Wir alle kennen die Szene aus Monty Pythons "Das Leben des Brian" (1979), in welcher der Protagonist Brian, der von der Masse gegen seinen Willen als der Messias angesehen wird, von seinem Balkon aus zu seinen Anhängern spricht und diese auffordert, ihm nachzusprechen, dass sie alle Individuen seien. Die Menschen gehorchen ihm mit Ausnahme eines Mannes, der von sich behauptet, kein Individuum zu sein. Diese Aussage macht ihn ironischerweise jedoch zu dem einzigen tatsächlich anwesenden Individuum, da er mit seiner Äußerung als einziger aus der homogenen Masse hervorsticht.
Wenn etwas, in diesem Falle die Idee von der Individualität, bereits Einzug in die Pop-Kultur gefunden hat, so muss es sich hierbei bereits lange im Vorfeld um ein Phänomen gehandelt haben, welches die menschliche Gesellschaft stark prägt. Seit "Das Leben des Brian" sind viele weitere Jahre vergangen, doch das Phänomen ist mitnichten ebenfalls verschwunden. Ganz im Gegenteil, hat sich doch vor allem in der heutigen Zeit ein regelrechter "Individualitäts-Wahn" entwickelt. Sich von anderen abzugrenzen, sich selbst als etwas Besonderes zu betrachten (was wir insgeheim alle tun, wenngleich es die meisten wohl niemals zugeben würden), ist in Mode und entspricht dem aktuellen Zeitgeist. Bei einer genaueren Auseinandersetzung mit der dahinter stehenden Problematik wird deutlich, dass Individualität eng mit Narzissmus verwandt ist und eine nicht zu übersehende Überschneidung der beiden Aspekte vorliegt, was es im Folgenden zu erläutern gilt.
In der griechischen Mythologie haben der Flussgott Kephissos und die Leiriope einen wunderschönen Sohn namens Narziss. Dieser lehnt die Liebe anderer Menschen strikt ab und um dies auszugleichen, verliebt er sich in sein eigenes Spiegelbild. Aus dieser Legende entwickelte sich mit der Zeit der an besagtem Jüngling angelehnte Begriff des Narzissmus zur Beschreibung eines überheblichen und selbstverliebten Menschen, der seine eigene Person weitaus höher einschätzt als seine Mitmenschen und dementsprechend eine verzerrte Wahrnehmung von der Wirklichkeit aufweist.
Narzissmus ist insbesondere bei kleinen Kindern stark ausgeprägt. Dies ist jedoch ein natürlicher und wichtiger Schritt in der Entwicklung. Um ein gesundes Maß an Selbstvertrauen aufzubauen, müssen sie sich selbst eine Zeit lang als den Mittelpunkt des Universums betrachten, um sicherzustellen, dass ihre Bedürfnisse, insbesondere der überlebensnotwendige Drang nach Aufmerksamkeit, durch Bezugspersonen wie die Eltern, gestillt wird. Durch Niederlagen und Enttäuschungen, die jeden irgendwann ereilen, lernt der junge Mensch schließlich, dass er womöglich doch nicht ganz so großartig und unschlagbar ist, was die Eltern ihm (im Idealfall) vermittelt haben. Der Selbstwert pendelt sich im Optimalfall schlussendlich auf einem gesunden Niveau ein, in der Mitte von extremer Arroganz und Narzissmus und völligen Minderwertigkeitskomplexen. Was in der biologischen und psychologischen Theorie gut funktioniert, gestaltet sich in der Praxis als äußerst kompliziert. Die natürliche Ordnung, die über Jahrtausende hinweg eine gewisse Struktur in das menschliche Dasein gebracht hat, gerät mehr und mehr außer Kontrolle. Ausprägungen der extremen Art sind mittlerweile keine Seltenheit mehr. Narzissmus und Minderwertigkeitskomplexe liegen insbesondere bei der Millennial-und der Z-Generation (Erstgenannter Begriff dient zur Beschreibung der in den späten 1980er und 1990er Jahren geborenen Menschen, letztgenannter bezieht sich auf alle nach 2000 geborenen) sehr eng beieinander.
