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Kapitel: | 9 | |
Sätze: | 1.445 | |
Wörter: | 16.452 | |
Zeichen: | 96.353 |
Ein Gott in der Moderne zu sein, hat seine Vorteile. Besonders wenn man ein Gott im Ruhestand ist. Endlich fallen die ganzen Verpflichtungen weg. Endlich nerven die Menschen einen nicht mehr mit belanglosen Wünschen, wie die Heilung eines geliebten Goldfisches, welches wegen Überfütterung gestorben ist. Aber das wichtigste: Seitdem stehe ich nicht mehr unter der Fuchtel meines Vaters! Was aber vielleicht daran liegt, dass ich nicht mehr bei ihm wohne und wir kaum Kontakt haben.
An dieser Stelle sollte ich mich mal vorstellen, damit ihr meine Freude besser nachvollziehen könnt.
Ich heiße Apollo. Einst war ich der griechische Sonnengott sowie der Gott der Heilung, der Künste und der Weissagung. Ich war Teil der zwölf olympischen Gottheiten, unter der Herrschaft meines Vaters – der Gott des Himmels Zeus. Es ist nicht so, dass ich ihn hasse. Ich mag seine Art nicht, seine ganze Persönlichkeit. Sogar vom Olymp hatte er mich paar Mal gekickt! Einmal weil ich einen seiner Zyklopen vernichtet hatte, dabei hatte Zeus angefangen. Er hatte meinen geliebten Sohn Asklepios getötet! Da war es doch wohl mein gutes Recht mich für den Tod meines Sohnes zu rächen, oder?
Jedenfalls sollte ich auf der Erde eine Strafe verrichten und danach ließ mich Zeus wieder auf den Olymp. Wenigstens war er so gütig mir meine Göttlichkeit nicht wegzunehmen. Eingrenzen ja, aber komplett wegnehmen nicht. So nett war der werte Vater dann doch noch. Aber um den geht es hier zum Glück nicht.
Es geht um mich und mein Leben, meine Zeit um Ruhestand. Lasst mich überlegen, was wichtig ist zu erzählen...
Anfangs wusste ich nicht, was ich mit meiner neuen freien Zeit anfangen sollte. Es gab noch kein Internet, damit ich mir Inspiration holen konnte. Schwer vorstellbar, ich weiß, aber so war das damals nun mal.
Jedenfalls hatte ich mich für den Anfang für eine Weltreise entschieden – und das nicht einmal. Jedes Mal, wenn sich die Welt auf irgendeine Weise wandelte. Sei es wegen der Industrialisierung oder kulturelle Veränderung in den Ländern. Allein wegen der Kultur blieb ich eine Weile in Japan. Wenn ihr mal die Chance dazu habt, macht es! Japan ist in meinen Top drei der Länder, die ich öfters besuchen möchte. Die Kimonos, das Essen, die Teesorten und allen voran die Haikus. Die Japaner verpacken eine Geschichte in drei Zeilen bestehend aus fünf, sieben und wieder fünf Silben.
Leute, sie haben die Dichtkunst auf eine neue Stufe gehoben! Das nenne ich Kunst!
Okay, ich schweife ab. Kurz gesagt, mehrere jahrhundertelang war ich auf Weltreise, lebte und wohnte zwischen den Sterblichen. Nur im Gegensatz zu meinem Vater habe ich in der Zeit mit keinem Sterblichen angebandelt. Denn ich kann mich zurückhalten. Oft war es schwer, aber machbar. Dad kann sich eine Scheibe von mir abschneiden. Sofern es nicht von meiner gutaussehenden Seite ist. Also, am besten schneidet er sich gar nichts von mir ab, nicht mal metaphorisch. Ich habe nur gutaussehende Seiten!
Ich schweife schon wieder ab. Tut mir leid, Leute. Aber ich schwöre beim Styx, es gibt nur noch eine Sache zu sagen.
»Ich verliere meine Göttlichkeit.«
Ich spürte es im ganzen Körper, in meinen Adern, in meinem Herzen, vom Kopf bis zu den Zehen. Es war nur wenig, aber ich spürte es jeden Tag. Jeden verfluchten Tag verringerte sich meine Göttlichkeit. Sofern ich sie für keine aufwendigen Sachen, wie die Teleportation in ein fernes Land, missbrauchte, blieb es bei kleinen Mengen pro Tag.
Das erste Mal bemerkte ich eine Schwankung, nachdem ich für ein Musical an den Broadway teleportiert war. Das Gefühl war im ersten Moment nicht klar zu identifizieren, aber es war da – ein Prickeln in meinen Fingerspitzen, was sich im Laufe des Abends im ganzen Körper ausbreitete. Natürlich hatte ich es einfach als Teil meiner Aufregung wahrgenommen, immerhin befand ich am Broadway! Tags darauf traf ich mich mit meinem kleinen Bruder Dionysos. Er hatte mich spontan zu sich eingeladen, auf ein Glas Wein.
»Ich weiß, wovon du redest«, hatte er mir gestanden. »Ich selber spüre es auch.« An seinen frustrierten Blick erinnere ich mich bis heute. Im Gegensatz zu mir oder unseren anderen göttlichen Verwandten wurde Dionysos als Mensch geboren. Erst nachdem er den Wein erfand, hob ihn unser Vater in den Götterstatus und gab ihm einen Platz im olympischen Rat der Zwölf. Den Verlust der Göttlichkeit musste ihn noch mehr schmerzen als mir.
Die Türklingel ließ mich plötzlich zusammenzucken. Flüchtig fuhr ich mir mit einer Hand durch meine dunklen Haare und stand vom Frühstückstisch auf, um zur Tür zu gehen. Als ich die Tür öffnete, hellte sich meine Miene sofort auf.
»Charlie! Was verschafft mir die Ehre?«
Charlie hob eine seiner geschwungenen Augenbrauen. »Hast du mal auf die Uhr geguckt? Wir müssen in einer halben Stunde in der Schule sein.« Vorwurfsvoll tippte er auf das Display seiner Smartwatch.
Ich stieß einen altgriechischen Fluch aus, schlug mir mit der flachen Hand gegen die Stirn. Ich war so sehr in Gedanken vertieft, dass ich die Uhrzeit vergessen habe. Hätte Charlie mich nicht jeden Morgen abgeholt, wäre ich vermutlich zu spät zum Unterricht gekommen. Ich schenkte ihm ein schiefes Lächeln.
»Gib mir fünf Minuten, ja? Ich brauch nicht lange.«
»Beeil dich.« Und genau das tat ich. Frisch geduscht und angezogen war ich zum Glück bereits, weshalb ich mir lediglich die Turnschuhe anziehen und den Rucksack schultern musste. Unter den wachen Augen meines Nachbarn (die Tür stand noch offen), überprüfte ich eilig, ob ich ja nichts vergessen habe.
»Handy, Schlüssel, Portmonnaie ...«, murmelte ich leise vor mich hin. »Perfekt, hab alles dabei!«
»Gut, dann komm jetzt!«, bat Charlie. Unruhig trat er von einem Fuß auf den anderen, biss sich auf die Unterlippe. Er hasste es, zu spät zu kommen. In der Hinsicht war er typisch deutsch. Ich lächelte in mich hinein. Genau das schätzte ich so an Charlie.
Die Gesamtschule lag lediglich zu Fuß zwanzig Minuten von meinem Zuhause entfernt. Der Weg führte mitten durch die Innenstadt, die um diese frühe Uhrzeit einer Geisterstadt glich. Um kurz nach sieben Uhr morgens wachten die meisten arbeitenden Personen vermutlich gerade erst auf.
Ich war jahrhundertelang für den Sonnaufgang und -untergang zuständig. Glaubt mir, gelegentlich genehmigte ich mir mit göttlicher Weitsicht einen Blick in die heimischen Wohnräume. Ich weiß also, wovon ich rede.
»Bist du eigentlich auf die Geschichtsklausur heute vorbereitet?«, fragte Charlie und musterte mich von der Seite.
Ich grinste. »Das Thema ist die griechische Mythologie. Darauf muss ich mich nicht vorbereiten. Das hab ich alles selber erleb-... ich mein, alles im Kopf!« Wie zur Bestätigung (und von meinem Versprecher abzulenken), nickte ich bekräftigend und deutete mir mit einem Daumen auf die Stirn.
Es wäre sicher nicht fatal, wenn ich mich als Gott outen würde, jedoch wollte ich es auch nicht gleich an die große Glocke hängen – im Gegensatz zu früher zumindest. Außerdem war ich im Moment nicht der (Ex)Gott Apollo, sondern der Mensch Freddy Foster.
Hinter den großen, runden Brillengläsern verengten sich blaue Augen. Charlie schürzte die Lippen. Aber dann hellte sich seine Miene auf und er sagte: »Hoffentlich ist die Klausur nicht allzu schwer. Ich kam die Tage kaum zum Lernen.«
»Dein Ernst, Charlie?« Ich rollte mit den Augen. »Vor jeder Klausur das Gleiche mit dir!« Mit Gestiken unterstreichend, versuchte ich seine Stimme nachzuahmen. »›Ich schaff das nicht‹, ›Ich hab nicht genug gelernt‹, ›Das wird sicher eine Drei Minus‹. Jedes Mal! Und trotzdem hast du immer die beste Arbeit geschrieben.«
»Nicht immer.« Verlegen kratzte sich Charlie am Kinn.
»Okay, abgesehen von der einen Matheklausur und der Lernzielkontrolle in Englisch. Aber ansonsten immer.« Freundschaftlich klopfte ich Charlie auf die Schulter, schenkte ihm ein Lächeln. »Hör auf, ständig so pessimistisch zu denken. Du wirst die Klausur rocken! Verstanden? Und wenn es eine Drei Minus wird oder schlechter, sei es drum. Das passiert. Fehler sind menschlich. Außerdem kannst du die schlechte Note mit deiner mündlichen Beteiligung wieder ausgleichen.«
»Du hast Recht, Freddy.« Charlie erwiderte das Lächeln, wobei sich nur ein Mundwinkel hebt. »Wie immer.«
Endlich erreichten wir die Gesamtschule und betraten diese durch den Haupteingang und folgten einem Strom aus Minderjährigen in den ersten Stock. Den Flur entlang, am Sekretariat vorbei und durch drei Glastüren hindurch später öffnete ich die Tür zum Klassenraum der 9b – unserer Klasse, von der fast alle anwesend waren.
Viele saßen auf ihren Plätzen, einige auf den Tischen mit den Schuhsohlen auf ihren Stühlen. In kleinen Gruppen plauderten sie über ihre Pläne für das kommende Wochenende. Charlie und ich setzten uns an unseren Doppeltisch. Sofort kam Silvia angewirbelt. Ihr feuerrotes Haar flog dabei um ihren Kopf, der karierte Rock um ihre Beine. Mit einem breiten Grinsen stützte sie sich mit den Ellenbogen auf meinem Tisch ab, das Kinn auf den Handballen.
»Habt ihr schon das Neuste gehört?«, fragte sie, ein Glitzern im Augenwinkel. Ihre grünen Augen huschten zwischen mir und Charlie hin und her.
»Nein, was denn?«, fragte Charlie.
»Morgen Abend eröffnet in der Kaufhofpassage ein neuer Club!«
»Und... was ist so toll an diesem Club?«, erwiderte ich.
»Was so -« Silvia schnappte nach Luft und packte mich plötzlich an den Schultern. Ich blinzelte überrascht auf. »Der Club heißt ›Squere‹, okay? Ein Safespace für queere Menschen! Wollen wir da rein?«
»Ähm-... Was sagst du, Charlie?« Hilfesuchend sah ich zu meinem besten Freund. Sein Blick durchbohrte die Tischplatte vor ihr. Die zarten Lippen aufeinandergepresst. Es war kein göttliches Empathievermögen nötig, um zu wissen, dass ihm das Club-Thema nicht behagte. Charlie war der introvertierter Typ Mensch. Wenn unsere gleichaltrigen Mitschüler feiern gingen, hockte er mit einer Tasse heißer Schokolade zuhause und schmökerte in einem Buch. Was ich durchaus verstehen konnte! Feiern mit Freunden war schön, aber ein ruhiger Abend allein war es genauso. Etwas, was Dionysos nicht so sah. So als Gott der Partys.
Aber zurück zum Thema.
Ich streckte eine Hand aus, um diese sanft auf Charlies Arm zu legen. Bei der Berührung zuckte er leicht zusammen. Unsere Blicke trafen sich, tauschten ein Lächeln aus.
»Alles gut. Du musst ja nicht mitkommen, würde aber dazu gerne deine Meinung im Allgemeinen wissen.«
»O-okay«, stammelte Charlie flüsternd, atmete einmal tief durch und hob den Kopf. »Ich finde das super«, sagte er. »Safespace für Leute wie uns gibt es leider zu wenige.« Zustimmend nickten Silvia und ich. Damit sagte er was vollkommen Richtiges, was gleichzeitig traurig war. Aber daran war die Gesellschaft schuld. Allein das Inkrafttreten der Ehe für alle hatte viel zu lange gedauert. Für Gottheiten undenkbar. Wir suchten uns je nach Laune, unser Aussehen selber aus – ja, sogar das Geschlecht! Nicht jeder, aber so einige. Um es mit den heutigen Begriffen zu sagen: Gottheiten sind im Grunde nichtbinär.
»Also, Freddy, wollen wir hin?«, hörte ich Silvia fragen. Sie hatte mittlerweile von mir abgelassen und erneut das Kinn auf die Handballen abgestützt. Erwartungsvoll sah sie mich an. Es gab so einige Gründe für mich abzusagen, aber bevor ich darüber richtig nachdenken konnte, hörte ich mich selber »Klar, warum nicht?« sagen und merkte, wie ich mit den Schultern zuckte.
In einer Langsamkeit, die dem Faultier Flash aus Zoomania Konkurrenz machte, öffnete Silvia ihren Mund und ein ohrenbetäubendes Quietschen entgleitet ihrer Kehle. Klares Anzeichen dafür, dass sie sich über meine Antwort freute. Nur leider hatte das auch zur Wirkung, dass unsere Mitschüler ihre Gespräche abrupt beendeten und zu uns sahen. Einige verdrehten genervt die Augen.
»Silvia, nicht so laut«, bat Charlie händeringend. »Die anderen gucken schon.«
Silvia wischte seine Worte mit einer Hand weg. »Ach, lass sie doch gucken! Mit meinem sexy Body haben sie Grund genug.« So gut wie jedem schenkte sie ein aufreizendes Zwinkern, auch denjenigen, die jetzt erst das Klassenzimmer betraten. Viele wendeten sich ab. Einige der gutaussehenden Jungs erwiderten das Zwinkern genauso aufreizend und machten eine ›Ruf mich an‹-Handbewegung. Ich meinte sogar bei ein oder zwei Mädchen in den Augen ein ehrliches Interesse an Silvia zu sehen. Zumindest ehrlicher als bei den meisten Jungs, die dem Klischee eines Machos entsprachen.
