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Es war der Tag von Olivias 21. Geburtstag. Das Bauchkribbeln, das sie früher, als Kind, vor Geburtstagen bekommen hatte, die schlaflosen Nächte, das war vorbei. Der 21. Geburtstag war ein normaler Geburtstag wie alle anderen auch, der keine großen Veränderungen mit sich brachte.
Doch war es einer dieser Tage, der wie aus der Zeit gerissen zu sein schien. Es war laut, und leise zugleich, schnell und doch verging die Zeit so zähflüssig wie Schleim. Es war einer der Tage, an denen man nicht an seine Zukunft denkt, und seine Vergangenheit nicht beachtet, außer man wird mit voller Wucht darauf gestoßen. Und wenn man dann darauf prallt, scheint der Tag sich um 180 Grad zu drehen. Es war einer der Tage, an denen man sein Haus besser nicht verlassen sollte. Olivia fühlte sich einsam. Noch in Jogginghose und zu großem Shirt schlurfte sie mit einer Kaffeetasse in der Hand die Treppe hinauf in den Dachboden, wo sich eine verstaubte Kiste auf eine weitere stapelte. Braun stand neben Grau stand neben Rosa. Es war Zeit, die Kiste einmal genauer unter die Lupe zu nehmen. Eine Kiste stieß heraus: Eine Kiste aus Metall, die Blau angemalt und mit zierlichen Sternen versehen war. Sie stand ganz hinten auf dem Dachboden, dort, wo Olivia selten hinging. Sie hatte verdrängt, dass diese Kiste existierte – sie wusste noch nicht einmal, was sich darin befand, da ihre Mutter diese gepackt und auf dem Dachboden verstaut hatte – und den Wunsch ausgesprochen hatte, dass Olivia diese nicht öffnete. Ihre Mutter, die nun tot war.
Seit ihre Eltern vor einem Jahr gestorben war, war das früher lebendige Haus zu einem Grab geworden. Ab und zu schien es, als würden die Geister ihrer Eltern hinter ihr stehen.
Seit ihr mich verlassen habt, fühle ich mich einsam. Das Haus scheint noch leerer und gespenstischer zu sein. Es ist niemand mehr da, mit dem ich reden kann, niemand, mit dem ich Sonntags einen Spaziergang machen kann.
Was passierte mit den Abenteuern, den Orten, die ich mit euch geplant habe zu erleben? Gut, einiges haben wir davon gemacht, das meiste aber nicht. Und warum – dass kann mir keiner sagen. Ich wünschte, ich könnte die Zeit zurück drehen, zu der Zeit, als ihr noch gelebt habt und wir dachten, dass wir die ganze Ewigkeit vor uns haben, nur um all diese Abenteuer noch einmal erleben zu können.
Der Schmerz war damals das erste gewesen, was Olivia wahrgenommen hatte. Ein brennder Schmerz in ihrem Herzen, Trauer, die alles andere wegbrannte und nichts nderes zurückließ außer noch weiteren Schmerz, ein Schmerz, der Platz für Neues zu schaffen schien indem er alles Alte zerstörte. Doch nur die Einsamkeit war gekommen. Damals war Olivia von der einen, glücklichen Welt in eine graue Welt getreten.
Olivia nahm die blaue Kiste mit den Sternen in die Hände und schleppte sie zur Mitte des Dachbodens. Dort lag ein grauer Teppich, auf dem Olivia sich oft vor ihren Eltern versteckt hatte, als sie noch klein war. Die junge Frau stellte die Kiste in der Mitte ab und setzte sich daneben. Der Deckel war durch die Zeit etwas verhakt, und Olivia musste den Deckel erst mehrmals hin und her ruckeln, bis er sich abnehmen ließ. In der Box befanden sich mehrere alte Notizbücher in den unterschiedlichsten Farben und Größen. Jedes hatte doch ein Datum vorne drauf geschrieben, in dickker, schwarzer Schrift. Das oberste Notizbzuuch trug als Titel das Jahr, in dem Olivia im Dezember geboren wurde – 1997. Olivia nahm es heraus und blätterte auf die erste Seite. Sie hatte genug Zeit, die Notizbücher – Tagebücher? - zu lesen.
Sonntag, 12.01.1997
Vor ein paar Tagen geschah etwas ungewöhnliches, weswegen ich mein Tagebuch für die letzten Tage vernachlässigt habe. Doch das, was geschehen ist, war wichtiger, als ein Tagebucheintrag, es war wichtiger als alles andere. Es lag Schnee an diesem Tag, und ich war gerade vom Einkaufen zurück gekehrt. Als ich hinten in den Garten hinausblickte, lag eine Person im Garten. Ich rannte heraus – ich musste dieser Person helfen, vielleicht war sie unterkühlt, mangelernährt, hatte Demenz und hatte sich verlaufen? Ich wusste es nicht. Doch es schien, als sei nichts davon derFall. Die Person dort im Schnee stand auf, bevor ich sie auch nur erreichen konnte. Es war ein Mann, der jung aussah, bestimmt keine 25. Ich bin 24. Was mir an ihm auffiel, waren seine langen Haare (ein Metalhead vielleicht?), doch bei näherem Betrachten stellte es sich heraus, dass er spitze Ohren hatte. Sein Sprachmuster war komisch, super gestelzt. So, wie die Könige in diesen pseudomittelalterlichen Romanzen reden, die Carla immer liest. Er stellte sich als Anji Skughál vor, und behauptete, er sein Elf aus einem anderen Land – ich konnte mir den Namen nicht merken, es schien einfach zu unglaublich, dass das stimmen könnte. Ich nahm ihn auf. Er lebt jetzt in dem Zimmer, in dem früher Erik gelebt hat vor seinem Tod, und ich habe Anji gebeten, Eriks Kleidung zu tragen (die ihm gut steht).
