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Es war das Ende der ersten Pandemie, so um den 20. Mai. In den vergangenen Wochen habe ich viele Briefe erhalten. In einem Autorenforum, ähnlich diesem, habe ich ein Briefkasten. Auch für psychisch robuste Menschen war bereits diese Zeit eine Herausforderung. Für jene, die bereits zuvor instabil waren, gestaltete es sich noch schwieriger. Menschen sind unterschiedlich, und so variierte auch der Umgang mit der neuen Situation. Die drei Wochen der Ausgangsbeschränkungen empfand ich persönlich als durchaus angenehm.
Niemand besuchte mich, und ich musste nirgendwohin. Ich nutzte die Zeit, um meinen E-Mail-Postkasten zu sortieren. Dabei fand ich die Geschichte einer Wienerin – fett markiert, von mir noch ungeöffnet und ungelesen. Als ich sie las, war ich so ergriffen, dass ich, obwohl ich eine sehr stabile Psyche habe, in den Garten gehen musste, mich in die Sonne setzen und erst einmal nachdenken.
Die Nachricht war 27 Tage alt.
Ich hatte einen Namen und eine Adresse. Ich sagte zu meiner Liebsten, dass ich schnell wegmüsse, es sei wichtig. Wir waren bereits 15 Jahre zusammen, und sie kannte mich inzwischen gut genug, um nicht viel zu fragen.
Um 11 Uhr stand ich vor einem heruntergekommenen, wirklich hässlichen Gemeindebau. Erbaut 1924, und es sah so aus, als wären noch die Originalfenster vorhanden. Dass so etwas in Wien möglich ist? Die grauen, mit Graffiti beschmierten Mauern konnten einem labilen Menschen wirklich aufs Gemüt schlagen. Nach dreimaligem Läuten und durch die Sprechanlage erklärte ich ihr, wer ich bin und warum ich da bin:
"Ja, gut, aber warten Sie einige Minuten, ich bin auf Besuch nicht vorbereitet. Warten Sie bitte."
Es war überraschend, obwohl ich nichts erwartet hatte. Im Vorzimmer stand ein Sessel, voll mit Kleidung, und überall lagen Schuhe. Ich ging weiter in den nächsten Raum, vermutlich das Wohnzimmer? Ursprünglich vom Bauträger so gedacht, aber jetzt nur ein Campingtisch und ein Klappsessel. Holzsteigen dienten als Bücherregal. Die Fenster waren mit weißen Vorhängen verhangen, kein Sonnenlicht drang herein. In der Mitte eine Glühbirne, in der Ecke ein Katzenkorb, umgeben von mehreren Futterschüsseln.
Küche; ein frei stehender Herd und eine Kredenz mit Glasfenster erinnern an vergangene Zeiten, während ein moderner Apple Laptop einen Kontrast dazu bildet. Es ist faszinierend, wie solche Unterschiede in einem Raum zusammenkommen können.
"Sie denken über meine Wohnung nach?"
>Ja schon, natürlich, gerade eingezogen, oder sind sie beim Übersiedeln?<
"Nein, beides falsch, wohne schon mehr als 10 Jahre hier, habe allen Möbeln verschenkt. Ich ertrage es nicht, sie erdrücken mich, werden sie nicht verstehen." Warum ich gekommen war, fragte sie und ich fragte es mich plötzlich auch. Konnte ich da noch helfen? Sie hatte Angst! Angst vor allem, zu viel, um es hier niederzuschreiben. Sie bat mich, ihre Angst ernst zu nehmen. Ich sagte:
>Sabine, es interessiert mich nicht. Woher, Warum, Wieso, du dieses Gefühl hast, worauf es sich begründet und zurückzuführen ist? Ich will von dir keine Vergangenheit hören, weil ich damit nichts anfangen kann. Es soll uns beide nur das heute und auch ein Morgen beschäftigen. Ich würde dir gerne einmal einen ganzen Tag, Ohne Angst schenken!<
"Wie soll das gehen, fragte sie mich weinend".
>Einfach bei mir sein, bei mir bleiben und dir wird nicht geschehen. Ich bin ein Mensch, der vor nichts und niemandem Angst hat, das Gefühl Angst kenne ich nicht. Das wird und muss genügen. Du bleibst diesen Tag in meinem Schatten!<
Trank einige Kaffees, dazu Manner Schnitten und sie erzählte mir doch dann einiges aus ihrer Jugend, aus einer Zeit wo noch alles in Ordnung war. Es gab Freundinnen, auch einen Freund, eine erste Liebe, ein Studium und? Es begann für sie schwer zu werden, beendete es und verabschiedete mich und zu ihr:
>Ich hole Dich Morgen um 8 Uhr ab und zieh dir was Schickes an, okay?<
Am nächsten Tag wollte sie mir nicht aufmachen, ich aber hartnäckig, klopfte an ihre Türe alle 2 Minuten.
>bin noch da, Sabine, ich gehe auch nicht weg<. Nach einer gefühlten Ewigkeit öffnete sie mir dann doch. Sie schaute aus wie gestern. Fette Haarsträhnen, hatte Mundgeruch, Körpergeruch, die Jogginghose wohl noch nie gewaschen. Ich blieb stur. Schickte sie ins Bad. Sucht für sie reine Bekleidung aus den Berg Wäsche aus einer Holzkiste und als sie aus dem Bad kam, konnte ich mir ein Pfeifen nicht verkneifen. Es entlockte ihr sogar ein Lächeln.