Der strenge Tonfall einer dunklen Stimme ließ alle Köpfe plötzlich zur Tür herumreißen: »Hinsetzen und Stifte raus. Wir schreiben eine Klausur!«
Erleichtert legte ich den Kugelschreiber ins Mäppchen, als die Schulklingel das Ende der Doppelstunde ankündigte und damit das Ende der Klausur.
Sie war schwieriger als ich anfangs dachte. Teils waren die Fragen wirklich komisch gestellt, aber ich dachte, schlechter als eine Drei kann es nicht werden. Hoffentlich. Ich mein, griechische Mythologie! Das war mein Steckenpferd schlechthin. So als olympischer Gott.
Während des Unterrichts musste ich mich verdammt oft zurücknehmen, damit ich nicht plötzlich Zeus’ Lieblingsnachspeise dazwischenrufe. Zugegeben, das hatte ich tatsächlich getan und es als Witz verpackt. Sogar Herr Flieder, der als strengster Lehrer der Schule galt, konnte sich kein Schmunzeln verkneifen. Trotzdem bekam ich einen Tadel und einen Eintrag ins Klassenbuch wegen angeblichem Stören des Unterrichts. Aber wert war es mir alle mal.
»Kommst du, Freddy?«, rief Silvia von der Tür aus. Sie und Charlie standen mit geschulterten Taschen auf dem Flur.
»Ja, Moment!«, rief ich zurück und fegte mit einer einzigen Armbewegung das Federmäppchen in meinen pseudo-goldenen Rucksack. Ich schloss den Reißverschluss und schulterte diesen auf dem Weg zu meinen Freunden. Zusammen verließen wir das Schulgebäude, um die große Pause auf dem Schulhof zu verbringen. Wie üblich suchten wir unseren Stammplatz auf. Der belegt war.
Ich stöhnte auf. »Nicht der!«
Kevin Richter, Elftklässler und Erbe eines Großkonzerns, saß mit seinen Kumpanen auf der Tischtennisplatte. Ich hätte ihn attraktiv gefunden, wenn ich ihn mögen würde. Ich mochte ihn aber nicht. Aus gutem Grund.
Mit einem hinterlistigen Grinsen fixierte Kevin Charlie. Sofort legte ich ihm einen Arm um die Schultern, um ihn von der Gruppe wegzudrehen. Er zuckte zusammen, als Kevin mit seiner basslastigen Stimme zu sprechen begann.
»Haben wir dir nicht gesagt, dass wir Leute wie dich nicht an unserer Schule haben wollen?« Der Großkotz von einem Erbe rutschte von der Platte, schlenderte mit den Händen in den Taschen zu uns herüber. Silvia versperrte ihm den Weg.
»Aus dem Weg, Grimm.« Kevin spuckte ihren Namen aus, als wäre er eine Beleidigung für seine Ohren. »Du interessierst mich nicht. Ich will nur mit es reden.«
»Ihr Name lautet Charlie und sie ist kein es, sondern ein Mensch!«, verteidigte Silvia unseren Freund. Sie stand nun direkt vor ihm, tippte mit einem Finger gegen seine Brust. Mit ihren Absatzstiefeln war sie ein Kopf kleiner als Kevin, wodurch sie nur allzu bedrohlicher auf mich wirkte.
Kevin wich einen Schritt zurück, stieß ein verächtliches »Tzz« aus. »So etwas ist kein Mensch«, fügte er mit Blick auf Charlie hinzu. »So etwas ist eine Beleidigung für die binäre-... Au!« Überrumpelt fiel Kevin auf seinen reichen Hintern, eine Hand bedeckte seine Nase. Blut quoll durch seine Finger hindurch. Alle Blicke, die von meinen Freunden und auch von seinen, waren auf mich gerichtet. Mit erhobener Faust und vor Wut verzogenem Gesicht stand ich über Kevin. Verachtungsvoll sah ich auf ihn hinab.
»Niemand – absolut niemand! – hat das Recht einen meiner Freunde zu beleidigen, klar?!« Ich ließ meinen Blick zu Kevins Kumpanen schweifen, die sofort zurückschreckten und von der Tischtennisplatte rutschten.
»Kein Ding, Mann«, sagte Oskar und schluckte schwer. Jonas neben ihm hob beschwichtigend die Hände, stammelte: »W-wir v-verschwinden ja schon, Alter, also beruhig dich.«
Wie von der Tarantel gestochen, schnappten sie sich ihren Anführer und nahmen mit ihm die Beine in die Hand. Für einen Moment sah ich ihnen hinterher, bis sich eine Hand auf meinen Arm legte. Ich blickte in das Gesicht des Besitzers. Sofort verpuffte mein Ärger, was mich entspannen und die Faust senken ließ.
»Fr-Freddy -«, flüsterte Charlie. Schock stand ihm ins Gesicht geschrieben. Ich biss mir auf die Unterlippe, wich seinem Blick aus. Noch nie hatte ich in seiner Anwesenheit zu Gewalt gegriffen, hatte es stets vermieden. Aber Kevins Worte ... Unmerklich schüttelte ich den Kopf.
Besänftigend lächelte ich Charlie an. »Tut mir leid. Es war nie meine Absicht, dass du mich so siehst.«
»Sch-schon gut ...«, stammelte Charlie, nahm seine Hand weg und berührte mit ihr stattdessen seinen Eigenen. Verlegen sah er weg, ein kleines Lächeln zeichnete sich auf seinem Gesicht auf – dieses eine bezaubernde Lächeln, wo sich nur ein Mundwinkel hob. Er verzieh mir tatsächlich! Eine wohlige Wärme erfüllte mein Herz und ich spürte etwas, was ich seit Jahrhunderten nicht mehr gespürt hatte: Liebe, Verbundenheit mit einer ganz besonderen Person.
»Heeey! Erde an Freddy!« Energisch schnippte Silvia gegen meine Stirn, was mich einige Schritte rückwärts stolpern ließ. Ich blinzelte. »Wie-? Was?«
Silvia stemmte die Hände in die Hüften. »Na? Endlich wieder unter uns?«
»Sorry«, murmelte ich, »war in Gedanken.«
»Haben wir gesehen«, erwiderte Charlie. »Du hast wie weggetreten ausgesehen.« Besorgt legte sich seine Stirn in Falten. »Ist alles okay?«
»Mhm«, machte ich und zwang mich zu einem Lächeln. Nichts war okay. Einige Zeit, bevor ich mich an dieser Schule anmeldete, hatte ich beim Fluss Styx geschworen, dass ich fortan ein ruhiges und vor allem gewaltfreies Leben führen wollte. Damals wusste ich nicht, was ich mit diesem Schwur eigentlich bezwecken wollte. Vielleicht wollte ich mich endgültig von meinem alten Leben als griechische Gottheit trennen oder ein kleiner Teil von mir dachte sich, ein Schwurbruch hätte keine Konsequenzen für mich, da die Göttin des Flusses vermutlich auch im Ruhestand war.
Wie bei allen Gottheiten dieser Welt sollte ich das meinen Freunden erklären, ohne gleich den Stempel der Verrücktheit aufgedrückt zu bekommen? Das war schlicht unmöglich. Aber eigentlich brauchte ich mich auch nicht zu erklären. Das Einzige, worüber ich mir Sorgen zu machen brauchte, war die Konsequenz einen älteren Schüler geschlagen zu haben.
Und genau das war im Laufe des Schultages der Fall. Aus dem Lautsprecher erschall blechern die Stimme der Sekretärin: »Freddy Foster aus der 9b möge sich bitte beim Direktor einfinden. Freddy Foster aus der 9b bitte!«
Ich wechselte mit meinen Freunden einen Blick. Es war uns allen drei klar, dass Kevin Richter petzen gehen würde, aber dass er dafür bis zur fünften Stunde wartete? Etwas daran stank doch zum Himmel! Sein reicher Riechkolben blutete, bis zum geht nicht mehr. Lange konnte man das nicht verstecken. Ich könnte wetten, dass Kevin nach dem Vorfall nicht mal der Krankenstation einen Besuch abgestattet hatte.
»Frederick?« Die sanfte Stimme unserer Deutschlehrerin Frau Thielemann ließ mich zur Frau Anfang dreißig sehen. »Du kannst deine Sachen direkt mitnehmen. Lass Herr Berger nicht lange warten, ja?«
»Eeh... mhm.« Mehr wusste ich nicht, was ich erwidern sollte, weshalb ich mich beeilte, die Schulsachen in den Rucksack zu wischen. Unter den Blicken meiner Mitschüler und Frau Thielemann verließ ich das Klassenzimmer. Es fühlte sich an, als wäre ich auf dem direkten Weg zum Galgen. Ein unruhiges Gefühl machte sich in meiner Brust breit.
Seit ich hier zur Schule ging, wurde ich noch nie zum Rektor gerufen. Noch nicht mal wegen etwas Positivem, wie etwa, dass ich noch kein einziges Mal im Unterricht gefehlt hatte. (Und ja, es wurden tatsächlich Schüler und Schülerinnen wegen dieser Banalität ausgezeichnet.) Also, mit einem Rauswurf rechnete ich nicht. Wie gesagt, war es mein erster Fehltritt. Schlimmer als Nachsitzen oder den Schulhof von Zigarettenstummeln zu befreien, konnte es nicht werden. Hoffentlich.
Meine Hände schwitzten, als ich vor der Bürotür des Rektors stand. Eilig wischte ich sie an der Hose ab, bevor ich mit den Knöcheln gegen das Holz schlug. Es dauerte keine Sekunde, bis ein »Herein« erklang und ich eintrat. Sofort fiel mein Blick auf Kevin Richter. Er saß vor dem Schreibtisch des Rektors und drückte sich ein Taschentuch, was sich mit Blut vollgesogen hatte, an die Nase. Trotz des Tuches lief ihm ein rotes Rinnsal über die Lippen, die zu einem selbstgefälligen Grinsen verzogen waren. Mit großer Mühe unterdrückte ich das Bedürfnis, die Augen zu verdrehen.
»Danke für dein Erscheinen, Frederick«, sagte Herr Berger. Unser Rektor war ein Mann mittleren Alters mit schütterem Haar. Dunkle Schatten waren unter seinen müden Augen sichtbar. Die Hände verschränkte er vor dem Gesicht.
»Setz dich doch bitte.« Ohne Zögern kam ich seiner Bitte nach und ließ mich auf dem Stuhl nieder, den Rucksack stellte ich zwischen meine Beine. Nervös lehnte ich mich gegen das ungemütliche Rückenpolster, presste die Lippen aufeinander. Über den Brillenrand hinweg musterte Herr Berger mich.
»Du weißt, wieso du hier bist?« Ich nickte. Was war das für eine selten dämliche Frage? »Dann verstehst du auch, dass ich deine Eltern benachrichtigen muss.«
»Was?« Ruckartig richtete ich mich gerade auf dem Stuhl auf, schluckte. Daran hätte ich denken können. Fast keiner aus meiner Familie, außer Artemis und Dionysos, wussten, dass ich zur Schule ging. Nicht mal meiner Mutter hatte ich hiervon berichtet. In kurzer Zeit spuckte mein Gehirn eine Ausrede aus, gerade rechtzeitig, da Herr Berger zum Telefon griff.
»Meine-... meine Eltern sind zurzeit nicht zuhause.«
»So?« Herr Berger ließ vom Hörer ab, öffnete stattdessen eine Schublade und kramte geräuschvoll in ihr herum. Er führte zwei bedruckte Zettel zu Tage und entnahm einer Tasse einen blauen Füllfederhalter.
»In dem Fall würde ich dich bitten, deine Eltern eigenständig zu benachrichtigen. Richte ihnen aber aus, dass ich trotz allem mit ihnen reden möchte. Gleich am Montag. Das gleiche gilt auch für dich, Kevin.«
»Wie bitte?! Ich hab rein gar nichts getan!«, versuchte sich der Großkotz von einem Erbe zu verteidigen. Seine freie Hand krallte sich in die Armlehne des Stuhls, die Knöchel traten weiß hervor. Zufrieden über seine Reaktion und die Worte des Rektors grinste ich in mich hinein.
»Sei nicht albern, Kevin«, sagte Herr Berger streng. »Ich kenne dich gut genug, um zu wissen, dass du in dieser Sache nicht ganz unschuldig bist.«
Darauf konnte Kevin nichts erwidern. Unzufrieden grummelte er in seinen nicht vorhandenen Bart, fixierte mich mit einem feindseligen Blick. Ich ignorierte ihn.
Der Füllfederhalter des Rektors kratzte über die Zettel, als Herr Berger die Vordrucke ausfüllte und anschließend seine Unterschrift drunter setzte. Er reichte uns je einen. Kevin entriss ihm förmlich seinen Zettel, während ich meinen faltete und in den Rucksack steckte.
»Ihr könnt dann wieder gehen.« Wie als wären Herr Bergers Worte ein Trigger gewesen, klingelte es zum Schulschluss. Kevin war der Erste, der das Büro fluchtartig verließ. Ich nahm mir wenigstens noch die paar Sekunden Zeit, mich von Herrn Berger zu verabschieden.
»Schönes Wochenende«, sagte ich beim Aufstehen.
»Ja, ja«, brummte Herr Berger und wedelte zum Abschied mit der Hand. Ich brauchte etwas, bis ich realisierte, dass er damit andeuten wollte, ich solle endlich gehen.
Den Rucksack geschultert, ging ich.
Charlie und Silvia warteten vor dem Haupteingang auf mich. Ihre Anwesenheit zauberte sofort ein kleines Lächeln auf mein Gesicht.
»Hey«, sagte Charlie. »Und? Musst du nachsitzen?«
Ich schüttelte den Kopf und erzählte ihnen von dem Gespräch. Kevin erwähnte ich ebenfalls – und das grinsend. »Ihr hättet seinen schockierten Gesichtsausdruck sehen müssen!«, fügte ich lachend hinzu.
»Noch lachst du«, sagte Silvia. »Warte ab, bis der Direx dir eine Strafe aufdrückt, Freddy.«
»Silvia«, erwiderte ich und legte ihr eine Hand auf die Schulter. »Jede Strafe der Welt ist mir wert, solange der Großkotz ebenfalls eine erhält.«
»Und was, wenn du der Schule verwiesen wirst?«, fragte Charlie, die Brauen besorgt zusammengezogen. Er knetete den Saum seines Pullunders.
