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Kapitel: | 3 | |
Sätze: | 429 | |
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Das Denkmal war ein bescheidenes Gebilde. Steinerne Schwerter ragten aus dem Boden; manche kaum einen Meter hoch, zu anderen musste Mösha aufsehen. Zwischen ihnen hatten Spinnen ihre Netze gespannt. Im Gras standen zwei Helme aus Marmor, deren leere Augenschlitze über die Grasebenen blickten. Von der Straße aus konnte man es leicht für einen kahlen Strauch halten, doch allen, die seine Bedeutung kannten, jagte es jedes Mal ehrfürchtige Gänsehaut über den Rücken. Jenen, die wussten, wessen Namen in den Schild eingemeißelt waren, der an den Schwertern lehnte.
Mösha war nicht zum ersten Mal hier. Alle Mitglieder des Ordens, und dazu gehörte sie seit ihrer Geburt, versammelten sich einmal im Jahr hier, um den Kameraden zu gedenken, die vor über fünfzig Jahren ihr Leben für die edle Sache verloren hatten. Auch jetzt brauchte sie eine ganze Weile, ehe ihre Gedanken nicht mehr um jene schicksalhafte Schlacht kreisten, die alle so verinnerlicht hatten, als wären sie selbst dabei gewesen.
In wenigen Tagen war es wieder so weit, dann würde sie mit gesenktem Kopf zwischen den anderen stehen und der Geschichte davon lauschen, wie eine Kompanie einen Krieg verhindert hatte und dabei ausgelöscht worden war. Die Eskorte der mittlerweile verstorbenen Prinzessin eines in der Zwischenzeit zerfallenen Nachbarlands hatte sich einer Räuberbande entgegengestellt und war von ihr beinahe vollständig ausgelöscht worden. Der letzte Überlebende war vor fünf Jahren verstorben und davor zu jedem Gedenktag hierher eingeladen worden. Niemals würde Mösha sein Gesicht vergessen, oder den Moment in seiner Erzählung, wenn seine Stimme brach, weil die Erinnerung ihn immer wieder überwältigte.
Jedes Kind des Ordens kannte die Geschichte auswendig und hoffte, irgendwann ebenfalls für eine ruhmreiche Tat in jedermanns Gedächtnis einzugehen.
Für Mösha würde nie ein solches Denkmal errichtet werden.
Der vergangene Winter war ihr fünfzehnter gewesen, womit ihr nun die ehrenvolle Aufgabe zustand, dem Denkmal für den wichtigsten Tag des Jahres die erste Schicht zukommen zu lassen. Dazu standen um sie herum verteilt Töpfe mit Blau, der Farbe des Ordens, Gelb und einem kräftigem Rot. Ein paar Jahre war es her, da hatte einer es für eine gute Idee gehalten, die steinernen Klingen provokativ damit zu versehen.
Mösha hatte nichts dergleichen vor. Natürlich war der Anlass ein blutiger, doch das hatte für Mösha nie den Kern der Angelegenheit gebildet. Es ging darum, sich für die edle Sache hinzugeben, oder nicht? Die Aufgabe, die um jeden Preis erfüllt werden musste. Hier besann man sich darauf, was wichtig war, und schöpfte Ruhe. Darum war sie auch vor Sonnenaufgang aus der Herberge aufgebrochen. Momentan waren Kamil und sie die einzigen Mitglieder des Ordens dort. In den folgenden Tagen würde sich das ändern und Mösha war nicht begeistert von dem Gedanken. Zwar sah sie dann ihre Freunde, wo sie sonst in alle Himmelsrichtungen verstreut waren, doch es war nicht immer einfach zu ertragen, wenn sie sich alle auf einem Haufen befanden. Nicht jeder nahm das mit der edlen Sache so ernst, wie er sollte.
Bisher blieb ihr dabei nichts anderes übrig, als daneben zu sitzen und brav zu schweigen. Zum Gedenktag, wenn sie und die anderen in ihrem Alter zu vollwertigen Rittern des Ordens ernannt wurden, würde sich das ändern. Dann hieß es auch, sich selbst zu entscheiden, wohin und mit wem man losziehen wollte, anstatt von einem Hauptmann zum nächsten weitergereicht zu werden und für ihn den Laufburschen zu spielen. Immer wieder aufs Neue hatte sie ihnen die Grenzen aufzeigen müssen.
Das hier war für eine ganze Weile der letzte Moment, den sie ganz und gar für sich hatte.
Mösha lag im taufeuchten Gras und betrachtete die Schwertgriffe, die in ihren Ausschnitt des Himmels ragten. Ein Insekt krabbelte über ihren Arm, bis sie es sanft wegwischte. Woanders hatte es mehr Aussichten auf Erfolg für die Nahrungssuche.
Was sollte sie nur mit diesem Gelb anfangen? Sie war kein kreativer Mensch, was das anging. Eher dann, wenn es galt, einen Trainingspartner zu entwaffnen oder zu Boden zu ringen. Besser, sie begann da, wo sie sich sicher war.
Mit dem Pinsel und der einen und dem Topf blauer Farbe in der Hand stand sie auf. Blau und Silber standen für den Orden. Letzteres stand ihr nicht zur Verfügung, da musste sie es beim Grau des Steins belassen. Sie ließ sich Zeit damit, Farbe aufzunehmen und sich die Stelle auszusuchen, mit der sie am besten anfing. Die Grundlagen hatte Kamil ihr beigebracht und sie war sich sicher, zu einem akzeptablen Ergebnis zu kommen. Doch der Pinsel fühlte sich in ihrer Hand an wie ein Fremdkörper. Damals, vor vielen Jahren, als sie in der Übungsstunde zum ersten Mal ein Schwert in die Hand bekommen hatte, war es anders gewesen. Damals war es ihr vorgekommen wie das Stück, das sie komplettierte.
Immerhin gelang es ihr, die Farbe gleichmäßig auf die linke Hälfte der Klingen aufzutragen. Ständig wehten ihr Haarsträhnen ins Gesicht, blieben an ihren Lippen und Wimpern hängen. Wenn sie versuchte, sie zu lösen, schmierte sie sich Farbe ins Gesicht. Irgendwann ließ sie es einfach bleiben, weil es keinen Zweck hatte.
Am Ende hatte sie noch genug für den Spiegel des Schilds übrig. In dessen Mitte war das Symbol des Ordens eingemeißelt, eine breite Bärenpranke. Die sollte silbern bleiben.
