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Kapitel 1 – Dry Creek
Die Sonne hing tief über der Steppe, ein glühender, müder Ball aus Feuer, der den Himmel in rostiges Gold tauchte. Der Staub schwebte in der Luft wie feine Asche, wehte über die Wiesen und über die Felder hinweg, wo die alten Weidezäune längst morsch waren. Ich liebte diesen Geruch — trockenes Holz, Sonne, ein Hauch von Rauch aus der Ferne.
Ich war ein Mädchen vom Lande, ja — aber anders, sagten die Leute. Meine Hände trugen keine Schwielen, so als hätte mich das Leben selbst geschont. Vater meinte oft, ich sei zu fein für die Prärie, Mutter lächelte dann nur und strich mir über das Haar, es war hellbraun, lang, fiel mir weich über die Schultern und schimmerte goldrot im Abendlicht. Meine Haut war zartbraun, von der Sonne geküsst, und meine Augen — hellblau, so klar, dass James manchmal sagte, man könne darin den Himmel sehen, wenn er sonst nirgends zu finden war.
Mein Vater war ein Mann von der rauen Sorte. Schweigsam, wettergegerbt, mit Händen, die so schwielig waren, dass sie Splitter wie nichts aus Holz zogen. Er sprach selten, und wenn er es tat, war jedes Wort schwer wie Eisen. Ich wusste, dass er uns liebte, auch wenn er es nie sagte.
Mutter war das Gegenteil — eine Frau aus Licht und Sanftmut, mit müden Augen und einem Herzen, das immer noch an Wunder glaubte. Sie roch nach Brot und Rosmarin, nach Wärme und Geduld.
James, mein älterer Bruder, war wie Vater — stark, stolz, aber innerlich zerrissen. Manchmal wirkte er, als wolle er mehr als dieses Leben hergab. Lucy meine kleine Schwester hingegen war nur Sonne. Sie tanzte durchs Haus, lachte selbst dann, wenn kein Grund dazu war, und brachte uns mit ihren Träumen zum Schweigen.
Das war unsere kleine Welt.
Dry Creek – ein Ort, an dem die Zeit stillstand, an dem der Wind Geschichten erzählte, die keiner hören wollte.
Ich saß auf dem alten Zaunpfahl, die Knie angezogen, und beobachtete, wie der Abend über die Prärie kroch. Der Himmel brannte. Und irgendwo da draußen, hinter den roten Hügeln, lauerten Geschichten. Geschichten über Männer, die ihr Leben im Schatten lebten. Über eine Bande, die man „Schattenwölfe“ nannte.
Ich hatte von ihnen gehört. Jeder hatte das. Sie kamen mit dem Sturm, sagten die Leute. Sie nahmen, was sie wollten. Und ihr Anführer – so hieß es – sei ein Teufel in Menschengestalt. Dunkel, unberechenbar. Manche schworen, seine Augen wären wie kaltes Eisen, andere sagten, sie hätten darin das Feuer der Hölle gesehen. Ich wusste nicht, was ich glauben sollte.
Bis ich ihn zum ersten Mal sah.
Es war in jener Nacht, als der Wind um unser Haus kreiste, als wäre er lebendig. Die Hunde jaulten. Ich konnte nicht schlafen und trat hinaus, barfuß, nur im Hemd, die Dielen unter mir kühl und vertraut. Ein Blitz zuckte in der Ferne, und für einen Augenblick erhellte er die Ebene — und ich sah sie.
Reiter.
Vier, fünf Schatten, kaum zu erkennen im flackernden Licht.
Mein Herz begann zu schlagen wie ein wilder Trommeltakt.
Und dann sah ich ihn.
Den Mann, der voranritt.
Er saß auf einem dunklen Hengst, der schnaubte und den Boden mit den Hufen aufriss. Der Regen begann, feine Linien auf seine Wange zu zeichnen. Sein Blick traf mich. Nicht lange. Nur ein Atemzug.
Doch in diesem Moment fühlte ich etwas — wie ein Messer, das durch meine Brust glitt, scharf, kalt und süß zugleich.