»Sei nicht albern, Charlie«, sagte Silvia kopfschüttelnd. »Es war sein erstes Vergehen. Mein Tipp, Freddy muss die Schulordnung abschreiben und bekommt einen Tadel in seine Schulakte.«
»Der Meinung bin ich auch«, sagte ich und legte meinen Freunden je einen Arm um die Schultern, drängte sie vom Eingang weg. »Jetzt kommt. Ab nach Hause.«
»Oh, da fällt mir was ein!« Charlie schlug die Faust in die offene Handfläche. »Wer sind überhaupt deine Eltern? Wir haben sie bis jetzt noch nie gesehen. Ich habe sie noch nie gesehen und ich bin dein Nachbar!«
»Meine Eltern ...« Ich schluckte. Dieses Thema hatte ich in ihrer Gegenwart bis jetzt immer Bestmöglichst vermieden. Immer wieder dachte ich mir unterschiedliche Ausreden aus, um meine Freunde aus meinen familiären Verhältnissen rauszuhalten. Sie sollten nicht wissen, dass ich in Wahrheit eine gutaussehende Gottheit war. Ich hatte Angst, dass sie dann von mir einen göttlichen Beweis wollten. In der Geschichte meiner Familie ging das nie gut aus. Mein kleiner Bruder Dionysos lernte dadurch nie seine Mutter kennen.
»Können wir sie nicht mal kennenlernen?«, hörte ich Silvia fragen. Ohne es zu bemerken, waren wir stehen geblieben. Charlie und Silvia standen vor mir und sahen mich forschend an. Silvia hatte die Arme vor der Brust verschränkt. »Am besten wir legen hier und jetzt ein Datum für das Kennenlernen fest. Ich bin für nächsten Mittwoch zum Abendessen. Du kannst uns deine Lasagne auftischen, von der du so oft prahlst.«
»Und deine Créme Brúlee«, fügte Charlie nickend hinzu. Ich presste die Lippen aufeinander, sah von ihm zu Silvia und wieder zurück. Ich seufzte Ergebens und hob beschwichtigend die Hände.
»Okay, okay. Ihr habt gewonnen. Mittwochabend kommt ihr zu mir nach Hause. Sagen wir neunzehn Uhr?«
»Abgemacht!«, riefen Charlie und Silvia wie aus einem Munde.
Kaum war ich zuhause, streifte ich die Turnschuhe von den Füßen und tauschte die Jeans gegen eine Jogginghose. Eindeutig eine der besten Erfindungen der Menschheit! Wie konnten Jogginghosen nur so bequem sein? Das grenzte ja geradezu an ein göttliches Wunder.
Den Rucksack ließ ich im Wohnzimmer elegant zu Boden gleiten, kickte ihn in eine Ecke, wo ich ihn nicht mehr sah. Aus den Augen, aus dem Sinn – wie die Sterblichen zu sagen pflegten. Bis Montag brauchte ich ihn sowieso nicht mehr.
Mit einem zufriedenen Seufzen ließ ich mich auf der Couch nieder. Doch kaum berührte mein hinreißender Hintern das Polster, vibrierte es in der hinteren Gesäßtasche. Ich fischte das Smartphone heraus und blendete den Sperrbildschirm ein. Unter der aktuellen Uhrzeit, dreizehn Uhr, sah ich eine Push-up-Benachrichtigung einer WhatsApp. Mit einem Scan meines Zeigefingers entsperrte ich das Display, um die Nachricht zu lesen.
Silvia
Okay, Fredster, reden wir wieder über das Squere.
Wollen wir uns dort treffen oder holt einer den anderen ab? Wer zahlt die Getränke? Was ziehen wir an? Halten wir im Club nach potenziellen Partnern Ausschau?
Ich schmunzelte. So enthusiastisch war Silvia nur, wenn ihr etwas wirklich wichtig war. Dieser queere Club war es anscheinend.
Ich rieb mir mit der Hand das Kinn, dachte über ihre Fragen nach. Auf die ersten zwei wusste ich prompt eine Antwort. Auf die Letzten allerdings ...
Mein Kleiderschrank war randvoll mit Klamotten, die für einen Club geeignet waren. Wie sollte ich mich nur da für das Richtige entscheiden? Es durfte weder overdressed noch underdressed sein. Es mag für einige von euch überraschend klingen, aber als Freddy Foster wollte ich nicht in der Menge auffallen. Aus dem Grund hatte ich mich auch für ein Aussehen entschieden, was zu einem durchschnittlichen fünfzehnjährigen Teenager passte. Unauffällig dunkles Haar, graue Augen, Sommersprossen, helle Haut.
Als ich an die Frage mit der Partnersuche dachte, tauchte das fröhliche Gesicht von Charlie in meinem Kopf auf und mein Herz schlug Purzelbäume.
Was er jetzt wohl machte?
Abrupt schüttelte ich den Kopf, um den Gedanken an ihn zu vertreiben. Charlie war nichts weiter als ein Freund. Die Zuneigung, die ich heute in der ersten großen Pause verspürte, war rein platonisch und auf freundschaftlicher Ebene!
Das redete ich mir in dem Moment zumindest ein. Zu oft in meinem unsterblichen Leben hatte ich Pech mit Beziehungen gehabt. Wie mit Daphne und Hyazinth, um zwei zu nennen.
Die eine flüchtete vor meiner Liebe und wurde von Gaia in einen Lorbeerbaum verwandelt, während der andere aus Eifersucht vom Windgott Zephyros getötet wurde. Jeder von ihnen war meine große Liebe gewesen. Keine andere Person nach ihnen hatte je wieder mein Herz im Sturm erobert.
Bis heute.
Ein Schluchzen verließ meine Kehle. Stille Tränen rinnen meine Wangen hinab. Flüchtig wischte ich sie mir mit dem Handrücken weg. Immer zum ungünstigsten Zeitpunkt kamen mir die Erinnerungen an Daphne und Hyazinth wieder hoch.
Tief atmete ich ein und wieder aus, um wieder einen klaren Kopf zu bekommen. Silvia wartete auf eine Antwort.
Nach etlichen Whatsapp-Nachrichten, die wir austauschten, fasste Silvia alles noch einmal zusammen.
Also, wir treffen uns um 19 Uhr in der Kaufhofpassage. Jeder zahlt seine Getränke selber. Angezogen wird das, was weder alltäglich noch allzu overdressed ist. Es darf geflirtet werden, aber wir gehen mit niemandem woandershin.
War das alles?
Ich las mir ihre Nachricht ein paar Mal durch, um ganz sicherzugehen, und schickte ihr ein abschließendes »Freu mich drauf!« zurück.
Warmes Wasser floss mir den Körper runter. Vermischt mit dem Schaum des Shampoos und des Duschgels verschwand die klare Flüssigkeit im Abfluss. Ich legte den Kopf in den Nacken und schloss die Augen, während das Wasser mein Gesicht benetzte.
Fast den gesamten Vormittag und Nachmittag hatte ich über das Eltern-Lehrer-Gespräch am Montag nachgedacht. Ich wusste nicht, was ich tun sollte. Na ja, ich wusste es schon, nur traute ich mich nicht. Überraschenderweise. Ich habe es schon immer verstanden, mich mit meinem Vater anzulegen. Als Gott der Dichtkunst verstand ich etwas von der richtigen Wortwahl. Abgesehen von der aktuellen Situation. Warum tat ich mich damit schwer? Bloß weil ich etwas von Zeus wollte und wusste, dass er nie mitmachen würde?
Seufzend lehnte ich die Stirn gegen die weiße Kachelwand der Duschkabine. Am besten ließ ich Dad außen vor und sprach direkt mit Mum. Sie würde mich niemals verurteilen. Aller höchstens sanft beschimpfen, mich anschließend in den Arm nehmen und über den Kopf tätscheln. Leto war schon immer eine sanftmütige Mutter zu mir und Artemis gewesen.
Unser Vater war genau das Gegenteil. Grimmig, diszipliniert, jähzornig, ungeduldig, Ich-bezogen. Die Liste könnte ich immer weiterführen. Um es kurz zu machen: Zeus hatte den Preis als schlechtester Vater des Universums verdient. Klar, er war der König der Götter und für den Großteil der Unsterblichen verantwortlich, aber war es wirklich zu viel verlangt, dass er sich einmal wie ein Vater benahm? Andere schlechte Väter schafften das doch auch!
Ich seufzte erneut, drehte das Wasser ab und verließ die Duschkabine. Ich schnappte mir das Handtuch, was neben der Kabine an der Wand hing und schlang es mir um die Hüfte. Mit einem größeren Tuch trocknete ich meinen athletischen Körper sowie meine goldblonden Haare.
Mit einem einfachen Fingerschnippen würde das schneller gehen, aber wie gesagt: Verlust der Göttlichkeit. Ich wusste nicht, wie viel ich dabei verlor. Es könnte wenig sein, aber auch viel. Und genau darauf wollte ich es nicht ankommen lassen.
Beide Handtücher hingen nun an der Heizung und ich schlüpfte in eine Boxershorts. So verließ ich das Bad und überquerte den kurzen Flur, bis ich in meinem Ankleidezimmer stand. Die Klamotten, die ich für den Club rausgesucht hatte, hingen am Kleiderschrank. Dabei handelte es sich um ein einfaches Hemd, dunkle Jeans und Halbstiefel.
Stinknormale Kombi, wenn man als Jugendlicher mit Freunden feiern ging. Als ich mich fertig angezogen im Standspiegel betrachtete, fuhr ich mir mit beiden Händen über das Gesicht und das Haar. Im Nu färbten sich die goldenen Haare dunkelbraun und waren gelockt. Die Augenfarbe wechselte zu einem Sturmgrau. Über dem Nasenrücken und unter den Augen sprießen Sommersprossen.
Ich grinste mein Spiegelbild an. Freddy Foster war wieder am Start.
Als unsterblicher Gott verlor man im Laufe seines Lebens die Fähigkeit, auf die Zeit zu achten. Die Welt war immer irgendwie im Wandel. Alles war vergänglich. Zeit wurde irrelevant.
Ein großer Fehler, der mir jetzt zum Verhängnis wurde. In meiner Vorbereitung hatte ich verdrängt, dass ich auch zum Club gehen musste. Also gab es für mich zwei Optionen: Entweder ich lief so schnell, wie mich meine Beine trugen, oder ich nutzte meine Fähigkeit zur Teleportation.
Die Wahl fiel auf Option Nummer zwei. Ich verließ das Mehrfamilienhaus aus einem Hintereingang und folgte dem gepflasterten Weg einige Meter lang, bis ich hinter einem breiten Baum stoppte. Von dort aus teleportierte ich vor den Zaun eines ehemaligen Hallenbades, das mittlerweile als Theater diente.
Ein letztes Mal überprüfte ich den Sitz meiner Kleidung und meiner Frisur, steckte die Hände in die Hosentaschen und schlenderte gemächlich um den Zaun herum.
Das neonfarbene Logo des Clubs – es handelte sich um ein Würfel – erblickte ich von Weitem. Zusammen mit den wenigen Straßenlaternen erleuchtete es die Kaufhofpassage. Zu meiner Verwunderung endete die Schlange des Clubs ein Gebäude weiter.
»Hier bin ich!«, rief Silvia. Sie winkte mit beiden Armen aus der Mitte der Schlange heraus. Ich eilte an ihre Seite. Silvia hatte sich für ein einen karierten Rock mit Leggings und hohen Stiefeln entschieden. Über ihrem T-Shirt trug sie eine dunkle Lederjacke. Das war nicht gerade anders als das, was sie sonst trug.
»Wartest du schon lange?«, fragte ich, als bei ihr stand.
»Ja, aber ich war bereits vor dem abgemachten Zeitpunkt hier. Also ignoriere ich, so großzügig wie ich bin, deine Unpünktlichkeit.«
Irritiert überprüfte ich die Uhrzeit auf meinem Handy. »Ich bin nur wenige Minuten zu spät.«
»Und genau diese Minuten vergebe ich dir, Freddy.« Grinsend verbeugte ich mich vor mir, als wäre sie eine Königin. »Oh, womit habe ich nur diese Großzügigkeit verdient, Eure Majestät?«
»Du bist doof!« Lachend schüttelte Silvia den Kopf. Ich fiel in das Lachen mit ein. Es war ein herrliches Gefühl, mit einer Freundin so befreit Lachen zu können.
»Die Ausweise bitte«, hörte ich die hohe Stimme der Security-Frau, die den Einlass kontrollierte. Ihre Worte ließen mein Lachen verstummen. Mir fiel etwas ein. Silvia erwähnte gar nicht, ab wie vielen Jahren der Club ist. Ich reckte den Kopf, stellte mich gleichzeitig auf die Zehenspitzen. Ein überdeutliches Schild neben dem Eingang verwies darauf hin, dass der Eintritt erst für Jugendliche ab sechzehn Jahren erlaubt sei.
Ich tippte Silvia an, flüsterte: »Wir werden nicht rein kommen. Wir sind fünfzehn.«
Silvia wischte sich die Lachtränen aus den Augenwinkeln, winkte ab. »Mach dir nicht ins Hemd. Darum hab ich mich gekümmert.« Ich brauchte nicht zu fragen, was sie damit meinte. Aus ihrer Hosentasche zog sie zwei Personalausweise der Bundesrepublik Deutschland aus der Tasche. Einen drückte sie mir in die Hand.
Es war wirklich erstaunlich. Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich den Ausweis für echt halten. Er ähnelte bis ins kleinste Detail meinem Echten. Sogar das Foto.
»Will ich wissen, woher du das Foto von mir hast?«
»Weißt du noch, als ich dich nach einem fragte? Für ein privates Album?«
»Lass mich raten, es gab nie eines?«
»Nicht wirklich.«
Ich seufzte. Dreck! Als Gott der Wahrheit hätte ich das als Lüge enttarnen können. Der Göttlichkeitsverlust hatte also auch Einfluss auf mein Urteilsvermögen. Oder ich vertraute Silvia einfach nur zu sehr, dass es mir deshalb nicht auffiel. Das klang auf jeden Fall logisch.
Endlich erreichten Silvia und ich das Ende der Schlange und zeigten der Dame die gefälschten Ausweise vor. Unter der dunklen Securityjacke waren deutlich Oberarmmuskeln zu erkennen, die denen von Ares Konkurrenz machten. In meinen Gedanken schickte ich ein Stoßgebet nach oben zum christlichen Gott. Ich war nicht sonderlich scharf drauf zu wissen, was sie mit uns anstellte, wenn sie die Ausweise als Fälschung identifizierte.