Erst einmal musste sie sich aber strecken. Wenn sie fertig war, würde sie wohl zurück zur Herberge laufen und dem Pferd neben dem Gepäck nicht auch noch ihr Gewicht zumuten. Darüber würde es wohl ganz froh sein, die Tiere standen ihr seit jeher skeptisch gegenüber.
«Ich bin stolz auf dich.»
Mösha fuhr so heftig zusammen, dass Schmerz wie ein heißer Dolch knapp an ihrem Schulterblatt vorbei durch sie hindurch jagte. Sich nicht davon beirren lassend, wirbelte sie herum, den Pinsel in der Hand wie ein Schwert. Zum Kämpfen taugte er nicht viel, aber eigentlich brauchte sie dazu auch nur ihre Fäuste. Sie ärgerte sich über sich selbst. Wie hatte sie so in ihrer Aufgabe versinken können? Wachsamkeit bewahrte einen vor unliebsamen Überraschungen, sagte Kamil immer.
Dabei war diese hier alles andere als unliebsam. Auf einem Findling, der in der Weite des Graslandes deplatziert wirkte, saß ihre Mutter, die viel besungene Axt quer über den Beinen. Wann war sie aufgetaucht? Und wo kam sie her? Ihre dichten, tiefroten Locken, die um einiges länger waren als Möshas, wirkten noch unordentlicher als gewöhnlich. Kratzer überzogen ihre nackte rechte Schulter, der stählerne Besatz der linken war matt und blutig. Hühnerfedern steckten in dem Pelz, den sie um die Hüften trug. Sie grinste. Vielleicht, weil es ihr gelungen war, Mösha zu erschrecken, vielleicht auch wegen des ungewohnten Anblicks, die Tochter mit Farbe beschmiert zu sehen, nicht mit Schmutz und dem Blut ihrer Trainingspartner.
Der Pinsel fiel aus Möshas Hand, als sie sich entspannte. «Weil ich es geschafft hab, mehr Farbe auf den Stein zu bringen als auf mich?», fragte sie. Das waren genau die Sprüche, von denen sie in den letzten Monaten etliche hatte ertragen müssen. Niemand aus dem Orden hatte sich allerdings ein zweites Mal getraut.
Ihre Mutter schnalzte empört mit der Zunge und lehnte die Axt an den Brocken. «Mösha, Kind, was denkst du von mir? Komm her.» Sie sprang auf und breitete die Arme aus. Quer über ihren Unterarm verlief eine Schnittwunde, die relativ frisch aussah.
Es mochte nicht viel helfen, aber anstandshalber wischte Mösha sich die Hände und das Gesicht ab. In der Herberge würde sie ein Bad nehmen, so bald sie konnte. Sie stützte den Fuß am Fels ab und ließ sich von ihrer Mutter nach oben ziehen, als wöge sie nicht mehr als die Kleidung, die sie trug, half ein bisschen nach, um ihr in die Arme zu fallen. Es war das erste Mal seit Monaten, schließlich gab es Schlachten zu schlagen und Feste zu feiern, und jeder Krieg war ihr Krieg.
«Es ist noch gar nicht so lang her, da konnte ich dich in einem Arm halten, und jetzt stehst du hier, erwachsen, so kurz vor deinem großen Tag. Feralin wäre genauso stolz auf dich wie ich, wenn sie dich jetzt sehen könnte.» Ihre Mutter drückte Mösha so fest, dass sie jemand anderem schon mindestens zwei Rippen gebrochen hätte.
Feralin war eine Ritterin des Ordens gewesen und die Frau, die Mösha zur Welt gebracht hatte; die Mutter, die sie nicht kannte. Die Kameraden hatten sie aufgenommen und waren ihr bis heute Familie.
Mösha lehnte sich an die Mutter, die sie hatte, und atmete den vertrauten, liebgewonnenen Geruch und Leder und Eisen ein. «Wirst du da sein?»
«Nichts könnte mich davon fernhalten», antwortete ihre Mutter und brachte so viel Abstand zwischen sich und Mösha, dass sie sich ansehen konnten. «Du bist meine einzige Tochter und du weißt, egal, wohin du gehst, ich bin nie weit entfernt.»
Mösha blinzelte ein paar Tränen weg. Normalerweise bedeuteten Sentimentalitäten ihnen beiden gleich wenig. Die Besuche ihrer Mutter waren für gewöhnlich kurz und geprägt von spielerischen Auseinandersetzungen. Obwohl sie aus Respekt vor diesem Ort darauf verzichtet hatte, ihr Schwert mitzubringen, wartete sie ab, ob ihre Mutter es doch noch auf das Übliche anlegte. Doch alle Andeutungen in diese Richtung blieben aus, worauf sie sich wieder ihrer Arbeit zuwandte.
Während sie den Schild bemalte, lauschte sie einer der seltenen Erzählungen ihrer Mutter darüber, wohin es sie überall verschlug. Ungeschönt berichtete sie von einem Bürgerkrieg, der auf Wogenfels tobte, einer Insel weit im Osten, von der Mösha in ihren Geschichtsstunden gehört hatte. Die Inseln vor der Küste Thesseriens waren von viele Jahre andauerndem Freiheitskampf geprägt, der nun anscheinend eine neue Wendung genommen hatte.
Der Herr der Burg, die auf den Klippen thronte, war dem Hilferuf eines Herzogs im Norden gefolgt und hatte seine zwei Kinder, kaum älter als Mösha selbst, zurückgelassen, sich zeit seiner Abwesenheit um alles zu kümmern. Diese scheinbare Schwäche war von den Nachbarn im Süden sogleich genutzt worden, die eine Besatzung geschickt hatte. Nun wurde die Insel von einem Statthalter regiert, der Anstalten machte, die Prinzessin zu heiraten und somit seinen Anspruch zu legitimieren.
Mösha gab sich kurz dem Gedanken hin, Kamil darum zu bitten, in einer Woche nach Wogenfels überzusetzen und den Bürgern der Stadt zur Hilfe zu kommen. Sie konnte sich selbst sehen, wie sie ins Gemach der Prinzessin stürmte und den ungeliebten Feind, der sie bedrängte, aus dem Fenster warf. Die Wellen würden seinen Körper verschlingen und sie würde die Prinzessin nach erfolgreicher Vertreibung der Besatzer überreden, die Herrschaft ganz ihrem Bruder zu überlassen und mit ihr durch die Welt zu ziehen.