Er wandte sich ab, als hätte ich nie existiert. Und doch blieb etwas zurück.
Etwas, das mich seit jener Nacht nicht mehr losließ.
Am nächsten Morgen fanden wir Spuren im Sand. Hufabdrücke, tief und frisch. Vater schimpfte, James fluchte und Mutter betete leise. Ich schwieg. Ich wusste, sie waren ganz in der Nähe. Und tief in mir wuchs etwas, das ich nicht benennen konnte — eine brennende Neugier oder eine gefährliche Sehnsucht.
Und als Lucy mich später fragte, warum ich so in die Ferne starrte, antwortete ich nur: „Weil der Sturm noch nicht vorbei ist...“
Kapitel 2 – Der Sturm über Dry Creek
Der Himmel färbte sich grau wie Blei. Den ganzen Tag hatte sich etwas in der Luft aufgebaut, eine Spannung, die sich nicht abschütteln ließ — als hielte die Welt selbst den Atem an. Der Wind trug den Geruch von Regen und fremden Pferden heran, und in meinem Bauch spannte sich ein unsichtbarer Knoten.
Vater hatte uns früh hereingerufen.
„Bleibt im Haus. Schließt die Türen.“
Er sprach selten in diesem Ton. Und wenn er es tat, dann wusste man, dass etwas im Gange war.
Ich half Mutter, die Fensterläden zu verriegeln. Lucy stand zitternd neben mir, ihre Finger klammerten sich an mein Kleid „Glaubst du, sie kommen wirklich?“ flüsterte sie.
Ich antwortete nicht. Ich wusste es längst.
Der Wind jaulte wie ein Tier. Irgendwo in der Ferne knackte Holz, vielleicht ein umgestürzter Zaun. James stand an der Tür, das Gewehr im Anschlag, die Augen wachsam. Mutter betete leise, während sie das Kreuz an der Wand streifte. Vater trat hinaus auf die Veranda, trotz des Sturms.
Und dann hörten wir es.
Hufschläge.
Nicht viele. Aber schwer. Entschlossen.
Der Klang kam näher.
Ich weiß nicht, was mich ritt – vielleicht pure Neugier, vielleicht Dummheit, oder etwas, das noch keinen Namen hatte. Doch als Mutter sich abwandte, schlich ich zur Hintertür, zog den Riegel leise auf und trat hinaus.
Der Regen hatte eingesetzt. Kalte Tropfen brannten auf meiner Haut, ließen das Hemd an mir kleben, und der Wind riss mir das Haar ins Gesicht. Ich hielt die Hand vor die Augen und trat vorsichtig um die Ecke des Hauses.
Dort standen sie.
Vier Männer, nass vom Regen, mit dunklen Tüchern vor dem Gesicht. Pferde dampften unter ihnen, die Sättel glänzten schwarz. Und vorn — er.
Der Mann, den ich in jener Nacht gesehen hatte.
Er saß auf seinem Hengst, als gehörte ihm die ganze verdammte Welt. Der Regen rann über seine Schultern, tropfte von seinem Hutrand, und seine Haltung war ruhig, fast überheblich, als könne ihn kein Sturm der Welt berühren.
Ich wollte mich abwenden. Doch sein Blick traf mich.
Er hatte mich gesehen.
Langsam zog er das Tuch von seinem Gesicht. Blasses Licht fiel über scharfe Züge, über eine Narbe an der Wange, über Lippen, die kein Lächeln kannten. Seine Augen — dunkel, unergründlich — musterten mich. Da war kein Zorn, keine überraschung. Nur etwas, das ich nicht deuten konnte.
Ich wusste nicht, ob ich atmete.
„Was zum Teufel tust du hier draußen?“
Die Stimme kam von James, der plötzlich hinter mir auftauchte. Er packte mich am Arm und zog mich zurück ins Haus. Ich stolperte, spürte den Blick des Fremden noch auf meiner Haut.
