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Die Ferien waren zu Ende. Natürlich wurde herumgemault, als es am Abend hieß "Früh ins Bett!" aber endlich schliefen die beiden Rabauken dann und waren am nächsten Morgen auch halbwegs munter, als sie am Frühstückstisch saßen. Aber sie waren ganz offensichtlich schlechter Laune.
"Was ist? Jetzt schon Schulstreß, obwohl sie noch gar nicht wieder angefangen hat?" fragte ich.
"Oh, Papa", stöhnte Niels. "Es ist einfach soooo ätzend in der Betreuung. Warum mußtest du uns da nur wieder anmelden? Ich meine, ich bin fünfzehn..."
"Du meinst, du wirst in vier Wochen fünfzehn", korrigierte ich meinen Erstgeborenen. "Und du hast einen jüngeren Bruder, um den sich nachmittags keiner kümmern kann. Und wenn er in die Betreuung geht, dann..."
"... muß ich auch, blablabla, das hast du schon im vergangenen Schuljahr gesagt. Aber ich brauche keine Betreuung und Ole ist auch alt genug, um seine Aufgaben zu Hause..."
"Die Betreuung ist so doof", fiel Ole seinem Bruder mit vollem Mund ins Wort, kaute dann weiter an seinen Frühstücksflocken.
"Ich habe euch angemeldet und bezahlt, und ihr werdet dieses Schuljahr da auch ohne Murren hingehen. Herrgott, ich hab einfach keine Zeit, Oles Schulaufgaben zu prüfen, und bei dir sieht es in Mathe auch nicht grade gut aus, oder?"
Niels wich meinem Blick aus, schaufelte jetzt selbst die milchgetränkten Getreideflocken in seinen Mund.
Sie würden sich wieder daran gewöhnen, wenn der Schulalltag sich eingespielt hatte. Es war nach jeden Ferien der gleiche Ärger, aber nach den langen Sommerferien mußte ich mich eben selbst erst wieder daran erinnern, daß das wohl ganz normal war.
*
Als ich am Abend nach Hause kam, hingen die beiden natürlich vor dem Fernseher, jeder mit einem Stück Kuchen in der Hand. "Oma war hier", verkündete Ole und biß zufrieden in das krümelige Sandkuchenstück. "Und sie hat gesagt, wir sollen morgen nachmittag zu ihr kommen, damit wir mal etwas Gemüse zu essen bekommen."
Natürlich, meine Schwiegermutter, die dachte, ich mache den Kindern nur Pommes und Dosenfutter. "Na, dann geht hin. Ich schreib' euch eine Entschuldigung für die Betreuung. Ihr findet es doch immer toll bei ihr, oder?"
"Aber dann müßten wir doch die Betreuung sausen lassen, gerade jetzt wo wir so einen coolen Lehrer da..."
"Der ist kein Lehrer, der ist ein..." Niels suchte nach dem richtigen Wort, "ein Praktikant, oder so was."
"Ein Referendar meinst du", korrigierte ich meinen Sohn.
"Nein, er studiert ja noch gar nicht. Und ich will auch lieber in die Betreuung."
Oha, meine Kinder hatten Spaß an der Betreuung, das mußte gefördert werden. "Also kein Besuch bei Oma, in Ordnung."
"Wir können ja am Sonntag hinfahren, oder?" fragte Ole hoffnungsvoll, da er insbesondere Omas Sonntagskuchen liebte.
Natürlich gab es diesen Abend dann doch nur Nudeln mit Fertigsauce, weil ich während der Mittagspause keine Zeit zum Einkaufen gehabt hatte. Aber die Jungs waren zufrieden. Als ich Ole ins Bett brachte, erzählte er davon, wie toll der neue 'Lehrer' sei, daß er noch ganz jung wäre, grade achtzehn oder so, und ganz toll rechnen könne.
"Und wie heißt er?" fragte ich beiläufig.
"Achmet, aber das schreibt man A-Ha-Em-E-Te", erklärte Ole. "Und seine Eltern kommen aus der Türkei. Und da sind es im Sommer vierzig Grad im Schatten."
Da tat die Betreuung also mal was zur Integration der ausländischen Jugendlichen, das fand ich gut. Nicht, daß in unserem Viertel viele Ausländer wohnten, aber in anderen Gegenden der Stadt gab es eine Menge und leider auch einige Banden von Jugendlichen, die nachts herumzogen und mutwillig Sachschäden verursachten, wenn sie nicht gleich Jungs aus anderen Banden halbtot schlugen – und alles nur, weil sie arbeitslos waren, perspektivlos wegen ihres Migrationshintergrundes. "Und spricht er denn gut deutsch?" fragte ich nach.
"Na klar, der ist doch auch Deutscher. Und er ist Lehrer... ach ne, der will Lehrer werden und deswegen ist er jetzt bei uns in der Betreuung."
"Er macht also ein Praktikum bei euch in der Betreuung", schloß ich daraus.
Ole nickte müde. "Ja, genau. Und er hat mit uns Fußball gespielt, das war richtig gut."
Aha, mit Fußball war man bei meinen Söhnen immer ein Held. "Schlaf gut, mein Schatz", sagte ich und küsste meinen Kleinen auf die Stirn.
"Nacht", antwortete der Kleine und rollte sich zusammen.
Als ich wieder auf dem Flur war, stand Niels in seiner Zimmertür. "Kommst du noch zu mir, Papa?" fragte er.
So groß, daß er ohne einen Gutenachtkuss ins Bett ging, war er dann also doch noch nicht. Ich verkniff mir mühsam mein Grinsen. "Klar bring ich dich auch ins Bett. Soll ich dir auch was vorlesen?"
Niels schüttelte den Kopf. "Nö, nur ein bißchen quatschen, okay?"
"Okay."