Wenn die Prinzessin aber selbst Herrin von Burg Wogenfels bleiben wollte, so würde Mösha den Posten als ihre Leibwache annehmen, den man ihr für die Rettung der Unabhängigkeit anbieten würde. Den, und die Hand die Prinzessin.
Die Möglichkeiten waren endlos.
«Erzähl mir von der Prinzessin», bat sie.
Mösha musste sich nicht einmal umdrehen, um das Lächeln im Gesicht ihrer Mutter vor sich zu sehen. «Eine großartige junge Frau. Ich habe sie segeln gesehen, als sie diesem Kerl demonstriert hat, dass er ohne sie buchstäblich untergehen würde. Sie wird ihn loswerden, darauf kannst du dich verlassen Auf ihre ganz eigene Weise.»
Der Pinsel strich trocken über den Stein. Das klang nach einer Geschichte, an der sie gern ihren Anteil hätte, aber Kamil wäre niemals damit einverstanden. Sie mischten sich nicht auf eigene Faust in die Geschicke der Welt ein. Mehr, als Aufträge Hilfesuchender annehmen oder ablehnen, darauf kam es an. Die Wahrscheinlichkeit, dass die Prinzessin sich an einen Ritterorden und ausgerechnet an die Bärenklauen wenden würde, war verschwindend gering.
Sei’s drum. Es gab unzählige Prinzessinnen in der Welt, einige davon würden früher oder später die Hilfe eines Ritters brauchen, und dann würde sie da sein.
Hinter ihr raschelte das Gras. Die großen, rauen Hände ihrer Mutter strichen Mösha die Haare aus dem Nacken. «Ich kann es kaum erwarten, zu sehen, was aus dir werden wird, mein liebes Kind.»
Unschlüssig hielt Mösha den Topf mit gelber Farbe in der Hand, während ihre Mutter ihr das Seitenhaar zu Zöpfen flocht und diese an ihrem Hinterkopf zusammenführte. Am Ende löste sie ein Lederband von ihrem Arm, um den vereinten Zopf befestigen. Es roch nach Rauch und Staub.
«Danke», sagte sie leise.
Ihre Mutter klopfte ihr fest auf die Schulter und plötzlich war Mösha wieder allein.
Dieses Mal achtete sie darauf, alles um sich im Auge zu behalten und sich nicht zu sehr in den Farben zu verlieren. Es dauerte nicht lang, sie hatte erst begonnen, das Gelb auf Parierstange und Knauf eines jeden Schwerts anzubringen, und sie hörte Pferdehufe entlang der Straße. Nebelstreif, der Apfelschimmel, mit dem sie hergekommen war, war nicht nervöser als sonst, also musste es jemand sein, den sie kannte.
Kamil, wie sie gleich darauf erkannte, als er dem Pferd einen guten Morgen wünschte und sich hörbar schnaufend aus dem Sattel hievte. Die Knochen spielten ihm in letzter Zeit übel mit, sagte er.
Mösha lauschte dem raschelnden Gras zu seinen Füßen und hielt erst in ihrer Arbeit inne, als er neben ihr zu stehen kam. Mit verschränkten Fingern streckte sie die Arme aus, dass die Ellenbogen knackten.
«Na, Mösha, das sieht ja so schlecht nicht aus.» Er legte den Kopf schräg, um das Denkmal aus einer anderen Perspektive betrachten zu können. Sie folgte seinem Blick, der an einem Tropfen Gelb hängen blieb, der über das Blau gelaufen war und gerade noch matt schimmerte. «Wenn du mir nur verrätst, warum du unten angefangen hast.»
«Weil ich nur mit dem Blau etwas anzufangen wusste. Aber ist doch egal, wenn die anderen hier waren, sieht das niemand mehr.» Innerlich verfluchte sie sich, dass sie ausgerechnet die wichtigste Regel vergessen hatte. Mit der hellen Farbe anfangen und von oben nach unten. Dafür hatte sie sich Mühe gegeben, sauber zu arbeiten, und das da war der einzige Patzer. Insgesamt konnte sie stolz auf sich sein.
Kamil sah aus, als wollte er widersprechen, seufzte aber nur. «Ich verstehe, wenn du Zeit für dich brauchst, aber das nächste Mal verschwindest du bitte nicht einfach, ohne mir zumindest eine Nachricht zu hinterlassen.»
«Was soll mir passieren?», fragte sie und lächelte, weil er mit dieser Antwort nicht zufrieden war. Dass sie es überleben würde, hieß nicht, dass er zwischendurch nicht vor Sorge tausend Tode starb. «Ich kann auf mich aufpassen und das weißt du. Außerdem war meine Mutter da, bis gerade eben.» Gut möglich, dass sie nur gegangen war, weil sie gewusst hatte, dass Kamil unterwegs war. Die beiden waren nicht die besten Freunde, milde ausgedrückt.
Mit gehobenen Augenbrauen ging Kamil drei Schritte um sie herum. «Ach, ja? Siehst gar nicht aus, als wenn …» Sanft griff er ihr Kinn, drehte ihren Kopf auf der Suche nach Blessuren erst zur einen Seite und dann zur anderen. «Oh, doch.» Aus einer losen Haarsträhne zog er eine Hühnerfeder und blickte Mösha skeptisch an.
Sie hob die Schultern. «Frag nicht, ich hab auch nicht gefragt. Ist jemand angekommen, seit ich weg war?»
«Hagen», sagte er und sie war augenblicklich froh, dass sie hier war und das Wiedersehen mit ihm noch beliebig aufschieben konnte. Zwar musste sie allen recht geben, die seine Fähigkeiten und Verdienste lobten, aber als Person war er unerträglich. Sobald einer eine gewisse Bedeutung erlangt hatte, interessierte das aber offenbar niemanden mehr. Allerdings bedeutete seine Anwesenheit auch die von Kralle und Welling. Kralle war morgen an der Reihe, hier zu stehen und zu malen, und Mösha würde dann vielleicht auf dem Findling sitzen und genießen, dass sie sich beide am selben Fleck befanden. In letzter Zeit war das viel zu selten vorgekommen. Fünf Jahre, ein Drittel ihres bisherigen Lebens, hatten sie gemeinsam auf der Akademie in Vintarburg verbracht, bevor sie aufgeteilt worden waren. Seitdem hatten sie sich hauptsächlich hier gesehen und einander ansonsten gefehlt.