Mittwoch, 15.01.1997
Anji und ich waren heute bei verschiedenen Ärzten. Ihm fehlt nichts, weder körperlich, noch geistig. Die Geschichte mit diesem magischen Land scheint eine wirklich starke Fantasie bei ihm zu sein… oder sie ist wahr, was ich nicht glauben kann. Anji liebt die Dusche, da er so etwas nicht kennt (und er „nur in Flüssen und Waschzubern gebadet hat“ - wers glaubt). Wir verstehen uns immer besser.
Freitag, 14.02.1997
Anji hat mich heute geküsst und mir seine Liebe gestanden. Ich habe mehr Gefühle für ihn, als ich mir selber zugestehen mag. Er hat mir mehr über sein Land erzählt, aus dem er kommt. Er nennt es Bra‘dór, mit einer kleinen Pause nach dem a. Er sagt, er hätte dort in einem kleinen Ort in den Bergen gelebt, das trotz seiner Abgeschiedenheit ein wichtiger Ort war, da es ein Rückzugsort gewesen war für seine Art: Für Nymphen. Sie haben alle spitze Ohren, meist lange Haare, und sind nur noch an diesem einzigen Ort wohnhaft. Der Rest ist ausgestorben, getötet von Riesen. Er hat in der Bibliothek dort ein Buch über Weltenportale gefunden, eines ausfindig gemacht, jedoch nie verreist. Als dann die Riesen den Ort erreichten, kämpfte er gegen die Riesen, doch der Kampf war aussichtslos. Anji reiste durch ein Portal, und kam in unsere Welt. Er meint, es sei möglich, dass er die letzte Nymphe ist.
Freitag, 21.02.1997
Anji und ich hatten heute Sex. Es war unglaublich! Seine helle Haut, sein muskolöser Oberkörper, die Art, wie er zittert und stöhnt, wenn ich sanft über seine Ohren fahre… Wie er mich berührt. Seine weichen Hände mit den langen Findern, wie sie über meine Brüste strichen. Ich will ihn und seinen Körper nicht mehr missen.
Montag, 24.02.1997
Wir waren heute bei den Behörden. Anji hat nun einen Pass. Er war ertaunt über die technischen Möglichkeiten, doch er konnte sich zusammenreißen. Ich will mir nicht vorstellen, was passiert wäre, wenn er eine Panikattacke oder so was gehabt hätte!
Freitag, 28.02.19967
Anji und ich haben heute geheiratet. Ziemlich spontan, ich weiß. Aber wir wollen unser Leben zusammen verbringen. Ich habe seinen Namen angenommen, und heiße nun Elisabeth Skughál. Er hat mir von dem Sternenhimmel bei ihm zuhause erzählt, von den vielen Sternen und den Konstellationen – ‚Der große Troll‘, ‚Nymphen‘ und ‚Die Fee auf einer Blume‘ sind nur ein paar davon. Er vermisst dieStenre. Hier in der Stadt kann man sie kaum sehen.
Samstag, 15.03.2018
Heute sollten meine Tage kommen, doch sie sich nicht da. Ich habe noch nicht einmal Anzeichen. Das ist komisch. Schwanger bin ich doch nicht? Ich warte noch ein paar Tage.
Anji hat mir erzählt, dass Nymphen besondere Kräfte haben, die einzigartig sind, aber immer schwächer geworden sind – den Grund weiß er nicht. Er vermutet entweder 1. durch weniger Nymphen schwindet die Kraft in den Nymphen, 2. Ein natürlicher Gang der Dinge, aka Schwankung der Kräfte, 3. Weniger Übung → Weniger Kraft. Belegen kann man aber nichts. Und was ist, wenn keine dieser Thesen stimmt? Welche Kraft Anji hat will er mir nicht verraten.
Montag, 17.03.1997
Ich habe heute einen Schwangerschaftstest gemacht: positiv. Ich kann es nicht glauben! Ich und schwanger! Ein Traum ist in Erfüllung gegangen! Aber was wird aus dem Kind? Was wird es von Anji erben, welche Fähigkeiten, welche äußerlichen Merkmale? Wie menschlich wird es sein?
War ihre Mutter krank gewesen? Das wunderte sich Olivia. Doch das Bild, dass sie von ihrem Vater hatte, passte zu perfekt auf dieses Tagebuch. Die helle Haut. Die langen Haare. Die spitzen Ohren, die sie selber geerbt hatte… Es passte einfach zu sehr. Sie hatte sogar den Nachnamen: Olivia Skughál. Die einzige Erklärung dafür wäre gewesen, das ihr Vater, der als Shriftsteller gearbeitet hatte, aus einem nordischen Land kommt, von seiner Familie verstoßen wurde, eine Schönheits-OP hinter sich hatte, und sich dann eines Wintertages in den Garten ihrer Mutter gelegt hatte – aus welchen Gründen auch immer. Aber spitze Ohren konnte man nicht vererben, falls diese durch eine OP entstanden, und Olivia hatte unübersehbare spitze Ohren. Das kam Olivia genauso unvorstellbar vor wie der Fakt, dass ihr Vater eine Nymphe sein sollte.
Wie geht man damit um, dass seine ganze Welt umgeschmissen wurde – und eine neue sich vor einem auftat? Eine Welt, von der man bis jetzt nichts gewusst hatte?
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