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Kapitel: | 3 | |
Sätze: | 171 | |
Wörter: | 2.636 | |
Zeichen: | 15.357 |
Das erste was mir auffällt, als ich sein Büro betrete, sind die Regale, die alle Wände bedecken. Selbst oberhalb der Tür sind noch einige Bretter angebracht, an die er ohne Hocker bestimmt nicht herankommt. Natürlich fallen die Bücher nicht in dem Sinne auf, dass es seltsam wäre, dass sich ein Literaturdozent mit Büchern umgibt, doch ihre Masse und Allgegenwärtigkeit zeigen verstärkt seine Leidenschaft für das geschriebene Wort, die ich in den bisher zwei Vorlesungen und einem Seminar, die ich von ihm besuchte, schon gespürt hatte. Er deutet auf einen der Stühle, die um einen kleinen runden Tisch gruppiert sind, und als ich mich niederlasse, setzt er sich mir gegenüber. Sein Lächeln ist erwartungsvoll. Er sieht nahbarer aus als wenn er vor einem Kurs steht.
Im zweiten Semester habe ich meine erste Vorlesung bei ihm erlebt und war sofort begeistert. Da noch nicht von ihm als Mann, als Mensch: schlicht als Lehrender und vor allem Vortragender. Faust hatte mir schon in der Schule Schauer über den Rücken gejagt ob seiner Sprachgewaltigkeit, und in einer Vorlesung diesem Mann zu lauschen, dessen Begeisterung und immenses Wissen in jedem Satz spürbar waren, hatte mich von Anfang an mitgerissen und mir gezeigt, dass mich meine Studienwahl an den richtigen Ort, zum richtigen Fach geführt hatte. Je weiter das Semester vorangeschritten war, desto mehr war mir an mir selbst aufgefallen, dass ich begann, noch auf andere Dinge zu achten, als Fakten über Goethe. Gesten waren es plötzlich, auf die ich wartete und die mir vertraut wurden. Wenn er enthusiastisch mit den Armen durch die Luft fuhr, und ich Gänsehaut spürte, jemanden meine eigene Begeisterung für den Text so widerspiegeln zu sehen. Manchmal schon vorher zu spüren, wann er lächeln würde, als könnte ich seine kleinen Scherze antizipieren.
Wie weit es mit mir gekommen war, merkte ich erst im nächsten Semester. Wieder eine Vorlesung. In eines seiner Seminare hatte ich mich noch nicht gewagt. Hatte vielleicht ein wenig Angst, bei näherem Kontakt in seiner Gegenwart zu klein zu werden. Ich gehörte noch nie zu den Studierenden, die Professoren nur bewunderten, weil sie eben Professoren waren. Um sich meine Achtung zu verdienen, brauchte es mehr, als einen – oder ein paar – Titel. Für jemanden, der mit solcher Liebe von Worten sprach, konnte ich jedoch nur Zuneigung – Verständnis – Achtung aufbringen. Doch nicht nur von Worten sprach er mit Liebe. In dieser zweiten Vorlesung war es, dass er in einer kurzen Anekdote von seiner Frau sprach. Und ich, auf Resonanz zu jeder Äußerung von ihm getrimmt, konnte die liebevolle Andächtigkeit in seiner Stimme natürlich nicht überhören, nicht mal nachträglich wegredigieren. Der Schmerz, der mir in den Brustkorb und die Kehle schoss, überraschte mich selbst.
Dann, als ein Versuch der Heilung, ein Semester ohne ihn. Nicht, dass es mich nicht heisskalt überlief, wenn ich ihn mal auf den Gängen sah. Oder dass ich nicht, wenn sich Mitstudierende, die bei ihm Kurse belegt hatten, in der Mensa darüber plauderten, mich groß anstrengen musste, nicht nach wörtlicher Widergabe all seiner Worte zu fragen. „Er ist schon sehr nett, nur auch ziemlich vergeistigt“, meinte Hanna, meine beste Freundin. Sie meinte es nicht mal böse, doch ich konnte mich nicht daran hindern, gleich zu seiner Verteidigung zu schreiten: „Nun, er lebt eben für die Literatur! Es ist doch ideal, dass ein Lehrender so für sein Fach brennt, da könnte sich so manch anderer eine Scheibe abschneiden …“ – „Da hast du natürlich recht! Ganz zu schweigen davon, dass du selbst manchmal ein bisschen vergeistigt sein kannst, das habt ihr gemeinsam.“ Hanna lächelte, wissend, verschwörerisch. Mit ihr muss ich nie viel reden, doch sie versteht trotzdem so vieles, und weiß mehr, als ich sage.
