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Das Echo der Isu

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28.10.25 16:18
12 Ab 12 Jahren
In Arbeit

Kapitel 1 – Atem des Apollon

Delphi lag still an diesem Morgen. Nur der Wind, der zwischen den Zypressen flüsterte, bewegte die Luft, ein uraltes Flüstern. Ich stand am Rand der steinernen Terrasse, wo der Blick über das Tal glitt. Das Licht der aufgehenden Sonne fiel auf meine Haut und ließ sie golden schimmern, als trüge ich ein Stück des göttlichen Feuers in mir. Mein Haar, dunkelbraun, fast schwarz, fiel in sanften Wellen über meine Schultern, doch in den Strahlen der Sonne glommen goldene Strähnen auf, wie vom Gott selbst berührt. Meine Augen, graugrün und klar, sahen mehr als das, was vor mir lag – als blickte ich durch den Schleier der Zeit.

Ein feiner Windstoß strich über mein Gesicht, über die kaum sichtbare Narbe an meiner linken Schläfe, eine Erinnerung an den Tag, an dem ich zum ersten Mal die Stimme der Götter gehört hatte. Damals war ich ein Kind gewesen, barfuß auf dem Boden des Tempels, die Luft erfüllt vom süßlich-scharfen Rauch der Lorbeerblätter. Ich hatte das Licht gesehen – und war gefallen. Blut, Rauch, Stimmen.

Seitdem wusste ich: Die Gaben der Götter verlangen einen Preis.

Heute trug ich den weißen Chiton der Seherinnen, fein bestickt, die Ränder aus Goldfäden wie Sonnenstrahlen. Um meine Taille lag ein schlichter Leinengürtel, und an meinem Hals hing ein kleiner Lapislazulistein – ein Splitter, kühl und fremd, der im Licht zu atmen schien. Niemand im Tempel wusste, woher er stammte. Doch ich fühlte, dass in ihm etwas schlief, etwas, das älter war als Apollon selbst. Ich atmete tief ein, der Duft von Rauch und Olivenblättern legte sich auf meine Zunge. Hinter mir hallten leise Schritte, es war einer der Priester.

„Seraphis,“ sagte er mit sanfter Stimme, die dennoch das Gewicht der Pflicht trug. „Die Pilger sind eingetroffen. Der Hohepriester erwartet dich.“

Ich wandte mich um. Meine Finger strichen über den kalten Stein der Brüstung. „Ich bin bereit,“ sagte ich leise. Aber ich war es nicht.

Denn jede Vision hinterließ Spuren, nicht nur in meinem Geist, sondern auch in meinem Körper. Und in letzter Zeit.. war etwas anders. Die Stimmen, die ich hörte, klangen nicht mehr wie die des Gottes, den ich kannte. Sie waren tiefer, ferner, uralt. Ich fühlte sie in meinen Adern, als würde etwas Unsichtbares in mir erwachen.

Im Tempel war es still, als ich den heiligen Raum betrat. Goldene Strahlen fielen durch die Öffnungen in der Decke, tanzten auf dem Rauch der Opfergaben. Die Priester verneigten sich. Ich kniete, berührte den Boden, und spürte, wie die Wärme der Erde durch meine Handflächen drang. Dann kam der Moment. Der Rauch der Lorbeerblätter, das Flimmern in meinen Augen, der Schwindel. Mein Herz schlug schneller. Die Welt um mich begann zu verschwimmen. Ein Bild stieg auf aus der Dunkelheit.

- Ein Himmel aus Asche. Blut auf weißem Stein. Und ein Mann, mit Augen wie Stahl und einer Hand, die Feuer trug.

Ich schnappte nach Luft. Der Boden unter mir schien zu beben. Ich hörte das Echo meines Namens, wie aus weiter Ferne, und dann.. Stille. Als ich die Augen öffnete, lag ich auf dem Boden, schweißnass, die Priester über mich gebeugt.

„Apollon hat gesprochen..“ flüsterte einer ehrfürchtig.

Kapitel 2 – Der goldene Käfig

Als ich erwachte, war der Tempel still. Nur das leise Tropfen von Wasser hallte irgendwo in der Ferne, und das Licht, das durch die hohen Öffnungen fiel, hatte jenen goldenen Schimmer, der alles in ein fast unwirkliches Glühen tauchte. Ich lag auf einem Ruhelager aus feinem Leinen. Der Duft von Lorbeer und Myrrhe hing in der Luft, gemischt mit dem süßen Rauch, der aus den Altarnischen aufstieg. Meine Glieder fühlten sich schwer an, als hätten die Götter selbst sie berührt oder verflucht.

Über mir wölbte sich die Kuppel des Tempels, bemalt mit Szenen aus der Zeit der Titanen. Apollon, im Streitwagen aus Licht, schoss über den Himmel, und seine goldene Lanze durchdrang die Dunkelheit. Die Wände bestanden aus hellem Marmor, glatt wie Wasser, durchzogen von Adern aus Gold und rotem Gestein. In den Schatten funkelten kleine, eingelassene Edelsteine – Spuren vergangener Ehrerbietung. Alles an diesem Ort war vollkommen. Zu vollkommen.

Ich richtete mich langsam auf, und mein Blick glitt über die großen Säulen, die wie schlafende Wächter den Saal umrahmten. Zwischen ihnen wehte der Wind, trug den Gesang der Priester von draußen herein. Es war eine Melodie, die ich seit meiner Kindheit kannte, und doch … fühlte ich mich fremd darin. Der Tempel war mein Zuhause, und dennoch fühlte ich mich hier gefangener als irgendwo sonst. Jeder Stein, jede goldene Inschrift erinnerte mich daran, dass ich nicht mir selbst gehörte.

Ich war die Stimme Apollons, aber meine eigenen Worte blieben ungesprochen.

