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Casablanca - Alternatives Ende

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25.09.22 18:45
12 Ab 12 Jahren
Fertiggestellt

4 Charaktere

Tian

Drogenkurier mit bewegter Vergangenheit. Als Ex-Terrorist und Kronzeuge unbeliebt bei Sicherheitsbehörden und dem organisierten Verbrechen. Hobby-Medienkritiker und Cocktail-Fachkundiger.

Greg

Geschäftsführer mit Abneigungen gegen Telefonie und Papierkram. Von Natur aus unleidlich.

Eliza

Paranoides Schneewittchen mit Sicherheitsfetisch. Schießt fast so schnell wie ihr Schatten. Kennt all deine Geheimnisse und wird sie gegen dich verwenden.

Christian

Nebencharakter mit Ambitionen.

„Rechnungen gehen an dich, Liebesbriefe an mich“, sagte Tian zu Greg, als dieser mit dem Gleiter zur Landung ansetzte.

„Das könnte dir so passen“, brummte Greg zurück und setzte den Vogel unsanfter auf als nötig.

Das interstellare Gewerbegesetz schrieb vor, dass jede Firma einen festen Sitz haben musste, den man als Geschäftsführer „regelmäßig“ persönlich oder durch eine „qualifizierte und autorisierte“ Person aufzusuchen hatte, um die Post zu bearbeiten.

Eine archaische Vorschrift, schließlich verschickte mit Ausnahme der meisten Behörden niemand mehr Briefe mit der analogen Post. Aber wer ein Gewerbe anmelden wollte, musste zumindest einen Briefkasten vorweisen, da blieben die Jungs und Mädels in den Ämtern gnadenlos – egal, ob man tatsächlich ein stationäres Büro oder eine Fabrikhalle unterhielt, vom Keller des Elternhauses aus arbeitete oder wie Greg und Tian immer unterwegs war.

Die beiden unterhielten eine kleine Lieferfirma, die vor allem davon lebte, unverarbeitetes Coca vom Mars zum Jupitermond Europa zu transportieren. Eine Win-Win-Situation für alle Beteiligten. Denn auf dem Mars war der Verkauf, nicht aber Konsum und Anbau verboten, auf Europa indes durfte das Coca nicht angebaut oder konsumiert, auf Grund einer absurd-liberalen Handelsgesetzgebung aber sehr wohl gehandelt werden. Die Kunden des kleinen Transportunternehmens kauften das Coca nach eigenen Angaben als Wertanlage und Tian und Greg glaubten ihnen natürlich.

Für ihre Begriffe entsprach einmal jährlich einer ausreichenden Regelmäßigkeit. Sie rechneten der Einfachheit halber in Marsjahren, denn sie beide hätten diesen Planeten als ihre Heimat bezeichnet, wenn sie sich nicht jedes Gespräch über ihre Vergangenheit verboten hätten.

Gelangweilt schlenderten sie eine Straße entlang, die nur aus Briefkästen zu bestehen schien. Hochhäuser voller Firmenanschriften und Postfächer. Ein ganzes Viertel, nur um Gewerbesteuerbescheide zustellen zu können.

Die Gehwege und Gebäude waren so sauber, man sah ihnen an, dass sich hier niemand länger aufhielt. Kein Parkhaus, kein Kiosk, kein Imbiss, kein Supermarkt. Hier lebten vermutlich nicht einmal Ratten.

Beton und Glas – die Architektur für den Höhepunkt einer menschlichen Zivilisation, für eine Gesellschaft, die noch nicht weiß, doch vielleicht bereits in ihren Alpträumen vorausahnt, dass sie kurz vor dem Fall steht.

„Die Stadt ist schon wieder größer geworden“, sagte Tian, der es nicht gewohnt war, zu Fuß zu gehen.

„Sie höhlt sich aus“, erwiderte Greg, „Die Leute, die noch vor ein paar Jahren darauf gebrannt haben, im pulsierenden Zentrum zu wohnen, haben jetzt genug davon und ziehen mit ihren Kindern an den Rand, weil sie glauben, dass dort die Luft gesünder und die Aussicht schöner ist.“

„Pffft“, machte Tian, „Wenn es sie glücklich macht, den ganzen Tag auf eine öde Landschaft zu blicken.“

„Die meisten von denen blicken mittlerweile auf die benachbarte Wohnanlage oder deren trostlosen Steingarten.“

„Wie gut, dass wir die Tristesse nur vom Hören-Sagen kennen“, sagte Tian. Aber sein fröhlicher Sarkasmus entlockte Greg wieder einmal nur ein Brummen.

 

Zurück im Frachtschiff wurde der Postsack auf dem freigeräumten Schreibtisch ausgekippt und Tian und Greg machten sich daran, Werbesendungen auszusortieren – nicht ohne eventuelle Warenproben zurückzubehalten -, Mahnungen den entsprechenden Rechnungen zuzuordnen, sowie Steuerbescheide und Anhörungsbögen abzulegen.

„He, was ist das?“ rief Greg plötzlich, als ihm etwas aus einem Briefumschlag entgegen fiel. Er fing es auf, bevor es zu Boden gleiten konnte und stellte fest: „Ein Cocktailschirmchen?“

„Werbung für eine vielversprechende Bar?“, fragte Tian hoffnungsvoll.

„Nein“, sagte Greg, nachdem er den zugehörigen Brief überflogen hatte. Er runzelte unverständig die Stirn, betrachtete noch einmal den Umschlag, der nur mit der Nummer des Postfachs beschriftet war und reichte dann das Papier seinem Partner: „Was hältst du davon? Einer deiner heiß ersehnten Liebesbriefe?“

Tian las: „Der Tag, an dem ich dies schreibe, ist der 21. September. Wenn inzwischen nicht zu viel Zeit vergangen ist, besteht die Chance auf ein Wiedersehen.“

„Wer ist das?“, fragte Greg und riss Tian aus der Trance, die eingesetzte hatte, nachdem er die Handschrift erkannt hatte.

„Niemand.“

„Dann ist dort drüben der Papierkorb.“

„Jetzt warte doch mal!“, sagte Tian.

„Musst deine Gedanken sortieren, was? Welche von deinen kleinen Freundinnen ist es?“

„Es ist niemand, das habe ich doch schon gesagt. Niemand, der dich etwas angeht!“

„Warum plötzlich so aggressiv?“

„Du bist neidisch, weil keine dir jemals schreibt.“

„Wie kann ich neidisch sein? Du sieht nicht gerade erfreut aus.“

„Lass es mich zu Ende lesen!“

„Du willst doch nicht wirklich…“

„Wir haben ein paar Tage frei, oder nicht?“

„Wir wollten uns ein Wochenende im Casino gönnen“, erinnerte Greg gekränkt.

„Ich hindere dich nicht daran“, sagte Tian.

Dann widmete er sich wieder dem Brief: „In der Bar, aus der das Schirmchen stammt, gibt es eine Pinnwand im Flur direkt neben den Toiletten. Dort findest du mich.“

„Gib mir das Cocktailschirmchen!“, forderte Tian.

Greg hatte es schon in der Faust zerdrückt, reichte die Überreste aber dennoch herüber. „Wie willst du herausfinden, aus welcher Bar der ist?“

„Ich hab so eine Vermutung.“

Tian nahm das zerknüllte Etwas und entfaltete es, um es von allen Seiten zu begutachten. Er fand keinen Hinweis auf seine Herkunft, keinen Stempel, keine Adresse.

„Igitt, du meine Güte!“, rief Greg plötzlich. Tian blickte auf und sah, wie Greg angewidert an seinen Händen schnupperte. Er tat es ihm nach und roch eine Mischung aus undefinierbar künstlichen Aromen und einem Reinigungsmittel auf Zitrusbasis.

„Das Papier ist getränkt in irgendein Parfum“, sagte Greg, aber Tian erkannte es nicht als typischen Geruch aus einer verflossenen Romanze.

„Das ist kein Parfum“, sagte er, „Kein Mensch will so riechen.“

„Wer weiß, auf was für Leute du so stehst…“

„Das ist trotzdem kein Parfum, das ist…“, er dachte nach, „ein ganz furchtbar gemixter Ramos Gin Fizz.“

 

***

 

Als Tian und Eliza sich zum ersten Mal trafen, bestellte sie keinen Ramos Gin Fizz, sondern einen Long Island Iced Tea und er nippte an einer Cola. Tian war damals so neurotisch, dass er sich keinen Tropfen Alkohol mehr zumutete. Seine Freunde würden sich alle in Feinde verwandeln, wenn sie herausbekamen, was mit ihm los war, dass er darüber nachdachte, auszusteigen aus der Organisation, die er selbst gegründet hatte.