Dieses Semester dann hatte ich es endlich gewagt. Kein „Entzug“ mehr, dafür war meine Sehnsucht so groß. Und das Seminarthema genau mein Fall. Nun erlebte ich ihn also zum ersten Mal nicht nur in großen Hörsälen sondern viel näher. So schien er dann auch näher und menschlicher, doch, wie Hannah auch fand, distanziert. Vielleicht eine Vorsicht im Umgang mit Studierenden, vielleicht Schüchternheit, vielleicht geistige Höhenflüge, die uns verborgen blieben. Dennoch blieb seine mitreissende Freude an Sprache, die fast alle, die an dem Kurs teilnahmen, dazu bringen konnte, angeregt an Diskussionen teilzunehmen. Auch ich konnte mich nach anfänglicher Schüchternheit nicht mehr stoppen, zu wichtig waren das Thema, die Texte, die Literatur. Wenn er selbst Textstellen vortrug, kribbelten meine Handflächen und ich versuchte mein Erröten hinter meinem Kaffeebecher zu verstecken.
Nun saß ich da, so nah vor ihm wie nie und wollte stotterfrei über meine Hausarbeit sprechen. Ich holte tief Luft. „Hi. Ich – äh – ich bin in Ihrem Kurs zu deutschen Gedichten der Jahrhundertwende.“ Er lächelte. „Das weiß ich doch. Ihre bereichernde Teilnahme am Kurs lässt gar nicht zu, dass ich Sie nicht einordnen kann.“
Es war Ende November, nur drei Wochen vor Semesterende, als wir uns an der Ecke des Hauptgebäudes der Universität trafen. Ich wollte erröten, grüßen und weitergehen (das Erröten war natürlich nicht gewollt, aber obligatorisch), doch es war eindeutig, dass wir in die gleiche Richtung mussten. Wir waren beide auf dem Weg zum Expressionismus-Seminar, das in einem abgelegeneren Gebäude stattfand, zu dem man ein wenig laufen musste. Er hatte wohl die gleiche Erkenntnis, lächelte und fragte: „Sie wollen auch dahin?“ Machte eine Kopfbewegung in die grobe Richtung. Ich nickte nur, so schüchtern, und nun liefen wir zusammen. Ich hatte mir aus der Uni-Caféteria noch eine heiße Schokolade zum Mitnehmen und Hände-Wärmen geholt, doch bei der Hitze, die mir in den Kopf stieg, wäre ein gekühltes Getränk wohl besser gewesen. „Es ist so schön, dass es schneit. Manchmal denke ich, es gibt kaum noch richtig winterliche Winter“, sagte ich, einfach, um nicht stumm zu sein. Scheu sah ich zu ihm hin, er nickte und lächelte. Trug einen schwarzen Filzmantel und eine gleichfarbige Wollmütze, auf denen sich weiße Schneeflocken ansammelten. Er sagte nichts, aber was soll man auch zu einer Anmerkung über das Wetter sagen? Mir kam ein Zitat von Oscar Wilde in den Sinn, aus The Importance of Being Earnest, einem meiner liebsten Theaterstücke: „Immer, wenn Leute mit mir über das Wetter reden, habe ich das Gefühl, dass sie eigentlich über etwas ganz anderes reden wollen.“
Ob er ahnte, dass ich mit ihm über anderes, oder eher: so viel mehr reden wollte? Über alles, was es gab, zwischen Himmel und Erde und darüber und darunter? Vielleicht ahnte er es da schon, vielleicht auch nicht.
„Ich mag den Winter auch. Nur wirkt die Stadt dann leider immer etwas grau und ausgestorben. Im Frühjahr und Sommer hat man ja wenigstens noch die Bäume in den Alleen und auf dem Campushof.“ Endlich sprach er.
„Naja“, ich lächelte. „Auch die tote Natur hat ja etwas. Ich gehe da gern im Stadtpark spazieren. ‚Komm‘ in den totgesagten Park und schau …‘“ Ein wenig prätentiös, beim Smalltalk mit dem verehrten Dozenten Poesie zu zitieren, doch wie ich ihn so ansah und sein Lächeln fühlte, wollte ich am liebsten nur noch in Gedichten sprechen, da meine eigene Sprache den Emotionen, die mich übermannten, nicht hätte Rechnung tragen können.