Ich bin nicht der Ansicht, dass die Menschen heutzutage narzisstischer sind als die Menschen früherer Epochen. Allerdings bieten sich vor allem Kindern und Jugendlichen, die in besonderem Maße Zugriff auf neueste Technologien und Medien haben, da sie mit ihnen aufwachsen, deutlich mehr Möglichkeiten, einen ungesunden Narzissmus über die Grenzen des Realistischen hinaus zu fördern. Dies resultiert in einer immer stärker werdenden Ausprägung des narzisstischen Anteils, der von Natur aus jedem Menschen zu eigen ist. Hierbei verhält es sich genauso wie bei dem Trainieren von Muskeln. Jeder Mensch verfügt über Armmuskeln, doch je stärker ich ihn trainiere, desto mehr prägt er sich aus.
Laut einer Social-Media-Statistik von 2018 nutzen knapp 89% aller 16-26 Jährigen Facebook, Instagram und Co. Zwischen 10 und 15 Jahren sind es ebenfalls erstaunliche 66%. Der demografische Wandel verschont jedoch auch die digitale Welt des Internets nicht, denn bezüglich der verschiedenen Altersklassen ergeben sich auffällige Unterschiede. Während Facebook mehr und mehr veraltet, da die Nutzer der über dreißigjährigen unverhältnismäßig hoch ist, erfreut sich vor allem die App Instagram großer Beliebtheit bei Angehörigen der jüngeren Generation. Der Anteil der 14-bis 26-Jährigen Nutzer dieser Plattform beträgt stolze 56%.
Die Zahlen sprechen eine eindeutige Sprache! Der Zusammenhang mit dem ursprünglichen Thema ist deutlich ersichtlich. Soziale Medien fördern den Narzissmus und da diese eben überwiegend von jungen Menschen genutzt werden, entsteht der Eindruck, wir haben es immer mehr und mehr mit Narzissten zu tun. Da die meisten sozialen Medien kostenlos sind, ist es aus ihrer Sicht vorteilhaft, wenn Nutzer möglichst viel Zeit auf der jeweiligen Seite verbringen, da die Unternehmen an dem dabei entstehenden Datenmüll verdienen. Aus diesem Grund ist beispielsweise der Algorithmus von Instagram darauf programmiert, dem Nutzer die Zeit auf Instagram möglichst schmackhaft zu machen. In uns wird eine regelrechte Sucht nach Likes von anderen Nutzern entfacht. Bei jedem Like, den wir erhalten, wird im Gehirn das Belohnungszentrum aktiviert, welches das Glückshormon Dopamin ausschüttet und uns euphorisiert. Wir geraten in einen Konflikt mit unseren Mitschülern, Freunden und Arbeitskollegen. Wessen Bild erhält mehr Likes, wer hat mehr Follower, etc. Wir wollen besser sein, als die anderen, daher geben wir uns besonders viel Mühe mit der Selbstinszenierung, veröffentlichen aufwände Selfies, beeindruckende Bilder von uns mit dem Sonnenaufgang im Hintergrund, wie wir unserem Lieblingssport nachgehen oder Bilder von dem, was wir gerade gegessen haben. Die Bestätigung durch Likes stärkt uns in unserem Selbstbild. Der Narzissmus wächst und wächst unaufhaltsam weiter. Andererseits kann ausbleibender Erfolg ins Gegenteil umschlagen. Soziale Medien ermöglichen uns den Vergleich mit anderen. Wer ist erfolgreicher, schöner und hat mehr Likes? Schneiden wir schlechter ab, als unsere Konkurrenten, lässt dies unseren Selbstwert in den Keller sinken. Da besonders Kinder und Jugendliche sehr leicht zu beeinflussen sind, leiden sie am meisten darunter. Somit lassen sich die extremen Schwankungen zwischen Narzissmus und Minderwertigkeitskomplexen erklären. Der Kapitalismus trägt nicht unwesentlich zum heutigen Narzissmus bei.