Ich schob die Decke beiseite und trat hinaus in den Säulengang. Von hier aus sah man das Tal unterhalb des Parnassos, ein endloses Band aus Silber und Grün, durchzogen von Flüssen, die im Morgenlicht glitzerten. Der Wind trug den Duft von Thymian und Erde herauf, und für einen Moment glaubte ich, Freiheit zu schmecken. Doch der Gedanke verging, als einer der Priester aus dem Tempel mich entdeckte und mit einem ehrfürchtigen Lächeln näherkam. In seinen Händen trug er einen Käfig aus feinem Bronzegeflecht. Darin – ein Vogel, stolz und ruhig, die Flügel zusammengefaltet, als wüsste er genau, dass kein Ort ihn halten konnte.

„Ein Geschenk, Orakel,“ sagte der Priester und senkte den Blick. „Ein Pilger aus Elis hat ihn gebracht. Er sagte, er sei ein Zeichen des Gottes, ein Bote der über dich wachen soll.“

Ich trat näher. Der Vogel hob den Kopf. Seine Augen waren bernsteinfarben, durchdringend, fast menschlich. Es war ein Habicht – selten, groß und vollkommen. Das Licht glitt über sein Gefieder, das in Schattierungen aus Grau, Braun und Gold schimmerte.

„Wie heißt er?“ fragte ich leise.

„Er hat keinen Namen, Herrin.“

Ich kniete mich hin, bis mein Blick auf Höhe des Käfigs war. „Dann wird er einen bekommen,“ flüsterte ich. Als ich die Tür des Käfigs öffnete, rührte er sich nicht. Er sah mich nur an, still, lauernd und wachsam. Ich spürte etwas zwischen uns, etwas, das ich nicht benennen konnte. Vielleicht war es Freiheit. Vielleicht nur Spiegelung.

In den folgenden Tagen wich der Schwindel, der nach meiner Vision in mir geblieben war, langsam. Doch der Habicht – ich nannte ihn Aetos, nach dem Vogel des Zeus – blieb stets in meiner Nähe. Er war stark, schön, und wenn er durch den offenen Hof flog, zerschnitt das Schlagen seiner Flügel die Stille wie ein Versprechen. Manchmal saß ich bei ihm, während die Priester unten beteten. Ich sprach mit ihm, leise, über Dinge, die niemand hören durfte – über Träume, über Zweifel, über das, was ich in jener Vision gesehen hatte.

Seine Augen schienen zu verstehen.

Und während ich ihm zusah, wie er den Himmel über Delphi betrachtete, spürte ich es deutlicher als je zuvor: Der Tempel mochte göttlich sein, doch er war ein Käfig. Und tief in mir wuchs der Wunsch, eines Tages hinauszufliegen, wie Aetos, ohne Fesseln, ohne Furcht, ohne Götter.

Kapitel 3 – Der Zorn des Lichts

Die Sonne stand hoch über Delphi, als sie mich riefen. Der Tag war so hell, dass der weiße Stein des Tempels selbst zu leuchten schien. Überall im Heiligtum hallten Schritte, Rufe, das Klingen von Metall und Gold. Heute sollte ein großes Ritual stattfinden, eines jener Feste, die nur alle paar Jahre vollzogen wurden, wenn der Hohepriester die Stimme Apollons selbst erbitten wollte.

Ich spürte schon beim Betreten des heiligen Saals, dass die Luft anders war. Schwer, geladen, fast elektrisch. Rauch stieg in dünnen Spiralen auf, getragen von verbrannten Lorbeerblättern und Myrrhe. Das Licht fiel durch die offenen Dachspalten, golden wie geschmolzene Sonne, und tanzte über Marmor, Statuen und Opfergaben. Um den zentralen Altar standen die Priester in langen, goldverzierten Gewändern, die Augen gesenkt, die Lippen in stummem Gebet bewegt.

Ich trat vor, das Herz klopfend. Der Boden unter meinen Füßen war warm, als würde Leben durch den Stein fließen. Sie gaben mir die Schale mit Wasser vom Quell des Parnassos, und ich trank – wie immer vor einer Weissagung. Der Geschmack war klar und bitter zugleich, als tränke ich Erinnerung.

Dann begann das Ritual.

Die Priester sangen, laut und ehrfurchtsvoll, eine Hymne an Apollon. Der Klang hallte von den Mauern wider, vibrierte in meinem Brustkorb. Trommeln begannen zu schlagen, Flöten und Lyren stimmten ein, bis das ganze Heiligtum von einem tosenden Klang erfüllt war, der wie Donner klang. Ich trat in die Rauchschwaden, spürte, wie die Welt um mich zu flirren begann. Der Duft von Lorbeer brannte in meiner Kehle. Meine Finger zitterten.

Dann kam das Licht.

Es brach herab – grell, schneidend, lebendig. Die Flammen am Altar loderten auf, wurden zu Säulen aus Gold. Ein Wind fegte durch den Tempel, zerrte an den Gewändern der Priester, und die Lichter flackerten wie Sterne im Sturm.

- „Seraphis von Delphi,“ sprach eine Stimme, die nicht aus dieser Welt war. Sie war überall – in der Luft, im Stein, in mir. „Es naht Unheil, geboren nicht aus Zorn der Götter, sondern aus Händen der Menschen.“

Ich sank auf die Knie, das Herz raste.

„Herr,“ flüsterte ich, „was meinst du? Wer wagt es, dein Werk zu entweihen?“

Doch die Stimme hallte weiter, tonlos und ewig.

- „Sie werden kommen, mit Feuer und Blut. Nicht gegen den Gott, sondern gegen das Licht in euch. Warnt sie, bevor die Flamme erlischt.“

Dann – Stille.

