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Sätze: | 32 | |
Wörter: | 572 | |
Zeichen: | 3.102 |
Der kleine Junge ist gebräunter als im Vormonat. Auf dem Dach des Wohngebäudes an diesem sonnigen Tag in Aleppo sitzt er in der Hocke und schaut, ohne sich zu rühren, auf den Boden. Wie ein Gott von oben beobachtet er die Ameisen in ihrer Welt, wie sie fleißig arbeiten. Nach einer Weile erhebt er sich und sein Schatten entfernt sich von der Ameisenwelt. Er schiebt mit einem Fuß ein bisschen Sand in ihre Richtung und nun laufen die Ameisen wie verrückt durcheinander. Dann strukturieren sie sich neu und es geht wieder fleißig weiter in ihrer Welt. Er beobachtet sie im Stehen weiter und dann schaut er zur Seite auf einen Sandhaufen in der Ecke neben den Ziegeln, mit denen die Familie die Dachmauer erhöhen will. Er ist neugierig, was denn wohl passieren kann, wenn er mehr Sand auf die Ameisen kippt, aber dieser Gedanke ist schnell verdrängt, durch ein Mitgefühl für diese Lebewesen.
Er schaut nach hinten und dann oben zum Himmel, wo viele Geräusche herkommen und immer lauter und lauter werden. Es gibt einen lauten Knall und nach kurzen Augenblicken ist die Welt der Ameisen nicht mehr. Das Dach, das Wohngebäude und der kleine Junge auch nicht mehr.
Die älteste Schwester schaut in der Nacht mit weinenden Augen auf die Trümmer. Es ist nichts mehr übrig, außer Trümmern.
Bis vor neun Jahre hatte sie noch keinen jüngeren Bruder. Wie aus dem nichts, kam er plötzlich auf die Welt und in ihr Leben. Sie liebte und schützte ihren kleinen Bruder. Er wird in der Nacht tot geborgen, ihre Eltern auch. Plötzlich ist ihre gesamte Welt nicht mehr. Übrig ist nur der Trümmerstaub einer Vergangenheit auf ihren Klamotten.
Fünf Jahre ist es her, seitdem sie aus Aleppo in Menschenherden nach Deutschland floh.
Der vierzigjährige Mann an der Kasse im Lidl ist Alkoholiker. Nüchtern bei der Arbeit zu sein fällt ihm schwer. Er kann die Pausen kaum erwarten, um sich heimlich was runterzuschütten. Seine Kollegen kennen seine Probleme. Obwohl er sich eine längere Zeit frei genommen hat nach dem plötzlichen Tod seiner Frau, wirkt er nicht halbwegs arbeitsfähig oder lebensfähig.
Als er an diesem sonnigen Tag ohne Begrüßung die Ware einer Kundin einscannt und dann plötzlich in Tränen ausbricht, wird er gebeten, draußsen eine Pause zu nehmen. Der Chef wird informiert.
Draußen heult der Mann wie ein Schlosshund und kann sich nicht mehr beruhigen. Sein Körper bricht langsam zu Boden und er versucht sich mit dem Arm zu stützen, bevor er dann ganz auf dem Boden zusammenrollt wie ein kleiner Junge. Nach einer Weile liegt er nur da und heult nicht mehr und rührt sich nicht. Er schaut nur vor sich auf eine Ameisenwelt.
Irgendwann stützt er sich setzend auf den Boden. Er schaut ruhig nach oben zum Himmel und will nicht mehr trinken. Das Kassenmädchen aus Aleppo kommt raus, um Pause zu machen. Sie kennt seine Geschichte und er ihre. Sie schauen sich einen längeren Moment nur tief in die Augen. Fünf Jahre ist es her, als sie sich den Trümmerstaub vom Körper wegklopfte und weiter zog. Der Mann steht vom Boden auf und geht nach Hause. Zuhause erst bemerkt er den Staub auf seinen Sachen und klopft ihn weg.
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Jordeu • Am 01.02.2020 um 11:50 Uhr | |
Sehr gelungene Story. Auch sprachlich ausgereifter als die ersten von MUNZ. Wieder eine sehr gut gelungene Verknüpfung verschiedener Kulturkreise. Es siegen die Gemeinsamkeiten der Menschen. Hoffentlich auch die Menschlichkeit! | ||
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