Tatsächlich sind es aber nicht nur soziale Medien, denen unsere Heranwachsenden zum Opfer fallen, denn Individualität und Narzissmus ist gesamtgesellschaftlich sehr weit verbreitet. Anders ließe sich der Hype um "Self-Care", persönlichem Glück und ähnlichen Lebensansichten, die das Individuum in die Mitte der Weltanschauung setzen, nicht erklären.
Im Gegensatz zu den Amerikanern beispielsweise, die das Streben nach Glück als "pursuit of happiness" gar als Grundrecht jedes Bürgers in ihrer Verfassung von 1787 verankert haben, taten sich die Deutschen lange Zeit schwer mit dem Glück. Das Streben nach demselben als höchstes Ziel im Leben zu bezeichnen, war spätestens nach Immanuel Kant (1724-1804) völlig verpönt und unangemessen. Der große Philosoph der Aufklärung stellt in seinen Theorien das moralische Handeln vor dem Glück in den Mittelpunkt. Disziplin und Pflichtbewusstsein waren ihm wichtig, was sich auch in einem seiner Zitate, welches aus der "Kritik der reinen Vernunft" stammt, widerspiegelt: "Tue das, wodurch du würdig wirst, glücklich zu sein". Womöglich wird uns Deutschen diese Prinzipienstrenge und Genauigkeit vor allem wegen Kant auch heute noch als typisch deutsche Tugend nachgesagt.
Mit der Verabschiedung des auf Kants Lehren beruhenden Grundgesetzes von 1949, scheint der Philosoph jedoch aus dem gesellschaftlichen Leben verschwunden zu sein. Der Individualismus, der das persönliche Glück des Einzelnen allem anderen vorzieht, ist unaufhaltsam auf dem Vormarsch. Heutzutage ist es im Gegensatz zu damals vielmehr verpönt, sein eigenes Leben einem strengen Moralkodex zu unterwerfen. Wer sein eigenes Glück einem vermeintlich höherem Wohl unterordnet, gilt als altbacken und konservativ.
Nicht umsonst sind Lebensratgeber in Bezug auf das Glücklichwerden so im Trend, genauso wie zahlreiche Angebote, das individuelle Wohlbefinden zu steigern, ganz klassisch angefangen beim entspannenden Schaumbad. Die kapitalistische Industrie hat selbstverständlich Blut geleckt und produziert am Fließband, um den Konsum weiter anzuregen und die großen Wünsche der Bevölkerung irgendwie zu befriedigen. Wir genießen immer mehr, wollen immer mehr erleben, die Welt bereisen und mal ganz nebenbei reich und berühmt werden, weil wir uns selbst schlichtweg überschätzen. Wir überschätzen unsere Fähigkeiten, unser Auftreten, vor allem aber unsere Bedeutung in der Welt. Doch ganz ehrlich: Die Welt dreht sich auch noch weiter, wenn wir nicht mehr da sind, auch wenn keiner von uns dies wirklich wahrhaben will, betrachten wir uns doch selbst als der hell leuchtende Stern am großen Firmament.