Niels kuschelte sich unter seine Decke. "Das war wirklich cool mit dem Praktikanten", sagte er dann nach einer Weile des Schweigens. "Sonst sitzen die Betreuer nur vorne und wenn man bei seinen Hausaufgaben ein Problem hat, muß man hingehen und fragen. Aber er ist gleich zu mir an den Tisch gekommen, als ich mit dem Mathekram nicht klarkam. Er sagte, er hätte das daran gesehen, daß ich so unschlüssig mit meinem Stift hantiert hätte, daß es nicht voran geht. Und dann hat er mir erklärt, wie man es anders rechnen kann, und nachher hat er mit den Jungs, die wollten, auch noch Fußball gespielt... das war richtig toll. Ich glaub, der wird mal ein richtig guter Lehrer. Hoffentlich kommt er dann zu uns auf die Schule."
"Was will er denn mal unterrichten?" wollte ich wissen.
"Na, Sport und Mathe. Und was der mit einem Ball machen kann, das ist schon richtig profimäßig", schwärmte Niels mir vor, mit einem Leuchten in den Augen, das ich dort schon lange nicht mehr gesehen hatte, fast als wäre er verliebt. Und ich mußte grinsen über diesen Gedanken. Nach den alten Zicken, die gewöhnlich die Betreuung machten, mußte das wirklich ein wundersamer Wandel sein. Hoffentlich war Niels nicht zu enttäuscht, wenn der Praktikant wieder ging. "Du weißt schon, daß euer Praktikant wohl nur ein paar Wochen dableibt, nicht wahr?" fragte ich vorsichtig.
Niels schüttelte den Kopf. "Nein, er macht das ganze Schuljahr mit, weil Frau Töpfer nicht mehr kann, also, die ist zu alt, und da hat er praktisch ihre Stelle bekommen. Aber er macht's wohl für weniger Geld, denke ich. Er hat so was gesagt, daß es ihm so einen Spaß macht mit uns Jungs, daß er auch ganz auf Bezahlung verzichten würde." Niels grinste über das ganze Gesicht. "Die Töpfer hat immer nur gejammert, wie wir auf ihren Nerven herumtrampeln."
"Na, dann wird es dieses Jahr also keinen Streß wegen der Betreuung geben, was?" fragte ich hoffnungsvoll.
"Nö, kein Streß", versicherte Niels. "Gute Nacht, Papa."
"Gute Nacht, Großer. Lies nicht mehr so lange." Und den Gutenachtkuß wollte er dann auch noch haben.
*
Innerhalb eines guten Monats hatte sich Niels Matheleistungen dramatisch verbessert. Nach dem, was er abends so von seinem Tag erzählte, war ich davon überzeugt, daß diese Besserung auf Ahmet zurückzuführen war, den Praktikanten in der Betreuung. Der junge Mann hatte meinen Sohn dazu gebracht, sich auch jenseits des Schulstoffs mit mathematischen Themen zu beschäftigen. Es war wirklich schön, daß es so engagierte Jugendliche gab.
"Kümmert er sich um jeden in der Betreuung so intensiv?" fragte ich Niels eines abends beim Essen, als er erzählte, welche mathematischen Probleme er mit Ahmet am Nachmittag besprochen hatte.
"Ne, nur um Niels", erklärte Ole. "Der ist der einzige, den dieser esotische Mathekram interessiert."
"Exotisch", verbesserte ich automatisch. Bei Ole hatte die anfängliche Begeisterung schon nach einer Woche deutlich nachgelassen, weil der Betreuer, obwohl er so ein toller Fußballspieler war, trotzdem darauf bestand, daß die Kinder ihre Hausaufgaben machten. Dann sah ich aus dem Augenwinkel, daß Niels plötzlich rot geworden war. "Hey, es ist doch keine Schande, sich für Mathematik zu interessieren."
"Die anderen machen sich ja auch nicht deshalb über ihn lustig", petzte Ole. "Nicht wahr, mein süßer Schwuli?" triezte er seinen Bruder dann.
"Halt's Maul!" schrie Niels da plötzlich, sprang so heftig auf, daß sein Stuhl nach hinten kippte, und lief aus der Küche. Kurz darauf hörte man seine Zimmertür knallen.
"Das hast du ja fein hingekriegt", tadelte ich Ole und stellte den Stuhl wieder hin. "Warum mußte das denn nun sein? Und worüber machen die anderen sich denn lustig, wenn es nicht die Mathematik ist?" verlangte ich zu wissen.
"Na, weil er immer Ahmet am Rockzipfel hängt. Weil er schwul ist."
"Wieso sollte dein Bruder schwul sein." War Niels nicht noch ein bißchen jung für wie auch immer geartete sexuelle Erfahrungen? Und erst einmal Ole, der konnte doch mit seinen gerade einmal zwölf Jahren noch gar nicht wissen, was er da sagte.
"Ne, Ahmet ist schwul, deswegen machen sich die anderen über Niels lustig. Wir haben ihn mit einem anderen Typen knutschen sehen."
"Ihr habt Niels mit einem anderen Typen knutschen sehen?" vergewisserte ich mich erschüttert.
"Ne", kam es mit himmelwärts verdrehten Augen von Ole, "Ahmet hat mit einem anderen Typen geknutscht. Also Papa, manchmal glaube ich, du bist doch ein bißchen schwer von Begriff."
Nach einem Moment merkte ich, daß mir der Mund offenstand. Die ließen also einen schwulen Praktikanten die Jungs der Mittelstufe betreuen? "Der hat mit einem der Jungs aus der Betreuung geknutscht?" fragte ich endlich schockiert.
"Oh, Papa!" rief Ole aus. "Herrgott! Hör mir doch einmal richtig zu!"
War das nicht mein Spruch? "Ich höre dir sehr aufmerksam zu, junger Mann. Wenn du mir alle nötigen Informationen gibst, verstehe ich sogar, was du sagst", bemühte ich mich um Ruhe. "Also, wer hat wen, wann und wo abgeknutscht?" Zu jedem Fragewort hob ich einen Finger, damit Ole sehen konnte, daß ich vier Eckdaten erwartete.