Nur mein Atem, der in der plötzlichen Leere zitterte. Als ich die Augen öffnete, war der Rauch verschwunden. Die Priester standen reglos, entsetzt, unfähig zu sprechen. Einige weinten, andere starrten zum Altar, als hätten sie etwas gesehen, das kein Mensch sehen sollte.

„Der Gott hat gesprochen,“ sagte der Hohepriester schließlich, und seine Stimme bebte. Doch niemand wusste, was zu tun war.

Noch am selben Abend war alles unruhig in Delphi. In den Gassen tuschelten die Menschen, auf dem Markt sammelten sich Händler, Krieger, Mütter mit Kindern – alle suchten Antworten. Einige glaubten an einen Krieg, andere an Krankheit oder Hungersnot. Ich, das Orakel hatte gesprochen, und in Delphi bedeutete das: Das Schicksal hatte begonnen. Ich ging hinaus, in die Kühle der Nacht. Die Sterne funkelten über dem Parnassos, ruhig und gleichgültig. Aetos saß auf der Brüstung meines Balkons, das Gefieder vom Mondlicht silbern umrandet.

„Hast du es gespürt?“ flüsterte ich. „Der Gott war bei uns. Und doch … fühle ich Furcht.“

Er neigte den Kopf, als höre er mich. Dann breitete er die Flügel aus – majestätisch, lautlos – und stieg in die Dunkelheit. Ich folgte ihm mit den Augen, bis er nur noch ein Schatten war, ein Punkt am Himmel über Delphi.

Da geschah es.

Ein Zittern durchfuhr mich. Meine Sicht verschwamm. Der Wind trug ein Flüstern, und durch Aetos, durch seine Augen, seine Bewegung, seinen Flug – kam die Vision.

Rauch. Feuer. Männer in Eisen, ihre Gesichter verhüllt, brennende Fackeln in den Händen. Schreie, der Klang von Stahl, das Leuchten des Tempels in Flammen. Ich schrie auf, klammerte mich an die Mauer, und das Bild zerfiel wie Glas.

Ich zögerte nicht. Noch in derselben Nacht ließ ich nach den Kriegsherren rufen, den Wächtern Delphis, die im oberen Viertel lebten. Sie hörten mir zu, ernst, schweigend und ihre Stirnen gefurcht, als ich sprach.

„Es wird kommen,“ sagte ich „Menschen werden uns zerstören wollen. Ich habe es gesehen.“

Keiner widersprach.

Doch in ihren Augen sah ich denselben Schatten, der mich seither nicht mehr verlässt: Die Gewissheit, dass die Götter uns gewarnt haben – und dass wir zu klein sind, um ihr Schicksal aufzuhalten..

Kapitel 4 – Sturm über Delphi

Der Morgen über Delphi brach an wie ein brennendes Omen. Das erste Licht kroch über die Hänge des Parnassos, vergoldete die weißen Marmorsäulen der Tempel und legte einen Schimmer über die Stadt, der zugleich schön und unheilvoll war. Schon vom inneren Hof des Apollon-Tempels aus konnte ich sehen, wie sich das Leben in den Straßen wandelte. Wo sonst Pilger, Händler und Musiker durch die Gassen zogen, hörte man nun metallisches Klirren und laute Rufe. Die Kriegsherren von Delphi begannen, sich zu rüsten.

Ich trat auf die Terrasse hinaus, das Seidentuch eng um meine Schultern gelegt. Unter mir breitete sich Delphi aus wie ein Mosaik aus Gold, Stein und Rauch. Die Sonne lag über den terrassenförmig angelegten Häusern, über den Olivenhainen, den Heiligtümern, über dem Gymnasion, wo junge Männer einst unter der Sonne trainierten, heute jedoch standen dort Schwertkämpfer in Reih und Glied. Am Amphitheater marschierten Reihen von Hopliten vorbei. Ihre bronzenen Panzer glänzten im Licht, Schilde hallten im Gleichklang, als sie sich sammelten. Priester segneten sie mit Öl und Wasser aus der Kastalia-Quelle, während Herolde Befehle ausriefen. Ich konnte den Geruch von Schmiede und Schweiß riechen, das Prasseln von Feuer aus den Werkstätten hören. Überall ertönten Trommeln. Delphi bereitete sich auf etwas vor — doch niemand wusste genau, worauf.

Ich spürte nur eine Unruhe, ein Summen in der Luft, das sich in mir widerspiegelte. Etwas würde geschehen. Etwas, das ich noch nicht begreifen konnte.

Über mir kreiste Aetos. Sein goldbraunes Gefieder fing das Licht der Sonne ein, und jedes Mal, wenn er seine Schwingen weit ausbreitete, sah ich ihn wie ein Zeichen der Götter gegen den blauen Himmel. Er stieß einen Schrei aus, scharf und durchdringend, als wollte er mich warnen. Etwas in mir spannte sich an. Ich spürte, dass sein Flug unruhiger war als sonst.

Doch an diesem Tag drängte mich etwas hinaus, fort vom Tempel und dem Lärm der Vorbereitungen. Ich musste sie sehen. Thaleia. Sie war meine Kindheitsfreundin, Tochter eines Töpfers, und lebte mit ihrem Mann und zwei kleinen Söhnen am unteren Rand der Stadt. Wir hatten uns seit Jahren kaum gesprochen, mein Weg als Orakel hatte mich in die Einsamkeit geführt, doch ich konnte nicht tatenlos zusehen, wie Unheil über Delphi kam.

Vier der Tempelwachen begleiteten mich, als ich den Pfad hinabstieg. Ihre Rüstungen trugen das goldene Zeichen des Apollon, die Helme glänzten im Sonnenlicht, und sie wirkten mehr wie Götter als Menschen. Ihre Schritte hallten hinter mir, gleichmäßig und schwer. Hoch über uns zog Aetos seine Kreise, wachsam, lautlos, wie ein Wächter aus der Luft.