Die sich daraus ergebende Flut an Eindrücken und Informationen, die auf uns einprasseln, resultiert in einer größer werdenden Oberflächlichkeit unsererseits. Dies spiegelt sich gut erkennbar an der Partnersuche wider. Tinder und Co. fördern unsere Tendenz, den Wert eines Menschen allein auf sein äußeres Erscheinungsbild zu reduzieren. Natürlich lernt man sich später auch wirklich kennen und natürlich ist das "klassische" Flirten, also das Ansprechen von in Frage kommenden Personen auf der Straße oder in Bars, im Prinzip genauso oberflächlich. Dennoch: Unsere sich in einen regelrechten Wahn entwickelnde Sehnsucht nach Aufmerksamkeit, danach, aus der Masse hervorzustechen, hat tiefe Spuren im menschlichen Seelenleben hinterlassen. Der Narzissmus verweichlicht uns und macht uns gleichzeitig ignorant, da selbst sachliche und berechtigte Kritik als persönlicher, uns in unserem übermäßigen Stolz verletzender Angriff und somit als Gefahr gewertet und dementsprechend nicht weiter beachtet wird, was sehr gefährlich werden kann. Während der "richtige" Brian defensiv und abwehrend reagiert, weil er nicht für den Messias gehalten werden will, würde der Brian des Jahres 2019 wohl in den verliebten Blicken der Menge baden, von seinem Balkon aus die Arme ausbreiten wie die Christusfigur in Rio, das Haupt gen Himmel richten und rufen: "Ja, ich bin der Messias! Bewundert mich, liebt mich, denn ich bin der Mittelpunkt des Universums!"
Narzissmus kann bei einem Mangel an ersehnter Anerkennung die beleidigte, gekränkte und weinerliche Seite verlassen und in das Gegenteil ausschlagen, was sich in Wut und damit einhergehenden Aggressionen und im schlimmsten Fall Gewalttaten äußert.
Auch hierfür bietet uns die Pop-Kultur ein exzellentes Beispiel, nämlich die Figur des von Jack Nicholson verkörperten Jokers aus dem Film "Batman" von 1989. Als selbstverliebter Gangster gestartet, der sich gerne mit schönen Frauen "schmückt", verwandelt er sich nach einem Unfall mit der Beteiligung von Chemikalien in den mordlustigen Clown. Im Laufe des Films sucht der Joker immer wieder die Öffentlichkeit und somit auch die direkte Konfrontation mit seinem Widersacher, dem Titelheld Batman, um möglichst viel Aufsehen mit seinen schrägen Auftritten zu erregen. Oftmals stellt er sich selbst gar als friedliebend und großzügig dar, was stark mit seinen wahren Intentionen kontrastiert, um die Liebe und Anerkennung der Menschen zu gewinnen. In einer Szene lockt er beispielsweise tausende Passanten mit Geld an, was er ihnen verspricht, nur um sie auf dem Höhepunkt seiner Anerkennung und der ihm geltenden Aufmerksamkeit, mit einem giftigen Gas zu ermorden. Als dieser Versuch jedoch von Batman vereitelt wird, gerät der Joker in Rage, was seiner heftigen Reaktion zu entnehmen ist. Er erschießt vor Zorn gar einen seiner Gehilfen, nur um die Aufmerksamkeit wieder auf sich und von Batman weg zu lenken. In seiner grenzenlosen Überheblichkeit, nimmt er in seinem narzisstischen Wahn gar an, dem körperlich weit überlegenen Batman in einem direkten Kampf gewachsen sein, was schließlich in seinem eigenen Tod endet.
Wenngleich der Film mittlerweile schon dreißig Jahre alt ist, hat er von seiner Aktualität nichts eingebüßt. Ganz im Gegenteil, bestimmte Charakterzüge des Jokers treffen in besonderem Maße auf die Menschen des 21. Jahrhunderts zu. Frauen in gewisser Weise als Statussymbole betrachten, die eigenen Fähigkeiten und den eigenen Einfluss maßlos überschätzen, durch extravagante Äußerlichkeiten und abstruse Verhaltensweisen krankhaft auffallen zu wollen, etc. Alles nichts Neues für uns! Man muss kein psychopatischer Clown sein, um als Narzisst gelten zu können. Der Joker ist als Metapher zu betrachten, als bewusst übertreibende Satire des modernen Menschen. Und dennoch sind die Parallelen wahrhaftig erschreckend.