Als James die Tür zuschlug, hallte der Hufschlag draußen dumpf durch den Regen. Vater hatte das Gewehr geladen, Mutter drückte Lucy an sich.
„Wer sind die?“ fragte Lucy mit zitternder Stimme.
„Banditen“, knurrte Vater. „Wölfe.“
Der Regen fiel die ganze Nacht. Ich lag wach, konnte nicht schlafen, hörte das Prasseln auf dem Dach, das ferne Wiehern der Pferde. Und jedes Mal, wenn der Wind gegen die Scheibe schlug, glaubte ich, seinen Blick wieder zu spüren — dunkel, fest, wie eine unsichtbare Fessel.
Ich wusste nicht, wer er war.
Aber ich wusste, dass er wiederkommen würde..
Kapitel 3 – Am Fluss
Am nächsten Morgen war die Welt still. Nur das ferne Rauschen des Flusses brach die Stille, und der Nebel hing noch schwer über den Feldern. Ich trat hinaus, barfuß auf das feuchte Gras, spürte den Tau zwischen den Zehen und den kalten Hauch des Morgens auf meiner Haut.
Vater und James waren schon fort, um nach dem Zaun zu sehen. Mutter schlief noch, erschöpft von der Nacht, und Lucy saß auf dem Bett, ihre Nase in ein Buch vergraben.
Ich nahm den Eimer und ging hinunter zum Fluss.
Der Weg war schmal und voller Spuren – tiefe Hufabdrücke, die der Regen nicht hatte auswaschen können.
Ich kniete mich neben das Wasser, tauchte den Eimer hinein, sah mein Spiegelbild zwischen den Kräuselungen verschwimmen. Die letzten Nächte hatten mir Schlaf und Farbe geraubt.
Ein Mädchen vom Land, dachte ich, und doch fühlte ich mich fremd in meiner eigenen Haut.
Ich richtete mich auf, hielt den schweren Eimer in der Hand, da hörte ich es.
Ein Rascheln.
Ein dumpfer Schritt.
Ich fuhr herum – doch niemand war zu sehen. Nur die Bäume, reglos, und das leise Tropfen von Wasser. Ich atmete tief durch, wollte mich gerade wieder bücken, als ich ihn spürte.
Diesen Blick.
Wie eine Berührung, unsichtbar, aber so nah, dass mir der Atem stockte.
Langsam hob ich den Kopf.
Er stand da. Nur wenige Schritte entfernt, halb verborgen zwischen den Schatten der Bäume.
Der Mann aus der Nacht.
Sein Pferd stand ruhig neben ihm, dampfend, das Leder glänzend vom Regen. Er hatte den Hut tief ins Gesicht gezogen, aber ich erkannte ihn trotzdem – oder vielleicht fühlte ich ihn einfach.
Sein Blick war fest auf mich gerichtet, durchdringend. Keine Bedrohung, keine Eile – nur dieses stille, unerklärliche Interesse.
Mein Herz schlug gegen meine Rippen.
„Was... was willst du?“ fragte ich leise.
Er antwortete nicht sofort. Dann trat er langsam näher, der Boden unter seinen Stiefeln feucht und leise.
„Gestern Nacht“, sagte er schließlich, mit tiefer, rauer Stimme, „du hättest im Haus bleiben sollen.“
„Ich... ich wollte nur sehen, was los ist.“
„Neugier kann gefährlich sein.“
Er blieb stehen, so nah, dass ich seinen Atem spüren konnte. Er roch nach Regen, nach Pferd und nach etwas Metallischem, Dunklem.
„Wie heißt du?“ fragte er plötzlich.
Ich zögerte. „Aurelia.“
Ein kaum sichtbares lächeln.
„Schöner Name.“
Er wollte weitergehen, wandte sich halb ab, doch irgendetwas in mir wehrte sich gegen das Ende dieses Moments.
„Und du..?“ fragte ich, bevor ich denken konnte. „Wie heißt du?“
Er hielt inne.
Sein Blick ruhte auf mir, als würde er abwägen, ob ich die Antwort verdiente.