Vielleicht wurde er zu alt oder die anderen zu extrem. Vielleicht hatte er das Ziel aus den Augen verloren, vielleicht hatten sie das alle.

In letzter Zeit bevorzugte er es, allein zu sein, nachzudenken, Sätze zu formulieren, die in einem Protokoll gut aussehen würden.

Und als er mitten in einem Gedankenkarussell hängen zu bleiben drohte, tauchte hinter ihm ein Typ auf, der sich schwankend auf die Bar zu bewegte. Dass er den alkoholisierten Rüpel nur spielte, merkte Tian sofort und das beunruhigte ihn.

Hatte man schon jemanden auf ihn angesetzt?

Aber der Typ hielt sich nur kurz an der Rückenlehne seines Stuhles fest und schwang sich dann zu der jungen Frau neben Tian herüber, um sie anzuquatschen.

Sie schien nicht interessiert und zeigte sich zunehmend genervt, als der betrunken Spielende nicht locker lassen wollte. Die Konversation wurde lauter und Tian konnte sie nicht weiter ignorieren.

„Hast du ein Verständnisproblem?“ zischte die Frau, ein Auge auf den Störenfried, ein Auge auf ihren Drink gerichtet.

„Hast du eine gestörte Selbstwahrnehmung oder glaubst du wirklich, dass du irgendwas besseres als mich heute Abend hier abschleppen wirst?“

Sie seufzte hörbar: „Und wenn du der letzte Mensch im Sonnensystem wärst, so würde unsere Spezies aussterben. Hast du es jetzt kapiert? Verzieh dich!“

Daraufhin ließ der Typ Tians Lehne los, stolperte nach vorne und fiel der Frau nicht nur ins Dekolleté, sondern bekam zugleich ihr Knie zu fassen, woraufhin sie ihren Cocktail über seinem Kopf auskippte und ihm das Glas auf den Kopf schlug. Er taumelte zurück und brüllte: „Hey! Was soll das denn?“

„Ich hab dir gesagt, du sollst dich verziehen!“

Eine kleine Menschentraube hatte sich zusammengefunden und beobachtete interessiert, was als nächstes geschah.

„Du musst mir nicht gleich deinen Weibercocktail überkippen!“, beschwerte sich der Typ plötzlich in einem weinerlichen Tonfall. Aber er gab nicht auf, sondern machte wieder zwei Schritte auf die Frau zu, die ihrerseits von ihrem Barhocker aufstand und versuchte sich drohend vor ihm aufzubauen. Bei einem Meter sechzig Körpergröße gelang ihr das nicht besonders gut. Außerdem hatte ihr Kleid ebenso etwas von der Cocktaildusche abbekommen. Ihre Frisur war zerzaust von der Rangelei und das Makeup ein wenig verschmiert. Trotzdem behielt sie die Nerven und sagte noch einmal: „Geh nach Hause, du bist betrunken! Du bringst dich nur selbst in Schwierigkeiten!“

„Ich zeig dir, wer in Schwierigkeiten kommt!“, stieß er hervor und versuchte, die Frau beim Handgelenk zu greifen.

In diesem Moment hatte Tian genug, er stand auf, drängte sich zwischen die beiden Streitenden und fixierte den aufdringlichen Typen mit einem Blick, den andere ihm als furchteinflößend attestiert hatten. „Lass sie in Ruhe jetzt, es reicht!“

„Und was willst du?“, fragte der Typ, bei dem Tian jetzt erst auffiel, dass es sich um einen durchtrainierten Kraftsportler handelte.

„Meine gottverdammte Ruhe!“, sagte Tian.

„Die kannst du haben, wenn ich mit dir fertig bin!“

Tian war nicht der Typ, der eine solche Situation zu deeskalieren versuchte, indem er die Polizei rief oder ein klärendes Gespräch vorschlug. Früher und in einer weniger öffentlichen Lokalität hätte er kurzen Prozess gemacht, aber er stand so kurz vor der Läuterung, dass er sich das jetzt nicht durch den unbedachten Einsatz seiner Waffe kaputt machen wollte.

Tian wusste, dass der andere nicht wirklich betrunken war. Aber wusste der, dass er es wusste? Derartige Muskelprotze neigten dazu, ihre Gegner zu unterschätzen. Tian, eher drahtig als kräftig, glaubte nicht, ihn mit einem Fausthieb außer Gefecht setzen zu können. Eher würde er ihn damit provozieren. Also setzte er alles auf die Karte „Abschreckung“. So beiläufig wie möglich lüftete er sein Jackett und gewährte der Menge und seinem Gegner einen Blick auf die Waffe, die er am Körper trug. Sollten sie ihn für einen Cop oder einen Kriminellen halten. Wenn er nur selbstbewusst genug wirkte, nahmen sie ihm ab, berechtigt zu sein, den Revolver zu tragen.

„Okay, okay“, stammelte der Typ plötzlich, „Du kannst sie haben – die Tussi, deine Ruhe, was du willst! Man muss ja nicht gleich übertreiben. Meine Güte! Läuft hier mit einem Revolver rum, als wär es hier nicht sicher…“

Er trollte sich, der Halbkreis aus Schaulustigen löste sich so schnell auf, wie er entstanden war.

Tian bot der Frau ein Taschentusch und einen frischen Drink an.

Sie bestellte: „Einen Long Island Iced Tea, bitte.“

 

***

 

Deshalb wunderte es Tian nicht, dass Eliza ihn in einer Cocktailbar treffen wollte. Vermutlich auch, weil sie wusste, dass er sie alle kannte… Zumindest alle in dieser Stadt.

Den Ramos Gin Fizz bekam man nicht überall, denn es war eine Tortur, ihn zu mixen und die Zutaten nur umständlich zu besorgen. Das hieß, die Bars, die ihn auf der Karte hatten, stellten üblicherweise sicher, dass sie ihn gut machten und ihn sich gut bezahlen ließen. Bars, die höhere Preise verlangten und damit distinguierte Gäste anzogen, konnte Tian deshalb ausschließen. Er suchte stattdessen nach einem schäbigeren Etablissement, das eine höhere Klasse von Alkoholikern ansprechen wollte.

In diesen Gefilden kannte Tian sich bestens aus und alles, was er tun musste, war, die Cocktailkarten der entsprechenden Kandidaten durchzugehen. Er selbst hatte noch nie beobachtet, wie sich jemand, dem es vor allem um den schnell zuführbaren Alkohol ging, in einer schmierigen Bar einen Ramos Gin Fizz bestellte. Aber pro forma auf die Karte gesetzt, wirkte der Drink wie ein Ausweis für Qualität und Stil. Er war eine Falle für Leute, die wie Tian online nach einer günstigen Bar mit Klasse suchten.

Schnell fand er zwei mögliche Lokale und machte sich auf den Weg, ihnen persönlich einen Besuch abzustatten.

Das erste entpuppte sich als Club, der nur Männern – vorzugsweise solchen, die generell die Gesellschaft von Männern bevorzugten - Einlass gewährte. Eliza konnte also nicht hier gewesen sein.

Im zweiten, einem tristen Schuppen, der mit Postern von sonnigen Standstränden an den Wänden für eine tropische Atmosphäre sorgen wollte, bestellte Tian – einziger Gast an einem grauen Spätherbstmittag - einen Ramos Gin Fizz und nach einigem Murren setzte der Barkeeper ihm ein Glas vor, das so penetrant nach Spülmittel roch, dass Tian würgen musste.

„Am helllichten Tag wirken Cocktails immer abstoßend“, verteidigte sich Barkeeper, der insgeheim wusste, dass er eine Schande für seinen Berufsstand darstellte.

Tian ließ das Glas stehen und machte sich auf den Weg, die Toiletten aufzusuchen.

Herren nach rechts, Damen nach links, wies ein Schild ihn an, aber Tian interessierte sich für den Aushang in der Mitte: Eine Pinnwand mit zwei Feldern für „Suche“ und „Biete“.

„Wollen Sie eine Anzeige aufgeben?“, fragte der Barkeeper, als er bemerkte, dass Tian wie paralysiert davor stehen geblieben war, „Oder ist was für Sie dabei?“

Hier versuchte niemand, ein altes Fahrrad zu verkaufen oder fragte nach seltenen Briefmarkten. Die Pinnwand war über und über mit Fotos bedeckt. Kontaktanzeigen der einen oder anderen Art.

