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Kapitel: | 41 | |
Sätze: | 8.162 | |
Wörter: | 67.398 | |
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Der verdammte Wal hätte ruhig näher an Spandau stranden können.
Lina lehnte sich an die Schiffswand, rückte die Wayfarer zurecht, nahm das Basecap ab und pustete.
„Setz das Ding lieber wieder auf.“
Roman ragte vor ihr in den milchigweißen Himmel. Sofort bereute sie, die Mütze abgenommen zu haben. Bestimmt hatte sie Abdrücke auf ihrer Stirn und platte Haare. So konnte sie keinen Blumentopf gewinnen.
„Du siehst gut aus“, sagte er, als hätte er ihre Gedanken gelesen. Dann plumpste er neben ihr auf das Deck. „Abenteuerlich. Wie Lara.“
„Eine deiner Exen?“
Sein Grinsen vertiefte sich und ein Kribbeln breitete sich in ihrem Unterleib aus. Roman war ein echter Hingucker. Einzig die markante Nase störte die Perfektion des Gesichtes. Andererseits verlieh sie ihm das gewisse Etwas.
„Lara Croft? Tomb Raider?“
Als sie ihn verständnislos anstarrte, lachte er. „Ein Game. Lara war verdammt heiß. Lange Beine, solche Boobs.“ Mit den Händen deutete er ballonartige Brüste an.
„Du stehst also auf Pixelfrauen.“
Er nahm seine Mütze ab und fächelte sich Luft zu. Sein blondes Haar glänzte dunkel vor Schweiß. „Keine Angst. Echte sind mir lieber. Man kann sie anfassen.“ Spielerisch kniff er sie in die Hüfte.
Quiekend wehrte sie ihn ab. Gleichzeitig schoss ein neuer Schwall Hitze in ihren Unterleib. Oh ja. Das hier entwickelte sich definitiv in die richtige Richtung.
Er schnippte gegen ihr Cap. „Setz es wieder auf. Die Sonne ist hart hier draußen.“
„Ich dachte, im Delta riecht es frischer.“
„Da muss eine Million Viecher unter uns sein.“
„Die haben sich doch längst aufgelöst.“
„Tja. Da drüben! Siehst du das Schloss?“
Sie streckte sich neben ihn über den Bootsrand.
Das Gebäude zerfloss in der Hitze. Schwer zu sagen, wo es aufhörte und das Wasser anfing. „Ganz schön groß.“
„Rheinsberg. Ich hoffe, wir sind vor den Trashern da. Diese Lady bringt es nicht, wenn es um Geschwindigkeit geht.“ Abschätzig klopfte er gegen die Bootswand.
„Sind die Trasher schneller als wir?“
„Ein paar von ihren Plavlots sind nicht schlecht.“
„Und was ist die Regel? Wer zuerst kommt, mahlt zuerst?“
„Es gibt keine Regeln.“
Lina blinzelte. „Sind wir in Gefahr?“
„Pff. Peacer sind besser ausgerüstet als die Mülltrottel.“
„Na ja. Euer Dampfer hat nicht einmal ein Dach.“
„Das sind arme Spinner aus der Stadt. Halb verhungert und zugedröhnt. Wir haben Waffen, sind organisiert und ausgebildet.“
„In was?“
„Einsätzen. Don’t worry. Wir passen auf unsere Mädels auf.“
„Eure Mädels?“
„Du weißt, was ich meine.“ Er boxte ihr auf den Arm. „Wir bergen den Wal und verziehen uns. Heute Abend feiern wir.“
„Hier?“
„Nee. Keine Privatsphäre.“ Er wackelte mit den Augenbrauen, doch diesmal reagierte Linas Unterleib nicht. Besorgt kreisten ihre Blicke über die schillernde Wasserfläche, die halb versunkene Schlossruine, die Bauminseln.
„Östlich von hier gibt’s noch Dörfer. Die Bewohner werden uns keinen Ärger machen. Es hat sich herumgesprochen, dass man sich mit Peacern nicht anlegt.“
„Ironie“, murmelte Lina.
„Hä?“
„Ach, nichts.“
„Setz es lieber auf.“ Romans Stimme wurde sanfter. „Ich würde die gelbe Seite nehmen. Schwarz kocht dein Gehirn weich.“
„Aber es sieht cooler aus als Pinkelgelb.“ Sie seufzte.