Delphi selbst war wunderschön, wie eine Schöpfung zwischen Himmel und Erde. Die Gassen wanden sich um alte Statuen, über denen Efeu rankte, und die Luft roch nach Weihrauch und Öl, nach Oliven und heißem Staub. Überall standen Schreine, bemalt mit Szenen aus alten Mythen. Von den oberen Terrassen aus konnte man das ganze Tal des Pleistos überblicken, das in der Sonne glitzerte wie flüssiges Gold.

Doch unter all dieser Schönheit lag Unruhe. Menschen hasteten durch die Straßen, trugen Körbe, Vorräte, Waffen. Mütter riefen ihre Kinder ins Haus. Die Priester murmelten Gebete.

Als ich Thaleias Haus erreichte, öffnete sie selbst die Tür — und für einen Moment war es, als wäre ich wieder das Mädchen von einst. Ihr Haar war dunkler geworden, ihre Hände vom Ton gezeichnet, aber in ihren Augen lag dieselbe Wärme.

„Seraphis“, flüsterte sie, und ich fiel ihr in die Arme.

Wir setzten uns auf die steinerne Bank vor ihrem Haus, während meine Wachen etwas abseits standen. Ich erzählte ihr, was ich gehört und gespürt hatte — dass Apollons Worte uns gewarnt hatten, dass ein Unheil bevorstehen könnte, geschaffen von Menschenhand, und dass sie vielleicht Delphi verlassen sollte, solange sie noch konnte.

Doch Thaleia lächelte nur traurig.

„Dies ist meine Heimat“, sagte sie. „Wo soll ich hin? Meine Kinder sind hier, mein Leben. Wenn Gefahr kommt, dann stelle ich mich ihr hier.“

„Du verstehst nicht,“ entgegnete ich leise. „Ich sehe Bilder, Thaleia. Schatten, Rauch, Feuer. Aber ich weiß nicht, was sie bedeuten. Nur dass sie bald Wirklichkeit werden.“

Sie legte eine Hand auf meine. „Dann bete für uns, Orakel. Und wenn es dein Schicksal ist, uns zu führen — dann tu es.“

Ich konnte nichts erwidern. Ich wusste, dass Worte sie nicht überzeugen würden. Nur eine Kraft größer als meine eigene.

Als die Sonne sank und die Schatten länger wurden, kehrte ich in den Tempel zurück. Die Wachen schwiegen. Aetos flog über mir, bis die letzten Strahlen ihn in goldenes Licht tauchten. In dieser Nacht konnte ich nicht schlafen. Ich zündete eine einzelne Kerze an, kniete vor dem Altar und schloss die Augen.

Da kam sie — die Vision.

Zuerst nur ein Flimmern, dann Staub. Die Erde bebte. Ich sah Rauch, Menschen in Panik, den Glanz von Metall im Licht, Schatten, die sich bewegten wie Wellen. Und zwischen all dem — ein Licht, grell und fremd, das alles zu verschlingen drohte.. Ich riss die Augen auf, atmete keuchend. Der Boden unter mir vibrierte schwach, oder ich bildete es mir nur ein. Draußen riefen Nachtvögel, und irgendwo stieß Aetos einen Laut aus, der durch die Dunkelheit schnitt wie ein Warnruf.

Etwas kam. Ich wusste nur nicht, was. Doch Delphi würde sich bald der Wahrheit stellen müssen.

Kapitel 5 – Wenn die Erde spricht

Delphi war still. Unnatürlich still. Selbst der Wind schien den Atem anzuhalten, als läge über der Stadt ein unsichtbarer Schleier aus Furcht. Nur das ferne Rufen der Wachen und das dumpfe Schlagen von Torflügeln hallte zwischen den weißen Säulen wider, als die letzten Türen verriegelt und Balken vor die Eingänge gelegt wurden. Von den Terrassen des Tempels aus sah ich, wie sich die Sonne hinter den Bergen senkte. Ihr Licht fiel auf die bronzenen Helme der Männer, die am unteren Rand der Stadt Wache hielten. Schilde, Speere, Schwerter – sie glänzten im flackernden Rot des Abends, wie Feuer, das den Untergang selbst heraufbeschwor. Niemand sprach laut. Jeder Schritt, jedes Klirren klang wie ein Gebet – oder wie das letzte Geräusch vor dem Sturm.

Ich stand zwischen den Säulen des Apollon-Tempels, und meine Finger umklammerten den kalten Stein. Drinnen, im Inneren des Heiligtums, drängten sich Frauen, Kinder und Alte. Manche beteten, andere weinten leise. Der Tempel, einst ein Ort des Glaubens, war nun Zuflucht und Gefängnis zugleich. Auch Thaleia war dort, mit ihren beiden kleinen Söhnen. Sie saß auf einer der Steinbänke, hielt die Kinder eng an sich, während sie mich mit verweinten Augen ansah. Ich versuchte zu lächeln, doch es gelang mir nicht. Zu deutlich lag die Angst in der Luft, sie war greifbar, schwer, wie Rauch. Überall brannten Öllampen. Ihr Licht warf zitternde Schatten auf die Wände, über die goldenen Inschriften, die von Apollons Ruhm erzählten.

Ich fragte mich, ob die Götter uns jetzt noch sahen. Oder ob sie sich längst abgewandt hatten.

Aetos saß auf dem steinernen Sims über dem Altar, das Gefieder gesträubt, die Augen wachsam. Er spürte es ebenfalls. Diese Stille vor dem Sturm. Ich trat näher zu ihm, legte die Hand auf seinen Flügel.