"Ahmet hat irgendeinen Typen vor dem Schulgelände abgeknutscht, einen Kerl, einen... Erwachsenen halt. Vielleicht hat der ihn hingefahren zur Arbeit oder so."
Eine Frage war noch offen. "Und wann war das?"
"Na, heute Mittag."
"Kam das öfter vor?" wollte ich wissen.
"Hey, woher soll ich das denn wissen? Interessiert mich das?"
"MICH interessiert es", fuhr ich meinen Sohn an.
"Dann frag Niels!" schrie Ole nun zurück. "Den interessiert das auch!" Und jetzt sprang Ole auf, lief hinaus und knallte seine Tür.
"Scheißkerl", entfuhr mir und ich war mir nicht einmal sicher, ob ich damit eher Ole, Niels, Ahmet oder mich selbst meinte.
*
Ich konnte diese Nacht nicht schlafen. Der Tag war sehr heiß gewesen und unsere Obergeschoßwohnung war entsprechend aufgeheizt, dazu hörte ich durch die dünnen Wände noch immer Niels zorniges Trommeln. Ich hatte versucht, mit ihm zu sprechen, aber er hatte seine Zimmertür natürlich von innen abgeschlossen. War mein Erstgeborener wirklich schwul? Aber Niels war doch noch viel zu jung, um... um eine Schwärmerei von echter Liebe unterscheiden zu können. Viel entscheidender war die Frage, ob Ahmet wirklich schwul war und sich vielleicht an die pubertierenden Jungs ranmachte, die er betreuen sollte. Was verstand Ole eigentlich unter 'rumknutschen'? Vielleicht nur eine Umarmung, einen Kuß auf die Wange, wie es in einigen südlichen Ländern ja durchaus auch zwischen Männern üblich war?
Die drückende Hitze und meine wirren Gedanken machten mir Kopfschmerzen. Ich riß das Fenster auf, aber die Luft draußen war auch nicht viel kühler und völlig unbewegt. Trotzdem blieb ich am Fenster stehen, versuchte das Problem auf einen zentralen Punkt einzugrenzen. War Ahmet wirklich schwul? Aber war das nicht völlig egal? Fragte einer die Lehrerinnen, die die Betreuung machten, ob sie auf Kerle standen? Die könnten doch genauso auf die heranwachsenden Knaben fliegen, wie ein junger Mann, der schwul war. Wieso sollte Ahmet die Jungs manipulieren wollen, vor allem, wenn er tatsächlich jemanden von außerhalb der Schule hatte, mit dem er rumknutschen konnte? Er war engagiert in seinem Betreuungsjob und bot den Kindern mit dem Fußballspiel noch etwas, was sie sonst nicht kriegten. Das war doch großartig. Und wenn Niels wirklich schwul war – das sollte heutzutage doch auch kein Problem mehr sein, er blieb doch mein Sohn. Nun, irgendwann würde er mir dann vielleicht einen Kerl als seinen Freund vorstellen und nicht ein junges Mädchen, und Enkelkinder würde es wohl auch nicht geben. Aber wichtig war doch nur, daß Niels glücklich war. Und einen Moment hatte ich das Gefühl, daß meine Frau neben mir stand und zufrieden die Hand auf meine Schulter legte. Ich war sicher, daß sie meine Meinung teilte.
Wieder das Trommeln – zur Zeit war Niels jedenfalls nicht glücklich.
Ich holte noch einmal tief Luft am Fenster, genoß das Gefühl der Erinnerung an Beates sanfte Art, dann ging ich auf den Flur und probierte die Türklinke von Niels Zimmer noch einmal. Mit seinen Kopfhörern würde er ein Klopfen ohnehin nicht hören.
Die Tür war nicht mehr verschlossen, und ich öffnete sie einen Spalt, spähte hinein. Da saß er, ganz in seine Trommelei versunken, mit dem Rücken zur Tür. Mein Blick fiel auf das schon seit Jahren über seinem Bett hängende Plakat von einem schwarzhaarigen Rockstar und erst jetzt fiel mir plötzlich auf, daß das ja ein halbnackter Mann mit Schlafzimmerblick war. Vielleicht fühlte Niels sich ja wirklich eher zu Jungs als zu Mädchen hingezogen. Aber was wußte ich schon darüber, mit wem er sich vorzugsweise die Zeit vertrieb, denn zu seinen Klassenkameraden hatte er noch nie viel Kontakt gehabt, im auffälligen Gegensatz zu seinem Bruder. In seiner Freizeit las er allein in seinem Zimmer, hörte Musik aus seiner Anlage und trommelte gelegentlich dazu mit den Händen auf den Schreibtisch. Er hatte sich schon vor Jahren ein Schlagzeug gewünscht, aber hier, in einer Mietwohnung über einem kinderlosen Ehepaar, dem das Fußgetrappel von den beiden Jungs schon zu viel war - da war das einfach nicht drin.
Ich ging in das Zimmer, legte ihm sanft die Hand auf die Schulter, aber er zuckte trotzdem heftig zusammen, riß sich den Kopfhörer herunter. "Was soll das?!" fuhr er mich viel zu laut an. Nach dem kräftigen Beat aus den kleinen Lautsprechern des Kopfhörers zu urteilen, hatte er seine Anlage wohl bis zum Anschlag hochgedreht.
"Hey, beruhige dich. Du solltest schlafen. Morgen..."
"Morgen ist Sonnabend", erinnerte Niels mich. "Da haben wir keine Schule."
"...und keine Betreuung", ergänzte ich.
Ein vernichtender Blick traf mich. "Ach, laß mich doch in Ruhe."
"Hey, ich bin hier. Sprich mit mir, Niels. Ich will doch nur wissen, was mit dir los ist. Vielleicht kann ich dir helfen, irgendwie."