Die Selbstinszenierung, die Vermarktung des eigenen Körpers, der eigenen Persönlichkeit, mit dem Ziel, aufzufallen und somit maximalen Profit zu generieren, ist eine Strategie, der sich viele prominente Persönlichkeiten bedienen. Man kann keine Buchhandlung mehr betreten ohne Biographien von ranghohen Politikern im Regal liegen zu sehen. Kaum ein erfolgreicher Fußballer hat nicht mindestens einen Arm auffällig tätowiert, kaum eine berühmte Sängerin verzichtet bei Konzerten und öffentlichen Auftritten auf das obligatorische, "skandalöse" knappe Kleid. Die Taktik ist so durchschaubar und doch so clever, da sie einfach wirkungsvoll ist.
Gesellschaftlich ist dies zumeist als Entfaltung der individuellen Persönlichkeit toleriert, doch was ist tatsächlich nur Ausdruck und was mündet schon in Narzissmus?
Wie bereits erwähnt, sind die Grenzen fließend, weshalb äußerste Vorsicht geboten ist. Gehen wir wissenschaftlich vor und beginnen mit einer klassischen Begriffsdefinition. Der aus dem Lateinischen stammende Begriff lässt sich folgendermaßen erläutern: Er beginnt mit einer dem negierenden "in", geht über in den mit "teilen" zu übersetzenden Verbstamm "divid" über und endet mit den Adjektiv-Ausgängen "-uus" und "-alis". "Individuum" bedeutet folglich "Unteilbar". Hiermit sollen die Zusammenhänge der verschiedenen (und einzigartigen) Persönlichkeitsaspekte zum Ausdruck gebracht werden. Die sich hieraus ergebende Frage lautet jedoch, ob die Bezeichnung "unteilbar" überhaupt mit der Komplexität der menschlichen Psyche zu vereinbaren ist. Die Antwort ist ein klares nein, denn die Persönlichkeit eines Menschen ist keineswegs ein unteilbares Ganzes, sondern wie ein Mosaik aus unzähligen verschiedenen Teilstücken zusammengesetzt. Wir sind getrieben von Wünschen und Ansichten wie sie gegensätzlicher und vielfältiger nicht sein könnten. Der Mensch ist in sich unendlich oft geteilt, zerrissen, widersprüchlich, einfach nur kompliziert. Sicherlich ist die gezielte Anordnung von Stärken und Schwächen, Lebenserfahrungen, Wünschen und Vorlieben, etc. bei jedem von uns einzigartig, doch genügt dies nicht, uns als homogene Wesen zu betrachten. Im engsten Sinne des Wortes sind wir also, Brian, ich muss dir leider widersprechen, keine Individuen! Sehr wohl sind wir aber alle einzigartig, diese Tatsache ist nunmal offensichtlich und nicht zu bestreiten. Hieraus folgt jedoch ein verheerender Fehlschluss, denn heutzutage ist die Annahme weit verbreitet, dass mich meine Einzigartigkeit zu etwas Besonderem macht und ich es daher verdiene, dass mir die ganze Welt zu Füßen liegt. Der Narzissmus keimt und wächst fröhlich an dieser Stelle. Rein logisch betrachtet ist dieser Schluss jedoch vollkommen sinnlos, denn da wir alle einzigartig sind, bin ich mit meiner Einzigartigkeit genauso wie alle anderen und dementsprechend nichts Besonderes mehr. Zwei exakt gleiche Menschen wären dagegen vielmehr etwas Außergewöhnliches, da hierbei die von uns als Voraussetzung angenommene Einzigartigkeit offensichtlich fehlt. Was fänden Sie selbst erstaunlicher? Wenn ich Ihnen sagen würde, dass ich einen Bruder habe oder wenn ich sagen würde, dass ich einen Klon von mir habe?