„Flieg, Aetos,“ flüsterte ich. „Sieh, was draußen geschieht.“

Er stieß einen Schrei aus, durchdringend, stolz, und erhob sich in die Luft. Sein Schatten glitt über die Gesichter der Menschen, bevor er durch die Tempelöffnung verschwand und in die Dunkelheit stieg. Draußen war er nur noch ein goldener Punkt am Himmel, bis selbst der verschwand.

Dann kam die Vision.

Plötzlich, ohne Warnung.

Mir wurde schwindelig, der Boden schwankte unter meinen Füßen, und das Licht der Lampen verschwamm zu goldenen Ringen. Ich sank auf die Knie. Der Rauch der Opfergaben füllte meine Lungen, und durch ihn hindurch sah ich.. Bilder.

Flammen.

Überall Flammen..

Delphi, mein geliebtes Delphi, in Rauch gehüllt. Ich sah brennende Dächer, Männer, die kämpften, Blut auf den weißen Steinen. Ich hörte Schreie, das Krachen einstürzender Mauern, und das metallische Singen von Klingen. Dann – ein Gesicht. Nur für den Bruchteil eines Atemzugs. Ein Mann in Rüstung, sein Blick kalt, unbeirrbar. Und hinter ihm – eine Armee. Schatten, die sich bewegten wie eine Flut.

Ich riss die Augen auf, atmete keuchend. „Sie kommen …“ flüsterte ich. „Sie kommen wirklich …“

Die Frauen blickten zu mir auf, einige begannen zu weinen. Thaleia erhob sich, drückte ihre Kinder an sich, und ich sah die Frage in ihren Augen, die ich nicht beantworten konnte: Wann?

Draußen begann der Wind zu toben. Er fuhr durch die Olivenhaine, ließ die Feuer in den Lampen flackern. Dann — ein Laut. Tief. Grollend.

Die Erde bebte.

Zuerst schwach, dann stärker. Staub rieselte von den Mauern des Tempels, Kinder schrien, Gefäße zerbrachen. Ich klammerte mich an eine Säule, mein Herz raste. Das Dröhnen kam wieder, diesmal wie ein ferner Donner. Doch es war kein Gewitter. Es war gleichmäßig. Schwer und rhythmisch.

Schritte.

Tausende.

Aetos’ Schrei hallte aus der Ferne zurück, scharf, warnend, und ich wusste – das war kein Traum mehr. Keine Vision.

Sie waren da.

Und bevor die erste Trommel des Krieges erklang, fiel das letzte Licht des Tages über Delphi, wie ein stilles Lebewohl.

Kapitel 6 – Fackeln des Todes

Die Nacht über Delphi war schwarz wie Pech. Kein Stern, kein Mondlicht drang durch die schweren Wolken, nur der Geruch von Rauch lag in der Luft. Und das Beben. Dieses unaufhörliche, rhythmische Grollen, das aus der Ferne kam und näher und näher rückte, wie ein Herzschlag, der zu laut, zu gewaltig für diese Welt war.

Ich stand oben auf der Terasse der Tempelhalle, den Blick auf die geschlossenen Türen gerichtet. Unter mir drängten sich die Frauen, Kinder, Alte – so viele Gesichter, von Angst gezeichnet, in das flackernde Licht der Öllampen getaucht. Der Boden vibrierte unter meinen Füßen, und jedes Zittern trieb mir das Blut kälter in die Adern.

Dann… Stille.

Plötzlich, als hätte die Erde selbst den Atem angehalten. Die Stille war schlimmer als das Grollen zuvor. Ein einziger Herzschlag, und dann sah ich es. Von der Terrasse des Tempels aus leuchteten in der Ferne tausende von Fackeln. Wie Feuersterne, die sich langsam bewegten. Eine Linie aus Licht, die sich über die Hügel hinab in Richtung Delphi wälzte. Das Flackern spiegelte sich in den bronzenen Schilden der Wachen auf der Mauer, in den Augen derer, die noch zu beten versuchten.

Dann – Ein dumpfer Schlag, gefolgt vom Klirren.

Sie waren da.

Ich sah sie – eine Armee, so zahlreich, dass der Boden unter ihnen bebte. Männer in schweren Rüstungen, Schilde aus Eisen, Speere, die den Himmel durchbohrten. Und vor ihnen ein Mann, der sich von allen abhob. Sein Gang war ruhig, fast bedächtig. Eine schwarze Rüstung schmiegte sich an seinen Körper, der Helm trug kein Zeichen der Götter, nur glattes Metall – und Augen, die darunter hervorleuchteten wie glühende Kohlen. Kalt. Stechend. Ohne Mitgefühl.

Er hob die Hand. Nur eine Bewegung.

Doch sie genügte.

Das Horn erklang. Tief und dröhnend, wie der Ruf eines Monsters. Sein Befehl war ein Donner, der über die Täler rollte.. und die Hölle öffnete sich.

Ein Krachen, als die Tore Delphis erzitterten. Ein zweites – lauter.

Dann barsten sie. Holz splitterte, Eisen brach, und in einer Flut aus Rauch und Feuer brach die Armee in die Stadt. Schreie. Waffenklirren. Das dumpfe Aufschlagen von Körpern auf Stein. Ich sah Männer kämpfen und fallen. Blut spritzte auf den weißen Marmor, rann in die Stufen hinab. Die Hopliten von Delphi stellten sich den Eindringlingen entgegen, Schilde gegen Schwerter, Speere gegen Klingen. Das Licht der Fackeln tanzte auf Schweiß und Blut, auf Gesichtern, die vor Anstrengung verzerrt waren.

„Für Delphi!“ brüllte einer – doch seine Stimme ging unter, als ein Schwert ihn traf. Ich hörte die Rufe, die Befehle, das metallene Krachen, das Kreischen der Verwundeten.

Überall Tod.

Überall Feuer.