Vielleicht war es Zeit, sich von Kamil zu lösen und Kralle, Welling und ein paar andere zusammenzutrommeln, um mit ihnen in die Welt zu ziehen.
Eilig hatte sie es trotzdem nicht damit, in die Herberge zu kommen. Zwar war unter den Leuten, die Kamil ansonsten aufzählte, auch Jhira, die das Training an der Akademie leitete und die Mösha damals lieb gewonnen hatte, aber in den nächsten Tagen würde sie so viel Zeit mit allen verbringen, dass es ihr bald auf die Nerven gehen würde.
Darum blieb sie lieber noch hier, tauchte die Schwertgriffe in sattes Rot und genoss das Schweigen. Das Schöne mit Kamil war, dass sie sich gleichzeitig seiner Anwesenheit gewiss sein und sich auf ihn verlassen konnte, während es war, als wäre er gar nicht da. Nur seine übereinandergeschlagenen Beine ragten aus dem Gras, während er in den Himmel schaute. Die Ruhe, die er ausstrahlte, färbte nicht mehr ganz so zuverlässig auf sie ab wie früher. Es hatte nicht einmal einen Tag gedauert, da hatte sie schon genug davon, in der Herberge zu sitzen, und wäre am liebsten weitergezogen. Im Kleinen konnte sie das tun, bald, mit Welling und Kralle. Die Umgebung erkunden, einfach draußen sein. Kamil hingegen war froh über die Pause. Er hatte kaum vierzig Winter hinter sich, doch ständig Wind und Wetter ausgesetzt zu sein, im Auge der Gefahr, spielte einem übel mit. Anhand seiner Narben konnte er so manche Geschichte erzählen.
Mösha hatte eine einzige und die stammte von ihrer Mutter. Es war eine Lektion darüber, dass die Überzeugung, reif für das Training mit scharfen Schwertern zu sein, falsch gewesen war.
Die Straße, die sie am Morgen noch völlig verlassen vorgefunden hatte, war im Laufe des Vormittags zu einem Strom an Reisenden geworden wie ein trockenes Flussbett, dem zur Schneeschmelze wieder Leben eingehaucht wurde. Mösha war froh, Nebelstreifs Zügel einfach Kamil in die Hand drücken und sich abseits der Straße bewegen zu können. Sie rannte, einfach weil sie es konnte, scheuchte einen Schwarm Nebelkrähen auf, als sie über einen Tierkadaver hinwegsetzte, und hörte die Karnickel aufgeregt durch ihre unterirdischen Gänge rennen, weil sie nicht wissen konnten, dass sie heute nicht hinter ihnen her war.
Erst, als sie zur Herberge Zum Gescheckten Greif kam, konnte sie den Leuten nicht mehr ausweichen, die hier kurzfristige Rast machten, die Pferde tauschten und ihre Waren zum Verkauf anboten. Nirgends eine Spur von Kamil, aber der kam schon allein zurecht. Wahrscheinlich hatte er ein paar Kameraden getroffen, die aus Vintarburg oder aus der Hauptstadt kamen.
Sie folgte zwei Magieschülerinnen in den auffälligen türkisfarbenen Roben des Abschlussjahrs und in den Schankraum und nahm sich genau so viel von dem herrlichen Kribbeln, das die bloße Anwesenheit von Magie auslöste, mit, wie sie brauchte, um ohne Zwischenfälle durch die Menge zu kommen. Mit allem, was sie über Beinarbeit beim Schwertkampf wusste, wich sie gerade so der Tochter des Wirts aus, die ein volles Tablett balancierte, und gelangte auf die andere Seite des Raums und schlüpfte durch die Tür in den Saal, den die Bärenklauen für sich beanspruchten.
Die zwei langen Tischreihen waren noch recht leer. Auf der Suche nach Kralles dunklem Haarschopf ließ sie den Blick über die Köpfe schweifen, erwiderte das Lächeln der einen und das Nicken der anderen. Fast jeder hier trug blaue Kluft und fast jeder hatte einen Schwertgurt über dem Stuhl hängen.
Das Problem mit Familienfeiern war, dass auch immer die eingeladen waren, denen man für den Rest des Jahres lieber aus dem Weg ging. In Möshas Fall war das Hagen, der mit dem Rücken zu ihr an einer Ecke des Tischs saß und mit großen Gesten irgendeine Geschichte zum Besten gab. Um ihn herum saßen Kinder, von denen nicht alle zum Orden gehörten, und lauschten wie die Eckerchen.
Wenn man klein war, noch nicht viel davon verstand, wie Erwachsene miteinander umgingen, dann lernte man ihn als den lieben Onkel kennen, der alles wusste und alles konnte. Für die, die gehorchten und nicht widersprachen, blieb er das auch.
Mösha hatte nicht vor, ihn zu stören, wollte sich eigentlich nur einen Platz möglichst weit weg von ihm suchen, aber daraus wurde nichts. Kaum hatte sie zwei Schritte getan, stürmten vier Hunde unter dem Tisch hervor, wo sie stetig auf der Suche nach Resten und Streicheleinheiten herumwuselten. Oschi, ein zotteliger Jagdhund, stieg an ihr hoch und sie musste ihn daran hindern, ihr Gesicht abzulecken, damit er nicht die Farbe erwischte. Die anderen strichen um ihre Beine und trampelten auf ihren nackten Füßen herum. Jetzt war sie angekommen.
Dadurch wurde sie aber leider auch von Hagen bemerkt, der seine Erzählung unterbrach, aufstand und ihr eine Pranke auf die Schulter fallen ließ. Den Gefallen darunter einzuknicken, tat sie ihm nicht. «Na, wen haben wir denn da? Moërshalin, pflichtbewusst wie immer.»
Sie ließ sich von ihm umarmen und gab sich Mühe, ihren Unwillen zu verbergen. Früher war sie so beeindruckt gewesen, hatte – wohl wie alle – sein wollen wie er.
«Sieh dich an, Kind.» Er klopfte ihr auf den Rücken. «Ein Bild von einer Kriegerin. Das Kind deiner Mutter. Niemand verdient so sehr wie du, als vollwertiges Mitglied in unsere Reihen aufgenommen zu werden.»