"Du kannst mir nicht helfen", kam die Antwort. "Ist sowieso alles Scheiße."
So wütend und so verschlossen kannte ich Niels gar nicht. Hatte er sich wirklich in seinen Betreuer verguckt, der ja nun gerade einmal drei Jahre älter war als er, dazu noch eine Identifikationsfigur, wenn sie die gleiche sexuelle Orientierung hatten, und hatte nun feststellen müssen, daß sein Betreuer gar kein über die Betreuung hinausgehendes Interesse an ihm hatte, sondern bereits anderweitig vergeben war? "Hast du Probleme in der Schule oder mit deinen Klassenkameraden?" fragte ich, um ihn ein bißchen aus der Reserve zu locken.
"Ach, laß mich in Ruhe, Papa", sagte er nur traurig. "Ich sag' doch, daß du mir nicht helfen kannst."
"Liebeskummer?" fragte ich dann vorsichtig.
Nun traf mich ein sehr mißtrauischer Blick. "Was hat Ole dir erzählt?" wollte er wissen.
"Über dich haben wir gar nicht gesprochen", beruhigte ich ihn.
"Mußtet ihr ja auch gar nicht. Er hat ja beim Essen alles schon...", resignierend ließ Niels den Kopf hängen.
Ich überlegte, was Ole in Niels Gegenwart gesagt hatte. "Daß du angeblich schwul bist?"
Niels sah mich mit großen Augen an, als könne er gar nicht glauben, dieses Wort aus meinem Munde zu hören. "Ich bin nicht... ach Scheiße, ich weiß es doch auch nicht!" brach es dann aus ihm heraus, "aber als ich gesehen habe, wie Ahmet diesen Typen da geküßt hat... das hat so weh getan, Papa, so als würde mir das Herz auseinander brechen, wirklich." Und nun stiegen ihm auch noch Tränen in die Augen.
Ich nahm meinen Sohn fest in die Arme. "Hey, so ist das Leben", versuchte ich ihn zu trösten. "Wie oft ich schon jemanden toll fand und feststellen mußte, daß gerade diese Person jemand anderen viel interessanter fand als mich, viel mehr liebte als mich..."
"Aber du meinst Frauen, Papa, bei dir waren das keine Typen", kam es halb erstickt aus meinem T-Shirt.
"Ja, das waren Frauen, aber das ist für das Gefühl des Verletztseins doch unerheblich, Kind."
"Tut es dir noch weh, daß Mama gestorben ist?" fragte Niels plötzlich, sah mit rotgeweinten Augen zu mir hoch, sah Beate für einen Augenblick erschreckend ähnlich.
Jetzt zog sich ein Band fest um meine Brust, ich mußte schlucken, um meinem Kind antworten zu können. "Ja, es tut noch weh, Junge. Und ich glaube, es wird immer weh tun. Aber das ist nicht vergleichbar. Deine Mutter hat meine Gefühle für sie erwidert, und sie ist nicht zu einem anderen Mann gegangen."
"Aber ich dachte doch, er erwidert meine Gefühle", flüsterte Niels schwer verständlich wieder in mein T-Shirt. "Er war immer so nett und freundlich zu mir und hat sich so viel Zeit dafür genommen, mir zu erklären... Scheiße!" Nun weinte er hemmungslos und ich streichelte seinen von den Schluchzern erschütterten Rücken.
Was sollte ich dazu sagen? Daß ich froh war, daß der Betreuer sich nicht an meinen minderjährigen Sohn rangemacht hatte, obwohl Niels nicht abgeneigt gewesen wäre? Tatsächlich war das das überwiegende Gefühl, neben dem unverhofft aufgeflackerten Schmerz über Beates plötzlichen Tod vor vier Jahren. "Ich kann mir gut vorstellen, wie du dich fühlst", versicherte ich Niels, das Kinn auf seinen Scheitel gestützt. "Es kam so oft vor, daß ein Mädchen, das ich anhimmelte und das sich von mir ins Kino ausführen ließ, dann in meiner Gegenwart mit jemand anderem rumknutschte. Und trotzdem habe ich Mama gefunden. Sie war eben diejenige, die für mich bestimmt war. Und du wirst auch irgendwann jemanden finden, der deine Gefühle erwidert, ganz sicher. Aber vielleicht erst, wenn du schon zwanzig bist. Du bist doch noch viel zu jung für..."
"Aber jetzt tut es so weh", stöhnte Niels, schmiegte sich in meine Arme wie ein Baby.
"Ja, jetzt tut es weh, aber er ist eben nicht für dich. Und es ist nicht sehr anständig, jemand anderem das gefundene Glück zu neiden."
*
Die 'Knutscherei' war offensichtlich auch von anderen beobachtet worden. Am Montag erhielt ich einen Brief des Rektors, der auf Wunsch der besorgten Elternvertretung wegen eines 'jugendgefährdenden Vorfalls nahe dem Schulgelände' die Eltern der Mittelstufenschüler in der Betreuung bereits am kommenden Abend zu einem außerplanmäßigen Elternabend einlud.
"Die wollen Ahmet rausschmeißen", unkte Niels, der mir den Zettel entgegenstreckte, kaum daß ich die Wohnung betrat.
Im stillen gab ich meinem Erstgeborenen recht. "Vielleicht ist es etwas ganz anderes, worüber gesprochen werden soll", versuchte ich jedoch, abzulenken.
"Ne, es geht bestimmt um die Knutscherei. Das hat doch die halbe Schule gesehen, so lange wie die da miteinander..." begann Ole, bis ihn ein Hieb seines Bruders in die Rippen zum Verstummen brachte. "Aua!"
"Ich werd' hingehen", versprach ich meinen Kindern. "Der Junge hat sich doch eigentlich nichts zuschulden kommen lassen. Wenn ich daran denke, wie die Konrektorin mit ihrem Typen sogar im Schulflur herumknutscht, wenn sie am Freitag zum Wochenende abgeholt wird", erinnerte ich mich zornig. "Dieser Junge zeigt Engagement für die Schüler, und darauf kommt es bei der Betreuung doch an, oder?"