Eher der anderen Art, stellte Tian fest, als er eines der Bilder abnahm und auf der Rückseite zu lesen bekam, was die entsprechende Dame alles anzubieten hatte.

„Ein Cop, was?“, rief der Barkeeper, „Ich versichere Ihnen, es ist nichts Illegales dabei. Alles seriöse Angebote und Nachfragen. Da achten wir drauf.“

Das bezweifelte Tian, aber er wollte den Mann nicht ins Schwitzen bringen – auch wenn die Bar nicht viel schlechter riechen konnte: „Nein, kein Cop. Ich suche nur jemand bestimmtes.“

„Ach so. Na, dann tun Sie sich keinen Zwang an.“

Ich könnte ein Auftragskiller sein, dachte Tian, aber sie haben immer mehr Angst vor den Cops, als vor dem Verbrechen.

Er ging die Fotos eines nach dem anderen durch und fand Eliza nicht. Notgeile Typen, die umworben werden wollten und mit ihrem Einkommen, ihrem Status, ihrem Humor und sogar ihrer Hygiene angaben, Frauen, die sich entweder drei Jahre älter oder fünfzehn Jahre jünger machten, mit exotischen Namen und in raffinierten Posen, die viel, aber nicht alles verrieten und hier und da ein wenig schummelten. Keine Eliza, die er sich in einer solchen Pose beim besten Willen nicht vorstellen konnte. Der Gedanke, dass sich unter ihrer durchweg schwarzen Kleidung so etwas wie ein bleicher, menschlicher – geradezu - profaner Körper verbergen konnte, ließ ihn gar erschauern.

Blonde Frauen, brünette Frauen, schlanke Frauen, rundliche Frauen, naiv dreinblickende, verführerische, dominante Frauen, kleine, mädchenhafte Frauen, stattliche, mütterliche Frauen, erfahrene und nach eigenen Angaben unerfahrene Frauen.

Alte Männer, rüstige Männer, dickliche Männer, dürre Männer, kahle Männer, Männer, die sich für das Foto zurecht gemacht hatten, Männer im Anzug, Männer mit Waschbrettbauch, Männer vor teuren Autos, Männer mit einem Bündel Geldscheine statt eines Einstecktuchs, grimmige Männer, lächelnde Männer, Männer die „etwas Festes“ suchten oder „etwas Gelegentliches“ oder „ein Abenteuer“, verheiratete Männer, einsame Männer.

Das ganze Elend der Menschheit auf einer Korkwand, dachte Tian.

Suche: Partnerschaft. Biete: Sex. Suche: Sex. Biete: Ein alternatives Ende von „Casablanca“?

Tian hielt inne. Das war absurd genug, um seine Aufmerksamkeit zu erregen. Er drehte die Karte um und auf dem Foto bekam er ganz und gar jemand anderen als Eliza zu sehen. Nämlich eine völlig unbekleidete, fettleibige Dame mit roter Dauerwelle, die sich auf einem Barhocker mit geradezu zerbrechlich dünnen Beinchen räkelte und dabei aussah wie eine Witzfigur. Sie nannte sich „Nana“ und bot tatsächlich – Tian überprüfte es noch einmal – ein „Alternatives Ende von „Casablanca““ an.

Wer kannte heutzutage noch diesen Film? Spielte die Dame eine Intellektuelle, die Männer ansprechen wollte, die sich nach einem echten Happy Ende sehnten?

Tian betrachtete noch einmal das Foto. War das Elizas Humor? Wollte sie damit sicherstellen, dass niemand außer ihm auf diese Anzeige antwortete?

„Ich nehme die hier“, sagte Tian zum Barkeeper, zeigte ihm das Foto und bezahlte seinen Ramos Gin Fizz, der traurig in sich zusammengefallen auf dem Tresen stand und niemals die Chance bekam, eine durstige Kehle zu befeuchten.

„Jeder, wie es ihm gefällt“, kommentierte der Barkeeper mit einem mitleidigen Lächeln auf den Lippen.

 

***

 

Seltsam, dass er mich für einen Cop gehalten hat, dachte Tian, wo doch Eliza diese Rolle viel besser ausfüllte.

Zumindest besser als ihre Rolle als einsames Opfer sexueller Belästigung.

Tian hatte der verstört und alkoholisiert wirkenden Frau aus der Bar angeboten, ihr ein Taxi zu bestellen. Eliza hatte behauptet, in fußläufiger Entfernung zu wohnen, sich aber über einen Begleiter zu freuen – nach all diesen Unannehmlichkeiten et cetera…

Eliza führte Tian in ein Wohnviertel und blieb vor einer Kellertür stehen. Ob er noch mit hineinkommen wollen. Auf einen Kaffee oder einen Snack. Sie könne schnell was warm machen oder aufbacken.

Rückblickend betrachtet hätte er ablehnen sollen, aber sie insistierte auf eine so verlockende Art, dass Tian nicht anders konnte.

Eine Minute später saß er auf einem Stuhl in einem Verhörraum und Eliza eröffnete ihm seine Möglichkeiten: „Keine Sorge, wir sind allein hier. Keine Beobachter oder Zuhörer. Dafür bräuchten wir Ihre Zustimmung. Dies ist ein informelles Gespräch. Ich bin lediglich hier, um Ihnen ein Angebot zu unterbreiten. Wir haben Sie beschattet. Wir wissen, wer Sie sind, was Sie getan haben, worin Sie verwickelt sind, aber wir wollen Sie nicht. Sie können auf der Stelle als freier Mann hier zur Tür hinaus spazieren und werden irgendwann in naher Zukunft festgenommen und angeklagt werden. Das muss Ihnen bei allem Ehrenkodex klar sein. Oder Sie helfen mir, den Rest Ihrer Bande dranzukriegen, dann bieten ich Ihnen eine Kronzeugenregelung an mit Zeugenschutz und allem, was nötig ist. Wir wissen, dass Sie nervös sind. Reden Sie jetzt mit mir, bevor sie es unter anderen Voraussetzungen mit anderen Leuten tun müssen.“

Eliza sagte das so, als sei sie überzeugt davon, die angenehmere Gesprächspartnerin zu sein, was Tian nicht neugierig auf ihre Kollegen machte.

Auf die Frage, ob die Geschichte in der Bar inszeniert gewesen war, antwortete Eliza mit einem schlichten: „Natürlich.“

„Kann ich darüber nachdenken?“, fragte Tian.

„Wir haben die ganze Nacht Zeit“, erwiderte Eliza.

Tian wagte es nicht, auch nur einen Muskel zu bewegen und blieb stumm wie ein Fisch, stock und steif auf seinem Stuhl sitzen, während sein Gehirn versuchte, einen klaren Gedanken zu fassen zu bekommen. Üblicherweise arbeitete es gut unter Druck. Tian hatte sofort begriffen, dass dies nicht nur eine Falle und jedes Wort ein Risiko war, sondern, dass man ihm hier vielleicht die Chance bot, auf die er gewartet hatte.

Denn Eliza hatte Recht, er war weich geworden. Die Frage, ob er reden würde, hatte er längst für sich beantwortet. Er plagte sich lediglich noch mit den Details des Wann und Wie herum. Was ihm schlaflose Nächte bereitete, war nicht der Akt des Verrats, sondern dessen Umstände. Vielleicht war dies der Schubs ins kalte Wasser, den er gebraucht hatte. Vielleicht war jetzt der beste Moment.

Eliza schien ihm eine Frau zu sein, die wusste, was sie tat. Und wenn er ihr sein Schicksal anvertraute, war es dort vielleicht in besseren Händen als in seinen eigenen.

Andererseits war er unvorbereitete. War es klug alles zu erzählen? Wie viel wussten sie? Hatte er die Polizei nicht immer als den ultimativen Feind betrachtet? Egal, wie weit seine Freunde abgedriftet waren, diese Gemeinsamkeit war geblieben. Er vertraute niemandem, wieso sollte er ausgerechnet dieser Frau trauen. Er kannte sie seit weniger als einer Stunde und sie hatte ihn bereits einmal angelogen und manipuliert.

Jetzt reden oder später das Schicksal derer teilen, denen er am liebsten selber das Handwerk legen wollte? Er wusste nur nicht, wie. Wusste nicht mehr, wie es so weit kommen konnte.

„Okay, ich habe den Sprengsatz im Westend-Tunnel gebaut und detonieren lassen“, sagte Tian, denn er war relativ sicher, dass sie das bereits wussten, „Das ist jetzt elf Jahre her. Ich habe die Bombe konstruiert und platziert. Sie war darauf programmiert hochzugehen, sobald der Expresszug aus dem dreißigsten Zentrum hindurch fahren würde. Fünfundsiebzig Menschen sind dabei ums Leben gekommen.“

„Inklusive eines gewissen Herren namens Jack Nakamura“, ergänzte Eliza.