Ich lief nach unten und sah, wie Thaleia ihre Kinder fest hielt, weinend, flüsternd, dass die Götter uns beschützen mögen. Ich konnte nichts tun. Ich war Apollons Stimme, doch in dieser Nacht schwiegen die Götter.

Draußen brannten Häuser, die Flammen flackerten an den Mauern, der Himmel über Delphi war orange, als stünde selbst der Olymp in Brand. Ich sah, wie die Krieger der Stadt zurückwichen, Schritt für Schritt, während die Angreifer wie eine Welle vordrangen, unaufhaltsam und erbarmungslos.

„Sie kommen näher“, hauchte jemand hinter mir. Ich wusste, es war wahr.

Das Krachen der Kämpfe hallte nun von den Straßen direkt unterhalb des Tempels. Die Fackeln kamen näher. Schreie, und das Echo von Eisen auf Stein.

Aetos’ Schatten zog kurz über das Dach, sein Ruf durchschnitt die Nacht – wild, warnend, verzweifelt. Ich presste die Hände an meine Brust und betete stumm. Doch in mir brannte die Gewissheit: Das hier war erst der Anfang.

Dann – ein Donnerschlag, als unten am Tempel die ersten Pfeile einschlugen. Die Erde zitterte, als ein Rammbock gegen die untere Pforte prallte. Frauen schrien, Kinder weinten, die Wachen stellten sich mit gezogenen Schwertern auf. Ich hob den Blick – und sah, wie das goldene Tor des Heiligtums erzitterte.

Sie waren da.

Nur noch Schritte entfernt.

Und mit einem letzten, ohrenbetäubenden Schlag brach das Tor auf – und das Licht der Fackeln überflutete die Dunkelheit.

Kapitel 7 – Flüstern aus der Dunkelheit

Die Schreie hallen mir noch immer in den Ohren, als wären sie Teil der Luft geworden. Ich weiß nicht, wie lange wir uns noch in der Tempelhalle gehalten hatten, Minuten, vielleicht nur Atemzüge. Doch als das Tor zersplitterte, als das Licht der Fackeln in die heiligen Hallen drang, war das, was heilig war, in diesem Augenblick gestorben. Die Männer stürmten herein wie Schatten, schwer gepanzert und die Gesichter unter Helmen verborgen. Ihre Schwerter blitzten, als sie auf die Wachen niederstürzten. Das Geräusch, wenn Klingen auf Fleisch trafen, war schlimmer als jedes Donnern.

Ich stand wie gelähmt, unfähig, den Blick abzuwenden. Blut auf dem weißen Marmor. Schreie. Apollons Statuen blickten stumm herab, als hätten selbst die Götter die Augen geschlossen.

Frauen rannten, Kinder schrien, die Wachen fielen einer nach dem anderen. Ich presste mir die Hände auf die Ohren, doch es half nichts. Ich hörte alles. Ich hörte das Sterben. Dann sah ich Thaleia — inmitten des Chaos, ihre Arme um die beiden Söhne geschlungen, die Gesichter der Kinder blass, die Augen voller Angst.

„Thaleia!“ schrie ich, und versuchte mich durch die Menge zu drängen.

Ich wollte zu ihr, zu den Jungen, doch einer der Soldaten stellte sich mir in den Weg. Ein Riese in dunkler Rüstung, sein Atem schwer hinter dem Helm. In der Hand hielt er ein Schwert, dessen Klinge noch tropfte. Sein Blick traf meinen, kalt und leer.

Ich wich zurück, suchte einen anderen Weg zu ihr.. doch dann geschah es.

Ein anderer Soldat stürmte zu Thaleia. Alles um mich herum wurde still. Die Geräusche verblassten, als hätte jemand die Welt gedämpft. Nur das langsame, dumpfe Schlagen meines Herzens blieb. Ich sah, wie Thaleia versuchte, ihre Kinder hinter sich zu ziehen, ihre Lippen formten meinen Namen — und dann glitt ein Schwert durch die Luft.

Ein kurzer, heller Schimmer.

Ein Laut, halb Schrei, halb Atem.

Und dann fiel sie.

Ich sah, wie das Leben aus ihren Augen wich. Langsam, unaufhaltsam, wie Sand, der durch die Finger rinnt. Mein Körper weigerte sich zu begreifen. Ich stand da, atmete nicht, bewegte mich nicht. Alles in mir war leer.

„Thaleia…“ flüsterte ich, kaum hörbar.

Dann kam der Schmerz — nicht wie ein Schnitt, sondern wie Feuer in meinen Adern. Ich stürzte vor, wehrte den Soldaten ab, der mir zu nahe kam, und griff nach den Kindern. Der Ältere, Nerion, warf sich in meine Arme, der Jüngere, Kalos, klammerte sich an meinen Gürtel.

„Komm!“, keuchte ich, und zog sie mit mir fort. Wir rannten zwischen Leichen und Flammen hindurch, über zerbrochene Säulen, durch Blutlachen, die sich über den Boden zogen. Aetos schrie irgendwo über uns, sein Ruf war schrill, panisch — doch ich wagte nicht, aufzusehen. Der Tempel bebte. Die Welt schien zu brennen. Ich riss eine Seitenpforte auf und der Luftzug brachte Rauch und Asche mit sich.

Draußen stand Delphi in Flammen.

Die Mauern stürzten ein, die Straßen lagen voll von Gefallenen. Die letzten Verteidiger der Stadt kämpften tapfer, doch sie waren zu wenige. Ich sah, wie ein Hoplit auf den Knien lag, bevor ihn ein Speer traf. Es gab kein Entrinnen mehr, nur den Tod, der alles verschlang.

„Nicht hinschauen“, flüsterte ich den Jungen zu, während ich sie eng an mich drückte. Kalos weinte leise, Nerion atmete stoßweise, seine Finger verkrampften sich in meinem Gewand. Ich spürte, wie mir die Tränen über das Gesicht liefen, doch ich konnte sie nicht abwischen. Ich musste sie retten. Ich durfte nicht fallen. Nicht jetzt.