"Klar", gab Ole mir recht, Niels nickte nur stumm, hatte schon wieder Tränen in den Augen.
"Ich werd für ihn kämpfen", versprach ich und die bewundernden Blicke meines Sohnes ließen mich tatsächlich ein bißchen wie ein strahlender Held fühlen.
Am Dienstag abend kam meine Schwiegermutter zum Hüten, ich legte nur kurz meinen Kram ab und fuhr zur Schule. Der Elternabend fand in der Aula statt, und die Eltern der etwa dreißig betroffenen Betreuungskinder schienen trotz des kurzfristigen Termins tatsächlich vollständig erschienen zu sein. Die Bühne war zu einem Podium zurechtgemacht worden, und dort saßen der Rektor, die Konrektorin, drei Lehrer und drei der Betreuungskräfte, von denen ich Frau Töpfer zweifelsfrei erkannte. Aber keiner der da oben Sitzenden sah wie ein achtzehnjähriger Praktikant mit türkischen Eltern aus.
Nach allgemeinen, einführenden Worten kam der Rektor endlich zum Punkt: "Sie haben vielleicht schon durch ihre Kinder davon gehört, daß sich am vergangenen Freitag in Sichtweite der Schule eine unserer Betreuungskräfte, ähm... ungebührlich verhalten hat. Die zahlreichen Anrufe der zu Recht besorgten Eltern haben mich veranlaßt, sie zu diesem außerplanmäßigen Elternabend einzuladen, um sie umfassend zu informieren. Und um sie gleich zu beruhigen, in den Vorfall war kein Mitglied unseres Kollegiums verstrickt. Bei der fraglichen Betreuungskraft handelte es sich um einen Praktikanten, nicht um einen der beamteten Lehrer. Außerdem war es entgegen dem anscheinend umlaufenden Gerücht auch kein Schüler unserer Schule der dort..."
Einer der Väter im Publikum sprang mit hochrotem Kopf auf. "Es geht doch darum, daß dieser schwule Türkenbengel mit einem seiner Stecher direkt vor dem Eingang zum Schulhof herumgemacht hat, nicht wahr?" rief er aufgebracht. "Ich finde, so jemand hat an einer Schule nichts zu suchen. Wenn man sowas durchgehen läßt, treiben die es demnächst noch auf den Schulklos, oder was?"
"Ich war gleich dagegen, daß man ausgerechnet einem Ausländer die Betreuung unserer Söhne überträgt", ließ sich eine Frauenstimme vernehmen. "Da sieht man, was wir davon haben."
"An der fachlichen Qualifikation von Herrn Cebir besteht kein Zweifel, und es gibt auch keinen Grund, sie in Frage zu stellen", meldete sich die Konrektorin zu Wort. "In Frage steht ausschließlich sein sittlich nicht ganz einwandfreies Verhalten."
"Der ist doch viel zu jung, um sittlich gefestigt zu sein. Ein so junger Mann kann doch den Kindern nicht in einer so verantwortungsvollen Position wie der eines Betreuers begegnen. Er wird doch als Vorbild gesehen", tadelte die Mutter eines Klassenkameraden von Ole die Entscheidung des Lehrerkollegiums.
"Also, es geht jetzt doch darum, wie wir den Kerl trotz laufendem Vertrag rauszuschmeißen können, oder?" fragte der rotköpfige Vater wieder.
Nun stand ich auf. "Die Kinder... schätzen Herrn Cebir gerade, weil er so jung ist. Außerdem nimmt er seinen Job wirklich ernst, und zumindest die Leistungen meiner Söhne haben sich während seiner Betreuung drastisch verbessert. Es ist ja nicht so, daß an dieser Schule das erste Mal Erwachsene in verantwortungsvollen Positionen in Sichtweite der Kinder Zärtlichkeiten mit schulfremden Erwachsenen ausgetauscht hätten", erinnerte ich. "Also dürfte dieses 'sittlich nicht ganz einwandfreie Verhalten' doch eigentlich kein Thema sein."
"Das ist doch aber ein Unterschied, ob man jemandem die Zunge in den Hals steckt, oder ein Begrüßungsküsschen auf die Wange gibt", gab die Konrektorin bissig zurück.
"Ist der Unterschied nicht viel eher, daß Herr Cebir einen Mann geküßt hat?" fragte ich provozierend.
"Nein, es geht einfach um die überschrittene Grenze des Anstandes", widersprach die Konrektorin.
"Einen Schwulen hätten die gar nicht als Praktikanten nehmen dürfen. Der ist doch eine Gefahr für unsere Söhne", hörte ich eine Frau verhalten hinter mir flüstern.
Erbost drehte ich mich zu der Flüsternden um, vielleicht war ich nur so aufgebracht, weil ich selbst wenige Tage zuvor ja noch ähnliche Gedanken gehabt hatte. "Wieso denken sie, er würde unsere Söhne anfallen? Fallen die heterosexuellen Lehrer unsere Töchter an? Wieso sollte Herr Cebir seine Arbeit weniger von seinem Privatleben trennen können? Schlägt Homosexualität auf den Verstand?"
"Ihr Sohn ist doch auch schwul", antwortete daraufhin die mir völlig unbekannte, brünette Mutter. "Kein Wunder, daß sie sich so für den Kerl einsetzen." Und dann stand der neben ihr sitzende Mann auf. "Ich bin dafür, daß unter den Eltern über den Verbleib des Praktikanten abgestimmt wird", verkündete er den Versammelten. "Und ich bin dagegen, daß er meinen Sohn weiterhin betreut!"
"Wer weiß, vielleicht ist er selbst ja auch schwul", flüsterte die brünette Mutter einer anderen neben ihr sitzenden Frau zu. Ihrem Blick nach sprach sie von mir. "Muß ja einen Grund haben, warum die Kinder keine Mutter mehr haben."