„Mh.“ Er biss sich kurz auf die Lippen um ein Grinsen zu unterdrücken. „Ich will ja nicht sagen, Ihr Zitat sei fehl am Platz, aber das ist ja eigentlich eher ein Herbstgedicht. Bei Ihrer Begeisterung für Stefan George sollten Sie das doch eigentlich wissen.“ So ein Besserwisser, aber besserwissen konnte ich auch. „Eigentlich ist ja bis zum 21. Dezember offiziell kalendarisch noch Herbst. Bei Ihrem großen Wissen über alles sollten Sie das doch eigentlich wissen.“ Kurz grinste auch ich, nur um dann schnell in seinem Gesicht nach Zeichen zu suchen, ob ich zu weit gegangen war. Aber nein, er verstand Spaß. Er zog eine Augenbraue hoch. „Ich wirke also, als hätte ich großes Wissen über alles? Damit wäre das Ziel meiner Performanz ja erreicht.“ – „Ähm. Ja. Man hat schon so den Eindruck, dass es nichts gibt, was Sie nicht wissen …“ Ich versuchte, das leichthin zu sagen, mir das Ausmaß der Bewunderung für ihn nicht anmerken zu lassen. Er versuchte, mein Kompliment abzumildern: „Ach, ich habe ja schon einige Jahre mehr Erfahrung im Leben und Lernen als Sie alle.“ Was sollte denn das nun wieder? War ihm meine Aussage schlicht unangenehm? Aber zu übertriebener Bescheidenheit hatte er nie zu neigen geschienen. Wollte er mir deutlich machen, dass er älter war als ich?
Ich musste wieder wegschauen, fühlte mich komisch.
Entweder er hatte gemerkt, dass ich unangenehm berührt war, und wollte mich ablenken, oder er hatte nun ein Thema gefunden, auf das er anspringen konnte, jedenfalls sprach er schon schnell weiter: „Da Sie Herrn George zitierten – ich freue mich schon wirklich sehr darauf, Ihre Hausarbeit zu lesen! Sind Sie denn in ihrer Planung inzwischen schon vorangeschritten?“ Froh über die Ablenkung musste ich dennoch zugeben: „Bisher noch nicht so sehr, das steht für die Ferien an. Jetzt gegen Semesterende muss man sich ja immer auf einige Klausuren vorbereiten. Eventuell auch nachbereiten, wozu im Semester die Motivation gefehlt hat …“ – „Dass es Ihnen mal an Motivation und Fleiß fehlt, kann ich mir ja wirklich nicht vorstellen!“ entgegnete er und schien aufrichtig überrascht. Ich wusste nicht, wie ich reagieren sollte. Natürlich wollte ich, dass er meine Motivation spürte, doch ich musste auch an die Schulzeit denken, wie schlecht es war, eine Streberin zu sein. Plötzlich blieb er stehen und sah‘ mich forschend an. Meine Gedanken waren mir wohl ins Gesicht geschrieben. „Hey. Die Zeiten, in denen Fleiß ‚uncool‘ war, sind vorbei. Ihre Begeisterung ist großartig und ich wünschte mir, mehr Studenten wären so.“ Seine Stimme war sehr tröstend, und die Finger-Anführungszeichen, die er um ‚uncool‘ malte, so süß. In meiner Verlegenheit konnte ich nur auf seine Hand sehen, auf die Finger, die immer noch locker in Gänsefüßchenformation gebogen waren.
„Oh, Sie tragen ja gar keinen Ehering mehr!“ rutschte es mir heraus. Er sah mich ernst an und erst jetzt fielen mir die dunklen Schatten unter seinen Augen auf. „Das haben Sie sehr aufmerksam bemerkt“, sagte er nur, in einem Tonfall, den ich nicht zuordnen konnte. Den Rest des Weges legten wir schweigend zurück.
„Kannst du dir vorstellen, dass ich das einfach so gesagt habe?!“ Ich spürte, wie ich schon wieder errötete, und verbarg instinktiv mein Gesicht mit meinen Händen, wie ich es zu tun pflegte, wenn mir etwas unangenehm war. Als könnte der andere Part mich dann nicht sehen.
Nun war der andere Part aber Hanna, und vor der musste mir doch wirklich nichts peinlich sein. Wir hatten uns im Freiblock vor der folgenden Vorlesung in unsere Lieblingsbäckerei mit integriertem kleinen Café zurückgezogen. In der Mensa war es um die Mittagszeit einfach zu voll, außerdem gab es hier die besten aromatisierten Latte Macchiatos zu erschwinglichen Preisen. Gerade hatte ich hier von der Frage erzählt, die mir vorhin so ungefiltert herausgerutscht war. Bei meiner Verzweiflung kicherte Hanna kurz, schaute mich dann sofort mitfühlend an. „Was soll er denn jetzt bitte von mir denken?“, fügte ich noch hinzu, wusste dabei ja selbst nicht, was ich von mir denken sollte. War mir zuvor doch gar nicht bewusst gewesen, dass ich seinen Ehering so stark wahrgenommen hatte. Ach.
