anzumerken. "Herzlichen Dank für Ihre freundlichen Worte, Frau Willems", entgegnete er ebenfalls auf Flämisch. "Schön, daß Sie es noch zur Konferenz geschafft haben. Ich kann mir gut vorstellen, daß Ihr Sachverstand eine wertvolle Ressource für das Handelsbüro ist und Sie damit einen richtungsweisenden Beitrag zu dieser Konferenz leisten."
Leuvenhook sah gut aus, beherrschte die Formen und nahm seine Aufgaben ernst, denn er hatte sich offensichtlich über alle Konferenzmitglieder gut informiert. Als Verbindungsoffizier an Bord eines RSN-Kurniers konnte man sicher viele Diplomaten kennenlernen und wenn er schon immer so arbeitete, war es kein Wunder, daß er jemanden aus dem Stab der kaiserlichen Schwester positiv aufgefallen war. Ich dankte für die freundlichen Worte, und gesellte mich zu dem Grüppchen Logistiker, die sich der Bestuhlung nahe der Bühne mit dem Quintett näherten.
Da der Brief nun erfolgreich überreicht worden war, konnte ich den Abend genießen und mich die folgenden Tage ganz auf die Angelegenheiten des Handelsbüros konzentieren.
*
Selbstverständlich überreichte am 26. Oktober die gesamte Arbeitsgruppe gemeinsam das Ergebnis unserer Empfehlungen und Formulierungsvorschläge für den Handelsvertrag an CS Leuvenhook, auch wenn es sich bei den überreichten Papieren nur um die Zweitschrift handelte, da das Original natürlich an die Arbeitsgruppe Vertragsrecht gegangen war.
Als Abschiedsgeschenk wurden jedem Mitglied unserer Arbeitsgruppe ein großes Glas Honig überreicht, es gab melassefarbenen, marsianischen Honig für die Bürger des Empires und goldgelben, terranischen Honig für die Marsianer, jeweils zusammen mit einem kleinen Heftchen über die Herstellung und den Vertrieb beider Honigarten. Mein Heftchen schien ein klein bißchen dicker zu sein, als das der anderen, und ich verstaute es rasch in meiner Jackentasche, um das an die drei Pfund schwere Glas mit beiden Händen halten zu können.
Am Abend packte ich, auch wenn weder das Abendkleid, für das ich auch eine passende Transporthülle erhalten hatte, noch der Honig in meinen mitgebrachten Koffer paßten, aber mir wurde versichert, das stelle kein Problem dar. Tatsächlich lag in dem zum Honig gehörenden Heft ein verschlossener Raumpost-Umschlag, auf dem mit Kopierstift in schön geschwungenen Buchstaben 'Für Sophie' stand. Vermutlich war das der Name meiner Auftraggeberin. Über die Maastrichter Immobiliengesellschaft würde ich ihr den Brief sicher zukommen lassen können - nebst meiner Endabrechnung, die erheblich niedriger ausfallen würde, als zunächst veranschlagt.
Am kommenden Morgen nahm die RSS Zephyr mit mir zehn Passagiere aus verschiedenen, beendeten Arbeitsgruppen auf. Diesmal teilte ich die Kabine mit zwei weiteren Damen, eine aus der Arbeitsgruppe Agrikultur, die andere aus der Arbeitsgruppe Erze und verhüttete Metalle, beide ebenfalls aus Antwerpen und ebenfalls über das Handelsbüro zur Mitarbeit in den Arbeitsgruppen der Konferenz gekommen. Sie waren angenehme Gesprächspartner und für alle Fälle gab ich beiden auch meine Visitenkarte, falls sie einmal einen individuellen Versandkanal benötigten.
*
Als am 7. November das Shuttle von Lunaport gegen Mittag im Raumhafen von Antwerpen landete, war es wirklich Herbst geworden. Es nieselte und das Herbstlaub wurde von den auflandigen Windböen durch die Straßen gewirbelt. Nach über einem Monat in der künstlichen und gleichmäßig angenehm temperierten Atmosphäre der Raumschiffe, freute ich mich, daß mich die Limousine den letzten Teil der Strecke bis vor die Haustür bringen würde - und tatsächlich wurde mir vom Chauffeur sogar das Honigglas die Treppen hoch bis an meine Wohnungstür getragen.
Ich leerte meinen Koffer, sortierte grob den Inhalt, achtete darauf, die marsrote Abendrobe möglichst freihängend in meinem Kleiderschrank zu verstauen, dann griff ich mir meinen Regenmantel und Saskias Ordner, um auf dem Weg ins Büro die Unterlagen des Konsulats wieder zu retournieren. Den Brief Leuvenhooks steckte ich in die Innentasche meines Jacketts.