>Hübsch macht dich das!<
"Was machen wir jetzt?", fragte sie und hörte sehr viel Unsicherheit in ihrer Stimme.
>Wir gehen spazieren, komm.< Sie hängte sich bei mir ein, wir benutzten das Treppenhaus, Aufzüge wollte sie nicht.
Ich fuhr mit mir hinaus in den Wienerwald, zeigte ihr die Wiese, wo ich als Kind immer war, mit meiner Mutter und beiden Omas, wenn die Männer SCHWAMMERL suchen gingen. Absichtlich wählte ich auch den Weg durch den Steinbruch, gab da steile Hänge, Geröll am Weg, eine ganze Zeit sie hinter mir, sie meine Hand nicht ausließ, bis sie sagte:
"Nein Leo bitte nicht mehr weiter!" Und ich hörte an diesem Tag zum ersten Mal.
"ICH HABE ANGST." Ich drehte mich zu ihr, fragte sie, ob ich sie umarmen darf, sie nickte.
>Sabine, das ist gut, ja, es ist vollkommen richtig, davor kann und darf man auch Angst haben, das ist voll okay. Ich hatte sie als neunjährige nicht, bin dadurch da abgestürzt und mich dabei ziemlich verletzt.<
Wir gingen zurück, fuhren essen, ließ sie vor dem Restaurant aussteigen, sie soll schon hineingehen, ich suche mir einen Parkplatz. Als ich zu dem Lokal kam, stand sie davor. :
>is nichts frei?< Fragte ich
"Nein, ich will nicht alleine hineinzugehen".
Ich nickte, nahm sie bei der Hand und wir betraten gemeinsam das Lokal. Wo möchtest du am liebsten sitzen? Die Auswahl genauso wie ich es erwartet hatte. Letzter Tisch, im hinterster Winkel, sie den Platz, mit dem Rücken zum Lokal. Der Kellner, nachdem er die Getränke serviert hatte, fragte, ob wir auch zu Speisen wünschen. Ja später. Er noch zweimal fragte, ich ihm aufklärte, ich werde es ihm zeigen, oder schließt die Küche?
Fragte sie, worauf sie denn Gusto hätte. Ich wollte von ihr, dass sie bestellte, ich helfe ihr, wenn sie nicht weiterwüsste. Das war es eigentlich, sonst wurde nichts besonders besprochen, es ging nur darum, sie zu überzeugen, dass nichts passieren kann. Wenn sie bestellt, sie Cordon bleu falsch ausspricht, der Ober wird sie trotzdem verstehen. Es ist nicht in Ordnung, ein Wiener Schnitzel bestellen, wenn sie auf etwas anderes einen Gusto hat, nur weil sie glaubt, das falsch vielleicht auszusprechen.
So verlief der ganze Tag, ich fuhr in die Tiefgarage, davor hatte sie schreckliche Angst. Ich musste aber runter, gab keine Parkplätze rundherum. Sie durfte sich an meinem Arm festklammern und die Augen schließen. In dem EKZ zuerst zum Friseur, sie Jahre schon nicht mehr, ich setzte mich neben sie, hielt ihre Hand. Das Personal machte sich sicher über uns Gedanken. Man, sah mir meinen siebziger an, wie alt war sie? Wusste ich noch nicht, aber sicher noch keine dreißig? Und sie hielt meine Hand, drückte diese so fest, als sie fertig war und sich in den Spiegel schaute. Die Friseurin musste ziemlich viel wegschneiden, um eine Fasson hineinzubekommen, da sie sich selbst jahrelang die Haare geschnitten hatte. Dann zum C&A, und sie zahlte sich alles selber. Mit Einkaufsackerl bepackt, in einen Kaffee. Plätze nur in der Passage, im Eingangsbereich. Merkte sie fühlt sich nicht wohl, nahm meinen Sessel, setzte mich dicht neben sie und legte meinen Arm um sie.
>Ruhig, es ist in Ordnung, bin neben dir, es wird dir nichts geschehen, vertraue mir.<
Brachte sie um 18 Uhr nach Hause, verabschiedete mich bei der Wohnungstüre, drückte den Aufzug, als sie noch einmal herauskam, mich noch einmal fest umarmte. Der Aufzug öffnete sich, es war eine Sie und er in den Aufzug, ich winkte, sie können weiterfahren. So standen wir, das Licht ging aus, sie wollte zum Lichttaster, ich hielt sie zurück.
>Nein, warum? Der Tag war so schön, oder? Gib mir auch etwas zurück, gib mir ein kleines Erfolgserlebnis, bleib bei mir, auch wenn es jetzt finster ist, du weißt ja, es kann dir wirklich, wirklich nichts geschehen, glaube mir?<
Sie blieb bei mir, bis wieder die Aufzugstüre aufging, ich:
>KOMM!< Zog sie einen Schritt hinein. Sie folgte mir, zögernd, noch einen, die Aufzugstüre ging zu, da ich und auch sonst niemand gedrückt hatte, bewegte er sich nicht. Ich spürte ihr Herz an meiner Brust klopfen, ihr Mund ein einziger Strich, ich drückte die Türe wieder auf, schob sie hinaus.
>Genug für heute, du siehst, es passiert nichts, was dir Angst machen müsste. Morgen kann ich nicht, aber nächsten Montag, machen wir wieder so einen Tag?<
Sie nickte, schickte mir einen Kuss, die Aufzugstüre ging zu.
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