Ich unterdrückte ein erleichtertes Aufseufzen, als die Dame von der Security nickte.
»Aber um Mitternacht seid ihr wieder aus dem Club raus, verstanden?«
»Selbstverständlich«, sagte ich einen Ticken zu schnell und schob mich mit Silvia an ihr vorbei. Erst als wir unsere Jacken abgaben und den eigentlichen Clubbereich betraten, erlaubten wir uns ein breites Grinsen. Frohlockend gaben wir uns ein Highfive.
Laute dröhnende Techno-Musik nahm das Ohrenschmalz in meinen Ohren ordentlich durch die Mangel. Ich grinste. Der Club-DJ verstand sein Handwerk. Auch wenn es nicht unbedingt die Musik war, die ich gern höre.
Ich hatte nichts gegen Techno, aber nichts ging über die Klassiker, wie ABBA oder Queen. Und die Beatles nicht zu vergessen. (Memo an mich selbst: Die Beatles-Schallplatten aus dem Keller holen).
Silvia und ich gingen im Gänsemarsch an der Tanzfläche vorbei, auf welcher etliche Teenager und junge Erwachsene die Körper im Rhythmus der Musik bewegten. Einige schmiegten sich verführerisch an ihren Vorder- oder Hintermann. Zumindest soweit ich es durch die schwenkenden Scheinwerfer erkannte, die die Tanzfläche in farbiges Licht tauchte. Das grüne Licht flackerte ab und zu.
Na, hoffentlich litt niemand der Clubbesucher an Epilepsie. Ansonsten war heute Abend noch mein medizinisches Wissen von Nöten.
Wir kamen an der Bar an, die das Zentrum des Sitzbereiches bildete. Eine kleine Gruppe aus Jungs, Mädchen oder als was auch immer sie sich identifizieren mögen, standen im Halbkreis vor der Theke. Wegen der lauten Musik verstand ich nicht, ob sie gerade was beim Barkeeper bestellten oder auf eine Bestellung warteten.
Silvia und ich wechselten einen kurzen Blick. Sie zeigte mit dem Kinn zu einer freien Sitznische in einer Ecke. Ich folgte ihr zu dieser und zusammen sanken wir auf das rote Polster, was erstaunlich gemütlich war.
Silvia beugte sich näher an mein Ohr, damit ich sie trotz der lauten Techno-Musik verstand.
»Und, Freddy? Bereust du es, hergekommen zu sein?«
Ich hob die Schultern und ließ sie wieder fallen. »Ich weiß es noch nicht«, gab ich zu. »Wir sind gerade mal zehn Minuten hier.«
»Ja, gut ...« Grinsend kratzte sich Silvia im Nacken, schlug mir dann mit der Faust leicht gegen die Brust. »Vor der Bar lichtet sich langsam die Traube aus Menschen. Ich geh uns Bier holen!«
»Für mich reicht eine Cola -« Ich seufzte. Silvia hörte mir nicht mehr zu. Sie war aufgesprungen und längst auf dem Weg, um uns Getränke zu organisieren. Wie ich sie kannte, brachte sie zweimal Bier an den Tisch. Ein Hoch auf Deutschland – das Land, wo (angeblich) Sechzehnjährige bereits Alkohol konsumieren durften!
Nicht zum ersten Mal fragte ich mich, ob mein fünfzehnjähriger Körper, der nach und nach an Göttlichkeit – und der damit verbundenen Unsterblichkeit – verlor, Schaden nahm, wenn ich zu viel Alkohol zu mir nahm. Bislang traute ich mich nicht, es auszuprobieren. Deshalb wollte ich auch, dass Silvia mir eine Cola mitbrachte.
Ich nutzte die Wartezeit, um mich etwas umzusehen. Der Clubbereich erstreckte sich auf zwei Etagen. Die Untere, auf welcher wir uns aufhielten, bestand zu neunzig Prozent aus der Tanzfläche. Der Rest nahmen die Sitznischen mit der Bar ein. Auf der oberen Etage hielt sich der DJ mit seiner ganzen Technik auf. Rechts und links sah ich je einen Tanzkäfig, in welchen auserwählte Besucher tanzen durften. Jedes Mal, wenn die Musik leiser gedreht wurde, sprach der DJ ins Mikro und rief die nächsten Tanzenden auf. Dabei las er von einem Bildschirm ab – vielleicht ein Laptop oder Tablet. Ich vermutete, die Clubbesucher konnten sich auf einer Liste eintragen, wenn sie in die Käfige wollten.
Im Moment tanzte im rechten Käfig eine gut aussehende Frau, dessen rote Haare in Locken über die Schultern fielen. Im linken Käfig zeigte eine dunkelhaarige Person, dessen Geschlecht nicht eindeutig zu erkennen- ... Oh, meine göttliche Verwandtschaft. Das war mein kleiner Bruder Dionysos!
Mir klappte beinah der Kiefer runter, rieb mir ungläubig die Augen. Was tat er hier? Okay, die Frage erübrigte sich. Er war der Gott der Partys – also, Orgien, wie es früher genannt wurde. Wenn irgendwo auf der Welt gefeiert wurde, war mein Bruder nicht weit.
Noch einmal rieb sich mir über die Augen. Aber zweifelsohne, da war ein violettes Glitzern in seinen Augen. Das war der Beweis, es war mein Bruder. Trotzdem stellte ich mir die Frage: Was tat Dionysos dort oben im Tanzkäfig? Üblicherweise hielt er sich in Clubs oder Partys eher am Rand auf und betrank sich mit einem alkoholischen Getränk - meistens Wein.
Ich spürte ein kühles Glas an meiner Wange, wodurch meine Aufmerksamkeit von Dionysos abgelenkt wurde. Ich nahm Silvia das Glas ab, versuchte, trotz des wenigen Lichtes zu erkennen, um was es sich beim Getränk handelte. Es war dunkel. Bier konnte es nicht sein. Also nippte ich dran und stellte überrascht fest, dass sie mir tatsächlich Cola brachte. Zwar Cola light, aber immerhin.
Silvia setzte sich mit ihrem Glas wieder neben mich. Sie nickte zu den Käfigen. »Na, gefällt dir der Typ da oben?« Vielsagend wackelte sie mit den Augenbrauen, während sie von ihrem schaumigen Bier trank.
»Der? Pff, ist nicht mein Typ.« Allein bei dem Gedanken, ich würde Dionysos daten, lief mir ein Schauder über den Rücken, weswegen ich einen großen Schluck von der Cola nahm, um es zu kaschieren.
Inzest unter Gottheiten war jetzt nichts Neues. Man denke nur an Zeus: Er war lange Zeit mit seiner Schwester Hera verheiratet und zeugte mit ihr den Gott den Krieges Ares. Oder auch das eine Mal, als Zeus Persephone zeugte – mit Demeter, die ebenfalls zu meinen Tanten zählte.
Ich denke, ihr wisst, worauf ich hinaus will. Anders als Menschen besitzen Gottheiten keine DNS, weswegen wir uns keine Gedanken wegen eventuellen Behinderungen machen müssen, wenn wir Kinder mit Verwandten zeugen.
Hephaistos bildet da eine Ausnahme. Aber seine Geburt ist sowieso ... speziell gewesen. Da die im Zusammenhang mit Zeus’ Liebschaften steht, gehe ich nicht weiter drauf ein. Wenn es euch interessiert, könnt ihr googeln.
Erneut genehmigte ich mir einen Schluck aus dem Glas, warf dabei einen Blick zum linken Tanzkäfig. Ich runzelte die Stirn. Im Käfig war auf einmal ein blonder Teenager, der seine Tanzmoves zum Besten gab. Hatte ich mir Dionysos wegen des schummrigen Lichtes nur eingebildet? Unmerklich schüttelte ich den Kopf. Das war echt merkwürdig.
Um sicherzugehen, dass uns niemand KO-Tropfen oder Ähnliches in die Getränke mischte, wechselten wir uns mit dem Tanzen ab. Silvia war so freundlich, mich zuerst auf die Tanzfläche loszulassen.
Und oh meine Gottheiten! Wenn ich zuvor noch nicht das Gefühl von Platzangst kannte, sollte es ab heute ab sofort sein. Es gab kaum ein Durchkommen, noch nicht mal tanzend. Am anderen Ende der Fläche war dieser verdammt sexy Typ, der mich ebenso musterte wie ich ihn.
Ich versuchte es weiter und endlich, nachdem ich sachte die Ellbogen zum Einsatz brachte, stand ich vor groß, blond und muskulös. Seine blauen Augen checkten mich von oben bis unten an. Er grinste, als er mir wieder ins Gesicht sah. Meine Härchen auf den Armen und im Nacken stellten sich auf, als er mir mit einer basslastigen Stimme ins Ohr raunte: »Ich heiße Toby. Deiner?« Eine Hand fand seinen Weg auf meine Hüfte. Ich gab mein Bestes, dass mir die Beine nicht wegknickten, dessen Knie sich unweigerlich weich anfühlten. Allein dadurch, weil ich ihm in die durchdringenden Augen sah.
Ich schaffte es, ihm meinen Namen zu nennen, und prompt lag auch die zweite Hand auf meiner Hüfte. Toby drückte mich an sich. Automatisch legte ich ihm meine Hände auf die Schultern, strich mit den Fingerspitzen sachte über die Schlüsselbeine. Wie als wären wir eine Einheit bewegten wir uns im Rhythmus der Musik. Der DJ tauschte die wilden und harten Bässe des Techno gegen ruhige Musik aus. Etwas, was man in einem Club eher nicht erwartete.
Augenblicklich leerte sich die Tanzfläche, bis nur noch eine Handvoll tanzende Personen übrig blieben, die sich aneinanderschmiegten. Ich verschaffte mir einen schnellen Überblick. Soweit ich erkannte, gab es unter ihnen so einige schwule oder lesbische Pärchen. Ein paar Jungs in Röcken, wenn sie sich denn so fühlten, tanzten mit feminin wirkenden Personen.
Ich lenkte die Aufmerksamkeit wieder auf groß, blond und muskulös. Toby hatte keinen Moment die Augen von mir genommen. Ein Gutes. Ich musste sein Typ sein. Kurz bevor das romantische Lied endete, beugte er seinen Kopf zu mir runter. Die schmalen Lippen gespitzt.
Mein Herz tat ein freudiger Hüpfer. Toby wollte mich küssen! Aufgeregt schloss ich die Augen, spitzte ebenfalls die Lippen.
Ohne ersichtlichen Grund sah ich plötzlich Charlie vor meinem inneren Auge aufblitzen. Er lächelte. Und mit einem Mal fühlte ich mich schuldig. Als würde ich ihn mit Toby betrügen.
Aber warum? Wir waren nicht mal zusammen. Ja, ich mochte Charlie. Vielleicht verband uns mehr als bloße Freundschaft. Es war auch mehr als eine Blutsbrüderschaft.
Blöder Cupido, dachte ich und schüttelte den Kopf. Hat der Schwachkopf mich wieder mit einem seiner Pfeile abgeschossen, wie damals bei Daphne?
Ich öffnete die Augen, drückte Toby sanft von mir weg. Unzufrieden presste er die Lippen aufeinander, knurrte: »Was ist los, Freddy? Ich dachte, du hättest auch Interesse.«
»Das habe ich auch«, gestand ich und schob mich aus seiner Umarmung. »Oder eher ... hatte ich. Tut mir leid, Toby.« Ein letztes Mal schenkte ich ihm ein Lächeln, ehe ich mich umdrehte und die Tanzfläche verließ.
Ich wusste, das war nicht sonderlich fair von mir. Aber dieses Gefühl, ich würde Charlie betrügen, nagte zu stark an mir. Hoffentlich fand Toby jemand Besseres als mich.
Auf dem Weg zu unserer Sitzecke vergrub ich die Hände in meiner Jeans, zog die Schultern bis zu den Ohren hoch. Seufzend ließ ich sie wieder fallen. Ich war so ein Idiot! Am liebsten hätte ich mir die Hand vor die Stirn geschlagen, so blöd war ich. Da war ein verdammt attraktiver Mann vor mir und mein Gehirn hatte nichts Besseres zu tun, als an meinen besten Freund zu denken.
Zugegeben, gelegentlich wurde es mir warm ums Herz, wenn ich Charlie lächeln sehe oder sein fröhliches Lachen höre. Oder seine Stimme. Beim Olymp! Charlie war ein echter Stimmakrobat. Ich weiß nicht, wie er es macht, aber in einem Moment klingt er maskulin und im Nächsten feminin. Weil ich mal Lust hatte, hatte ich einmal die Augen geschlossen. Es klang, als ständen vor mir zwei verschiedene Personen. Wie dieser Wechsel der Stimmen wohl während des Sex auf mich-... Okay, Apollo, Themenwechsel! Der Anblick meines kleinen Bruders neben Silvia bot da ein guter Anfang für.
Sie lachte, als hätte Dionysos einen verdammt guten Witz gerissen. Wehe, die sprachen über mich. Dionysos nippte von seinem Getränk, als sich unsere Blicke kreuzten. Sein hochgezogener Mundwinkel zuckte. Nun sah auch Silvia zu mir.
»Du hättest ruhig mal erwähnen können, dass er dein großer Bruder ist, Freddy!«, rief sie beleidigt.
Jetzt war ich beleidigt. Ich war hier der Ältere! Eigentlich, wenn Dionysos im Moment nicht das Aussehen eines Studenten hätte. Ich entschied, einfach mitzuspielen.
»Sorry, Silv«, sagte ich, »aber das Licht hier ist so schlecht, ich habe ihn kaum da oben erkannt.« Um meine Worte zu unterstreichen, deutete ich mit dem Daumen zu den Tanzkäfigen, die in das verschiedenfarbige Licht getaucht wurden.
Silvia schob die Unterlippe vor, verengte die Augen und warf einen Blick auf die Käfige. »Hm, also ich erkenne sie ganz gut. Ist das da im Rechten nicht Tyler aus der Zwölften?«
Dreck. Sie hatte Recht. Aber sei es drum. Ich quetschte mich zwischen Silvia und Dionysos und lenkte ihre Aufmerksamkeit auf mich. »Dann brauche ich wohl eine Brille.« Ich zuckte mit den Schultern. »Na ja, egal! Also, worüber habt ihr geredet? Doch nicht etwa über mich?«
»So wichtig bist du nun auch wieder nicht«, sagte Dionysos. »Wann lernst du endlich, dass sich nicht alles um dich dreht, hm?«
Wäre Silvia nicht hier, würde ich antworten: »Ich bin der Gott der Sonne. Um mich dreht sich vieles.« (An dieser Stelle ignorieren wir bitte, dass ich nicht die Sonne per se bin.) Stattdessen klopfte ich Dionysos auf die Schulter, schenkte ihm ein Grinsen und sagte: »Bruderherz, ich weiß, wir haben uns einige Zeitlang nicht gesehen, aber das weiß ich. Ich habe mich verändert.«
Das Witzige war, das war noch nicht einmal gelogen. So wie mich selber einschätzte, war ich nicht mehr der selbstverliebte Gott von damals. Dionysos konnte das eher nicht glauben. Er hob beide Augenbrauen. Zweifel war in seinen violetten Augen zu erkennen. Doch anstatt etwas auf meine Aussage zu erwidern, sah er zu Silvia und bat darum, uns für einen Moment alleine zu lassen.