Dann sagte er leise, fast rau:
„Das spielt keine Rolle.“
Er wandte sich ab, schwang sich auf sein Pferd, und der Wind hob kurz den Saum seines Mantels, als er davonritt.
Ich stand noch lange da, der Eimer vergessen zu meinen Füßen, und sah ihm nach, bis er im Nebel verschwand.
Er hatte mir nicht gesagt, wer er war.
Aber irgendetwas in mir wusste, dass sein Name sich mir eines Tages von selbst offenbaren würde – in einer Nacht, die ebenso stürmisch sein würde wie die, in der ich ihn zum ersten Mal sah..
Kapitel 4 – Flüstern in Dry Creek
Eine Woche war vergangen, seit ich ihn am Fluss gesehen hatte.
Seit diesem Blick, der mir noch immer unter die Haut kroch, als hätte er dort ein Stück von sich zurückgelassen. Ich hatte versucht, ihn zu vergessen – den Fremden mit den dunklen Augen, dessen Name mir unbekannt blieb. Doch jede Nacht, wenn der Wind über die Felder strich, glaubte ich, seine Stimme darin zu hören.
Dry Creek war in diesen Tagen unruhig geworden. Etwas lag in der Luft – ein Murmeln, ein Wispern, das zwischen den Straßen wie Staub verwehte.
Die Händler sprachen leiser als sonst, und selbst die Kinder, die sonst barfuß durch den Schlamm rannten, warfen verstohlene Blicke über die Schulter.
„Hast du’s gehört?“ fragte Mrs. Whieler, die Frau des Schmieds, als ich eines Morgens über den Marktplatz ging.
„Was denn?“
Sie zog mich beiseite, ihre Augen groß vor Aufregung und Angst zugleich. „Man sagt, die Schattenwölfe sind wieder unterwegs. Letzte Nacht soll man sie am Fluss gesehen haben – fünf Reiter, schwarz gekleidet, wie Geister. Und einer von ihnen... soll den Sheriff beobachtet haben.“ Ich fröstelte, obwohl die Sonne heiß brannte.
Schattenwölfe.
Der Name war mir vertraut, von Geschichten, die man sich nur im Flüsterton erzählte. Eine Bande von Gesetzlosen, kalt und schnell wie der Wind, die Dörfer plünderten und dann im Nichts verschwanden.
„Unsinn“, mischte sich der Schmied ein, der gerade ein Hufeisen im Feuer wendete. „Gerede, mehr nicht. Leute sehen Gespenster, sobald der Mond zu voll wird.“
Aber seine Hände zitterten leicht.
Ich kaufte Brot und Zucker, nickte den Leuten zu, doch jeder schien etwas zu verbergen.
Überall dieselben Blicke – vorsichtig, gespannt, als wüssten sie mehr, als sie sagten.
Auf dem Heimweg hielt ich kurz an der alten Kapelle am Hügel. Die Türen standen offen, und Sheriff Harlan sprach mit Sheriff Dykes. Ihre Stimmen waren gedämpft, aber ich verstand genug.
„…wir müssen die Männer zusammenrufen… falls sie wirklich nach Dry Creek kommen…“
„Und was dann?“ erwiderte der Sheriff. „Wir haben keine Chance gegen sie.“
Ich trat zurück, bevor sie mich sehen konnten. Mein Herz schlug schneller.
Die Schattenwölfe.
Und unwillkürlich sah ich das Gesicht des Fremden vor mir.
Sein Blick, diese kühle Ruhe in seiner Stimme – die Art, wie er sich bewegte, selbstsicher, kontrolliert.
War er… einer von ihnen?
Ich schüttelte den Gedanken ab, doch er blieb, wie ein Splitter unter der Haut.
Als ich am Abend nach Hause kam, stand James draußen, die Hände in die Hüften gestemmt.
„Du hast die Gerüchte auch gehört, oder?“ fragte er.
Ich nickte.
„Wenn sie wirklich kommen, müssen wir vorbereitet sein. Vater will, dass du morgen nicht in die Stadt gehst.“
Ich versprach es, doch in mir regte sich etwas anderes – eine Unruhe, die nicht aus Angst kam.