„Genau. Jack Nakamura war das Ziel der Aktion.“

„Na schön, wenn sie weiterplaudern wollen, werde ich das Band anschalten. Ist das in Ordnung für Sie?“

Tian blickte auf und direkt in Elizas Augen, die ihn weniger fragten als aufforderten. Dieses leuchtende Blau in Mitten eines bei Neonlicht so bleichen Gesichts wirkte wie der Köder eines Laternenfischs. Er nickte.

Eliza schaltete den Recorder an und sagte: „Der Zeuge ist mit der Aufzeichnung einverstanden, er gibt zu, den Terroranschlag auf den Expresszug Nummer 217 im Westend-Tunnel am 20. Dezember 2251 geplant und durchgeführt zu haben.“

Sie nickte ihm zu.

„Ja, das stimmt. Ich habe den Sprengsatz geplant, gebaut und zur Detonation gebracht.“, sagte Tian.

„Ihr Name ist Tian Young.”

„Tian Young, ja.“

Das war eine Lüge. Diesen Nachnamen hatte er erfunden, um seine Familie, oder das, was davon noch übrig war, zu schützen. Seinen echten Namen hatte er seit Jahren nicht mehr gehört oder ausgesprochen, aber wenn nicht einmal die Bullen ihn ermitteln konnten, war er vielleicht gar nicht mehr wahr.

„Was haben Sie in den vergangenen elf Jahren gemacht?“, fragte Eliza.

„Zunächst bin ich untergetaucht“, sagte Tian, „Raus aus der Stadt, weg von allen Behörden. Ich habe in einer Kommune auf dem Land gelebt, wenn man es so nennen kann.“

„Wann sind Sie zurückgekehrt?“, fragte Eliza.

„Vor etwa drei Jahren. Die Kommune hatte sich zerstritten und löste sich auf in einen Teil, der weiter machen wollte wie bisher und einen Teil, der… sozusagen rausgeschmissen wurde.“

„Und Sie wurden rausgeschmissen?“

„Ich und ein paar andere Leute.“

„Wieso? Was war der Anlass des Streits?“

 

***

 

Wieso wollte Tian sie überhaupt wiedersehen? Und viel sonderbarer: Wieso wollte sie ihn wiedersehen?

Er hatte ihr ein Band nach dem anderen vollgequatscht und als die Nacht dem Morgengrauen gewichen war, hatten sie sich verabschiedet, als wären sie alte Freunde. Eliza hegte keinen Zweifel, dass er wieder kommen würde und Tian kam wieder, quatschte weitere Bänder voll. Wie ein Damm, der mit dem Herausziehen eines Strohhalms gebrochen war, redete er über Motive, Hintergründe, Informationsquellen, Pläne, Bezugswege, Verbündete, Codes und geheime Treffpunkte und empfand sich plötzlich deutlich weniger als Terrorist. Aber auch aus irgendeinem Grund nicht als Verräter.

Das war es, dachte Tian, das hatte Eliza geschafft. Er fühlte sich erleichtert. Er war überhaupt nur deshalb zum Terroristen geworden, weil er ein Gewissen besaß und sie hatte es ihm zurückgegeben, nachdem er es verloren hatte.

Alles in allem war sie gut zu ihm gewesen, auch wenn sie ihr Wort nicht gehalten hatte. Aber dafür konnte sie nichts.

Tian trottete eine verstörend sauber geputzte Straße entlang zu einer Adresse, die unter dem Angebot den alternativen Filmendes angegeben war. Der kleine Laden für antiquierte Technologie lag ganz in der Nähe.

In letzter Zeit interessierten sich wieder mehr Leute für die Wunder der Vergangenheit. Nostalgie oder Langeweile, das Verlangen nach einer vermeintlich guten, alten, greifbareren Zeit. Tian hatte nichts am Hut damit. Seine Hände hatten genug Unheil angerichtet, er hatte nicht das Bedürfnis, Dinge mit ihrer Hilfe zu begreifen. Die materielle Welt war ihm so fremd, wie sie es einem geistig gesunden Menschen sein sollte. Er betrachtete seinen Körper nicht als Werkzeug, seine Hände hatten keine Schwielen und die Narben in seiner Haut waren Makel, keine Trophäen.

Man sollte sich nicht selbst belügen und so tun, als hätte man sich damit abgefunden oder sei sogar glücklich damit, ein klumpen Lehm zu sein, den das Leben zu formen hatte. Zu viele Menschen fielen auf diesen esoterischen Quatsch herein, wollten zurück zu ihren Wurzeln finden, die Visionen für die Zukunft in den Weisheiten der Vergangenheit suchen.

„Sie sind Vergangenheit, weil sie Fehler, nicht weil sie weise waren“, sagte sich Tian. Aber wer brauchte schon Antworten, wenn er Fakten haben konnte?

Fakt war, Tian wusste nicht, welche Maschinen man besitzen und wie man sie benutzen musste, um eines dieser Speichermedien im Schaufensters des Ladens zum Laufen zu bekommen.

„Wieso kauft man so etwas?“, fragte er den Mann hinter der Verkaufstheke.

Er schaute nur langsam und gelangweilt von seinem Computerbildschirm auf und musterte Tian abschätzig. Mit seiner Frage hatte er nicht gerade das Herz des Verkäufers gewonnen.

„Um etwas zu haben, das ganz sicher frei von Viren und Spionagesoftware ist.“

Tian fühlte sich erdrückt von all den Regalen, in denen sich die undefinierbare Ware stapelte. Papier, Plastik, Metall. Bänder, Kassetten, Filmrollen, glänzende Scheiben, matte Scheiben, bedruckte Scheiben, Filmplakate, altes und neues Zubehör, Bildschirme, Abspielgeräte, Lausprecher, Kabel. Und vor allem: Staub. Kein Mensch konnte dem Dreck hier drin Herr werden, das sah Tian ein. Hier und da brummte ein Bildschirm, flackerte auf und erstarb wieder.

Der ganze Elektroschrott verursachte eine enorme Abwärme und Tian begann zu schwitzen.

„Sobald Sie sich einen Film oder ein Musikstück von irgendwoher ziehen, haben Sie eine Wanze auf Ihrem Gerät, das sie mit sich herumtragen, dem sie alles anvertrauen, das immer online ist“, sagte der Verkäufer.

„Ich dachte, die Wanzen sind ab Fabrik eingebaut“, erwiderte Tian.

„Deshalb sollten Sie sich überlegen, mit welchen Geräten Sie sich umgeben.“

„Aber wird eine solche Sammlung nicht auf Dauer etwas umständlich zu verwahren?“

„Sehen Sie es als Freizeitvergnügen.“

Tian sah es als zeitraubend und frustrierend, sagte aber nichts mehr. Er wollte so schnell wie möglich wieder nach draußen. Hier drin musste er einen immer dringenderen Hustenreiz unterdrücken und eigentlich interessierte er sich kaum für Popkultur. Menschen, die ihre Leben dieser Parallelwelt widmeten, waren Tian schon immer suspekt gewesen. Ob man nun einen Filmstar anhimmelte oder einen Prinzen, ob man in eine fiktionale Geschichte oder in eine drogeninduzierte Traumwelt flüchtete, um dem Alltag zu entkommen, ob man zu Technorhythmen zappelte, Sportler zu Helden erklärte oder bei Freibier Gladiatorenspiele beobachtete – Kultur und Degeneration wurden nur von einer rasiermesserklingendünnen Linie voneinander getrennt.

Nicht umsonst hatte er von allen Tyrannen des Planeten ausgerechnet Jack Nakamura in die Luft gejagt, den Mann, dessen Profession es gewesen war, aus „ganz normalen Menschen Stars zu machen“, dessen Medienimperium fast so viele ganz normale Menschen ins Unglück gestürzt hat, wie er Millionen angehäuft hatte. Tian wusste, was einen leuchtenden von einem gefallenen Star unterschied: Skrupellosigkeit. Wer im Nakamura-Netzwerk bestehen bleiben wollte, musste bereit sein, wegzubeißen, wer immer ihnen zu nahe kam.

Aber das war vorbei. Keine lukrativen Geschäfte mehr mit den Exekutivbehörden, keine Clownshows mit minderbemittelten Straftätern, keine Menschenjagden, keine Wetthungern in Modelcastings für schwer essgestörte Minderjährige mehr. Tian hatte es beendet und niemand hatte ihm dafür je gedankt.