„Ich … ich weiß nicht“, ratlos zuckte Hanna mit den Schultern. „Dass du sehr aufmerksam bist? Dass dir unverfänglicher Smalltalk nicht liegt?“ Sie versuchte mich mit einem lieben Lächeln aufzumuntern, doch ich konnte spüren, wie mein Herz schneller zu schlagen begann. Hinter Hannas Rücken hatte das Objekt unserer Unterhaltung die Bäckerei betreten. Zum Glück hatte er nicht in unsere Richtung gesehen, sondern war direkt zum Tresen gegangen um eine Bestellung aufzugeben.
Hanna hatte sich beim Anblick meines entsetzten Gesichts umgedreht. „Vielleicht bestellt er ja nur etwas zum Mitnehmen und geht dann?“, bemühte sie sich, mich zu beruhigen.
Doch nein. Er wandte sich, nun eine Tasse in den Händen, in das Caféinnere und dabei streifte sein Blick auch den Tisch, an dem Hanna und ich saßen. Zuerst schien er uns nicht wahrzunehmen, dann zeigte sich Erkennen in seinem Blick. Er nickte mit einem Gesichtsausdruck, der eigentlich eher das Fehlen eines Ausdrucks war, und musste sich dann scheinbar sehr intensiv darauf konzentrieren, sein Getränk zu einem Tisch in der Ecke des Raumes zu tragen.
„Oh, Mist“, ich seufzte, war mir mit einem Mal aber sicher, was ich tun musste. „Ich gehe zu ihm hin, und entschuldige mich einfach kurz, dass ich eine Grenze überschritten habe.“ Hanna nickte. Beeindruckt, oder zustimmend, oder beides, oder keins davon. „Tu das! Er wird er wertschätzen. Du wolltest ja nichts Böses …“ Ja. Aber was wollte ich dann?
Als ich dann vor ihm stand war mein Mut dann fast wieder verflogen. Er, noch sitzend, schaute zu mir hoch, und ich hatte den Eindruck, als sei ihm die Situation mindestens so peinlich wie mir. Mit der einen Hand – der, mit dem fehlenden Ring – spielte er am Teebeutelzipfel herum, der noch an seinem Fädchen aus der Tasse ragte.
Ich holte tief Luft. „Es … Ich wollte nur sagen, dass es mir Leid tut. Meine Frage vorhin. Ich wollte Ihnen nicht zu nahe treten. Es ist nur … wenn ich auf der Suche nach Gesprächsthemen bin, dann fallen mir eben manchmal Sachen auf oder ein, die sich nicht wirklich als Themen eignen. Aber dann ist mein Mund schneller als mein Gehirn, und, naja, so endet das dann.“ Für eine Literaturstudentin war das vielleicht wenig eloquent, aber ich studierte die schönen Worte ja mehr, als ich sie selbst produzierte. Und immerhin hatte ich ihm ein Lächeln ins Gesicht gezaubert. Ein kleines, das gleich wieder verschwand. Aber wütend wirkte er auch nicht. Insgesamt viel weicher als in der Uni, und müder.
Müde war auch seine Stimme, als er dann sprach: „Das glaube ich Ihnen, dass Sie nicht absichtlich etwas Unangenehmes ansprechen wollten, so schätze ich sie auch gar nicht ein. Da die Sache wahrscheinlich eh bald die Runde macht, als Dozent ist man ja irgendwie eine Person des öffentlichen Lebens, kann ich Ihnen es ja einfach sagen – sofern Sie dann nicht selbst zu eifrig in der Gerüchteküche tätig sind.“
„Also, so bin ich wirklich nicht!“, verteidigte ich mich, bis mir auffiel, dass sein Blick eher gespielt streng war.
Er fuhr fort: „In der Tat sind meine Frau und ich zur Zeit dabei, eine Scheidung ins Laufen zu bringen. Es hat sich schon ein paar Jahre angebahnt, das schon, was nicht heißt, dass es nicht schmerzhaft und aufwühlend wäre. Das nur als Erklärung, falls ich in den letzten Wochen etwas neben der Spur gewirkt habe.“
Ich schüttelte den Kopf, wurde gleichzeitig von vielen Empfindungen übermannt. „Oh, dafür müssen Sie sich nicht entschuldigen! Es tut mir nur Leid, dass Sie sich schlecht fühlen. Ich hoffe, es geht bald wieder besser.“ Oh, wie unangenehm. Ich wusste einfach nicht, was man zu einer Scheidung sagte – die meisten meiner Freundinnen nahmen gerade eher so das Projekt „Hochzeit“ in Angriff.
„Ist schon ok. Das Leben hinterlässt nun mal seine Narben auf der Seele, um mal etwas pathetisch zu werden. Doch es gibt ja immer noch gute, freundliche Menschen, die das Existieren von Tag zu Tag netter machen.“
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