Denn so sehr ich die Schattenwölfe fürchtete, ein Teil von mir hoffte, dass er unter ihnen war..
Kapitel 5 – Wenn der Sturm kommt
Der Himmel über Dry Creek war an diesem Abend unnatürlich still.
Die Luft war schwer, wie vor einem Gewitter, und selbst die Pferde im Stall scharrten unruhig. Lucy saß am Fenster und beobachtete die Straße, während Vater und James draußen die Türen verriegelten.
„Bleib bei Mutter,“ sagte James leise, bevor er die Winchester durchlud. „Wenn du etwas hörst – kein Licht, kein Laut.“
Ich nickte, aber mein Blick blieb an der Ferne hängen, dort, wo der Horizont brannte. Ein schmaler Streifen aus rotem Staub – Reiter.
Die Schattenwölfe kamen.
Zuerst war da nur das Donnern der Hufe, dann das metallene Klirren, das Aufblitzen von Waffen. Die Männer ritten durch die Hauptstraße, wie ein Sturm aus Leder und Rauch. Schreie, Schüsse, das Splittern von Fenstern.
Dry Creek wurde von Chaos verschluckt.
Ich presste Lucy an mich, während Mutter leise betete. Der Boden vibrierte, jedes Geräusch schnitt mir in die Brust. Doch dann, zwischen all dem Lärm, hörte ich ihn.
Diese Stimme.
Tief. Ruhig. Unnachgiebig.
Ich schlich ans Fenster. Der Mond war aufgestiegen, silbern und kalt, und sein Licht fiel auf ihn.
Den Fremden.
Er saß hoch zu Pferd, das Tier schwarz wie die Nacht selbst, und alles an ihm strahlte Macht aus. Die anderen gehorchten ihm wortlos. Er sprach knapp, seine Befehle messerscharf, und keiner wagte, zu widersprechen.
Sein Gesicht war teilweise im Schatten, doch als er den Kopf hob, traf mich dieser Blick.
Eisblau.
Kalt.
Gefährlich schön.
Sein Haar war schwarz, ungezähmt, einzelne Strähnen fielen ihm auf die Stirn. Über seiner linken Wange zog sich eine schmale, helle Narbe – kein Makel, sondern eine Erinnerung an etwas, das ihn noch gefährlicher machte. Seine Züge waren scharf, markant, als wäre er aus Stein geschlagen worden.
Ich konnte den Blick nicht lösen.
Er ritt durch die Straße, der Staub klebte an seinem Mantel, und jeder Schritt seines Pferdes schien das Herz der Stadt zu zerbrechen.
Die Leute flüsterten nur noch: Der Anführer.
Er war wild. Ungezähmt. Und so furchtlos, dass selbst der Tod ihm weichen würde.
Er brauchte keine Worte, um zu befehlen – seine bloße Präsenz genügte.
Die Schattenwölfe luden die Beute auf, während er alles beobachtete. Keine Hast, keine Reue. Nur diese kalte, berechnende Ruhe.
Dann, für einen flüchtigen Augenblick, drehte er sich um.
Und sah zu mir hinauf.
Unsere Blicke trafen sich durch das zerbrochene Fensterglas.
Mein Atem stockte.
Er sagte nichts, bewegte sich nicht. Aber ich spürte, dass er mich erkannte – dass er wusste, dass ich ihn sah.
Ein winziges Zucken seiner Lippen, fast wie ein dunkles Lächeln.
Dann trieb er sein Pferd an, und die Bande verschwand im Staub, den sie hinterließen.
Ich stand lange am Fenster, das Herz raste, die Finger zitterten.
Die Wahrheit brannte sich in mich ein, unausweichlich und schmerzhaft klar:
Der Mann vom Fluss – der Fremde mit den blauen Augen – war der Anführer der Schattenwölfe.
Und ich wusste nicht, ob ich ihn fürchten sollte..