„Lange her, dass jemand sowas wie einen Film produziert hat“, sagte Tian, als er sich umsah, „Die Sachen hier sind ja zum Teil 300 Jahre alt.“

„Und dennoch bisher nicht übertroffen“, sagte der Verkäufer.

„Als würden sie es überhaupt versuchen…“

„Man glaubt, dass Fiktion das Publikum zugleich überreizt und langweilt. Ich glaube, dass nur das erste wahr ist.“

„Das Publikum ist überreizt von so etwas?“, Tian zeigte auf das Filmplakat, das ein in Pastellfarben gefasstes, verschmitzt lächelndes Pärchen vor einem Traualtar zeigte.

„Nein, ich glaube, dass die Produzenten glauben, dass Fiktion die Menschen überreizt und Überreizung führt zu Verspannung und Verspannung zu Unwohlsein und so weiter. Niemand will schuld an irgendjemandes Unwohlsein sein, nicht wahr? Sowas kostet Zeit, Geld und Sympathie. Zu komplizierte Geschichten sind ein Risiko, zu flache kratzen am Image. Und dann kommt noch hinzu, dass die Message stimmen und verstanden werden muss. Eine nicht kenntlich gemachte Ironie und Sie haben ein Verfahren am Hals. Sie können nicht einfach drauf los schreiben. Zuerst kommt die Markanalyse, dann das Sensitivity-Team, dann die Rechtsabteilung, dann die staatlichen Stellen. Sie müssen zugeben, dass das ein ziemlicher Aufwand ist, wenn man in der gleichen Zeit fünf Formate produzieren kann, die vermeintlich die Realität abbilden. Wenn darin jemand flucht oder gewalttätig wird – nicht das Problem der Produktionsfirma. Die sind nicht verantwortlich für die Inhalte der Realität, oder? Die Drohbriefe werden direkt weitergeleitet.“

„Immerhin besser als das öffentliche Schlachtfest damals im Nakamura-Netzwerk“, versuchte es Tian.

„Ob das Schlachtfest – wie Sie es nennen – nun öffentlich vollführt wird oder hinter den Kulissen stattfindet, macht nun auch keinen Unterschied. Immerhin war Nakamura ehrlich, als er sagte, dass er uns die wahre Natur des Menschen näherbringen wollte. Es war nicht die Realität, aber eine reale Dystopie. Dafür habe ich ihn respektiert.“

Tian wandte sich angewidert ab. Es hatte keinen Sinn, diesem Mann zu erklären, dass es keine „wahre Natur des Menschen“ gab. Er hatte diesen Werbespruch immer gehasst – so sehr wie er Menschen hasste, die die Vergangenheit verklärten oder an das Schicksal glaubten.

„Erziehung ist eine prima Sache“, sagte er nur und grinste.

„Was immer Sie meinen.“

„Ich suche nach einem alternativen Ende zum Film „Casablanca“. Man hat mir gesagt, das könnte ich hier bekommen.“

Der Verkäufer sah Tian mit leeren, unverständigen Augen an.

„Ein alternatives Ende von „Casablanca“. Sie wissen schon, er bringt sie zum Flugzeug, hält einen Monolog, der Nazi wird erschossen.“

„Sie meinen, es gibt eine Version, in der die Nazis gewinnen?“

„Schon möglich. Was weiß ich? Haben Sie, was ich suche?“, fragte Tian.

„Ich glaube nicht. Davon habe ich noch nie gehört“, sagte der Verkäufer, „Aber ich kann meinen Chef fragen. Der ist hinten und macht die Buchführung.“

„Davon bin ich überzeugt“, murmelte Tian, der trotz seiner Abneigung gegen Läden wir diesen sehr wohl wusste, was „hinten“ verkauft wurde.

Hervor kam ein kleiner, dicklicher Mann, der von oben bis unten in Strick gekleidet war. Wie ein überdimensionales Baby mit einer handarbeitswütigen Mutter, dachte Tian mitleidig. Einer der Gründe, warum er niemals heiraten würde, war, dass er nicht wieder zum Kleinkind degradiert werden sollte. Aber dieser Mann war sowas von verheiratet und degradiert bis hin zur Kastration. Es wunderte Tian, dass er in seinem Hinterzimmer treiben durfte, was immer er trieb.

„Der Herr sucht nach einem Alternativen Ende zu „Casablanca“. Davon habe ich noch nie gehört“, sagte der Verkäufer zu seinem Chef.

Derselbe sagte kein Wort, sondern starrte Tian mit zusammengekniffenen Augen an. So lange, bis es unangenehm wurde, Tian sich räusperte und das Foto aus der Bar vorzeigte.

„Nur, um sicher zu gehen“, brummte der Mann und trat einen Schritt näher an Tian heran, um ihm direkt in die Augen zu schauen.

Tian begann erneut zu schwitzen – diesmal eine Variation von Angstschweiß. Er fand, dass er sich das nicht bieten lassen musste und sagte: „Wonach suchen Sie?“

„Es stimmt“, erwiderte der Mann und beantwortete damit einen seiner Gedanken und nicht Tians Frage, „Sie sind blind auf dem rechten Auge.“

Tian ließ sich nicht dazu herab, das zu kommentieren. Es ging niemanden etwas an.

„Sieh dir das an, Jeff, blind wie ein Maulwurf.“

Jetzt trat auch der plumpe Verkäufer näher und starrte in Tians Gesicht. Er nickte, wie ein Vorarbeiter, der eine nicht ganz fehlerfreie aber doch funktionale Konstruktion absegnete.

Dabei stimmte es nicht einmal. Eine traumatische Mydriasis führte nicht automatisch zur Erblindung.

„Sie sind es also. Hätte nicht gedacht, dass Sie wirklich hier auftauchen. Die Lady hat etwas für Sie hier hinterlegt. Einen Augenblick“, sagte der in Strick gewandete Gartenzwerg plötzlich freundlich.

Er verschwand in seinem Hinterzimmer, suchte lautstark nach etwas und kam schließlich triumphierend wieder hervor: „Wie sie es mir gegeben hat. Originalverpackt. Ungeöffnet. Keine Ahnung, was drin ist.“

Tian nahm das Päckchen, wog es in der Hand. Er war schwerer, als er erwartet hatte und klapperte.

„Was kostet es?“, fragte er.

„Nichts. Es gehört mir ja nicht. Die Lady hat die Lagergebühr bezahlt.“

„Oh, das ist erfreulich“, sagte Tian und wandte sich um, um zu gehen.

„Wie wollen Sie es abspielen?“, rief ihm der Inhaber nach und Tian blieb abrupt stehen. Es gab immer einen Haken. Deshalb war der Typ plötzlich so freundlich geworden, er wusste, dass er mit dieser Transaktion eines seiner antiken Geräte verkaufen würde.

Tian gab sich geschlagen: „Was brauche ich dafür?“

Und schon fand er sich gefangen in einem Beratungsgespräch über antike Marken und Technik, von denen er noch nie gehört hatte. Schließlich ließ er sich einen VHS-Recorder aufschwatzen, dessen mannigfaltige Funktionen defekt waren, weshalb er mit einem 50prozentigen Nachlass verkauft werden konnte. Hinzu kamen Kabel und Adapter, um das Gerät an einen modernen Bildschirm und das Stromnetz anschließen zu können.

Als Tian um eine beträchtliche Summe erleichtert war, fragte er: „Was hätten Sie jemandem verkauft, der nicht auf die Beschreibung der Dame gepasst hätte?“

„Oh, es gibt einen Klassiker des Erotikfilms, der die Geschichte von „Casablanca“ auf eine prickelnde Weise neu erzählt. Sie halten das Foto aus einem Szenenbild in Ihrer Hand.“

Tian betrachtete noch einmal das Bild der morbid-übergewichtigen Frau von der Pinnwand in der Bar.

„Unmöglich“, sagte er.

„Schönheitsideale ändern sich, mein Lieber. Es war einer der letzten Höhepunkte des Genres, der noch auf der Erde produziert wurde. Während der Weizendürre und der letzten großen Hungersnot. Wenn es Sie interessiert, wir haben einige interessante Dokumentationen zu dem Thema und der Frage, ob der Mars damals zu wenig getan hat, um den Menschen auf der Erde zu helfen. Aber Sie wissen ja, die Kriege und die Überheblichkeit gegenüber den Zurückbleibenden, die mit dem Pioniergeist einhergeht…“

„Schon gut“, sagte Tian und winkte ab. Nichts war schlimmer als ein Hobbyhistoriker, der ins Schwafeln geriet.