Mösha fand, dass er großen Unsinn redete. Welling hatte sich wesentlich mehr angestrengt als sie, um an diesem Punkt zu landen. Kralle hatte sich nicht davon beeindrucken lassen, dass sie ihre rechte Hand nach einer Auseinandersetzung mit einem Berufsschläger nicht mehr gebrauchen konnte. Und Mösha? Mösha hatte kaum etwas tun müssen. Sie war einfach zu dem gemacht worden, als was sie jetzt hier stand. Ginge es nach ihr, hätte sie ihm das ins Gesicht gesagt, aber leider war es in ihrer Situation besser, gut mit ihm zu stehen, und sie hatte das Pech, dass er sie gern hatte. Absurd, von jemandem gemocht zu werden, gegen den man einen Groll hegte.
Sie entzog sich seiner Umarmung und lächelte halbherzig.
Glücklicherweise erwartete er nur selten wirklich eine Antwort. «Such dir einen Platz und iss mit uns. Sieh nur zu, dass du bis heute Abend noch den Dreck runter kriegst. Wenn sich dieses nichtsnutzige Pack nur einmal zeigen würde …», fügte er leise an.
Sie nahm Abstand, damit sie nicht versehentlich fragte, wann er sich zum letzten Mal einer ähnlichen Übermacht Feinden gestellt hatte, wie die Herberge heute ihren Gästen. Das führte nur wieder zur nächsten mit Selbstbeweihräucherung gespickten Erzählung.
Jhira am anderen Tisch fing ihren Blick auf und zog Mösha den Stuhl neben sich zurück. Das würde angenehmere Gesellschaft werden, und da waren auch noch Plätze für Welling und Kralle.
Die trat gerade durch die Tür zum Hinterhof in den Raum, zu sehr damit beschäftigt, sich den Gürtel ihrer Hose zu schließen, um Mösha zu bemerken. Ihre Frisur war noch immer der Wust aus dunklem Haar, der sich mit keiner Macht der Welt bändigen ließ und dazu einlud, die Finger darin zu vergraben. Mit gesenktem Blick stieß sie gegen Mösha, die sich ihr in den Weg gestellt hatte, um genau das zu provozieren.
«Oh …» Kralle hob den Kopf und ihr Gesicht hellte sich in dem Moment auf, als sie sah, mit wem sie gerade zusammengestoßen war. «Oh», wiederholte sie langgezogen, schlang ihr die Arme um den Hals und drückte sie, als hätte sie Sorge, dass sie ansonsten auf der Stelle wieder verschwinden würde.
Mösha hob sie hoch und wollte am liebsten auch jede Berührung, zu der es in den letzten sechs Monaten nicht gekommen war, nachholen. Es könnten Jahrzehnte vergehen und das Wiedersehen würde sich anfühlen, als wäre all die Zeit nicht vergangen. Dazu sollte es aber niemals kommen, das würden sie nicht zulassen. «Es ist ewig her», nuschelte sie in Kralles Haare.
«Wo warst du, was hast du erlebt? Du musst mir alles erzählen.»
«Kamil und ich waren im Süden», begann sie. «Die Häfen in der Bucht hatten Probleme mit Piraten. Zu zweit hatten wir da natürlich keine Chance und haben darum Jhira einen Vogel zukommen lassen.» Der Magier, der auf einem Boot lebte und gerade in Brügge zugegen war, hatte sich dazu bereit erklärt und dafür nur Mösha gebeten, ihm zur Hand zu gehen. Es war ein großartiges Gefühl gewesen, ein bisschen wie wenn die Müdigkeit nach einem guten Essen einsetzte. «Bis sie da waren, waren mir den Patrouillenbooten unterwegs, um wenigstens ein bisschen auszuhelfen.» Sie hatte die meiste Zeit am Ruder verbracht, aber es war auch zu einigen Kämpfen gekommen. Die waren auf Deck ein ganz anderes Kaliber als an Land.
«Die Seeluft hat dir gut getan», stellte Kralle fest und kraulte Möshas Rücken. Sie glitt zu Boden, ohne dass ihre Umarmung dadurch weniger eng wurde. «Den Rest der Geschichte kenn ich schon. Hat Petz erzählt. Ihr habt zum Alten Tor übergesetzt und ihr Versteck selbst überfallen. Wäre ja schon gern dabei gewesen. Hast du mir wenigstens was mitgebracht.»
Mösha nickte. «Natürlich haben wir den Großteil des Schatzes den Leuten überlassen, die ausgeraubt worden sind. Aber einen Anteil haben wir behalten.» Über Kralles Kopf hinweg sah sie, wie der Sohn des Wirts in den Raum geschlichen kam. «Ich zeig dir später, was ich abbekommen hab. Jetzt hab ich Hunger.» Am Morgen hatte sie nur ein Stück Käse und etwas Brot erbeten, weil sie eigentlich gar nicht vorgehabt hatte, so viel Zeit bei den steinernen Schwertern zu verbringen.
Kralle ließ sich auf den Stuhl neben ihr sinken und legte die Beine quer über ihre.
Alle Augen waren erwartungsvoll auf den Jungen gerichtet.
«Wir haben Pfannkuchen, mit Pilzen gefüllt, Apfelpasteten, Omelett mit Ziegenmilch …» Er stockte und als Mösha seinem Blick folgte, sah sie in Hagens finsteres Gesicht.
«Habt ihr nichts Vernünftiges da?», wetterte er. «Meine Leute sind tagelang geritten, die brauchen was Ordentliches zwischen den Zähnen!»
Wie immer war die Hitze, die in ihr aufstieg und sie zu zerreißen drohte, ganz plötzlich da.
Es war nicht einmal eine der schlimmeren Bemerkungen, doch Mösha war drauf und dran, aufzuspringen und dabei den Tisch durch den Raum zu befördern. Vielleicht wollte sie Hagen einfach die Zähne ausschlagen. Und mit denen weitermachen, die gerade auch noch zustimmend murrten. Alles, was sie davon abhielt, war Kralle, die scheinbar ungerührt halb auf ihr saß und deren gesunde Hand hochinteressiert mit Möshas Zopf spielte.
«Pfannkuchen sind gut», sagte Jhira seelenruhig zu dem Jungen, der ganz rot geworden war. «Dazu eine Apfelpastete für mich.»
Der Junge nickte und machte, dass er weg kam.