Ich hatte erwartet, dass sie stoisch die Arme vor der Brust verschränkte und »Nö!« sagte, aber das Gegenteil war der Fall. Sie sagte »Bin schon weg!«, stand auf und steuerte ein weiteres Mal die Bar an. Mittlerweile schenkte eine attraktive junge Frau die Getränke ein. Vermutlich wegen einem Schichtwechsel, den ich verpasst hatte, oder der vorherige Barkeeper brauchte eine Pause.
Jedenfalls saßen Dionysos und ich nun alleine in der Ecke und schwiegen um die Wette. Ab und zu nippte einer von uns an den Getränken. Ich an meiner Cola und er an ... was auch immer es war, es färbte sich in Sekunden rot. Was Jesus konnte, beherrschte Dionysos sogar im Schlaf. Sprichwörtlich. Heras Blick vergaß ich nie, als sie schlaftrunken von ihrem Kaffee trank und feststellte, dass es Rotwein war.
Da Dionysos nicht den Anschein machte, ein Gespräch zu beginnen, tat ich es. »Also, wie geht’s dir so?«
Sein Blick schweifte über die Köpfe der Tanzenden, als würde er nach jemanden Ausschau halten. Er rümpfte die Nase. »Wie soll es mir schon gehen, Apollo? Ich verliere meine Kräfte. Mir geht es blendend.« Es brauchte kein übergroßes Neonschild, damit ich den Sarkasmus heraushörte.
»Oh, natürlich.« Schuldbewusst zog ich den Kopf zwischen die Schultern ein, so als wäre ich eine Schildkröte. »Wenn es dir damit besser geht, ich kenne einen guten Therapeuten, der dir mit dem Verlust -«
Er schnaubte, knallte das Glas auf den Tisch vor uns. Ich zuckte zusammen. Seine Finger hielten sich weiterhin am Glas fest, als wäre es ein Anker. Die Knöchel traten weiß hervor.
Ich schluckte unmerklich, traute mich nicht zu sprechen.
Und dann seufzte Dionysos tief und ließ das Glas los. Zusammengesunken, wie ein Häufchen Elend, lehnte er sich im Sitzpolster zurück. Seine Augen sahen in die Ferne, aber schienen nichts Bestimmtes anzusehen. Er strich sich durchs dunkle Haar.
»Wann hast du das letzte Mal mit Dad gesprochen? Ich nämlich schon, weil ich von ihm wissen wollte, warum nur die göttlichen Kinder des Zeus betroffen sind.«
»Ich-... Moment, was hast du da grad gesagt?« Mit einem Mal saß ich gerade im Polster, den Kopf in seine Richtung gedreht. Ich suchte im Gesicht meines Halbbruders nach einem Anzeichen, dass er log. Aber dem war nicht so. Instinktiv wusste ich, als Gott der Wahrheit, dass es keine Lüge war.
Ich dachte an den Moment zurück, als mich das letzte Mal Asklepios in Wolfsburg besucht. (Ich weiß, am Anfang erzählte ich, Zeus hätte ihn getötet, aber das Gute bei uns Gottheiten ist, wir sterben nicht richtig. Genau wie Monster regenerieren wir mit der Zeit.)
Bei seinem Besuch war mein Verlust noch nicht weit fortgeschritten, aber ich wollte es ihm trotzdem nicht erzählen. Mein Sohn sollte sich keine Sorgen um seinen alten Herren machen müssen. Die machte ich mir selber schon zur Genüge. Da brauchte ich ihn nicht für.
Dreck. Ich hätte den guten Therapeuten nicht erwähnen sollen. Der gehörte ebenfalls zu meinen Kindern. William war schlau. Sobald er sich Dionysos angehört hätte, würde bei mir das Telefon klingeln. Darauf verwettete ich meinen (Achtung, Wortspiel!) heißgeliebten Sonnenwagen.
Seufzend versteckte ich das Gesicht in den Händen, schüttelte ungläubig den Kopf. »Was hat Dad angestellt?«
»Da fragst du noch?«, erwiderte Dionysos. »Muss ich dich an seinen schlechten Charakter erinnern? Wie er jahrhundertelang Hera betrog?«
»Das weiß ich selber.« Über die Hälfte der griechischen Mythologie existierte nur, weil unser Vater – der König des Olymps – mit seinem Geschlechtsteil dachte. »Aber warum bestraft man seine Kinder? Zeus sollte derjenige sein, der sie erhalten sollte!«
»Ich hab nie behauptet, Dad wäre nicht betroffen.«
»Na, wenigstens etwas Gutes«, murmelte ich, nahm die Hände vom Gesicht und lehnte mich ebenfalls zurück. Ich ließ meinen Blick zur Decke schweifen. »Hat er dir gesagt, wer uns das antut?«
Zu meinem Bedauern zuckte Dionysos mit den Schultern. »Nein, er wollte es mir nicht sagen. Red du doch mal mit ihm. Du bist der Älteste von uns und noch dazu sein Lieblingssohn. Dir sagt er es vielleicht.«
Verächtlich lachte ich auf. Von wegen Lieblingssohn! Wäre ich das, hätte Zeus mich in der Vergangenheit nie als Strafe auf die Erde geschickt. Er hasste mich. Das hatte er mir allein mit Blicken allzu oft gezeigt.
Lieblingssohn ... Das ich nicht lache!
»Du bist es, Apollo«, beharrte Dionysos weiter. Ich kreuzte die Arme vor der Brust. Er setzte sich auf und legte mir eine Hand auf die Schulter. »Zeus gibt es nicht offen zu, aber ich sehe es jedes Mal in seinen Augen, wenn du rebellierst oder bestraft wirst. Er hat dich gern. Rede einfach mit ihm und sieh selbst.«
Ich spürte das Gewicht seiner Hand auf mir, aber als ich zur Seite sah, war Dionysos verschwunden. Er hatte mich mit den Gedanken allein gelassen, die seine Worte in mir auslösten. Ich senkte den Kopf, so dass ich den niedrigen Tisch mit Blicken durchlöcherte.
In meinem Kopf herrschte ein reges Treiben. Gedanken, Fragen, auf die ich alle eine Antwort wollte. Angefangen mit der, warum ausgerechnet ich der Lieblingssohn vom Gott des Himmels sein sollte. Wie Dionysos sagte, ich bin und werde es immer sein, ein Rebell.
Es gab kaum Tage, wo ich den Anweisungen unseres Vaters stillschweigend gefolgt war. Ich war nun mal kein Speichellecker wie die anderen Gottheiten, die sich bei ihm einschmeichelten, um besser dazustehen. Seit meiner Geburt zog ich mein eigenes Ding durch.
Wenn Zeus sagen würde »Springt von einer Brücke«, wäre ich derjenige, der das Seil der anderen lachend durchschnitt. Beim Abendessen mit der Familie war ich derjenige, der eine Essensschlacht anfing. Bei mir musste man die Schuld suchen, wenn bei Athene im Bett Plastikspinnen auftauchten oder Hermes’ Flügelschuhe und sein Stab Caduceus abhandenkamen. Beim Scheißhaus des Olymp! Ich war für die spanische Grippe verantwortlich, nur weil ich wütend auf Zeus war!
Versteht ihr, was ich damit sagen möchte? Ich war ein Rebell, der es liebte, im Mittelpunkt zu stehen. Der es liebte, anders zu sein als meine Geschwister. Und genau deshalb verstand ich nicht, warum Dionysos behauptet, ich sei der Lieblingssohn von Zeus.
Aber bei einem Teil seiner Aussage hatte er den Nagel auf den Kopf getroffen. Ich musste mit unserem Vater reden. Wenn auch nicht wegen dem Verlust unserer Göttlichkeit.
Silvia bewies ein ordentlich gutes Gefühl für Timing. Kaum hatte ich eine Entscheidung getroffen, schob sie sich durch die anderen Clubbesucher und im Nu saß sie wieder neben mir. Neue Getränke hatte sie allerdings nicht dabei. Dafür lugte der weiße Zipfel eines Zettels aus ihrer Faust hervor.
»Na, wie viele Telefonnummern hast du dir klargemacht?«, fragte ich mit einem Fingerzeig auf ihre Faust.
»Nur leider die der Barkeeperin«, sagte sie. »Aber nicht so, wie du denkst, Freddy. Sie hat zufällig einen kleinen Sohn, der Nachhilfe in Mathe benötigt.«
»Du bist scheiße in Mathe.«
Sie grinste. »Das weiß sie aber nicht. Also, was haben du und dein Bruder so besprochen, während ich weg war?«
»Ach, bloß über langweiliger Familienkram. Sag mal, hast du was dagegen, wenn ich früher abhaue? Ich bin echt müde.« Als Beweis streckte ich die Arme über den Kopf und ahmte ein verdammt echtes Gähnen nach. Silvia zog einen Schmollmund.
»Jetzt schon? Es ist noch nicht mal 23 Uhr!«
»Ja, tut mir auch leid, Silvia, aber -« Ich seufzte tief. »Um bei der Wahrheit zu bleiben, ich treffe mich morgenfrüh mit Verwandten und na ja, ich möchte pünktlich da sein.«
»Mann, sag das doch gleich. Dein Gähnen habe ich dir sowieso nicht abgekauft.« Freundschaftlich schlug sie mir auf den Rücken. »Jetzt zisch schon ab, Freddy. Ich erzähl dir am Montag in der Schule, was hier noch los war.«
Dankend für ihr Verständnis drückte ich Silvia an mich und eilte danach zum Ausgang. Sobald ich wieder an der frischen Luft war und meinte, niemand beobachtete mich, teleportierte ich nach Hause.
Dass Träume nicht immer der Realität entsprechen, ist ein Fakt. Denn in Träumen können wir das sein, was wir im echten Leben vermutlich nie sein werden. So lange wir sie selber lenken können, wie im Film Inception. Du bist schüchtern und ängstlich? Dann träume, du seist ein mutiger, muskelbepackter Feuerwehrmann! Du bist mutig und für alle ein Held? Dann träume davon, ein introvertiertes Mauerblümchen zu sein!
Und dann gibt es noch meine Wenigkeit: ein attraktiver, extrovertierter Gott mit verdammten Vaterproblemen. Ratet, wovon mich Morpheus träumen lässt. Jeder, dessen Antwort ›Zeus‹ lautet, gewinnt eine Fahrt in meinem Sonnenwagen.
In meinem Traum befand ich mich im Loft meines Vaters, während Zeus selber auf seiner prachtvollen dunklen Couch saß und aus einem Sektglas prickelndes Wasser trank. Sein Gesichtsausdruck war zur vollendeten Unzufriedenheit verzerrt. Vielleicht wusste er, dass ich auf seinem Kronleuchter saß und die Beine baumeln ließ oder es lag schlichtweg an der Person, die ihm gegenüber auf der zweiten Couch saß.
Dabei handelte es sich um einen Mann in den Vierzigern. Er hatte die dunklen Haare nach hinten gekämmt und den Bart zu einem Fu-Manchu geschnitten. Seine hellen Augen waren ein starker Kontrast zu seiner dunklen Haut. Der dunkle Nadelstreifenanzug unterstrich mein Gefühl von ›Der Typ hat Dreck am Stecken‹.
Ich wusste sofort, wer dieser Mann war. Kronos.
Am liebsten hätte ich sofort quietschend aufgeschrien, weshalb ich mir die Hand auf den Mund schlug. Bis mir einfiel, dass das hier ein Traum war und sie mich weder sehen noch hören konnten. Ich senkte die Hand wieder.
»Was willst du wirklich, Vater?«, fragte Zeus. Es war merkwürdig anzuhören, wie er Kronos als seinen Vater betitelte.
»Das habe ich dir bereits gesagt«, sagte Kronos. Er schlug ein Bein über das andere. »Ich möchte Frieden schließen. Mit dir als auch mit deinen Brüdern und Schwestern. Ich möchte, dass wir eine Familie werden.«
Zeus lachte verächtlich auf. Das Wasser schwappte leicht über den Rand des Sektglases und tropfte auf den teuren Teppich.
»Du und Frieden? Wer von uns hat seine Kinder gefressen? Ich war es nicht!« Blitze hüpften in Zeus’ dunklen Haaren von einer Strähne zur anderen. Mir war, als braute sich ein Sturm in seinen grauen Augen zusammen. Aus Erfahrung kann ich sagen, das war nie eine gute Kombination.
Kronos seufzte tief und strich sich über die Enden seines Schnurrbartes. »Du hast Recht. Das hätte ich nicht machen sollen. Aber du musst verstehen, Zeus, ich wurde von einer Prophezeiung fehlgeleitet! Mir wurde gesagt, ihr würdet mich stürzen.«
Zeus schnaubte. »Was schlussendlich auch geschah. Nachdem ich meine Geschwister aus dir befreite.«
»Das hatte ich verdient, so wie ich euch behandelt habe«, gestand Kronos. Er stellte beide Füße auf den Boden, beugte sich vor und strich sich mit beiden Händen über das Gesicht. Mit einem Mal wirkte er älter, ohne sein Aussehen entsprechend geändert zu haben. Er wirkte wie ein gebrochener, alter Mann.
Ich schluckte. Kronos tat mir leid. Im Gegensatz zu Zeus spürte ich, wenn jemand log oder die Wahrheit sprach und mein Großvater bereute seine Taten wirklich. Kronos wollte einzig und allein seine kaputte Beziehung zu seinen Kindern kitten.
»Wenn du nichts mehr zu sagen hast, kannst du ja wieder gehen.« Zeus machte eine ›Hau ab‹-Geste in Richtung der Tür. Der Titan machte keinerlei Anstalten gehen zu wollen. Auch sonst reagierte er nicht auf die Abweisung seines Sohnes.
»Wusstest du, mein Sohn, dass Hades es war, der mich aus dem Tartarus befreite?«, fragte Kronos, stand auf und trat vor die lange Fensterfront. Sein titanisches Antlitz spiegelte sich in der Oberfläche. Vor Unglaube und Schock glitt meinem Vater das Sektglas aus der Hand. Der weiche Teppich bewahrte es vor dem Zerspringen, aber das Wasser floss trotzdem raus. Ein dunkler Fleck bildete sich.