Ich mußte mich sehr zusammenreißen, dazu nichts zu sagen, atmete tief durch und warf dann in das allgemeine Gemurmel ein: "Ich dachte, es geht hier darum, die Eltern über den Vorfall zu informieren und vielleicht klare Richtlinien für das Verhalten von Aushilfskräften und Praktikanten aufzustellen, damit solche Vorfälle in Zukunft klar geregelt sind."
"Ich bin für eine Abstimmung über den Verbleib des Praktikanten, danach können wir uns über alles andere Gedanken machen", rief eine andere Stimme aus dem Publikum.
Die Auswahl des Kollegiums auf dem Podium sah etwas überfordert aus, anscheinend entglitt ihnen die ganze Angelegenheit gerade, denn immer mehr Eltern riefen nun nach einer sofortigen Abstimmung.
Der Rektor beriet sich kurz mit den anderen, dann verkündete er: "Also stimmen wir über den Verbleib von Herrn Cebir als Betreuungskraft ab", sagte er. "Beachten sie bitte, daß jede Familie nur eine Stimme hat. Wünschen sie eine geheime Abstimmung?"
Die wenigen 'Jas' gingen in den 'Nein'-Aufschreien unter. "Also per Handzeichen", gab der Rektor zu Protokoll. Damit war das Ergebnis dieser Abstimmung wohl klar. Es brauchte schon eine Menge Rückgrat, in dieser Situation noch öffentlich zu bekennen, daß man für den Verbleib des Praktikanten war.
Für den Verbleib von Ahmet als Betreuer waren mit mir gerade drei Stimmberechtigte, dagegen fünfzehn und vier enthielten sich der Stimme. Damit war die Sache entschieden.
Noch einmal diskutierten die Lehrer und teilten dann mit, daß Frau Töpfer wieder ihren Posten einnehmen würde, bis eine andere Ersatzkraft für die Betreuung gefunden worden sei. Dann erklärte der Rektor, daß wir in den nächsten Tagen über die Art der weiteren Beschäftigung des Praktikanten unterrichtet werden würden, denn sein Vertrag laufe erst am Ende des Schuljahres aus.
Eine beginnende Diskussion, daß einer solch triebgesteuerten Person der Verbleib auf dem Schulgelände nicht gestattet werden dürfe, wurde mühsam abgewürgt. "Wir nehmen ihre Bedenken ernst", versicherte der Rektor mit treuherzigem Blick. "Aber wir sind durch den Vertrag gebunden. Herr Cebir hat sich in allem innerhalb der Grenzen des Vertrages bewegt."
"Er muß also erst einen unserer Söhne vergewaltigt haben, bevor sie etwas unternehmen?" kam die provozierende Frage einer Mutter.
"Der Vertrag regelt das sittliche Verhalten auf dem Schulgelände und in dieser Hinsicht hat Herr Cebir sich nichts zuschulden kommen lassen", betonte der Rektor noch einmal.
"Der betreffende Vorfall fand eben nicht auf dem Schulgelände statt", ergänzte die Konrektorin, und es klang bedauernd.
"Aber es war in Sichtweite der Schule, direkt vor dem Tor", schimpfte die Frau.
"Nun lassen sie es doch gut sein", entfuhr es mir. "Reicht es denn nicht, daß wir alle mit dieser Abstimmung die berufliche Karriere eines jungen Mannes behindert oder sogar zerstört haben? Er braucht doch dieses Praktikum für sein Lehrerstudium."
"Na, das wäre ja noch schöner! Soll er etwa als beamteter Lehrer unseren Söhnen in den Schritt greifen?" rief der rotköpfige Vater wieder.
Ich hätte ihm für seine Verbohrtheit am liebsten eins auf die Nase gegeben. "Wieso unterstellen sie Herrn Cebir so etwas? Kennen sie ihn überhaupt?"
"Aber sie kennen ihn wohl, nicht wahr? Wo doch ihr Sohn anscheinend ähnliche Neigungen hat. Vielleicht hat er den famosen Herrn Cebir ja mal nach der Betreuung mit nach Hause gebracht."
"Ahmet engagiert sich für die Kinder, er verwaltet sie nicht nur. Er spielt mit ihnen Fußball...", versuchte ich, die Dinge geradezurücken.
"Na, sie scheinen ja sein ganz besonderer Freund zu sein", unterbrach mich die Mutter, die die Vergewaltigung ihrer Söhne fürchtete, gehässig, "wenn sie mit ihm sogar per du sind. Vielleicht sollten sie sich lieber dafür engagieren, daß ihre Kinder gesünderen Umgang haben."
"Die Veranstaltung ist geschlossen", ertöne plötzlich die Stimme des Rektors durch die Verstärkeranlage der Aula. "Wir bitten sie, die Aula zu verlassen. In den nächsten Tagen teilen wir ihnen unsere Entscheidung schriftlich mit."
*
Für mich fühlte es sich wie eine persönliche Niederlage an. Ich hatte mich selbst zwar auch nicht ohne weiteres von ähnlichen Überlegungen frei machen können, aber die anderen hatten es offenbar noch nicht einmal versucht, und nach diesem Abend zweifelte ich an der Vernunft der anderen Betreuungseltern, denen die pädagogischen Qualitäten einer Betreungskraft anscheinend viel weniger wichtig waren, als ihre sexuellen Vorlieben. Gerechterweise muß ich erwähnen, daß ich mit meiner Erschütterung über die Art der Diskussion in der Aula nicht allein gestanden hatte, aber die anderen waren nun einmal die Mehrheit gewesen. Und nun für einen mir Unbekannten den Kampf mehr oder weniger allein weiterzuführen, fehlte mir doch die Energie. Wieso war der Fall überhaupt behandelt worden, als hätten wir es mit einem sexuellen Übergriff auf einen Schüler zu tun gehabt?