Kapitel 6 – Zwischen Schatten und Atemzügen
Drei Tage waren vergangen, seit Dry Creek in Atem gehalten worden war. Die Aufregung, die Gerüchte, die Angst – alles begann sich langsam zu legen. Die Leute in der Stadt kehrten zu ihrem Alltag zurück, doch die Unsicherheit blieb in den Gesichtern. In den Gesprächen am Brunnen flüsterten die Frauen noch immer über die Schattenwölfe, über jene Männer, die angeblich nachts wie Geister über das Land zogen.
Mein Vater arbeitete wieder draußen am Zaun, James half ihm wortlos. Lucy versuchte, mich aufzumuntern, doch mein Blick schweifte immer wieder zu dem Weg, der hinaus in die Weite führte.
Seit jener Nacht am Fluss war etwas in mir anders. Ich versuchte, den Fremden zu vergessen – sein Blick, seine Stimme, dieses unerklärliche Gefühl, das mich seither nicht mehr losließ.
Doch vergessen war unmöglich.Man vergisst keine Augen wie seine.
Die Nacht lag still über der Ranch, als ich den Stall betrat, um nach den Pferden zu sehen. Das Heu raschelte leise unter meinen Schritten, der Geruch von Leder und Staub hing schwer in der Luft. Ich zog die Laterne näher an mich, das flackernde Licht warf Schatten an die Wände – und plötzlich spürte ich es.
Diese Präsenz.
Roh, gefährlich.
Wie ein Sturm, der nicht zu sehen, aber zu spüren war.
„Du solltest nachts nicht allein herumlaufen.“
Seine Stimme kam aus der Dunkelheit. Tief, dunkel, ruhig – und doch vibrierte sie mit einer unausweichlichen Bedrohung. Ich drehte mich um, und da stand er.
Der Fremde vom Fluss.
Das Licht der Laterne traf sein Gesicht – dunkle, zerzauste Haare, einzelne Strähnen fielen ihm in die Stirn. Seine Haut war von Sonne und Wind gezeichnet, eine feine Narbe zog sich über seine Wange. Und diese Augen... dunkelblau, kalt und gefährlich wie ein Gewitter über der Prärie.
Er trat aus dem Schatten, groß, breitschultrig, mit einer Ruhe, die nichts Gutes verhieß.
Ich wich einen Schritt zurück, doch er folgte langsam.
„Du hast mich gesehen,“ sagte er leise. „Das hättest du nicht sollen.“
Ich spürte, wie mir das Herz bis in den Hals schlug. „Ich... ich habe niemandem etwas gesagt.“
Ein kurzes, spöttisches Lächeln zuckte über seine Lippen. „Das hoffe ich für dich, Mädchen.“
Er kam näher, und ich roch den Staub seiner Jacke, das Leder, den metallischen Hauch von Schießpulver.
Er blieb direkt vor mir stehen – so nah, dass ich seinen Atem an meiner Wange spürte. Seine Stimme war ein gefährliches Flüstern, so tief, dass sie mir unter die Haut kroch.
„Vergiss, was du gesehen hast. Vergiss mich.“
Doch in diesem Moment wusste ich, dass genau das unmöglich war.
Sein Blick ruhte auf mir, durchdringend, prüfend. Zwischen uns lag etwas, das weder Name noch Erklärung hatte – nur Hitze, Dunkelheit und diese unerträgliche Spannung.
Seine Hand hob sich, fast so, als wolle er mir eine Strähne aus dem Gesicht streichen, doch er hielt inne – und zog sie stattdessen langsam zurück.
Dann drehte er sich wortlos um, verschwand in der Dunkelheit des Stalls, lautlos wie ein Schatten.
Ich stand da, reglos, das Herz hämmernd.
Noch Minuten später war die Luft erfüllt von seiner Präsenz – als hätte er sich in die Nacht selbst gebrannt.
Und obwohl er gesagt hatte, ich solle vergessen, wusste ich, dass ich nicht vergessen würde.
Nicht sein Gesicht.
Nicht seine Stimme.
Nicht diesen Blick.
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