»Davon hat er mir nie was gesagt«, flüsterte Zeus. Er ballte die Faust. Sein Bart sprühte Funken. Kronos warf der Reflexion seines Sohnes einen Blick zu.
»Dein Bruder hat ein gutes Herz, was bislang nur Persephone und Hestia erkannt haben. Im Grunde habt ihr mit ihm das gemacht, was ihr auch mir angetan habt: allein an einem dunklen Ort gelassen.«
»Hades ist aber nicht du«, erwiderte Zeus. »Er kann jederzeit aus der Unterwelt raus.«
»Hat er das in all den Jahren jemals getan? Habt ihr ihn jemals freiwillig auf den Olymp eingeladen oder gar mal angerufen?«
Kronos wandte sich von seinem Spiegelbild ab und ging an der untersten Reihe der hohen Bücherwand entlang. Seine Fingerspitzen strichen über die Buchrücken. Zeus ließ ihn kaum aus dem Blick, so als befürchtete er, sein Vater könnte sich heimlich ein Buch in die Tasche seines Anzuges stecken.
»Deinem Schweigen nach nehme ich mal an, das habt ihr nicht getan. Außer vielleicht Hestia, die Gute.«
Da hatte Kronos einen wunden Punkt getroffen. Selbst ich musste zugeben, dass ich kein perfekter Neffe für Hades war. Ich hatte nicht einen Gedanken daran verschwendet, ihn auch nur einmal anzurufen. Nicht mal Persephone hatte ich nach ihm gefragt, wenn sie im Frühling bei ihrer Mutter auf dem Olymp war.
Dreck. Jetzt fühlte ich mich schlecht. Wenn ich Zeus’ Gesichtsausdruck richtig deutete, war es bei ihm genauso. Er drehte den Kopf zum Teppich, starrte auf den nassen Fleck. Ich starrte auf seinen Hinterkopf. Kronos näherte sich von seiner Seite und kniete sich zu ihm. Er legte eine Hand auf Zeus’ Schulter. Mein Vater zuckte leicht zusammen, sah aber nicht auf.
»Es ist nie zu spät, das Richtige zu tun, mein Sohn«, sagte Kronos. »Hades hat das mit meiner Befreiung eingesehen und ich glaube fest daran, dass du das auch schaffst. Du musst nicht bei mir anfangen. Beginne bei deiner Familie. Beginne bei ...«
Mit einem Mal verschwammen Zeus und Kronos zusammen mit dem Loft zu einem Wirbel aus Schwarz- und Brauntönen. Der Kronleuchter, auf welchem ich saß, verschwand und ich fiel auf den Wirbel zu.
Schreiend wachte ich in meinem Bett auf.
Völlig übermüdet rieb ich mir den Schlaf aus den Augen, gähnte im gleichen Moment. Als ich letzte Nacht aus meiner Traumvision erwachte, hatte ich mehrmals versucht, wieder einzuschlafen. Mit schwacher Erfolgsquote. Sobald ich einschlief, wachte ich nach maximal einer Stunde wieder auf. Nie erreichte ich erneut die Tiefschlafphase.
Den Sterblichen sei Dank gab es Kaffee, der einen für eine Weile wach hielt. In meinem Fall hieß das den halben Vormittag, bis ich vor der Haustür meiner Mutter stand. Denn meine Mum hatte mir früh am Morgen eine WhatsApp geschrieben. Ich solle doch bitte zu ihr kommen, weil sie mir etwas Wichtiges zu berichten hatte. Wegen meiner Müdigkeit hatte ich nicht im Messenger nach dieser Wichtigkeit gefragt und direkt zugesagt zum Mittag da zu sein. Und das war jetzt.
Leto mietete ein zweistöckiges Einfamilienhaus im bescheidenen Dörfchen Velstove. Es lag an einer wenig befahrenen Spielstraße. Ich lehnte mit der Stirn an der hellen Tür und starrte durch das rautenförmige Fenster in den ordentlichen Hausflur. Die Jacken und Mäntel hingen unter der Wendeltreppe an der Wand, die Schuhe standen unter ihnen. Die Treppe führte in das oberste Stockwerk.
Ich betätigte die Klingel, wartete, bis jemand unter dem Torbogen durchging. Ich stieß mich von der Tür ab und stellte mich gerade hin. Die Haustür wurde geöffnete. Ich öffnete den Mund für eine Begrüßung, doch blieben mir diese im Hals stecken. Ich musste zweimal hingucken, bis ich erkannte, wer statt Leto vor mir stand. Zeus.
Sein dunkles, grau meliertes Haar war zerzaust. Einige Strähnen fielen ihm über die Stirn. Er trug einen Dreitagebart. In meiner Vision hatte er, genau wie Kronos, einen dreiteiligen Anzug getragen. Doch jetzt hatte er ihn gegen einen Rollkragenpullover, Jeans und normale Straßenschuhe getauscht.
Er sah anders aus, als ich ihn in Erinnerung hatte. Die zerzausten Haare, der fehlende Vollbart, die Kleidung. Es war, als stände ein komplett anderer Gott vor mir. Die Augen waren der einzige Indiz dafür, dass es sich wirklich um Zeus handelte. Sturmgrau und kalt lagen sie auf mir, analysierten mich von Kopf bis Fuß. Aus Reflex trat ich einen Schritt zurück.
»Willst du nicht reinkommen?«, fragte Zeus daraufhin. »Wir-...« Er schluckte die unausgesprochenen Worte herunter, tauschte sie gegen neue aus. »Deine Mutter wartet auf dich.« Dad machte auf dem Absatz kehrt und ging.
Ich hätte zu gern gewusst, was er zuerst sagen wollte. Aber wenn ich ihn fragte, würde ich hundertpro keine Antwort erhalten. Deshalb ließ ich es dabei und betrat das Haus. Meine Jacke hängte ich zu den anderen unter der Treppe und schlüpfte aus den Turnschuhen. Dann folgte ich meinem Dad unter zwei Torbögen hindurch zur gemütlichen Wohnküche.
»Da bist du ja, Apollo!« Ohne Vorwarnung fand ich mich in den Armen meiner Mutter wieder. Sie gab mir einen Kuss auf meinen blonden Schopf. (Ich wollte nicht als dunkelhaariger Freddy Foster bei meiner eigenen Mutter aufkreuzen.)
Lächelnd schlang ich die Arme um Leto und schmiegte den Kopf an ihre Schulter. Sie roch nach frischer Erde und Hyazinthen. Vermutlich bepflanzte sie ihren Garten neu. Bei meinem letzten Besuch vor einem Jahr hatte ich ihr empfohlen, Hyazinthen zu pflanzen.
Mum wollte sie zunächst nicht, damit ich mich bei meinen Besuchen nicht unwohl fühle. Immerhin entstand diese Blume aus meiner Trauer über meinen verstorbenen Freund. Aber Hyazinths Tod lag mittlerweile über mehr als hundert Jahre zurück. Natürlich wurde ich noch traurig, wenn ich daran dachte, war aber ansonsten drüber hinweg. Das musste wohl auch Leto eingesehen haben und war meiner Empfehlung gefolgt.
»Lass dich ansehen, mein Sohn«, sagte sie und hielt mich eine Armlänge auf Abstand. Von ihr ließ ich mich gerne, wie ein Museumsstück, anschauen. Bei meiner Mum bekam ich wenigstens nicht das Gefühl, sie zählte jeden Augenblick all meine Verfehlungen der letzten Jahrhunderte auf. Für meine Mutter war ich ein perfekter Sonnenschein-Sohn. Immer.
»Setz dich zu deinem Vater. Ich koch uns allen was Feines.«
»Moment, was?! Du lässt mich mit ihm alleine?« Fassungslos sah ich ihr nach, wie sie hinter dem Küchentresen verschwand und eine Kochschürze vom Haken nahm. Eine Sonne und ein Mond waren auf dieser abgebildet.
»Tu bitte nicht so, als wäre Zeus ein Fremder für dich. Trotz seines Verhaltens in den letzten Jahrhunderten ist er immer noch dein Vater«, sagte sie sanft, als sie sich die Schürze umband.
Resigniert ließ ich den Kopf hängen und seufzte tief. Ich hasste es, wenn sie Recht hatte. Bei Artemis war das nicht anders. Sowohl meine Mum als auch meine Zwillingsschwester wollten immer das letzte Wort haben. Selbst Zeus konnte bei Diskussionen mit ihnen einpacken.
Ich ließ mich auf die dunkle Couch fallen. Mein Vater saß am anderen Ende und las in einer Zeitschrift, die er verkehrt herum hielt. Ich glaube, er wollte einem Gespräch aus dem Weg gehen.
Aber nicht mit mir, Dad. Ich rutschte in die Mitte. Zeus ignorierte mich weiterhin und hielt die Zeitschrift vor sein Gesicht. So konnte ich sehen, um was es sich dabei handelte.
»Läuft heute was Gutes im Fernsehen?« Ich streckte eine Hand nach der Zeitung aus, die er prompt wegschlug.
»Finger weg, Apollo.«
»Ach, und ich dachte, du ignorierst mich.«
»Tu ich ja auch. Ab jetzt.« Erneut verschwand Zeus’ Gesicht hinter der Fernsehzeitschrift. Ich schnaubte und kreuzte die Arme vor der Brust.
»Sag doch einfach, dass du nicht mit mir reden willst, anstatt dich so kindisch aufzuführen.«
»In viertausend Jahren hat es dich noch nie interessiert, wie ich mich aufführe. Was hat dich zum Umdenken gebracht?«
Für einen Moment überlegte ich, ob ich ihm von meinem Gespräch mit Dionysos erzählen sollte. Von dem Gespräch, wo Dionysos berichtete, ich soll der Lieblingssohn unseres Vaters sein. Allerdings hatte es Zeus nicht zu interessieren, über was ich mit meinen Geschwistern redete.
Stattdessen sagte ich: »Ich hab von dir und Kronos geträumt. Gestern Nacht. Er meinte, er möchte sich mit euch versöhnen und du dich mit Hades.«
Aus dem Augenwinkel sah ich zu meinem Vater, beobachtete, wie er darauf reagierte. Seine Finger krallten sich in die Zeitschrift. Ich dachte mir, dass Zeus darüber nicht erfreut sein würde.
Dann rollte er seufzend die Zeitschrift zusammen. Er strich sich die Strähnen aus der Stirn, rieb sich mit Daumen und Zeigefinger über den Nasenrücken.
»Die Unterhaltung mit Kronos liegt ein Monat zurück. Dein Onkel und ich ... wir haben bereits geredet.«
Das überraschte mich. Nicht die genannte Zeitspanne, denn es kam oft vor, dass Gottheiten oder Halbgottheiten Visionen erhielten, die länger zurücklagen. Es überraschte mich, dass mein Vater auf den Titanen tatsächlich hörte.
»Also ist Hades für das nächste Familienfest eingeladen?«
»Wir hatten noch nie ein Familienfest, Apollo.«
»Ich weiß, aber wir sollten damit anfangen.«
»Es wird kein Familienfest geben. Niemals.«
»Wirklich nicht? Ich hab Ideen. Es wird toll, glaub mir. Ich kümmer mich um die Musik und Dionysos um alles andere.«
Zeus stöhnte genervt auf, rieb sich erneut den Nasenrücken. Blitze zuckten durch sein grau meliertes Haar. Ich entschied, nicht weiter seine Nerven zu strapazieren. Daher überließ ich es meinem Vater, ob er das Thema fortführen wollte oder nicht.
Einen Augenblick lang musterten seine sturmgrauen Augen mich, verengten sich. Vermutlich dachte er über eine Fortführung des Gesprächs nach oder er überlegte, wie er mich bestrafen könnte. (Der Grad zwischen beiden Optionen lag bei Zeus nah beieinander.) Zeus öffnete gerade den Mund, als sich meine Mutter zu Wort meldete: »Okay, Jungs. Essen ist fertig!«
Jedes Kind behauptet irgendwann, seine Mutter wäre die beste Köchin. Entweder weil es stimmt oder um bei seinen Freunden anzugeben. Aber, Leute, egal wie gut eure Mütter kochen können, sie werden niemals an die Kochkünste meiner Mum herankommen. Denn Leto ist wahrlich eine Göttin unter den Köchen. In nur dreißig Minuten kann sie euch ein Festmahl kredenzen, von dem ihr noch Wochen später träumen werdet.
Selbst Zeus, der sonst überall etwas zu meckern hatte, schwieg am Esstisch. Ein Schmunzeln konnte ich mir nicht verkneifen. Letos scharfsinnigen Augen entging das nicht.
»Lässt du uns an dem Witz teilnehmen?«, fragte sie.
»Ehm, ich hab nur an etwas gedacht. Ist nicht wichtig.« Schnell senkte ich den Blick auf meinen Teller und machte mich daran, das Hühnchenfleisch in kleine Teile zu schneiden und sie mit der Gabel in den Mund zu führen.
»Reichst du mir bitte den Salat, Zeus?«, fragte Leto.
»Natürlich, hier.« Mir entging nicht, wie sich ihre Finger für einen Moment berührten, als die Salatschüssel von einer Hand in die andere wanderte. Es war mehr als eine flüchtige Berührung. Es steckte mehr dahinter, denn meine Eltern lächelten sich an.
Zeus. Lächelte.
Langsam senkte ich das Besteck, räusperte mich, um ihre Aufmerksamkeit zu bekommen. »Okay, klärt mich auf. Was zum Hades ist hier los?« Zeus und Leto tauschten Blicke aus.
»Ich bin mir nicht sicher, was du meinst-«, sagte Zeus, doch ich unterbrach ihn.
»Das weißt du sehr wohl, Vater. Es ist doch wohl kein Zufall, dass ausgerechnet du dann bei meiner Mutter bist, wenn ich zu Besuch komme. Also, was läuft zwischen euch? Betrügst du mal wieder Hera?«
»Es ist nicht so, wie es aussieht.«
»Komm mir nicht so, Mister!« Ruckartig sprang ich auf. Der Stuhl, auf welchem ich saß, kippte nach hinten um. Ich donnerte die Handflächen auf den Esstisch, dass jegliches Geschirr darauf klirrte. Schon vor Ewigkeiten hatte ich es satt, dass Zeus keine Treue in der Ehe kannte. Er durfte ruhig wissen, was ich davon hielt. Dass Artemis und ich aus einer Untreue heraus gezeugt wurden, ignorierte ich.