Niels wartete noch auf mich, als ich nach Hause kam, ebenso meine Schwiegermutter, die ich mit Niels' Hilfe aber schnell abwimmeln konnte.
"Und?" fragte Niels dann viel zu hoffnungsvoll, nachdem wir die Oma zu ihrem Auto gebracht hatten.
"So wie es aussieht, bleibt Ahmet wohl für die Dauer seines Praktikums an eurer Schule, aber..." Es fiel mir sehr schwer, die brutale Wahrheit auszusprechen.
"Aber was?" drängelte mein Sohn.
"... aber nicht mehr in der Betreuung. Frau Töpfer übernimmt wieder bis auf weiteres."
"Oh nein!" Niels Schultern und Mundwinkel sackten plötzlich herab. "Das ist so ungerecht!"
"Ja", stimmte ich Niels zu, "ich finde es auch ungerecht. Und was meiner Meinung nach noch viel schlimmer ist: es ist auch dumm." Vielleicht sollte ich doch weiterkämpfen. "Ich werde noch einen Brief an euren Rektor schreiben, in dem ich meine Position darlege. Vielleicht hilft das irgendwie."
Tatsächlich bekam ich bereits am Donnerstag eine Antwort auf den Brief, zusammen mit der vervielfältigten Mitteilung, daß Ahmet Cebir sein Praktikum in der Schule zum Ende des laufenden Monats beenden würde und bis zu dem Zeitpunkt in der Schulbücherei arbeite.
In einer persönlichen Antwort lobte der Rektor mich für mein Engagement. Er sähe die Angelegenheit ähnlich wie ich, aber leider sei der Protest der anderen betroffenen Eltern so vehement gewesen, daß er habe handeln müssen. Außerdem spräche es leider gegen die Urteilskraft des Herrn Cebir, daß er nun gerade in Sichtweite der Schule Zärtlichkeiten mit seinem Partner ausgetauscht habe. Die vorzeitige Vertragskündigung sei im gegenseitigen Einverständnis erfolgt.
*
Niels kündigte Freitag beim Frühstück an, Ahmet in der Bibliothek besuchen zu wollen. Ich hoffte, daß das nur aus dem Grund geschah, weil er seinen ehemaligen Betreuer seiner Solidarität versichern wollte und er nicht noch immer darauf hoffte, den Partner des jungen Mannes ausstechen zu können. Aber trotz meiner Bedenken gab ich ihm die schriftliche Erlaubnis mit, der Betreuung fern bleiben zu dürfen.
Am Freitag abend fand ich dann einen sehr aufgebrachten Niels und einen frech grinsenden Ole vor.
"Was ist los?" stellte ich die beiden zur Rede. Dann bemerkte ich einige Schürfwunden und Prellungen an Niels Armen, die während des Frühstücks definitiv noch nicht zu sehen gewesen waren. "Was ist passiert?" wollte ich also noch einmal wissen und machte meinen Söhnen durch meinen alarmierten Tonfall anscheinend klar, daß dies keine Zeit für Spielchen war.
"Sie haben Niels in der Schule verprügelt", sagte Ole schnell, bevor Niels auch nur mit einer Erklärung ansetzte. "Weil du nämlich schwul bist, näänänänäänää", sang er dann hämisch.
Niels hob die Faust, um nach seinem Bruder zu schlagen. Ich ging schnell dazwischen, doch es gelang Niels trotzdem, seinen Bruder um mich herum zu treten, als der weiter seinen Singsang aufführte. Natürlich ließ Ole das nicht auf sich sitzen und wollte Niels zurückschlagen, aber ich griff nach seiner Hand. "Schluß jetzt", verlangte ich. "Weißt du überhaupt, was das bedeutet, was du da sagst, Ole?"
Worauf mein Jüngster mich ganz verdutzt ansah. "Na, daß er schwul ist", gab er dann zurück, "daß er Kerle knutscht."
"Ach, und hast du schon mal gesehen, wie dein Bruder einen Kerl geknutscht hat, wenn du dir so sicher bist, daß er schwul ist?"
"Nein, aber alle in seiner Klasse sagen, daß er schwul ist, und die Großen in der Betreuung."
"So, sagen sie das?" Ich fühlte mich in dem Moment so hilflos, daß ich dem Kleinen am liebsten auch einfach eine runtergehauen hätte. Er war ja nicht besser als die Eltern am Dienstag abend. Aber er war immerhin erst zwölf Jahre und eine Maulschelle würde kaum zu einem Verständnis seinerseits führen. "Und warum hänselst du ihn? Auch nur deswegen, weil seine Klassenkameraden das machen? Immerhin ist er doch dein Bruder und du hast ihn doch eigentlich gern, oder?"
"Ne, er ist doof", widersprach Ole, aber das schien er eher im Reflex gesagt zu haben.
"Du bist auch doof", und irgendwie gelang es Niels, noch einen Schlag loszuwerden, aber Ole schlug erstaunlicherweise nicht zurück.
"Eigentlich ist es schon okay, einen großen Bruder zu haben, wenn er nicht gerade nervt", gab er dann zu und rieb sich die Stelle, an der Niels ihn gerade getroffen hatte.
"Und selbst wenn Niels irgendwann feststellt, daß er tatsächlich lieber mit Männern... knutschen will als mit Frauen, macht ihn das weniger zu deinem Bruder? Meinst du, er könnte plötzlich anfangen, dich abzuknutschen?"
Jetzt mußte Ole lachen. "Glaub' ich kaum."
"Also, warum ist es dann nicht egal, ob er schwul ist? Oder laufen deine Klassenkameraden rum und singen: Ole steht auf Mädchen, Ole steht auf Mädchen?" imitierte ich seinen vorherigen Gesang.
Ole wurde knallrot. Oha, hatte der etwa auch schon einen Schwarm mit seinen zarten zwölf Lenzen? "Und, ist die Tatsache, daß du auf Mädchen stehst, das einzige, was an dir interessant ist? Oder ist vielleicht noch interessant, daß du ein guter Stürmer bist?"