Das große Problem, das der Wahn nach Individualität und die Auslebung desselben mit sich bringt, ist, dass wir dazu tendieren, mehr die Unterschiede im Vergleich mit unseren Mitmenschen wahrzunehmen, als die Gemeinsamkeiten, was dazu führt, dass wir uns alle immer mehr voneinander entfremden, was idealen Nährboden für Konflikte, Populismus und Hass darstellt. Bei aller Einzigartigkeit ist nämlich nicht zu vergessen, dass wir Menschen uns in Wahrheit viel mehr ähneln, als unterscheiden. Grundlegende Bedürfnisse und Emotionen sind schließlich bei uns allen gleich. Der Körper und die Psyche eines jeden Menschen ist gleich aufgebaut, rassische Lehren wie der Wahn nach "reinem Blut", wie es die Nationalsozialisten forciert haben, ist wissenschaftlich nicht tragbar. Wir alle folgen bestimmten Handlungsmustern, die durch Algorithmen und Impulse im Hirn ausgelöst werden. Wir essen, wenn wir Hunger und Drang nach Nahrung verspüren, wenn wir uns verlieben, schüttet ausnahmslos jedes menschliche Gehirn die gleichen Hormone und chemischen Prozesse aus, vollkommen egal, wen wir lieben.
Toleranz und Anerkennung sind zweifellos als großer Erfolg unserer pluralistischen Gesellschaft zu betrachten, doch das grenzenlos ausgelebte und ausgekostete Sein der Andersartigkeit und Einzigartigkeit, ist nicht zu unterschätzen angesichts großer Gefahren und Risiken. Der aus dieser Entwicklung resultierende Narzissmus darf unter keinen Umständen dazu führen, dass die pluralistische Demokratie sich selbst abschafft, da das Andere überwiegt und somit keine gemeinsamen Werte mehr beschlossen werden können, auf denen aufzubauen ist. Die Basis muss gegeben sein, ansonsten wird der Narzissmus unsere Welt zerstören.
Mein Tipp lautet daher, sich selbst nicht zu wichtig zu nehmen, denn die Sterne am dunklen Nachthimmel haben für unser vergebliches Bemühen danach, etwas zu erreichen, ohnehin nur ein müdes Lächeln übrig.
Keineswegs gedenke ich den Narzissmus völlig zu verteufeln, indem ich eine moralische Wertung vornehme. Davon möchte ich gerne absehen. In gewisser Weise ist er schließlich menschlich, da das Bedürfnis nach Anerkennung uns allen zu eigen ist. Dies verdeutlicht auch die Bedürfnispyramide nach Maslow, die das Streben des Menschen nach sozialer Anerkennung auf die höchste Stufe stellt, nachdem gewisse Voraussetzungen für die anstehende Selbstverwirklichung, wie beispielsweise die Sicherung des eigenen Überlebens, gewährleistet sind. Nichtsdestotrotz sind die negativen Konsequenzen des aus seinen gesunden und natürlichen Bahnen herausgebrochenen Narzissmus, vor allem in Bezug auf die zwischenmenschliche Interaktion verheerend. Besonders schwer wiegt der Verlust von Empathie und Mitgefühl. Die kapitalistische "Ellenbogen-Gesellschaft" ist letztendlich nichts anderes als das Produkt der Weltanschauung, man selbst sei der Mittelpunkt des Universums, alle anderen hätten dies einzusehen und deren Bedürfnisse seien getrost zu ignorieren. Wir stumpfen emotional immer mehr ab, wenn wir dem nicht aktiv und bewusst entgegenwirken. Da Einsicht bekanntermaßen der erste Schritt zur Besserung ist, erachte ich einen offeneren Umgang mit dem äußerst negativ konnotierten Begriff "Narzissmus" für notwendig. Gestehen wir es uns einfach ein und arbeiten im Anschluss an Besserung. Abwerten und ignorieren nützt nichts, es verstärkt das Problem nur. Ehrlichkeit und Toleranz diesbezüglich ist vonnöten. Ich mache den Anfang: Ich schreibe diesen Text, weil ich gesehen werden will. Ich bin ein Narzisst. Was ist mit Ihnen?