Ein leises Quietschen.
Das Taxi hielt am Straßenrand und eine junge Frau stieg aus. Kurz zog sie ihren Zopf zurecht, ehe sie sich noch einmal zum Fahrzeug umwand, um einen Blumenstrauß rauszuholen.
„Vielen Dank“, sagte sie dem Fahrer freundlich und schloss die Tür. Langsam fuhr das Taxi weiter seine Wege und die Frau stand nun alleine da. Mit dem Strauß Rosen in der Hand schaute sie sich um. Auf den kleinen Absätzen passierte sie das Tor und lief den Weg entlang.
Das Gras an den Seiten des Weges sah frisch aus. „Kein Wunder“, dachte sie sich im Vorbeigehen. Das Wetter war schön, die Sonne strahlte, der Himmel war blau, es war warm. Etwas weiter weg von ihr standen Gärtner und unterhielten sich.
Langsam lief sie den langen Weg ab. Sie wusste, dass er hier war. Hier auf diesem Weg. Nur welcher der vielen Steine seiner war, das wusste sie nicht mehr. Die junge Frau sah flüchtig über jeden Stein drüber, las den Namen darauf. Einige waren reichlich mit Blumen, Kerzen und persönlichen Andenken geschmückt. Es war also noch nicht lange her. Oder dieser Mensch wurde besonders geliebt. Andere Steine sahen hingegen leer aus, an ihnen war nichts. Keine Erinnerung schien an diesen Namen zu hängen. „Traurig“, dachte sie, als sie an ihnen vorbeiging.
Doch als ihr ein Name ins Auge sprang, blieb sie stehen. Den Namen kannte sie.
Diesen Stein hatte sie gesucht. Er war ebenso leer, von keiner Erinnerung geziert. Niemand schien an diese Person gedacht zu haben. Sie lächelte und kniete sich vor diesen Namen. Seine Zeichen standen in geschwungenem Schwarz auf dem hellgrauen Untergrund.
„Hey, Divine“, flüsterte sie, dabei umschloss sie die Rosen in ihren Händen fester. „Ich weiß nicht, warum ich nicht schon früher gekommen bin, ich kann es dir nicht erklären. Ich … hatte keine Angst, ich war mir viel eher nicht im klaren, denke ich.“
Nun setzte sie sich auf ihre Schienbeine. Ihre Gedanken auszusprechen würde noch lange dauern.
Sie seufzte und suchte einen Ansatz. Plötzlich spürte sie die Nervosität in ihr aufkeimen.
„Es hat mich ein wenig erschreckt, als ich festgestellt habe, dass es schon elf Jahre her ist. Da dachte ich, dass es doch Zeit ist, einmal zu dir zu kommen und mit dir zu reden. Ich habe auch extra Rosen gekauft. Ich dachte, dass sie für uns vielleicht eine besondere Bedeutung haben. ... Hast du schon einmal die Blüten einer Rose gepflückt?“
Eine kurze Stille zog her. Dann lächelte sie wieder. „Wenn man jedes Blütenblatt einzeln vom Rest der Rose trennt, stellt man es fest. Zumindest habe ich das. Die ... großen, äußeren, die offensichtlich sind, fallen schon fast bei einer Berührung ab. Doch je kleiner die Blüte wird, desto schwieriger wird es, sie von der Blume zu trennen. Bis man irgendwann feststellt, dass unter den ganzen Blüten noch eine Knospe steckt.“
Sie blickte sich einmal um. Sie wollte sicher gehen, dass sie ungestört waren. Es war niemand zu sehen. Die Gärtner kamen auch nicht in ihre Richtung. So wandte sich die Frau wieder dem Namen zu. „Diese Knospe ist so versteckt unter den großen Blüten. Und es sind viele große Blüten an einer Rose. Aber diese kleinen, versteckten Blüten darunter sind so viel mehr. Ich finde es faszinierend.“
Wieder schwieg sie und suchte nach weiteren Worten. Sie wusste nicht, wie sie weitermachen sollte.