"Und daß ich in Physik der beste in meiner Klasse bin", betonte Ole noch.
"Na also. Es interessiert nur Mädchen, die mit dir herumknutschen wollen, daß du gerne mit Mädchen knutschen willst. Und genauso ist es mit den Jungs, die auf Niels stehen. Für alle anderen ist es doch ganz uninteressant, ob Niels vielleicht schwul ist. Es ist einfach blöd, so etwas als Schimpfwort zu benutzen. Für dich sollte er ohnehin vorrangig dein Bruder sein."
"Und er ist ein mieser Torwart", fügte Ole frech hinzu.
"Als Stürmer der Gegenmannschaft ist das für dich natürlich interessant. Aber du begreifst hoffentlich auch, worauf ich hinaus will. Ob jemand schwul ist oder nicht, sagt nichts über seine sonstigen Qualitäten aus, nur über seine präferierten Sexualpartner."
"Seine was?" fragte Ole verständnislos.
"Über die, mit denen er gerne poppen würde", half Niels aus, der erstaunlich gelassen zugehört hatte.
"Vor allem sagt es nichts über die moralischen Qualitäten eines Mensch aus", meinte ich noch betonen zu müssen, obwohl man das besser den Betreuungseltern ins Stammbuch geschrieben hätte.
Ole hörte meiner Predigt anscheinend gar nicht mehr zu. "Niels ist ein schlechter Torwart", sang er nun und lief kichernd vor ihm davon, Niels natürlich gleich hinterher. Das Ehepaar unter uns würde seine Freude daran haben.
Beim Abendessen wurde es dann aber wieder ernster. "Ahmet hat gesagt, ihm sei nahegelegt worden, sein Praktikum an einer anderen Schule fortzuführen", erzählte Niels mit verhaltenem Zorn, "oder sich überhaupt zu überlegen, ob er wirklich Lehrer werden wolle, angesichts seiner... Neigung."
"Wer hat ihm das denn 'nahegelegt'?" fragte ich neugierig.
"Ich denke, das war der Rektor. Ahmet sei zwar völlig im Recht, wenn er auf die Weiterführung des Praktikumsvertrages bestehen würde, aber angesichts der momentanen Stimmung in der Elternschaft sei das nicht angeraten. Und Ahmet hat dann nachgegeben." Das klang richtig frustriert.
"Vielleicht ist es wirklich besser so", gab ich zu bedenken. "Die Atmosphäre unter den Eltern ist sehr aufgeladen – und sie haben sich kindischer benommen als dein kleiner Bruder." Aber es war eine Schande und sollte in unserer Gesellschaft eigentlich nicht möglich sein. Doch wenn Ahmet sein Recht durchzufechten versuchte, würde er damit nur unerwünschte Bekanntheit gewinnen, die für einen angehenden Lehrer, angesichts der jetzigen Elternreakton, sicher hinderlich war. Nun ja, immerhin hatten sie ihn nicht gleich mit Fackeln und Heugabeln aus dem Dorf gejagt... Und was hatten seine Klassenkameraden mit Niels gemacht? "Was sind das nun für Verletzungen an deinen Armen?" fragte ich ihn. "Haben deine Klassenkameraden dich wirklich geschlagen, weil du schwul bist?" Das mußte man doch nun nicht hinnehmen, oder würde mir dann nahegelegt, für meinen Sohn eine andere Schule zu suchen?
Niels drehte den Kopf weg, biß die Zähne aufeinander. Aus dem bekam ich jetzt nicht mehr viel heraus.
"Ole, was ist genau passiert?" bohrte ich also da nach.
Ole sah seinen Bruder eine Weile an, dann zuckte er mit den Schultern. "Ich weiß es nicht genau, sie haben sich halt geprügelt und ihn beschimpft, daß er schwul ist, aber dann ist seine Klassenlehrerin dazwischen gegangen."
Mehr war auch aus ihm nicht herauszubekommen, und ich nahm mir vor, Niels noch einmal darauf anzusprechen, wenn Ole im Bett war.
Als ich dann für einen Gutenachtkuss in Niels Zimmer kam, lag er schon in seinem Bett, sah mir entgegen, rieb sich seinen inzwischen von deutlichen Blutergüssen verzierten Arm. "Ich hab mich deinetwegen geprügelt", sagte er zu meinem Erstaunen und erklärte: "Sie haben behauptet, du wärst auch schwul und deswegen hätte Mama dich verlassen."
Das machte mich sprachlos. Aber nach einer Weile fragte ich dann doch: "Und warum hast du ihnen nicht einfach gesagt, daß Mama einen Schlaganfall hatte?"
"Weil die gar nicht zugehört hätten. Und es hat so gut getan, ihnen in ihre dummen Fressen zu hauen."
Beruhigt stellte ich fest, wie ähnlich ich meinem Sohn war, denn allein die Vorstellung, dem rotköpfigen Vater oder dem, der die Abstimmung eingefordert hatte, 'in die Fresse zu hauen' tat gut. "Und was war mit den Beschimpfungen?" wollte ich dann wissen.
"Ist doch ganz egal, womit meine Klassenkameraden mich hänseln, die haben mich doch noch nie gemocht. Aber das mit Ahmet, das finde ich richtig scheiße. Er ist echt nett und... naja, wahrscheinlich bin ich noch immer ein bißchen in ihn verknallt. Aber ich sehe ja ein, daß er sein Glück schon gefunden hat, auch wenn er mit seinem Praktikum jetzt nicht wirklich Glück hatte."
"Nein, nicht wirklich", gab ich Niels recht, wuschelte durch sein Haar. Die Eltern konnte man wohl nicht mehr ändern, aber bei den Kindern bestand vielleicht noch Hoffnung. Und mit meinen konnte ich ganz zufrieden sein!
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