Ich sah eine eingestürzte Mauer am Rand des Tempelhofes. Zwischen den Steinen – ein schmaler Spalt, kaum breit genug für uns.

„Da hinein!“, keuchte ich.

Nerion kroch zuerst, ich schob Kalos hinterher, dann drängte ich mich selbst durch. Hinter uns hallten Schritte, lauter werdend. Eine Stimme schrie einen Befehl. Ich spürte den kalten Stein an meiner Wange, als ich mich hindurchpresste. Mein Gewand riss, meine Haut brannte. Doch dann — Licht. Wir fielen hinaus, zwischen zerbrochene Säulen und brennenden Häusern. Ich hörte Pfeile über uns hinwegzischen, den Klang von Rufen, das Klirren der Klingen. Aber wir waren am Leben.

Ich sah zurück — nur für einen Augenblick. Der Tempel brannte.

Und irgendwo dort drinnen lag Thaleia. Ich konnte nicht einmal beten. Nur atmen. Und flüstern: „Die Götter haben uns verlassen..“

Kapitel 8 – Der Mann aus Feuer und Stahl

Rauch brannte in meiner Lunge, als ich durch die Gassen von Delphi rannte, einst hell und von Gesängen erfüllt, jetzt nur noch ein Labyrinth aus Flammen, Blut und Tod. Ich hielt Kalos fest an der Hand, während Nerion dicht hinter mir lief. Sein Atem ging schnell, stoßweise, die Füße schlugen auf den Stein, auf dem noch Stunden zuvor Opfergaben gelegen hatten. Die Häuser brannten wie Fackeln, Balken stürzten, Funken tanzten durch die Nacht. Schreie hallten durch die engen Straßen, das metallische Klirren von Schwertern und das Grollen der Flammen vermischten sich zu einem einzigen, grausamen Lied.

Überall waren sie — Männer in dunklen Rüstungen, mit Gesichtern so hart wie Eisen. Ich hörte ihre Schritte hinter uns, das Scheppern ihrer Waffen. Sie hatten uns gesehen.

„Schneller!“, keuchte ich, zog die Kinder mit mir in eine schmale Seitengasse, wo der Rauch dichter war, die Luft heiß und schwer. Mein Herz raste. Ich wusste nicht, wohin ich lief, nur, dass wir weiter mussten.

Ein Schrei – zu nah.

Dann das dumpfe Aufschlagen von Schritten. Sie waren hinter uns. Ich stieß die Jungen um eine Ecke, in den Schatten eines zerborstenen Hauses. Doch bevor ich den Atem wiederfand, hörte ich das metallische Klirren von Schwertern. Drei Männer tauchten vor uns auf, ihre Augen unter den Helmen wie schwarze Löcher.

Wir waren gefangen. Es gab keinen Weg. Hinter uns brannte das Feuer, vor uns die Männer.

Der erste trat vor, das Schwert in der Hand. Ich sah das Blut an seiner Klinge glitzern, nicht unseres, noch nicht. Ich presste die Jungen hinter mich, spürte ihr Zittern.

„Bitte…“, hauchte ich, doch sie lachten nur.

Dann ging alles zu schnell.

Der vorderste Soldat hob die Klinge, bereit, zuzuschlagen – im selben Moment fuhr ein Schatten durch die Luft. Ein gleißendes Zischen und das dumpfe Splittern von Knochen.

Der Mann taumelte zurück – ein Dolch steckte in seiner Kehle.

Ich erstarrte.

Aus dem Rauch hinter ihm trat eine Gestalt. Groß. Breitschultrig. Seine Rüstung war dunkel, vom Kampf gezeichnet, seine Bewegungen fließend, kontrolliert, tödlich. Ein zweiter Soldat stürmte auf ihn zu, doch der Fremde wich mit einer raschen Drehung aus und rammte ihm das Knie in den Bauch. Das Schwert fuhr in einem weiten Bogen durch die Luft – dann Stille. Nur das Blut, das auf den Boden tropfte.

Der dritte Angreifer griff an, wild, verzweifelt. Ein Schlag traf den Fremden an der Schulter, er stöhnte, taumelte einen Schritt zurück – aber bevor der Feind erneut ausholen konnte, packte der Mann ihn mit bloßen Händen und schleuderte ihn gegen die Mauer. Der Helm des Soldaten zersplitterte am Stein.

Rauch, Feuer, Blut – und inmitten all dessen stand er. Atem schwer, Brust gehoben, das Schwert noch tropfend. Er wandte sich zu mir. Seine Augen – kalt, grau wie geschliffener Stahl. Und in seiner rechten Hand, die noch immer die Waffe hielt, glomm ein schwaches, flackerndes Licht – als brenne dort für einen Moment ein Feuer, das nicht von dieser Welt war. Ich spürte, wie mir der Atem stockte. Mein Herz pochte so laut, dass ich es kaum ertrug.

Diese Augen… Diese Hand.

Die Vision.

„Ein Mann mit Augen wie Stahl, dessen Hand Feuer trägt.“ Die Worte hallten in mir wider.

Er sah mich an, ohne ein Wort zu sagen. Kein Gott hatte mich diesmal gerettet. Kein Gebet, kein Wunder. Nur er. Ich hielt die Kinder enger, unfähig zu sprechen. Er senkte das Schwert, der Rauch um uns wirbelte wie geisterhafter Nebel. Keine Gnade. Aber auch kein Zorn. Nur die ruhige, unerschütterliche Gewissheit eines Mannes, der zu kämpfen gelernt hatte, um zu überleben.

Der Mann aus meiner Vision.