Zeus regte sich nicht. Er hatte nicht einmal mit der Wimper gezuckt. Er sah mich nur an, als sich eine zierliche Hand auf meine Schulter verirrte. Ich blickte in die warmen, sanften Augen meiner Mutter.
»Apollo, Liebling«, sagte sie. »Dein Vater und Hera sind geschieden. Zeus betrügt niemanden.«
Ich schnaubte missbiligend und rollte mit den Augen. »Und das soll ich glauben?«
»Ich hab dir gesagt, der Junge ist nicht bereit«, sagte Zeus monoton. Wie üblich scherte er sich nicht darum, ob ich ihn hörte oder nicht.
»Nicht jetzt beim Essen«, flehte Leto. »Es sollte ein gemütliches Beisammensein werden.« Ihre Worte mussten etwas in ihm ausgelöst haben, denn er lächelte und legte liebevoll eine Hand auf ihre.
»Du hast recht, entschuldige.« Dann sah Zeus zu mir. Seine Mundwinkel zuckten, als wüssten sie nicht, ob sie das Lächeln aufrechterhalten oder es fallen lassen sollen.
»Hera und ich haben uns vor einigen Jahren scheiden lassen«, erklärte Zeus. »Uns beiden war klar, dass es so nicht weiter gehen konnte. Mit der Zeit hatten wir uns beide unterschiedlich weiter entwickelt. Das wüsstest du, wenn du dich mal gemeldet-«.
»Zeus«, warnte Leto.
Er räusperte sich. »Hera zeigte ehrliches Interesse an anderen Gottheiten und Sterblichen, nicht nur auf einer reinen platonischen Art. Zu dem Zeitpunkt trafen deine Mutter und ich uns von Zeit zu Zeit wieder. Dann kam eins zum anderen.«
»Ihr seid zusammen, du und Mum?«
»Seit zwei Jahren, ja.«
»Zweieinhalb Jahren«, korrigierte Leto lächelnd. »Im Dezember werden es drei Jahre.« Mir klappte der Kiefer runter. Drei Jahre. Die zwei Worte zogen mir den Boden unter den Füßen weg.
Drei Jahre. Ungläubig schüttelte ich den Kopf. »Und das sagt ihr mir erst jetzt? Wann sagt ihr es Artemis?« Zeus presste die Lippen aufeinander, wechselte einen Seitenblick mit meiner Mutter. Ich seufzte tief, um meinen aufkommenden Ärger zu unterdrücken. »Artemis weiß es längst, oder?«
»Deine Mutter wollte es dir schon früher gesagt haben, aber ich fand-«
»Lass mich raten, ›ich war nicht bereit dazu‹.«
»Ich kann es dir erklären, mein Sohn-«
»Viertausend, Vater! Ich bin über viertausend Jahre alt und du denkst, ich darf nicht sofort wissen, wenn es meine Eltern noch einmal miteinander versuchen möchten? Weißt du was? Leck mich, Zeus!« Bevor ich es richtig realisierte, war ich aufgesprungen und aus der Wohnküche gerauscht.
Doch anstatt das Haus meiner Mutter zu verlassen, lief ich die Wendeltreppe hoch, die in den ersten Stock führte. Dort gab es neben einem zweiten Badezimmer zwei vollständig eingerichtete Schlafzimmer – falls Artemis oder ich hier über Nacht blieben. Ich lief in meines und knallte die Tür hinter mir zu. Mit Wut im Bauch trat ich gegen ein Kissen, was auf dem Boden lag. Ausgerechnet in dem Augenblick suchte sich meine göttliche Kraft aus, sich ins unermessliche zu steigern. Das Kissen flog einmal quer durch das Zimmer und knallte am anderen Ende gegen die Wand.
»Was hat dir das arme Kissen getan, kleiner Bruder?« Ich wirbelte zum Fenster. Auf der Zunge lagen die nächsten, bösen Worte, um sie meinem ungebetenen Gast entgegen zu werfen. Bis ich realisierte, wer auf dem Fenstersims saß.
»Was machst du hier, Artemis?«
»Das wollte ich dich fragen. Warst du bis eben nicht bei unseren Eltern beim Mittagessen?« Elegant ließ sich meine Zwillingsschwester vom Sims gleiten. Seit unserer letzten Begegnung hatte sich an ihrer sterblichen Form nichts verändert. Artemis wirkte nicht älter als zwölf, was das Durchschnittsalter ihrer Jägerinnen war. Sie trug ein weißes Kleid mit dazu passenden flachen Schuhen. Ihr silberfarbenes Haar lag als geflochtener Pferdeschwanz über ihrer linken Schulter. Ihre silbergrauen Augen ähnelten den unseres Vaters, dass ich mich am liebsten übergeben hätte.
Artemis ging an mir vorbei, um sich auf der Couch niederzulassen. Nach einigen Sekunden tat ich es ihr nach.
»Woher weißt du, dass ich bei Mum bin?«, fragte ich.
»Sie hat es mir gesagt«, gestand Artemis, »und dass Vater da sein wird. Deshalb hatte ich die ganze Zeit ein Auge auf dich. Für den Fall der Fälle.«
»Welchen Fall?«
»Diesen hier.« Flüchtig zeigte sie durch das Zimmer und anschließend auf uns beide. »Ich dachte mir, dass du so oder so ähnlich reagierst, wenn du das mit Mum und Dad erfährst. Ich hätte nur nicht gedacht, dass du in dein Zimmer rennst.«
»Ich-« Stirnrunzelnd schloss ich den Mund. Ja, warum war ich nicht aus dem Haus gerannt oder war direkt nach Hause teleportiert, vor den Augen meines Vaters? Zeus war nicht dumm. Er spürte, dass ich mich in meinem Zimmer aufhielt. Sobald Leto ihn überredet hatte, kam er mit Sicherheit hier hoch. Ich lief weg, um nicht mehr in einem Raum mit ihm sein zu müssen. Eigentlich.
Frustriert ließ ich den Kopf hängen und versteckte das Gesicht in den Händen.
»Du musst nicht gleich frustriert sein«, sagte Artemis und tätschelte mir etwas unbeholfen den Kopf. (Solche Zuneigungsbekundungen bekam man höchst selten von ihr.)
»Als sie es mir erzählt haben, hatte ich ähnliche Gedanken wie du. Nur hab ich sie nicht ausgesprochen.«
»Was für eine Überraschung!«
Artemis ignorierte den offensichtlichen Sarkasmus. »Ich weiß, wie schwer es dir fällt, unserem Vater zu vertrauen. Jeder auf dem Olymp kennt seine Vorlieben zur Untreue in der Ehe. Du hast Angst, dass er mit unserer Mutter das Gleiche abzieht, wie in seiner Ehe mit Hera. Und das ist okay, Apollo. Ich fühle genauso. Aber du musst die Beweggründe von Zeus verstehen. Er willigte in die Scheidung ein, um mit Mum zusammen sein zu können.« Sie legte mir eine Hand auf die Schulter. »Du musst ihm nicht sofort verzeihen. Hör dir erst einmal an, was er dir zu sagen hat.«
In dem Moment klopfte es an der Zimmertür und unser Vater trat ein. Artemis war verschwunden.
Zeus stand an der Tür wie bestellt und nicht abgeholt. Seine Hand klammerte sich an die Türklinke, als wäre es ein Rettungsring. Er wirkte auf mich, als wüsste er nicht, ob er weiter rein oder wieder gehen sollte. Ich nahm ihm die Entscheidung ab.
»Du kannst rein kommen. Ich beiße nicht – auch wenn meine Lover was anderes sagen würden.«
»Dinge, die ich nie wissen wollte«, murmelte Zeus, als er meiner Aufforderung nachkam. Paar Schritte von mir entfernt, blieb er stehen, die Hände in die Hosentaschen gesteckt. Ich lehnte mich in der Couch zurück, kreuzte die Arme vor der Brust. Artemis sagte, ich sollte ihn anhören. Also wartete ich darauf, dass Zeus die Unterhaltung begann. Egal, wie lang es dauerte.
Nach wenigen Minuten verlor ich die Geduld. Ich erzählte ihm, dass ich wüsste, warum er sich von Hera scheiden ließ.
»Ich dachte mir schon, dass ich Artemis gehört habe.«
Er seufzte tief und legte vor seinem Gesicht die Finger aneinander. Für einen kurzen Moment schloss er die Augen. Als er sie wieder öffnete, sagte Zeus: »Ich liebe deine Mutter. Das habe ich schon immer, was mir jetzt klar ist. Wegen meinem Ruf als ... Fuckboy wollte ich es nicht wahrhaben. Oder eher – ich konnte es nicht. Verliebt zu sein, war nichts Neues für mich. In Hera war ich es schließlich auch. Sonst hätte ich sie nicht geheiratet.«
»Da wüsst ich einen anderen Grund, aber okay. Weiter.«
»Bei deiner Mutter fühle ich aber mehr als nur eine einfache Verliebtheit. Es ist, als wären wir zwei Seiten einer Medaille. Wenn ich mit ihr zusammen bin, habe ich ein komplett anderes Gefühl als bei Hera. Bei Leto kann ich mich fallen lassen. Bei ihr fühle ich, als wäre ich endlich angekommen, wenn du verstehst, was ich meine.«
Und wie ich das konnte! Als ich mit meinem geliebten Hyazinth zusammen war, fühlte ich nichts anderes. Und dennoch fragte ich eiskalt: »Dein Sinneswandel hat zufällig nichts damit zu tun, warum meine Geschwister und ich unsere Kräfte verlieren, hm?«
Erneut seufzte Zeus tief, drehte den Schreibtischstuhl herum und setzte sich verkehrt herum drauf – so wie es die Leute in den Filmen taten. Die Ellbogen lehnte er auf die Rückenlehne. Mit einem nichtssagenden Blick sah er mich an.
»Ich will dich nicht anlügen, mein Sohn. Es hat indirekt etwas damit zu tun.«
»Ich wusste es.«
»Es war so, dass die Moiren eines Tages vor meiner Tür standen. Sie zeigten mir meinen Lebensfaden.«
»Unmöglich! Götter haben keinen. Es sei denn-« Ich riss die Augen auf und sprang auf die Füße. »Wir werden sterblich, weil du es wirst?«
»Ich fürchte, so ist es.« Bedauernd presste Zeus die Lippen aufeinander, bis nur mehr ein dünner Strich zu sehen war. Er strich sich die Haare aus der Stirn. »Die Menschheit hat sich anderen Glaubensrichtungen zugewandt. Das Christentum, die Katholiken, Buddhisten und Muslimen – da ist kein Platz für ein altertümliches Pantheon aus dem antiken Griechenland und dem Römischen Reich.«
»Aber wir werden weiterhin verehrt. Die Griechen-«
»Das war einmal. Tut mir leid, Apollo.«
Ich ließ den Kopf hängen, fragte mich, warum mich das überraschte. In meinem tiefsten Inneren wusste ich, dass es irgendwann so kommen musste. Aber ich hätte eher gedacht, dass wir dann einfach verblassten, aufhörten zu existieren. Mir wäre nie in den Sinn gekommen, dass uns das Schicksal zu gewöhnlichen Sterblichen werden ließ.
»Ich weiß nicht, was ich ohne meine Kräfte tun soll«, flüsterte ich mehr zu mir selber als zu Zeus. Es fühlte sich wie eine Lüge an, diese Worte auszusprechen.
»Das versteh ich nur zu gut. Aber was sollen wir machen? Dagegen ankämpfen? Das lassen die Moiren niemals zu.«
»Musst du mir nicht sagen. Aber was hat das, ob indirekt oder nicht, mit deinem Sinneswandel zu tun?«
»Die Kurzform? Es hat mich zum Umdenken gebracht. Es hat mir gezeigt, wie wenig Zeit wir als Familie dann haben werden. Deshalb sah ich es als Chance, meine Beziehungen zu kitten. Insbesondere zu dir.«
»Deinem Lieblingssohn. Meint Dionysos.«
»Weil es der Wahrheit entspricht. Ich weiß, als Göttervater gehört sich so etwas nicht, aber bei sterblichen Eltern ist das sicher nicht anders.«
»Sterbliche Eltern lassen ihre Kinder wenigstens nicht zur Strafe ein Sklave eines anderen Menschen sein. Zweimal.«
»Tut mir leid.«
»Eine Entschuldigung reicht da nicht aus! Du weißt nicht, wie es sich anfühlt, wenn der eigene Vater einen wie Dreck behandelt. Ich habe alles Erdenkliche getan, um auch nur, ein Lob von dir zu bekommen. Aber da kam nie etwas! Es ist deine Schuld, dass ich zum Rebellen wurde. Aber weißt du was, Vater? Die Religion der Menschen ist nicht das Einzige, was mit der Zeit gegangen ist. Ich habe mich ebenso verändert. Ich bin auf eigenen Pfaden gewandelt, auf denen ich die unterschiedlichsten Menschen kennenlernen durfte. Ich übte die unterschiedlichsten Berufe aus, die die Menschheit derzeit zu bieten hat.
Ich buk Brot und Brötchen, brachte Kriminelle hinter Gitter, rettete Senioren und Kinder aus einem brennenden Hochhaus – und ja, ich erledigte langweiligen Papierkram bei einer eintönigen Büroarbeit. Und es hat mir mehr oder weniger gefallen! Weil es etwas komplett anderes war, als das, was wir Tag für Tag taten!«
Immer weiter steigerte ich mich in die Euphorie hinein, die meine eigenen Worte in mir auslösten. Und das war noch nicht einmal das Ende.
»Seit mehr als drei Jahren besuche ich als Schüler eine Gesamtschule der Sterblichen, lebe mit ihnen zusammen und habe den besten Spaß meines Lebens. Beim Olymp! Ich habe Freunde unter meinen Mitschülern gefunden! Von jedem Einzelnen habe ich gelernt, was es bedeutet, ein Mensch zu sein. Dabei hat keiner von ihnen die Ahnung, dass ich ein olympischer Gott bin. Sie akzeptieren mich so, wie ich bin. Für die Menschen um mich herum bin ich nicht Apollo. Für sie bin ich ein sommersprossiger Durchschnittsteenager namens Freddy Foster, der die Hilfe seiner Eltern braucht. Dad, ich habe mich in eine verzwickte Lage manövriert, aus der ich ohne euch beide nicht mehr alleine herauskomme.«
Sobald mein epischer Monolog endete, war mein Vater auf die Größe eines Schulkindes geschrumpft. Oder so sah es aus meiner Sichtweise zumindest aus. Ohne es zu wollen, war ich mit jedem einzelnen Wort immer mehr in die Höhe geschossen. Mein blonder Schopf streifte die Decke. Im Zusammenhang mit der empfundenen Euphorie war das ein verdammt gutes Gefühl. Endlich war ich derjenige, der auf Zeus hinabsah, anstatt anders herum! Ich fühlte mich so richtig beflügelt. Endlich waren all die Gefühle, die sich in meinem Inneren angestaut hatten, auf einem Schlag raus.