 

***

 

Vielleicht ein Terrorist, der ins Schwafeln geraten war. Eliza kochte ihm Kaffee, Eliza ließ ihn bei sich übernachten. Eliza besuchte mit ihm ein Lichtspielhaus. Zum ersten Mal in seinem Leben kam Tian in Kontakt mit Kultur, die nicht durch den Fleischwolf der Massenverwertbarkeit gedreht worden war.

„Die meisten der alten Filme sind ursprünglich auch Propaganda gewesen“, gestand Eliza, „Es gibt kein Wort, kein Bild und kein Werk, das nicht Gewalt gegen den freien Willen des Publikums ist. Das alles versucht, uns von irgendwas zu überzeugen oder abzulenken. Kultur ohne Lenkung, ohne Verallgemeinerung gibt es nicht. Niemand hat ein Interesse an einer zerfaserten Welt, in der Individualisten ihre Schollen abstecken und sich verabschieden aus der arbeitsteiligen Gesellschaft. Alles, was wir tun können, ist beklatschen, was uns gefällt und auspfeifen, was nicht.“

„Das sehe ich anders“, sagte Tian.

„Ich weiß.“

Eliza ging mit ihm essen, aber damit beeindruckte sie Tian wenig. Er hatte bessere Lebensmittel in seiner Zeit auf der Farm kennen gelernt.

Sie verbrachten Zeit in einer städtischen Grünanlage und fütterten Enten mit altem Brot. Es kam Tian seltsam vor. War er jetzt in einer Beziehung mit einer Polizistin oder versuchte sie nur, weiterhin Informationen aus ihm herauszubekommen?

„Wie viele Leute wissen von dieser Sache?“, fragte Tian eines Tages.

„Genug“, sagte Eliza.

Das macht Tian wütend. „Ich habe dir meine komplette Lebensgeschichte erzählt, jede Menge meiner Freunde ans Messer geliefert und du kannst mir nicht einmal sagen, was ihr jetzt mit all den Informationen macht und wie vielen Leuten du sie weitergeleitet hast?“

„Alles zu deinem Schutz.“

„Ja, sicher. Du meinst wohl eher zu eurem Schutz. Einem Verräter ist nicht zu trauen, was?“

„Kannst du noch eine Weile warten?“, fragte Eliza versöhnlich, „Die Vorbereitungen laufen. Wenn es vorbei ist, sorge ich dafür, dass du Akteneinsicht erhältst.“

„Es“, sagte Tian verächtlich.

„Du meine Güte. Die Verhandlungen Tian. Es wird Anklagen und Verfahren geben. Die Staatsanwaltschaft ist eingeschaltet, der ganze Apparat.“

„Das weiß ich, Eliza, ich bin nicht dumm!“

Tians Enttäuschung darüber, dass sie ihm nicht genug vertraute, um mehr in ihm zu sehen als einen nützlichen Verräter, ein schwaches Glied in einer ansonsten festzusammenhaltenden Kette, währte nicht lange.

Egal, ob Eliza ihm die Freundschaft vorgespielt hatte oder nicht, es war nur die eine Hälfte eines regielosen Dramas. Menschen mit der Persönlichkeitsstruktur eines Verräters traf man in jeder Gesellschaftsschicht und Institution. Sie waren jedoch anders als ihr Gegenstück, die Psychopathen, meist nicht in Führungspositionen zu finden, sondern krochen servil um ihre Vorgesetzten herum, bis sie irgendwann genug davon hatten.

„Was sind wir?“, fragte Tian, als er hinter Eliza her zu deren Auto trottete. Sie kamen gerade aus einem Einkaufszentrum, wo sie Lebensmittel für die Feiertage eingekauft hatten. Er schleppte ihr die Taschen, sie öffnete den schnittigen Sportwagen mit einem Knopfdruck. Ein Paar? Ein Team? Ein Verhältnis? Kollegen? Partner? Schicksalsgenossen?

„Ich bin verantwortlich für dich und du bist angewiesen auf mich“, sagte Eliza kühl und klappte den Deckel des winzigen Kofferraums auf.

Tian wusste inzwischen, dass sie es nicht so meinte. Eliza gab diese Antworten, um ihn zu ärgern. Ihr war klar, dass er sie in Wirklichkeit nicht brauchte, um ihn zu beschützen, aber es waren wohl irgendwelche Vorschriften und es gefiel Tian sogar ein wenig, wenn sie so tat, als hätte sie das Sagen.

Na schön, Eliza hatte das Sagen, aber er hatte zumindest keine Angst ohne sie. Er war hier, weil er hier sein wollte. Er war hier, weil es das richtige war.

Er stellte die Einkaufstaschen in den Kofferraum, als im gleichen Augenblick etwas über seinen Kopf hinweg sirrte.

„Runter!“, schrie Eliza, während sie um den Wagen herum lief, um dort in Deckung zu gehen.

Tian stolperte ihr nach und als sie nebeneinander hinter den Reifen kauerten, schlugen auch schon die Kugeln in Blech und Scheiben des Autos ein.

„Wo sind sie?“, fragte Tian, aber weder er noch Eliza konnten von ihrem Platz aus etwas sehen.

„Ich schätze hinter dem Pfosten dort drüben“, sagte Eliza, „Aber sie wären schön blöd, wenn sie…“

Eine Kugel schlug frontal in die Windschutzscheibe.

„Die kam von oben“, sagte Tian.

„Los, weg! Die sind nicht hier, um Gefangene zu machen“, sagte Eliza und rannte los in die entgegengesetzte Richtung aus der die ersten Schüsse gekommen waren. Mit ihrer eigenen Waffe zielte sie auf die Neonröhren, die das Parkhaus beleuchteten. Dadurch wurde es nicht richtig dunkel, aber es entstanden schattige Winkel und Korridore, in denen man sich leichter unbemerkt bewegen konnte.

Tian gab ihr Deckung, so gut er konnte, aber er musste ebenso sparsam mit der Munition sein wie Eliza. Inzwischen war es dunkel genug, um das Feuer einzustellen und Eliza in den Schatten zu folgen. Er fand sie nicht und irrte eine Zeitlang zwischen geparkten Autos und Begrenzungspollern umher. Menschen rannten orientierungslos und mit den Händen über den Köpfen in Richtung Treppenhaus, riefen Beschwichtigungen und baten darum, dass nicht auf sie geschossen wurde.

Es war die Chance für Tian und Eliza zusammen mit den Unbeteiligten zu verschwinden, aber als Eliza an der Tür zum Treppenhaus zu stehen kam, rief eine Stimme aus eben diesem heraus: „Eliza Laffargue, du hältst dich für eine äußerst clevere Ermittlerin, nicht wahr?“

Sofort begab sie sich wieder in Deckung hinter dem Ticketautomaten. Die Glastür zersplitterte, als drei Projektile sie trafen.

„Du gehst mir unheimlich auf die Nerven, weißt du das?“, meldete sich die Stimme wieder.

„Wer ist das?“, fragte Tian, als er zu Eliza aufgeschlossen hatte.

Eliza wusste es sofort: „Das ist Christian. Du kennst ihn, mein Partner in der Bar damals.“

„Und er hat die Seiten gewechselt?“

„Sieht so aus.“

„Was ist los, Eliza, weißt du nicht, wo du hinlaufen sollst?“, höhnte die Stimme über ihnen.

„Sie sind überall“, zischte Tian ihr zu, „Das ganze Gebäude ist umstellt. Es gibt keinen sicheren Ausgang.“

„Woher weißt du das?“

„Ich habe diese Leute ausgebildet, Eliza! Sie haben den Überwachungsraum, sie haben die Notausgänge, die Aufzüge und das Treppenhaus.“

„Den Überwachungsraum?“

„Irgendwo laufen die Bilder der Kameras zusammen“, sagte Tian.

„Das heißt, die können uns sehen?“

„Wie viele Kugeln hast du noch?“, fragte Tian.

„Keine Ahnung. 30, vielleicht 35“, sagte Eliza.

„Das wird nicht reichen, um alle Kameras abzuschießen.“

„Weißt du, wo die sich befinden?“

„Hier zum Beispiel“, sagte Tian und zeigte auf ein unscheinbares, rundes Gerät, das an der Decke über dem Eingang zum Treppenhaus angebracht war.

Eliza zielte und traf.

„Irgendjemand von den Leuten, die sie vorhin raus gelassen haben, wird die Polizei informiert haben“, sagte Eliza.