«Und wer soll davon satt werden? Ich brauche Fleisch! Die sollen froh sein, wenn ich ihre Ziege nicht heute noch eigenmächtig schlachte!» Hagen schlug auf den Tisch, wie um zu verdeutlichen, dass er wirklich jederzeit bereit war.
Was für ein Schwätzer.
Wie einfach sie dafür sorgen könnte, dass seine großen Worte ihm im Halse stecken blieben. Nur ganz vorsichtig Kralle zur Seite schieben, dann hätte sie freie Bahn.
«Bei einem Tier im Gatter hast du vielleicht sogar eine Chance, es zu erwischen», erwiderte Jhira, ohne sich von seinem Blick beeindrucken zu lassen. «Vorausgesetzt, es ist auch angebunden.»
Darauf erwiderte er nichts, aber Mösha reichte schon, dass er seinen wütenden Blick jetzt gegen Jhira richtete, um seinen Kopf wenig liebevoll mit der Tischplatte vereinigen zu wollen.
Kralle schob zwei steife Finger in Möshas unter dem Tisch geballte Faust. «Seid ihr dann sofort hergekommen?», wollte sie wissen. Sie war Meisterin darin, unliebsame Vorfälle einfach über übergehen und mit dem Tagesgeschäft weiterzumachen. Kurzfristig mochte das gesünder sein, aber auf Dauer änderte sich dadurch ja auch nichts, dass man etwas still ertrug.
Aber ihr zuliebe atmete Mösha tief durch und konzentrierte sich ganz darauf, sanft dabei zu sein, ihre Hand zu massieren. «Wir wollten, haben dann aber doch einen Umweg gemacht. Eine Truppe Schausteller wollte, dass wir sie begleiten, weil Gerüchte über einen monströsen Hund umgingen, der Ebersgrund heimsucht, und genau dort wollten sie hin.»
Bei der Erwähnung eines Monsters richtete sich Kralle ein Stück auf. «Und? Gab es den? Hast du ihn gesehen?» Sie betrachtete Mösha genau, als suchte sie nach Anzeichen eines Kampfes.
«Ja», antwortete sie auf beide Fragen. «Wir haben ein paar Nächte dort verbracht und jeden Abend hab ich einen Kontrollgang um das Städtchen gemacht, ohne etwas zu finden. Aber dann, als der fast volle Mond durch die Blätter am Waldrand schien … Da standen wir uns plötzlich gegenüber.» Sie senkte die Stimme. Davon hatte sie Kamil nichts erzählt, weil sie nicht wissen wollte, was er dann von ihr verlangt hatte. «Und es war nicht einfach ein Hund, es war ein Riesenbiest von einer Wölfin.»
Jhira stand auf und ging hinüber zu Hagen. Auf seinen Stuhl gestützt sprach sie leise auf ihn ein. Als einzige im ganzen Orden versuchte sie wenigstens, etwas zu erreichen, und bestärkte ihn nie. Bisher hatte es jedoch nie Früchte getragen. Echte Konsequenzen hatte er von ihr ja auch nicht zu erwarten.
«Lass mich raten, du hast dich mit ihr angefreundet?»
Zu gern hätte Mösha auch das bejaht. So schwer sie es mit Pferden hatte, so leicht hatte sie es mit Hunden und auch Wölfen. Wie so vieles hatte sie das ihrer Mutter zu verdanken. Doch die Begegnung jener Nacht war ein anderes Kaliber gewesen. Etwas, das sie auch gegenüber Kralle besser nicht erwähnte. «Es war anders als gewöhnlich. Sie hat Abstand gehalten und mich die ganze Zeit so komisch angesehen. Dann war sie weg. Frag mich nicht, woher ich das wusste. Aber sie hat auch niemandem etwas getan, also haben wir sie nicht verfolgt.»
«Ich weiß doch, dass es sich bei dir nicht lohnt, weiter nachzufragen.» Kralle sah trotz des eher bescheidenen Höhepunkts begeistert von der Erzählung aus. «Aber ehrlich, du erlebst immer die spannenden Sachen.»
«Dann komm mit mir», schlug Mösha vor. Glücklich, dass der geeignete Moment, diesen Wunsch laut auszusprechen, so früh gekommen war, ließ sie den Daumen einen kleinen Bogen um die Narbe in Kralles Handfläche beschreiben. «Was meinst du, verschwinden wir nach der Zeremonie und suchen uns ein Abenteuer?» Eines, das weit, weit weg von Hagen und der Bagage stattfand, am besten.
«Jaaaa!», antwortete Kralle. «Das ist genau, was wir tun werden!» Ihr Blick glitt an Mösha vorbei und sie ließ ihre Beine zu Boden gleiten. Im selben Moment erfüllte der Duft von Pilzen den Raum, als die Wirtstochter und ihr Bruder beladen mit Tellern hereinkamen. Zwei große, mit gebratenen Pilzen gefüllte Pfannkuchen für jeden.
Kralle war aufgestanden und nach draußen verschwunden, kaum dass sie aufgegessen hatte, ohne Mösha zu verraten, was sie vorhatte. Sie war auch zu sehr damit beschäftigt, zu essen und Kamils Geschichten von ihrer letzten Reise zu kommentieren. Er übertrieb ganz gern, auch wenn er es so deutlich machte, dass man es ihm kaum übelnehmen konnte.
Es dauerte auch nicht lang. Kralle kam schon wieder, als Mösha gerade mit dem letzten Stück Pfannkuchen Soße von ihrem Teller wischte. Satt und zufrieden lehnte sie sich zurück und schaute nach oben ins Gesicht ihrer Freundin, die ihr mit einer Hand den Nacken kraulte und an der anderen zwei Bündel hängen hatte. «Du und ich, wir brauchen ein Bad», verkündete sie nahezu feierlich.
Da konnte Mösha nicht widersprechen. Daheim in Vintarburg hatte der wöchentliche Badetag sie alle genervt. Doch auf Reisen, wenn man teilweise über einen Monat keine vernünftige Gelegenheit hatte, begann man, saubere Kleidung und Seifengeruch zu schätzen zu wissen. Bereitwillig stand sie auf und folgte Kralle, die entgegen ihrer Erwartung jedoch nicht den Wirt aufsuchte, sondern sie an einem Pfeiler im Schankraum stehen ließ und ihr die Bündel in die Hand drückte.