Der Mann mit den Augen aus Stahl, dessen Hand Feuer trug.

Kapitel 9 – Unter fremden Sternen

Rauch hing noch in der Luft, schwer und süß zugleich, wie das Nachbeben eines Alptraums, der nicht enden wollte. Ich hatte keine Ahnung, wie lange wir gerannt waren — nur, dass meine Beine zitterten und jeder Atemzug brannte. Nerion lehnte an einem Mauerrest, das Gesicht bleich, Kalos schlief an meiner Schulter, erschöpft vom Weinen.

Und er stand da.

Lykon. Der Mann aus meiner Vision.

Er hatte uns hierher geführt, zu diesem verlassenen Hof am Rande der Stadt. Sein Mantel war von Blut getränkt, nicht alles davon sein eigenes. Das Licht des Mondes glitt über seine Waffe, eine schwere Klinge, in der noch der rote Schimmer der Nacht lag. Er sah nicht aus wie ein Retter. Eher wie der Tod, der kurz innegehalten hatte. Ich wusste, ich musste sprechen. Ich musste wissen, wer er war.

„Warum?“ Meine Stimme zitterte. „Warum hast du uns gerettet?“

Er sah mich nicht sofort an. Stattdessen kniete er nieder, um seine Klinge im Boden zu reinigen, langsam, fast bedächtig. Erst dann hob er den Blick — stahlgrau, unlesbar, wie das Meer vor einem Sturm.

„Weil es mir aufgetragen wurde.“ Seine Stimme war tief und rau, Kein Hauch von Mitleid. Kein Trost. Nur Wahrheit.

„Aufgetragen? Von wem?“

Er richtete sich auf. Das Sonnenlicht fiel auf die Narbe an seinem Unterarm, eine lange, silbrig-weiße Spur, als hätte Feuer sie gezeichnet. „Von jemandem, der mehr über dich weiß, als du selbst ahnst.“

Ich spürte, wie mir das Blut in den Adern gefror. „Was meinst du damit?“

„Du trägst etwas bei dir“, sagte er, sein Blick glitt kurz zu meinem Hals, wo unter dem Stoff der Lapislazuli-Talisman verborgen lag. „Etwas, das nicht von dieser Welt ist. Es... ruft. Manche hören es. Manche nicht.“

Ich hob instinktiv die Hand zu dem Stein. Er war warm — fast heiß. Als hätte er meine Furcht gespürt.

„Wie kannst du das wissen?“ flüsterte ich.

„Weil ich denselben Klang höre.“ Er sagte es ruhig, doch etwas in seinen Augen verriet, dass es ihn quälte. Ein Summen. Der Talisman, die Resonanz, von der ich selbst kaum etwas verstand.. und doch spürte.

„Du bist kein Soldat“, stellte ich fest.

„Nein.“ Ein einziges Wort, so kalt wie Eisen.

„Was bist du dann?“

„Ein Misthios. Ein Söldner. Ich nehme Aufträge an, keine Gelübde.“ Dann, nach einer kurzen Pause: „Mein Auftrag ist, dich unversehrt zu einem anderen Orakel zu bringen. Er wartet auf dich.“

Ein anderes Orakel. Der Gedanke ließ mich erschaudern. „Wer ist er?“

Lykon drehte sich halb zu mir. „Ein Mann, der zu viel gesehen hat. Zu viel gehört. Und dem selbst die Götter fernbleiben.“

„Wie heißt er?“

„Euphronios.“ Das Wort verließ seine Lippen wie ein Schatten.

Ich hatte den Namen schon gehört, geflüstert, nie ausgesprochen. Ein Orakel, das sich von den Tempeln abgewandt hatte, weil er Dinge sah, die kein Mensch sehen durfte. Manche sagten, seine Augen hätten die Farbe von Asche, seit er den Blick der Isu gespürt hatte. Andere, dass er mit Toten sprach.

„Und du willst mich zu ihm bringen?“

„Das war der Auftrag.“ Er trat an mir vorbei, prüfte die Straße, als lausche er auf etwas. „Wenn du lebst, wird bezahlt.“

Ich wollte wütend sein, ihn anschreien, doch ich sah die Jungen. Nerion, der sich tapfer hielt, obwohl seine Hände zitterten. Kalos, der an meiner Seite schlief, den Kopf in meinen Schoß gebettet. Sie waren alles, was blieb. Mein Anker in dieser zerbrochenen Welt.

Ich atmete tief ein. „Dann gehen wir..“

Lykon nickte kaum merklich. Er war schon auf dem Weg, noch bevor ich meine Tränen getrocknet hatte. Der Wind trug den Geruch von Asche und Eisen mit sich. Delphi lag hinter uns, tot, verbrannt, verloren. Ich sah ein letztes Mal zurück. Dann folgten wir ihm.

Er, der uns gerettet hatte. Dem Mann mit den Augen aus Stahl. Dem Mann, den meine Vision angekündigt hatte. Und irgendwo tief in mir flüsterte etwas: Nicht die Götter führen dich, Seraphis — So begann der Weg.

Lang, mühsam, unter fremden Sternen..

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Autor

oOMissyOos Profilbild oOMissyOo

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Kapitel: 9
Sätze: 495
Wörter: 6.375
Zeichen: 36.601

Kurzbeschreibung

Als die dunkle Armee Delphis Mauern niederbrennt, bleibt Seraphis, das Orakel Apollons, zwischen Asche und Götterschweigen zurück. Inmitten des Chaos begegnet sie Lykon, einem Söldner mit Augen wie Stahl und einer Hand, die Feuer trägt. Zwischen Visionen, Blut und Prophezeiungen beginnt eine Reise durch das zerstörte Griechenland.

Kategorisierung

Diese Story wird neben Abenteuer auch in den Genres Fantasy, Action und Historik gelistet.