Saskia begrüßte mich gewohnt herzlich, nahm den Ordner an sich und ließ sich berichten, welche der Minimalforderungen es in den Vertrag schaffen würden. Tatsächlich konnte ich ihr von einem vollen Erfolg berichten, denn tatsächlich waren alle Minimalforderungen durchgekommen und sogar die spezielleren Wünsche einiger terranischer Logistikunternehmen waren weitgehend berücksichtig worden. Sie machte einen flotten Spruch zu meinen diplomatischen Fähigkeiten und fragte, ob ich nicht umsatteln wolle, aber ich hatte ja nur offene Türen einzurennen gehabt, da gerade die Minimalforderungen, fast exakt wie vom terranischen Büro des Konsulats gewünscht, auch von den Marsianern angestrebt worden waren.
Da die paar Meter durch die Flure des Handelsbüros meine durch die künstliche Schwerkraft unterforderten Muskeln schon nahezu erschöpft hatten, fuhr ich mit der Straßenbahn die eine Station zu meinem eigenen Büro, deponierte den Brief Leuvenhooks dort im Safe und suchte die Telefonnummer der Maastrichter Immobilienverwaltungsgesellschaft heraus. Ich ließ ausrichten, daß der Auftrag abgeschlossen und die Spesen abgerechnet seien, fragte, wohin ich die Rechnung schicken solle und erwähnte, daß mir eine schriftliche Antwort des Empfängers übergeben worden sei.
Daraufhin verstummten plötzlich die Hintergrundgeräusche von anderen Telefonaten und Schreibmaschinengeklapper - meine Gesprächspartnerin hielt am anderen Ende die Muschel zu.
"An wen ist die Antwort adressiert?" fragte plötzlich eine andere Stimme, das mochte tatsächlich meine Auftraggeberin sein.
"Auf dem Umschlag steht 'Für Sophie'", gab ich Auskunft.
Wieder war es still.
"Hat die Abrechnung zu einer höheren Summe als der zunächst veranschlagten geführt?" fragte die erste Stimme nun wieder.
"Nein, meine Auslagen waren im Gegenteil deutlich geringer und da ich nun wieder in Antwerpen bin, ist ja auch klar, daß ich den Auftrag schneller erledigen konnte, als zunächst zu vermuten gewesen war."
"Wir werden Ihnen im Auftrag die ursprünglich vereinbarte Restsumme anweisen. Herzlichen Dank für Ihre Dienste." Klack.
Wollte denn niemand den Brief... die Adressierung war vielleicht Botschaft genug gewesen. Ich holte den Umschlag aus dem Safe und hielt ihn gegen das Licht meiner Schreibtischlampe. Da war ein dünner Bogen Papier in diesem ebenso dünnen Raumpost-Umschlag - aber wenn Leuvenhook nicht unsichtbare Tinte verwendet hatte, war der Bogen leer.
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Die Überweisung der bereits im Vorfeld vereinbarten Summe, also der nach dem Kostenvoranschlag noch fehlenden knapp vierzig Prozent und damit eine erhebliche Überzahlung, erhielt ich einen Tag später.
Als ich drei Wochen später mein Büro betreten wollte, stand davor eine schwere hölzerne Kiste, die an mich adressiert war, Absender war die Maastrichter Immobilienverwaltungsgestellschaft. Neugierig schleppte ich die Kiste ins Büro, suchte mir einen Kuhfuß aus dem Werkzeugkasten und begann, die Nägel auszuhebeln, die die oberen Latten hielten. Zwölf Flaschen Jamaika-Rum in viel Holzwolle, damit dem guten Zeug auch nichts passierte!
Den Tag hatte ich mir beim Zeitungsjungen vor dem Haus auch die Tageszeitung gekauft, weil der Aufmacher die Bekanntgabe der erfolgreich beendeten Ausarbeitung des neuen Handelsvertrag zwischen Empire und Mars war. Ich las den Hauptartikel, dann das Lob einiger Diplomaten aus dem Hochadel, wie gut organisiert die Veranstaltung gewesen sei, insbesondere wurde auch Commander in Space Vincent Cornelis Leuvenhook mehrfach namentlich gelobt. Da ich ja ebenfalls das Vergnügen gehabt hatte, ihn kennenzulernen, wußte ich, daß dieses Lob nicht reine Schmeichelei war.
Ich blätterte noch ein wenig weiter, und stieß im Gesellschaftsteil auf eine kleine Anzeige:
"Ihre Verlobung geben bekannt
Ihre Gnaden, Großfürstin Sophia Louise von Nettelsbach zu Hohenstaufen, verwitwete de la Ruondet,
und
Commander in Space Baron Vincent Cornelis Leuvenhook, Hochwohlgeboren, Erster Protokollsekretär der RSN."
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