«Eine Kleinigkeit fehlt noch», sagte sie und ging zielstrebig auf einen Tisch an der Wand zu, an dem eine einzelne Gestalt in einem staubigen, sandfarbenen Reisemantel saß. Mit der plauderte Kralle nun, als kannten sie sich schon ewig, und hob schließlich vorsichtig den obersten Stein von einem Stapel auf dem Tisch. Nach einer kleinen Verbeugung wandte sie sich um und kam mit bester Laune zu Mösha zurück. «Wir wollen den guten Leuten ja nicht mehr Arbeit machen als nötig.»
Im Keller eines Nebengebäudes befand sich ein Becken aus Stein, neben dem zwei Eimer bereitstanden. Jedes Mal, wenn Mösha vom Brunnen zurückkehrte und sie ausleerte, fand sie ein Kleidungsstück weniger an Kralle vor. Unwillkürlich blieb Möshas Blick immer wieder an ihr hängen, an Stellen, die ihr zuvor nie aufgefallen waren. Nicht an Kralle.
Sie wurde die Kleider ebenfalls los und sah zu, wie Kralle den Stein in der Hand rieb und schließlich ins Wasser gleiten ließ. Er war dunkelgrau, fast schwarz, und sah ein bisschen aus wie ein verkohlter Schwamm. «Wollen wir die Angelegenheit doch mal ein bisschen beleben», sagte sie mit vor Aufregung zitternder Stimme. Mösha wusste, dass Kralle wesentlich stärker auf Magie reagierte als sie selbst.
Im ersten Moment tat sich jedoch gar nichts, auch wenn Mösha es fühlte: das spezielle Kribbeln, das nur durch Magie hervorgerufen wurde. Es lief an ihrem Körper hinab wie ein Schauer und ließ die kleinen Härchen an ihren Armen sich aufstellen. Einen Augenblick später stiegen Dampfwölkchen von der Wasseroberfläche auf. Kralle hielt die Zehen hinein und lächelte Mösha verschwörerisch an. Ohne Eile und peinlich genau darauf bedacht, den Stein nicht zu berühren, stieg sie ins Becken und breitete die Arme auf dem Rand aus. «Es tut so gut, dich wieder bei mir zu haben.»
«Ich konnte es auch kaum erwarten.» Mösha ließ sich neben sie sinken und lehnte sich an ihre Schulter. Der Brocken drückte an ihre Wade und ließ unsichtbare Ameisen quer über ihr Bein krabbeln. Umständlich, weil unwillig, ihre Position zu drastisch zu verändern, fischte sie danach und bekam ihn schließlich zu fassen. Dieser kleine Kerl sorgte also dafür, dass das Wasser die perfekte Temperatur erreichte und behielt. Heiß und überraschend leicht lag er in ihrer Handfläche, von wo aus sich das Kribbeln langsam ausbreitete. Erst, als es drohte, sie vollkommen einzunehmen, ließ sie ihn los. «Und du behauptest, ich würde alle spannenden Dinge erleben. Erzähl mal, seit wann du so gut mit einer Hexe bekannt bist.»
Auf die Antwort musste sie warten, bis Kralle damit fertig war, ihre Hand skeptisch zu beäugen. «Das ist Neuntöter», erklärte sie schließlich. «Und die Geschichte ist eigentlich ganz lustig. Im letzten Sommer waren wir in Schennaberg und haben im Sumpf nach einem vermissten Kind gesucht. Das ist nicht das Lustige daran, die Eltern sind natürlich tausend Tode gestorben, aber am Ende ging es ja gut aus und … Ja, ja!“, rief sie, als Mösha ob der Ausschweifung augenrollend bis zum Kinn ins Wasser sank. «Jedenfalls: Du kennst mich ja. Ich finde alles und vor allem das, was ich nicht gesucht habe. Also …»
«… hast du dich im Sumpf verlaufen?», riet Mösha und schnellte nach oben, als Kralle sie mit der Hüfte anstieß. «Schon gut. Erzähl.»
«Wie du auch weißt, verlaufe ich mich nie, ich finde nur zu neuen Orten. Und immer wieder zurück. Diesmal stand ich vor einem großen Lagerfeuer und dem Wagen dieser Hexe. Überall liefen so kleine Steinfigürchen rum. Sie fand, dass ich verloren aussah, hat mich eine Weile bei sich behalten und dann zurück ins Dorf gebracht. In der Zwischenzeit hatte Welling das Kind gefunden und alle haben sich Sorgen um mich gemacht.» Mit der Handkante rieb sie unsanft Farbe aus Möshas Gesicht. «Guck nicht so. Ich hätte sonst allein meinen Weg zurückverfolgt, aber dann wäre mir ja das Beste entgangen. Sie ist genial und witzig. Ich stell dich ihr mal vor, du wirst sie lieben.»
Es klopfte an der Tür.
«Besetzt!», rief Mösha. Sie hätten die Tür verriegeln können, aber die Magie hatte sie zu sehr mitgerissen, um auf so ein Detail zu achten.
«Ich weiß», antwortete Wellings Stimme von draußen. «Aber vielleicht passt noch ein dürrer Kerl zu euch ins Becken?»
«Kann eng werden», flötete Kralle. «Du musst wissen, Mösha hat fünf Wochen damit zugebracht, Patrouillenboote zu rudern. Ganz allein.» Sie kicherte nur, als Mösha das Bein über ihre schlug und sie fester an sich drückte. «Aber ja, komm rein. Das geht schon, wir müssen nur eng zusammenrücken.»
Er schob die Tür gerade so weit auf, wie er musste, um nicht zu viel Wärme aus dem Raum entkommen zu lassen. Im Vorbeigehen streifte er das Hemd und die Hosen ab und kramte ein Stück grauer Seife aus seinem Bündel, bevor er es neben Möshas legte. «Oder stör ich euch? Wenn ihr etwas Zeit für euch haben wollt …»
«Die Frage kommt reichlich spät», bemerkte Kralle und deutete neben ihre Füße. «Setz dich, pass aber auf, dass du nicht an den Lavastein kommst. Der ist tierisch heiß. Mösha, wärst du so gut?»
Sie zog ihn aus seiner Reichweite und streifte dabei kurz Kralles Oberschenkel.
Ihre Hand krallte sich in Möshas Schulter. «Wir werden demnächst genug Zeit für uns haben», stellte Kralle mit gepresster Stimme fest. «Um da weiterzumachen, wo wir vorhin aufgehört haben. Wohin gehen wir?»