„Ich … ich bin jetzt 28. Ich habe aus dieser ganzen Zeit viel gelernt. Ich weiß jetzt, dass damals niemand wusste, was mit mir nicht stimmt … oder besser gesagt, was an mir anders ist. Es hat niemand verstanden. Ich kann es ihnen auch nicht verübeln, schließlich wusste ich es eine lange Zeit nicht einmal selbst. Ich denke auch, dass wir alle Fehler gemacht haben. Sowohl meine Eltern, als auch ich. Aber das ist etwas, das man nicht rückgängig machen kann.“
Sie atmete einmal tief durch. Wie aus dem Nichts spürte sie plötzlich die Tränen in ihren Augenwinkeln. Doch sie versuchte starkzubleiben.
„Ich denke auch, dass du so einiges falsch gemacht hast. Aber es ist okay, du warst schließlich auch nicht perfekt. Ich bin viel eher enttäuscht, dass du mich angelogen hast, das hat mich mehr als nur verletzt, es macht mich richtig wütend und ich würde ... dir dafür so gerne eine verpassen! Aber … das macht dich nicht zu einem schlechten Menschen. Du warst trotzdem der Erste, der mich wirklich akzeptiert hat. De-der Erste, der mich verstanden hat. Du warst wirklich für mich da. Wenn es mir schlecht ging, dann warst du immer zur Stelle und hast mir geholfen.“
Jetzt nahm sie die Rosen in eine Hand und zog mit der anderen ein Taschentuch aus ihrer Rocktasche. „Ich fasse es nicht“, schluchzte sie. „Ich habe die ganzen letzten Jahre nicht geweint. Ich war nur oft traurig, aber das ist das erste Mal, dass ich dabei weine. Das gibt‘s doch nicht.“
Sie wischte sich die Tränen weg, schniefte und atmete laut aus. Der Stein zeigte keine Regung, wie sollte er auch? Stumm stand er da, rührte sich nicht. Sie starrte ihn an, schloss ihre Augen, nur um einen Blick später den Himmel zu sehen. Das wolkenlose, helle Blau. Das Taschentuch verschwand geräuschlos in ihrer Faust.
„Tut mir Leid“, wisperte die Frau. Daraufhin schluckte sie, machte eine Pause, bevor sie wieder zu ihm sprach. „Es ist doch wahr. Du hast mich auf eine Art und Weise verstanden, auf der es bisher noch niemand getan hat. Es … es tut weh zu wissen, dass du dieses Wissen ausgenutzt hast. Und trotzdem ...“
Sie wollte ihr Gesicht verstecken, sie wollte nicht, dass er sie so sah. Doch dann lachte sie auf und schaute wieder hoch zu seinem Namen. „Ich kann es einfach nicht glauben, dass du mich ausgenutzt hast, du willst gar nicht wissen, wie weh das tut. Und ich vermisse dich trotzdem!“
Den Kampf gegen ihre Tränen hatte sie nun endgültig verloren. Sie hatte keine Ahnung, was sie noch dagegen hätte tun können. Sie lachte auf, schniefte dabei. „Du hast von Anfang das gesehen, was mich ausmacht. Durch dich habe ich erst verstanden, wer ich wirklich bin und was mit mir los ist. Ich weiß nicht, wo ich heute stehen würde, wenn du mich nicht gefunden hättest, ich weiß nicht einmal, ob ich dann überhaupt noch hier wäre! Ich, ich weiß, dass ich meine Freunde und meine Eltern habe, die hinter mir stehen, aber ich, i-ich … Divine, du fehlst mir so.“
Nur einen Moment später war sie verstummt, man hörte nur noch die Nachwirkungen ihres Gefühlsausbruches. Sie befreite das weiße Tuch aus ihrer Hand um sich die neuen Tränen wegzuwischen und sich ihre Nase zu putzen. Die andere Hand legte die Rosen auf ihren Schoß.