„Vergiss die! Die trauen sich nicht hier herein und bis die irgendwas klären, sind wir Geschichte und die Gang über alle Berge.“

„Was schlägst du vor?“

„Mit einem Auto durchbrechen. Nur ist dein Wagen völlig hinüber“, sagte Tian, „Das haben sie als erstes sichergestellt.“

„Das heißt, wir müssen einen aufbrechen“, sagte Eliza.

„Wo sind die Bänder, Eliza!“, rief Christian von oben.

„Shht“, machte Tian und Eliza nickte. Sie erhoben sich geräuschlos und bewegten sich weg vom Tickettautomaten. Immer in den Schatten bleibend und sich gegenseitig absichernd schlichen sie über das Parkdeck.

Tian entdeckte eine Kamera an einer Stützkonstruktion und zerschoss sie. Eine Salve von der Auffahrt zum nächsthöheren Deck antwortete, konnte die beiden zwar nicht erreichen, schnitt ihnen aber den Weg ab. Sie machten kehrt und blieben vor einem schwarzen Geländewagen stehen.

Die Türen waren natürlich abgeschlossen, aber Eliza erledigte das mit einem weiteren Schuss. Während sie nachlud, versuchte Tian den Wagen kurzzuschließen.

Als es ihm gelang und der Motor ansprang, brach die Hölle los. Aus allen Richtungen prasselten nun Kugeln auf sie ein.

„Sie ziehen den Sack zu“, sagte Tian, als er versuchte, das breite Auto durch die schmalen, dunklen Gänge zu manövrieren. Es dauerte nicht lange, da hatten sie ihnen die Reifen zerschossen. Tian fuhr weiter, rammte hier und da ein parkendes Auto oder ein Hinweisschild, bis er die Abfahrtrampe zum nächstunteren Deck gefunden hatte.

„Sie lassen uns durch“, wunderte sich Eliza. Niemand stellte sich ihnen in den Weg. Die Schießerei endete abrupt.

Tian antwortete nicht. Er versuchte, den Wagen unter Kontrolle zu halten.

„Die lassen uns nicht wirklich durch, oder?“, fragte sie noch einmal.

„Eliza, wo sind die Bänder?“, fragte Tian.

„Was?“

„Die Bänder, Eliza! Wer weiß noch, wo sie sich befinden? Wenn wir es nicht schaffen, muss es doch jemanden geben, der eine Kopie hat oder sie in Gewahrsam nehmen kann, bevor die sie finden. Und glaub mir, die werden sie finden!“

„Die Bänder sind längst bei der Staatsanwaltschaft. Ich habe rein gar nichts mehr in meinem Besitz. Sie haben mir ja auch nie gehört.“

„Braves Mädchen!“, sagte Tian.

„Spar dir das!“

„Aber warum jetzt? Wenn alles schon am Laufen ist, wieso kommen sie jetzt erst mit dieser Aktion?“, fragte Tian.

Eliza musste nicht lange überlegen: „Christian ist von der Buchhaltung und IT. Er muss die Datenbanken durchsucht haben und weil er keine digitalen Verhördateien gefunden hat, hat er geglaubt, unsere Zusammenarbeit sei nicht zustande gekommen, aber dann hat er bemerkt, dass Gelder freigegeben wurden, um dich abzuschirmen. Der Antrag ist erst diese Woche beantwortet worden.“

Tian verdrehte die Augen. Immer dasselbe mit Netzwerkstrukturen! „Was glaubst du, wie schnell ist jemand, der vom obersten Deck bis nach unten auf die Straße laufen muss?“

Eliza blickte ihn entsetzt an.

„Was schätzt du?“

„Zwei Minuten?“

„Wann glaubst du, ist er losgelaufen?“

„Tian!“

„Sie opfern niemanden von ihren Leuten. Wann ist er losgelaufen?“

„Als der Motor losging, nehme ich an“, sagte Eliza.

„Wie lange sitzen wir in diesem Auto?“

Tian erreichte gerade das Erdgeschoss des Parkhauses, da erschütterte eine Explosion das ganze Gebäude. Der Geländewagen wurde gegen eine Wand geschleudert und Eliza und Tian durch die Frontscheibe nach draußen über die Motorhaube auf den Asphalt katapultiert.

Eliza raffte sich auf, ohne dass ihr Körper zu irgendeiner Empfindung fähig war. Tian blutete stark am Kopf und war bewusstlos. Ein Glassplitter hatte seiner rechten Gesichtshälfte eine klaffende Wunde zugefügt und sein Auge würde nie wieder das gleiche sein, aber Eliza schulterte seinen schlaffen Körper und schleifte ihn hinaus auf die Straße, von wo aus sie beobachten konnte, wie das ganze Parkhaus in sich zusammenstürzte.

Während das ganze Stadtviertel in einer Wolke aus Staub, Rauch und Trümmerteilen versank, rannte sie so weit weg, wie sie kam, bevor ihre Lunge den Geist aufgab.

 

Und das war es dann. Als Tian im Krankenhaus aufwachte, war sie fort. Eine Zeitlang glaubte er, sie sei ums Leben gekommen. Aber sein behandelnder Arzt versicherte ihm, dass eine Frau den Notruf abgesetzt hatte, um ihn zu retten. Unterzutauchen passte nicht zu Eliza, aber wenn ihr nichts anderes übrig blieb?

Wie durchsetzt mit Spitzeln die Polizei war, erfuhr Tian erst später. Es hatte keine Festnahmen, Verfahren oder Verurteilungen gegeben.

Sie hatten seine eigene Organisation vor seinen Augen umstrukturiert, ohne dass er es bemerkt hatte. Was er Eliza erzählt hatte, war größtenteils nutzlos gewesen. Und vielleicht hatte sie so etwas vorausgeahnt. Warum sonst all ihre Vorsichtsmaßnahmen? Die analoge Aufnahmetechnik? Der Transfer der Beweismittel an allen Erfassungsstellen vorbei? Ihr persönliches Engagement was ihn – Tian – betraf?

Als er aus dem Krankenhaus entlassen wurde, überreicht man ihm seine Papier, die man bei seinen Sachen nach dem sogenannten Unfall gefunden hatte. Sie waren auf einen anderen Namen ausgestellt, erzählten die Lebensgeschichte eines anderen, erfundenen Menschen und Tian warf sie noch auf dem Klinikgelände in einen Mülleimer.

 

***

 

„Und um diesen Müll zu kaufen, hast du dir den ganzen Nachmittag um die Ohren geschlagen?“, fragte Greg, als Tian zurück zum Schiff kam.

„Spar es dir und hilf mir, die Sachen anzuschließen!“

Es dauerte zwei Stunden, bis Tian und Greg alle Kabel richtig verbunden hatten und die Anzeige des Videorekorders zu flackern begann.

Endlich riss Tian das Papier auf, das Elizas Päckchen umhüllte und fand darin wie erwartet eine VHS-Kassette.

„Und jetzt?“, fragte Greg.

„Man muss sie einlegen und auf Play drücken“, erklärte Tian

„Genial.“

Tian ignorierte den Sarkasmus und tat, wie das eingestrickte Männlein in Antiquitätenladen es ihm gezeigt hatte.

Der angeschlossene Bildschirm erwachte zum Leben. Im inneren des Rekorders regten sich Rädchen und Hebel. Das Band begann zu laufen und ließ eine Landkarte von Afrika erscheinen. Tian hatte im Geschichtsunterricht aufgepasst und erinnerte sich an die Geographie der Erde. Greg indes schaute genervt drein. Seiner Meinung nach waren Geschichten und Nachrichten von der Erde in den Medien des Sonnensystems überrepräsentiert.

Es folgten die Namen der Stars und dann der Titel des Films: „Casablanca“.

„Du erwartest von mir, dass ich einen 300 Jahre alten Schwarz-Weiß-Film mit dir anschaue?“, fragte Greg.

„Uns interessiert nur das Ende“, sagte Tian.

„Na dann spring doch direkt dort hin! Diese schrille Musik hält ja kein Mensch aus.“

Tian begutachtete den Rekorder und stellte fest: „Es ist ein Band, man kann nicht einfach hin und her springen. Aber ich könnte vorspulen, wenn der Knopf nicht verklebt wäre.“

„Bitte was?“

„Er ist verklebt, sieh es dir selbst an! Das Ding war so günstig, weil einige Knöpfe kaputt sind.“

„Das ist nicht dein Ernst! Du hast dir ein uraltes Gerät für einen horrenden Preis andrehen lassen und dann funktioniert es noch nicht einmal?!“

„Halt die Klappe und lass uns den Film anschauen!“, sagte Tian.