«Nach Eyckhain. Kommst du mit?» Sie schaute Welling an, der aussah, als begriffe er gerade den Zusammenhang zwischen dem heißen Wasser und dem Stein. Wahrscheinlich fragte er sich, wie sie an den gekommen waren, aber Kralle machte nicht den Eindruck, als wollte sie ihre Geschichte wiederholen.
Er blickte sie genauso skeptisch an wie den dunklen Brocken, mit dem ihre Hand noch immer beiläufig spielte. Jetzt, da er die Temperatur nur noch hielt, ging weniger Magie von ihm aus. Genau so viel, dass es angenehm blieb. «Zu Samhain? Im Leben nicht, dazu hänge ich zu sehr an meinem Verstand.» Dabei war sein Gespür für Magie nicht besonders ausgeprägt. Wahrscheinlich war genau das sein Problem: nur die Auswirkungen zu sehen und vom Wie komplett abgeschnitten zu sein.
«Schade.» Kralles Hand entspannte sich wieder und streichelte die Stelle entschuldigend. «Weißt du schon, was du machst? Vielleicht können wir irgendwo zusammenfinden und weiterziehen?»
«Wir hätten dich echt gern dabei», bestätigte Mösha. Ganz am Anfang, als er zum Orden gekommen war, hatte er es für eine gute Idee gehalten, sich wieder und wieder und wieder mit ihr anzulegen, als wäre sie eine Art Prüfung, die man bestehen musste, um jemand zu sein. Noch heute durften sie sich von Jhira anhören, dass die ihre liebe Mühe mit ihnen gehabt hatte. Im Laufe der Zeit hatte er begriffen, dass er mehr Nutzen und weniger blaue Flecken davon hatte, sich mit ihr zusammenzutun. Nicht, dass das Jhiras Mühe vermindert hätte, nur verlagert.
«Ich weiß noch nicht, wohin der Wind mich trägt», antwortete er lächelnd. «Aber den Winter werde ich daheim verbringen, in Vintarburg. Und was das nächste Jahr bringt, können wir dann ja sehen.» Er angelte sich sein Bündel vom Boden neben dem Becken. «Genug eingeweicht. Wer fängt an?»
Durch seine Lage zwischen der alten und der neuen Hauptstadt gehörte der Gescheckte Greif zu den größeren Herbergen Thesseriens. Neben zwei Gemeinschaftsschlafräumen, von denen einer während der nächsten Tage vollständig von den Bärenklauen eingenommen wurde, gab es auch einen kleineren, den sich Kamil mit Jhira, Hagen und später, wenn sie da war, Petz teilte. Wenigstens hier hatte sie also Ruhe vor ihnen.
An den anderen, die sich umzogen und die Stiefel putzten, störte sie sich nicht, als sie mit Kralle und Welling auf ihrem Bett an der Wand saß. Zwischen ihren Beinen auf dem Boden stand das Kästchen, das sie sich geschnitzt hatte und in dem sie dies und das aufbewahrte, das sich auf Reisen ansammelte.
«Die Piraten müssen mehr ausgeraubt haben als die Dörfer im Süden. Wir haben in ihrem Versteck das hier gefunden.» Mösha nahm eine Silbermünze zwischen Daumen und Zeigefinger. Die zu polieren, bis man etwas hatte erkennen können, war eine Aufgabe für einen ganzen Tagesritt gewesen. Auf der einen Seite war ein Spruch in einer ihr unbekannten Sprache zum Vorschein gekommen. An der Glocke, die auf der anderen abgebildet war, hatte sie jedoch recht präzise bestimmen können, woher und aus welcher Zeit sie stammte.
Welling, der weit größere Faszination für Politik und Geschichte hegte als sie, machte große Augen. «Die stammt vom Kontinent. Von der Inquisition.» Damit war sie zweihundert Jahre alt und nichts mehr wert, weil die Inquisition längst nicht mehr existierte und das Herzogtum, in dem sie gewütet hatte, mittlerweile an das benachbarte Königreich gehörte. Lange hatten sie dieses Thema behandelt. Viele der Hexen und Magier waren damals übers Meer nach Thesserien geflohen, die meisten auch geblieben.
«Willst du sie haben?»
Er sah ihr ins Gesicht und sie bemerkte, dass er den Atem anhielt. «Wenn du sie mir überlassen willst.» Mit spitzen Fingern nahm er sie ihr aus der Hand. «Wenn ich die einschmelzen und einen Anhänger daraus gießen lasse, habe ich zur Vernichtung der Inquisition beigetragen.»
«Mach damit, was immer du willst. Für dich hab ich auch was.» Mösha schaute Kralle in die Augen, während sie am Boden des Kästchens nach etwas tastete. Endlich bekam sie das Band des Stoffsäckchens zwischen die Finger und zog es vorsichtig heraus. «Das hier hat Möwe mir gegeben, der Magier, der mir geholfen hat. Sei vorsichtig damit, ist scharf.» Sie nahm Kralles Hand in ihre und schüttelte den Inhalt aus dem Säckchen. Es war eine Kette aus Holzperlen, auf die einzelne Zähne eines Haifischs aufgefädelt waren. Von ihr ging ein sanftes magisches Kribbeln aus, das sich über die Zeit vielleicht verflüchtigen würde.
Kralle zog sich einen der Zähne über die rechte Daumenwurzel und biss kurz die Zähne zusammen. «Danke. Ich wünschte, ich hätte dir irgendetwas mitgebracht. Wärst du so gut?» Sie hob die Kette hoch.
«Schon in Ordnung.» Mösha legte sie ihr um den Hals und sofort fand ihre Hand wieder hin. «Hab ja auch was davon, schließlich kann ich sie an dir sehen.»
«Trotzdem.» Kralle umarmte sie und Welling gleich mit. «Du darfst dir in Eyckhain aussuchen, was immer du möchtest.»
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Elenyafinwe M • Am 04.07.2018 um 21:09 Uhr • Mit 3. Kapitel verknüpft
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So, da hab ich jetzt endlich mal reingelesen. Ich bin gespannt, wohin die Reise führennwird und was mich hier erwartet. Ich mag deinen Stil, recht nüchtern, aber doch prägnant. Freue mich auf jeden Fall schon auf die nächsten Kapitel! Lg Auctrix |
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Kapitel: | 3 | |
Sätze: | 429 | |
Wörter: | 7.331 | |
Zeichen: | 41.690 |