„Weißt du was?“, fragte sie dann. „Ich hatte danach ein paar Monate Zeit um es zu begreifen, aber ich hab es nicht getan. Ich wollte wiedergutmachen, was du angerichtet hast. Ich helfe den Menschen, ich habe dadurch viele neue Freunde gefunden. Ich bin jetzt Ärztin und ich habe beschlossen, vorerst in Deutschland zu leben. Ich bin auch nur hier, weil heute ein Freund Geburtstag hat und wir eine Überraschung für ihn geplant haben. Aber ich habe mir fest vorgenommen vorher hier mit dir zu reden. Weil ich endlich alles loswerden will. Ich habe es damals nicht an mich rangelassen, ich wollte dich sogar vergessen. Aber letztendlich bin ich auch Dank dir zu dem Menschen geworden, der ich heute bin. Das habe ich erst vor kurzem begriffen.“
Sie sog soviel Luft in ihre Lungen wie sie nur konnte. „Natürlich habe ich getrauert“, wisperte sie und schaute wieder auf zu seinem Namen. „Die ganze Zeit über, ich denke immer wieder an dich. Aber ich habe es trotzdem nie so ganz realisiert.“
Sie nahm sich ein neues Taschentuch raus. Ein ungutes Gefühl überkam sie. Es fühlte sich für sie an wie Scham. Sie schämte sich. Nur wofür, das war ihr selbst nicht klar. Niedergeschlagen blickte sie zurück zu den roten Blumen auf ihrem Schoß. Ganz unschuldig lagen sie einfach nur da. Ein kleines Lächeln huschte über ihre Lippen.
„Eigentlich habe ich meinen Eltern meine Vorliebe für Rosen zu verdanken. Aber du hast dem nochmal eine neue Bedeutung verliehen. Ob Rosen schön sind, das ist Ansichtssache. Manche finden sie toll, andere hassen sie. Sie haben viele kleine Dornen, die machen sie gefährlich. Es gibt sogar welche, die Angst vor ihr haben. Die Blüten sind meist makellos, sie sehen nahezu perfekt aus, wie eine Hülle. Dieser Schein beschützt die wahre Perfektion einer Rose. Die ganzen kleinen Blüten, die wirklich perfekt sind, so wie sie sind. Die zeigen, wie groß und prächtig sie blühen kann.“
Liebevoll legte sie die Blumen an den Stein. Es freute sie, dass es so friedlich aussah. Es strahlte Ruhe und Gelassenheit aus.
Die junge Frau schniefte noch einmal. „Niemand hat je die innersten Blüten gesehen. Nicht einmal du. Aber du hast mir geholfen, es selbst zu können und dafür danke ich dir, Divine. Du ... bedeutest mir nach wie vor wirklich viel und ich will, dass du weißt, dass ich immer an dich denken werde. Ich werde dich niemals vergessen.“
Zaghaft erhob sie sich, zog ihren Rock zurecht und steckte das Taschentuch weg. Still faltete sie ihre Hände und schloss ihre Augen. So stand sie noch eine ganze Weile vor diesem nun gezierten Stein, nicht ein Wort verließ ihre Lippen. Auch nicht, als sie wieder zu seinem Namen sah und ihm ein letztes Lächeln schenkte.
Sie war erleichtert, sie fühlte sich besser. Endlich hatte sie ihm alles erzählt, alle Gedanken, die sie die vergangene Zeit gequält hatten. „Aber es werden nicht die letzten sein“, dachte sie und zog dabei das rote Gummiband raus, das ihre Haare zusammenhielt. Lautlos lösten sie sich und offenbarten ihre volle Schönheit.
„Wie damals“, flüsterte sie, seufzte leise und kehrte langsam um. Sie ließ dem Namen seine Ruhe und ging zu dem großen Tor, das für sie den Ausgang bedeutete. Und ihr war klar, dass es kein letztes Mal war.
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