Zufrieden lächelnd sah ich auf meinen winzigen Vater hinab und genoss seinen Gesichtsausdruck – ein Mix aus Emotionen. Erstaunen, Schock und, zu meiner Überraschung, stolz. Das war nichts Neues. Zeus galt schon immer als sehr stolzer Gott. Nur dieses eine Mal galt es jemand anderem - und zwar mir allein.
Ich war verwirrt. Er stand auf und klatschte in die Hände. Er applaudierte und meine Verwirrung wuchs ins Unermessliche. Was ist denn nun kaputt?
»Danke, Apollo. Ich hatte beinah die Hoffnung aufgegeben. Ich dachte, keins meiner Kinder wäre mutig genug, mir solch einen Wortschwall entgegen zu werfen. Du hast mir das Gegenteil bewiesen. Ich hätte auf dich setzen sollen.«
Zum ersten Mal in meinem Leben fehlten mir die Worte. Die Regale, der Kleiderschrank, das Bett – alles um mich herum wurde plötzlich wieder normalgroß. Ich war wieder auf die vorherige Größe geschrumpft. Zeus kam auf mich zu, die Arme ausgebreitet.
»Bekomme ich eine peinliche Vater-Sohn-Umarmung?«
»Vergiss es.«
Dad zuckte mit den Schultern und ließ die Arme sinken. »Also erzählst du mir in allen Details von deiner missligen Lage oder muss ich es aus dir herauskitzeln?«
Bei dieser Formulierung kamen mir einige Fragen auf: Erstens, wer war dieser Mann? Zweitens, was hatte er mit meinem echten Vater getan? Ein plötzlicher Sinneswandel machte wirklich Merkwürdiges aus einem. Je nachdem, ich war nicht sonderlich scharf auf eine Kitzelattacke, weshalb ich ihm und wenig später auch meiner Mutter von dem Eltern-Lehrer-Gespräch berichtete, was morgen stattfand.
Hoffentlich ging alles gut dabei.
Ich wusste nicht, wovor ich am meisten Angst hatte. Vor der Strafe, die Herr Berger mir heute aufbrummen wird oder vor der Tatsache, dass meine göttlichen Eltern auf ihn trafen. Eventuell war es auch eine Mischung aus beidem. Auf jeden Fall war ich ein einziges Nervenbündel, als meine Eltern und ich einen Fuß auf das Schulgelände setzten. Im Gegensatz zu mir hatten sie ihr Aussehen kaum bis gar nicht verändert.
Zeus sah aus, wie ich ihn kannte: dunkles Haar, das er sich nach hinten gekämmt hatte, sturmgraue Augen und einen dreiteiligen Anzug, der geradezu nach Businessberuf schrie.
Leto dagegen wirkte wie eine typische, sterbliche Mutter: langes, dunkles Haar, was zu ihren Schulterblättern reichte, freundliche helle Augen und eine Kombination aus Bluse, Bluejeans und Halbstiefeln. Über ihrer Schulter trug sie eine Handtasche. Mum trug nur zu bestimmten Anlässen Make-up. Heute war keiner dieser besonderen Tage. (Mal unter uns, meine Mum hat eine natürliche Schönheit und das liegt nicht daran, dass sie einem Göttergeschlecht angehört. Wenn sie sich schminkt, dann nur dezent.)
»Wird schon schiefgehen«, kiekste ich und klammerte mich an den Trägerriemen meines Rucksackes, so als wären sie meine Rettungsanker. Zeus verschränkte die Finger mit denen meiner Mutter – eine süße Geste, an die ich noch gewöhnen musste. Als glückliche und eindeutig stabilaussehende Familie gingen wir in das Schulgebäude.
Der Termin mit Herrn Berger war inmitten der ersten Unterrichtsstunde, weshalb uns kaum ein Mitschüler oder Lehrer über den Weg lief. Trotzdem verwünschte ich den Direktor dafür, denn laut dem Vertretungsplan fiel bei meiner Klasse genau diese Stunde aus. So war ich der Einzige von uns, der vor halb neun in der Schule war.
Und dann war da natürlich noch Kevin Richter. Er sah als Erstes zu uns, als wir das Büro des Direktors erreichten. Es war mir, als hätte er eine Art Spinnensinn, der allein auf mich programmiert war. Oder ich bildete es mir nur ein.
Sein Mund war zu einem gemeinen Lächeln verzogen. »Und ich dachte, du kommst gar nicht mehr.«
»Hallo, Kevin.« Ich lächelte seine Eltern an. »Guten Morgen, Herr und Frau Richter.« Weder sein Vater noch seine Mutter erwiderten das Lächeln. Sie gaben meinen Eltern die Hand, während sie mich lediglich mit einem strengen Blick ansahen. Dem Blick eines Anführers, eines Leiters eines Großkonzerns. Ganz anders als bei Kevin.
Für einen Moment dachte ich, seine Augen ähnelten den eines Reptils. Für einen Moment dachte ich, ich sähe meinen alten Erzfeind Python in ihnen. Ich hatte das Gefühl, das Blut in meinen Adern gefror. Eine große Hand legte sich auf meine Schulter, drückte leicht zu. Zeus musste mein Unwohlsein gespürt haben. Mir fiel ein Stein vom Herzen. Zum ersten Mal war ich froh, ihn hinter mir zu wissen.
Die Bürotür öffnete sich, aber Herr Berger war nicht zu sehen. Wir hörten seine Stimme: »Sie können rein kommen.« Familie Richter drängte sich an uns vorbei ins Büro des Direktors. Ich folgte ihnen mit meinen Eltern.
Im Gegensatz vor dem Wochenende standen vor dem Schreibtisch nun vier statt zwei Stühle, die allein für unsere Eltern bestimmt waren. Kevin und ich und durften uns hinter sie stellen.
Über die Brillengläser hinweg bedachte sah Herr Berger beide Elternpaare einmal kurz an. Er räusperte sich, lehnte sich im Stuhl zurück und legte die Fingerspitzen aneinander. »Ich danke Ihnen für Ihr Kommen. Ich nehme an, ihre Söhne haben Ihnen gesagt, weshalb ich Sie sprechen wollte?«
Das war eine rein rhetorische Frage, auf die er keine Antwort wollte. Kevins Vater rümpfte die Nase und zeigte auf mich. »Der Bursche hat meinen unschuldigen Sohn verletzt. Kevin hat gar nichts getan.« Obwohl es mich nicht überraschte, keuchte ich auf und fixierte Kevin mit einem strengen Blick. Herr Berger klärte die Situation auf.
»So wie es mir erzählt wurde, hat Ihr Sohn, Herr Richter, einen Freund von Frederick verbal beleidigt. Und das war nicht das erste Mal, aber darüber reden wir gleich.« Er sah zu meinen Eltern und seine Mimik wurde mit einem Mal weicher, freundlicher. Er lächelte leicht.
»Sie haben einen ganz fabelhaften Sohn, wenn ich das so sagen darf. Von Lehrern und Mitschülern gemocht, ganz passable Noten und abgesehen von Freitag, ist Frederick kein einziges Mal negativ aufgefallen. Also, irgendetwas in der Erziehung müssen Sie wohl richtig gemacht haben.«
»Ach, Iwo«, sagte Leto kichernd, legte Zeus eine Hand auf seine. »Wir haben doch kaum etwas gemacht.« Zeus stimmte ihr nickend zu. Ich verkniff mir ein Lachen. So falsch lag meine Mutter dabei nicht. Schließlich war ich sieben Tage nach meiner Geburt vollständig ausgewachsen. Man musste mir nichts beibringen. Von Anfang an wusste ich, wie der Hase lief. Und wie man mit Pfeil und Bogen umging, was neben Python so einige erfahren durften. Aber dazu einander Mal.
»Das freut mich zu hören, Frau Foster«, sagte Herr Berger nun. »Frederick, von dir möchte ich bitte einen Aufsatz darüber, warum Gewalt nicht immer die beste Lösung ist. Bis Donnerstag und maximal eine Seite.«
Ich blinzelte. »Mehr nicht?«
»Mehr nicht.«
»Cool«, sagte ich. »Hauptsache, ich muss nicht mit dem Hausmeister in den verbotenen Wald.«
»Im Gegensatz zu Dumbledore nehme ich die Sicherheit meiner Schüler Ernst.« Als Herr Berger das sagte, erreichte sein Lächeln seine Augen, die dadurch weniger müde wirkten.
Die Erleichterung, als der Direktor meine Familie entließ, war mir deutlich anzusehen. Seufzend ließ ich die Schultern und den Kopf hängen. Das Gespräch lief besser ab, als ich dachte. Leto und Zeus – besonders Zeus! – benahmen sich wie gewöhnliche Sterbliche, weshalb hoffentlich niemand einen Verdacht hegte. Und trotzdem missfiel mir eine Sache.
»Warum musstet ihr für Freitagabend zusagen?«
»Ich versteh nicht, was du dagegen hast, Apollo«, sagte meine Mutter, als ich beide zum Auto begleitete. »Du hast uns in dein Schulleben gelassen, also können wir uns auch selber einbeziehen.«
»Ja, aber als Aufsichtspersonen auf einem Schulball? Ich geh nicht mal selber hin! Dad, sag doch auch was dazu!«
»Deine Mutter hat recht.« Ich schlug mir die Hand vor die Stirn. Das konnte doch wohl nicht wahr sein! »Da lege ich einmal meine Hoffnung in dich.«
»Deine Mutter sieht so süß aus, wenn sie sich in etwas hineinsteigern kann.« Erneut schlug ich mir mit der flachen Hand gegen die Stirn. Ich vergaß, Dad trug in der Nähe meiner Mutter die metaphorische rosarote Brille auf der Nase. Ich seufzte tief.
»Heißt das, ich muss jetzt doch kommen?«
»Wir würden uns freuen«, sagte Leto. »Früher hättest du nicht einmal nachgedacht, nicht zu erscheinen.«
»Als Apollo vielleicht, Mum, aber jetzt bin ich Freddy. Der geht nicht auf Schulveranstaltungen. Nicht ohne Date.«
»Dann such dir eines?«, schlug Zeus schulterzuckend vor. »An der Schule gibt es sicher genügend Jungs und Mädchen, die mit dir hingehen würden.«
»So einfach ist das nicht.«
»Oder du gehst mit deinen Freunden hin«, lautete Letos Vorschlag. Sie lächelte mich in einer Art an, wo ich schwer widersprechen konnte. Denn sie hatte recht. Warum sich um ein Date bemühen, wenn man von Freunden umgeben war?
Doch die Angelegenheit mit dem Schulball musste ich später verschieben, denn im Geschichtsunterricht wartete das nächste Problem auf mich. Dabei fing die Stunde ganz harmlos mit der Rückgabe der Klausur an. (Wie vorhergesagt, war meine mit einer Drei benotet.) Danach ging es ohne Umschweife mit der griechischen Mythologie weiter – die Kinder des Zeus. Ares, Hermes, Dionysos, Athene, Hephaistos – alles normal, null Probleme. Bis Herr Flieder über die Geburt von Artemis und mir sprach.
»Die Mutter der Zwillinge, Leto, hatte es während der Schwangerschaft nicht leicht gehabt«, fing er an und schritt dabei zwischen den Tischen entlang, die Arme auf dem Rücken verschränkt. »Hera sprach einen Fluch aus, der ungefähr so lautete: Ich verbiete jedem Land mit Wurzeln in der Erde, Leto aufzunehmen, wenn die Stunde der Geburt gekommen ist. Sie wird umherwandern müssen, ohne jemals die Kinder zur Welt bringen zu können.«
Mir lief es eiskalt den Rücken runter. Ich wusste, dass meine ehemalige Stiefmutter Leto verfluchte, aber den Wortlaut zu hören, war noch einmal was komplett anderes.
»So wie es der Fluch sagte«, fuhr Herr Flieder fort, »fand Leto keine Unterkunft. Nicht einmal beim Orakel des Delphi, was ihrer Mutter geweiht war. Das jedoch nur, weil sich die Schlange Python dort eingenistet hatte.«
»Ich hasse Schlangen«, verkündete jemand von hinten. Die Hälfte der Klasse gab ihm murmelnd Zustimmung. Ich grinste.
Doch mein Grinsen gefror, die Mundwinkel rutschten nach unten. Mein Nacken kribbelte unangenehm. Ich schluckte. Jemand beobachtete mich. Ich versuchte mir nichts anzumerken, als ich mich unauffällig im Klassenraum umsah. Silvia, Charlie - alle waren auf unseren Lehrer konzentriert. Einige kritzelten in ihre Hefte oder starrten Löcher in die Luft. Niemand achtete auf mich.
Ich atmete tief durch. Alles Einbildung.
Falsch gedacht. Das Gefühl, beobachtet zu werden, verhärtete sich, als Herr Flieder zu meinem Kampf mit Python kam. Ich hatte das Gefühl, etwas unheimlich Böses schlängelte um meine Füße herum und tackerte sie am Boden fest. Egal, wie sehr ich es versuchte, sie lösten sich nicht. Mit aller Kraft klammerte ich mich an meinen Kugelschreiber, als wäre dieser mein Anker in der Not.
Auf meinem ganzen Körper breitete sich eine Gänsehaut aus, als das Böse sich an meinem Bein hoch schlängelte. Dicht gefolgt von einem Zischeln, was dem einer Schlange ähnelte. Nicht zum ersten Mal an diesem Tag bekam ich das Gefühl, ich stände bei meinem Erzfeind Python.
Aber das war unmöglich. Python war tot! Ich hatte ihn mit meinen eigenen Pfeilen erlegt. Es sei denn, Python hatte es irgendwie geschafft, aus dem Tartarus zu entkommen.
Das böse Gefühl schlängelte sich weiter meinen Körper hinauf, drückten mich gegen die Stuhllehne. Das Zischen näherte sich meinen Ohren. Ich glaubte, Worte zu verstehen: »Ich werde dich bald vernichten, Apollo.«
Vor Schreck keuchte ich auf. Endlich lösten sich meine Schuhsohlen vom Boden. Ich kippte mit dem Stuhl nach hinten um. Alle sahen mich, zum Teil besorgt, an. Andere lachten mich aus. Ich konnte aber nur an die Decke starren. Ein einziger Gedanke füllte meinen Kopf aus: Python war zurück.
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Kapitel: | 9 | |
Sätze: | 1.445 | |
Wörter: | 16.452 | |
Zeichen: | 96.353 |
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