„Ein so alter Film dauert sicher acht Stunden“, stöhnte Greg.

„Hast du etwas besseres zu tun?“

„Allerdings!“, sagte Greg, bewegte sich aber nicht weg vom Bildschirm. Herumzustänkern war eine Beschäftigungen, für die er jede etwaige Verpflichtung aufschob.

Nach anderthalb Stunden war das Flugzeug gestartet, der Nazi erschossen und die neue Freundschaft geschlossen. Alles wie immer. Tian war enttäuscht.

„Filmklassiker hin oder her“, sagte Greg, „So etwas passiert doch nicht wirklich.“

„Es geht nicht darum, dass es wirklich passiert“, sagte Tian, „Es geht darum, dass es passieren sollte.“

„Dann habe ich den Film nicht verstanden. Das soll ein Happy End sein?“

„Es gibt mehr als glücklich und desaströs.“

„Eben hast du gesagt, dass es nicht darum geht, was es wirklich gibt“, sagte Greg.

„Ich meinte, dass gezeigt werden soll, dass das Gute nicht notwendigerweise das Angenehme ist oder dass Glück nicht die Erfüllung aller Wünsche bedeutet. Das ist ein Kriegsfilm, er soll das Publikum auf Entbehrungen einstimmen und gleichzeitig aufzeigen, dass diese es wert sind, in Kauf genommen zu werden. Und jetzt hör auf zu meckern, da kommt noch mehr!“

Auf dem Bildschirm erschien ebenfalls in Schwarz-Weiß das Gesicht einer Frau, bleich wie der Nebel, aber ihre Lippen in einem dunklen, kräftigen Ton geschminkt. Die Haare schwarz und zu einer irreführend braven Frisur zusammengesteckt.

„Heute ist der 21. September 2267. Du siehst dies hier, weil du einige Hindernisse überwunden hast, um an dieses Band zu kommen“, sagte sie. Ihre Stimme klang nach zu vielen Zigaretten und einem schlechten Mikrophon. „Ich musste so vorgehen, um keine Spuren in irgendwelchen Netzwerken zu hinterlassen. Wenn der freundliche Antiquar seine Arbeit gewissenhaft ausgeführt hat, hat er das Band an die richtige Person herausgegeben und ich spreche zu dir als alte Freundin, die durch widrige Umstände von dir getrennt wurde. Aber Umstände sind immer nur die Bühne, niemals die Handlung. Wir können einen Kriegsfilm als Warnung oder als Vision verstehen, wir können unserem vergossenen Blut nachtrauern, Rache schwören oder aus der Asche auferstehen. Was wir nicht können, ist, das Geschehene verleugnen. Wir können akzeptieren oder rebellieren, aber nicht ignorieren. Ich weiß, wofür du dich entscheiden würdest, weil du dich immer dafür entschieden hast. Wenn du mich kontaktieren möchtest, wähle die eingeblendete Telefonnummer. Sie ist sechs Monate gültig.“

Ihr Bild verschwand und auf schwarzem Grund erschien eine weiße Ziffernfolge.

Tian griff sich schnell Stift und Papier, um die Nummer abzuschreiben, denn er hatte keine Ahnung, wie er das Videoband wieder zurückspulen sollte.

„Lebt die Frau im Mittelalter?“, fragte Greg, „Eine Telefonnummer… Ist das ihr Ernst?“

„Sie will vermeiden, dass irgendwo beim Bereitstellen der Verbindung Aufzeichnungen gemacht werden, die zurückverfolgt werden können.“

„Ein paranoides Schneewittchen hast du dir da angelacht.“

Greg stand auf und schlufte zum immer noch mit Werbebriefen und Mahnungen überlagerten Schreibtisch hinüber. Nachdem er sich durch dessen diverse Schubladen gewühlt hatte, fand er das einzige Telefon der kleinen Speditionsfirma. Damit es ansprang, musste er es mit dem Stromnetz verbinden. Der Akku war hoffnungslos entladen.

Er wählte die Nummer, die immer noch auf dem Bildschirm flimmerte.

„Hey, was soll das? Sie ist meine Freundin!“, protestierte Tian.

„Du hast mich heute schon genug Nerven gekostet. Ich werde dieser Frau jetzt mal ein paar Takte zu hören geben. Was für ein unmögliches Spießroutenlaufen, um am Ende mit einer Einwegtelefonnummer dazustehen!“, sagte Greg.

Er betrachtete das Telefon skeptisch und fragte sich, wie genau man es eigentlich bediente. Er glaubte nicht, es jemals benutzt zu haben.

Nach einer Weile entspannte sich Greg und lachte: „Kein Anschluss unter dieser Nummer, Romeo. Was sagst du dazu? Sie hat dich verarscht!“

Tian kam zu ihm herüber und hörte sich die automatische Ansage aus dem Telefonhörer selbst an. Greg hatte nicht gelogen und es fiel Tian schwer, seine Enttäuschung zu verbergen.

„Mach dir nichts draus. Sie hat unser Postfach rausgekriegt, wenn es ihr wirklich um ein Gespräch mit dir geht, findet sie auch noch unsere Telefonnummer heraus.“

„Du hast das Scheißding seit Jahren ausgeschaltet in der Schublade liegen! Weiß der Geier, wie viele Anrufe wir verpasst haben!“, rief Tian.

„Und wir sind bisher gut damit gefahren, oder nicht?“

„Das sagen nur Leute, die akzeptiert haben“, brummte Tian.

„Du hattest es auch akzeptiert, bis dir dieses Weib diesen Floh ins Ohr gesetzt hat. Gib nicht mir die Schuld daran, dass dir dein Leben, das du bis heute Morgen geführt hast, plötzlich nicht mehr angenehm genug ist!“

„Mein Leben ist noch nie angenehm gewesen“, schnauzte Tian Greg an, „Nicht letztes Jahr, nicht heute Morgen und jetzt auch nicht! Bild dir nur nicht ein, du hättest mir mein jämmerliches Leben bereichert, indem du mir einen lächerlichen Job als Drogenkurier verschafft hast! Eliza hat wenigstens nicht so getan, als würde sie mich nicht verarschen. Mit jedem Satz, den sie zu mir gesagt hat, hat sie mich belogen, aber das hat sie niemals abgestritten.“

„Naja, bis heute jedenfalls“, wand Greg ein.

Tian stockte und dachte über das nach, was er gerade selbst gesagt hatte. „Es ist ein Code“, sagte er dann, „Sie hat die Nummer in der Nummer verschlüsselt.“

„Und wie bitteschön?“

„So, wie sie aus Gehässigkeit ihre Fallakten mit unterschiedlichen Rotationsverfahren codiert hat. Vielleicht hast du Recht, wenn du sie als paranoid bezeichnest. Sie hat mir erzählt, damit triebe sie vorsätzlich die Archivare in den Wahnsinn, die in jedem Dokument erst einmal alle Namen und Kontaktdaten entschlüsseln mussten. Es war nicht einmal einfallsreich. Pure Spielerei. Mein Codename war YOSMUPIMH.“

„Aha.“

„Immer ein Buchstabe weiter auf der Tastatur. Der simpelste Cäsarcode, den man sich vorstellen kann.“

„Das heißt, wir müssen von jeder Ziffer der Telefonnummer eins abziehen?“, überlegte Greg.

„Exakt“, Tian riss das Telefon an sich und wählte die decodierte Nummer. Nach kurzem Verbindungsaufbau hörte er ein Freizeichen.

Autorennotiz

Dies ist eine Kurzgeschichte, die auf einem noch zu schreibenden Roman aufbaut, in dem ebenfalls Tian einer der Protagonisten ist. Ihr müsst es mir nachsehen (weil euch nichts anderes übrig bleibt), dass ich bestimmte Aspekte aus Tians Vergangenheit hier nur angerissen habe.

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Autor

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Sätze: 617
Wörter: 8.997
Zeichen: 54.696

Kurzbeschreibung

Auf dem Mars im Jahre 2267 schlagen sich Tian und Greg mit ihrer kleinen Logistikfirma als Drogenkuriere durch. Eines Tages erreicht sie ein Brief von einer mysteriösen Bekanntschaft aus Tians Vergangenheit. Eliza will ihn treffen, schickt ihn aber erst einmal auf eine aufwendige Schnitzeljagd und einen trip down memory lane. - Eine SciFi-Gangster-Action-Romanze im Noir-Stil.

Kategorisierung

Diese Story wird neben Krimi auch im Genre Science Fiction gelistet.