Roman lächelte. „Sorry, wenn das alles nicht so ist, wie du es dir vorgestellt hast. Aber ich dachte, du wolltest mal raus, ein Abenteuer erleben.“ Der Satz zerfaserte zweideutig in der Luft.
„Schade, dass der Wal sich ausgerechnet den Sommer ausgesucht hat.“
Beide lachten auf, stießen mit den Schultern zusammen.
„Hey RoAdie!“, unterbrach eine Stimme ihr Gelächter. „Komm mal!“
„On my way!“ Roman seufzte theatralisch.
„Alles gut, RoAdie“, sagte Lina, den Spitznamen betonend. „Ich hab’s mir ja selbst ausgesucht. Und du hast recht: Ich musste mal raus. Überleg schon länger, mich den Peacern anzuschließen.“
„Würde mich freuen. Ein Mädchen wie du wertet eine Unternehmung enorm auf.“ Nun war er eindeutig im Flirtmodus. „RoAdie muss jetzt an die Arbeit“, raunte er und hauchte einen Kuss auf ihre Wange, der eine Hitzewoge durch sie sandte. „Jogga ablösen, bevor er in den Wal hinein rauscht. Er ist nicht gerade der hellste Stern am Firnament.“
„Firma“, sagte Lina, von der Intimität wie hypnotisiert. „Mit m.“
Für einen Sekundenbruchteil verdunkelte sich sein Blick.
„Sorry. Klugscheißerin. Ich arbeite daran.“
Er hob das Kinn zum Abschied und ging zu der metallenen Treppe, die in den Bauch des ehemaligen Ausflugsschiffes führte, wo Jogga hinter dem Steuer stand, Romans Unteroffizier. Unablässig trällerte er Popsongs aus der Zeit der Jahrtausendwende. Überrascht hatte sie feststellen müssen, dass der schmuddelige Bursche eine angenehme Stimme besaß und die Melodien mühelos mitsang. Nur mit den Texten haperte es. Immer wieder verzog sie das Gesicht, wenn er die Verse rein nach Gehör schmetterte.
Sie verlor sich in ihren Gedanken, betrachtete die Umgebung und das Schiff, selbst ein Liedchen in den Ohren.
How much you wanna risk? I’m not looking for somebody with some superhuman gifts.
Ihre Augen wanderten zum Himmel. Warum die Peacer es nicht hinbekamen, wenigstens Tücher gegen die Sonne zu spannen, blieb ihr schleierhaft. Nach unten durfte man nicht gehen, obwohl der Rumpf leer war.
„Bergungsraum“, hatte Jumper, der zweite Unteroffizier, sie angeschnauzt.
„Aber hier ist doch nichts.“
„Nur für Ware und Offiziere.“
„Draußen sind 36 Grad.“
„Ware und Offiziere.“
Verdrießlich war sie den anderen auf das Deck gefolgt.
Kurz nach der Abfahrt war Roman zu ihr gekommen, ein entschuldigendes Lächeln im Gesicht und ein Handtuch auf dem Arm. „Sorry, aber bei Missionen gibt es Regeln. Jumper macht nur seinen Job. Setz dich auf das Handtuch, das Metall wird ziemlich heiß.“
Halbwegs besänftigt hatte sie ihren Hintern gehoben. Seine Hilfsbereitschaft und Zerknirschtheit gefielen ihr, ebenso die Berührungen, als er ihr half, das Tuch unter ihre Beine zu schieben.
Dann war er verschwunden und hatte sie sich selbst überlassen.
Hinter den dunklen Gläsern musterte sie die sieben Passagiere auf dem Deck. Achtern saßen ein Mädchen und zwei Jungen, zweifellos die Jüngsten an Bord. Sie hatten sich ihr in Caputh vorgestellt, wo die Ortsgruppen aufeinandergetroffen waren. Lina hatte ihren Namen gemurmelt und die der drei sofort wieder vergessen. Blöde Nicknames waren es gewesen. Schien bei den Peacern üblich zu sein.
Die Kids saßen mit dem Rücken zu ihr, ließen die Beine vom Deck baumeln und suchten aufmerksam die Umgebung ab. Lina taufte sie die drei Fragezeichen, nach einer Kinderbuchreihe, die sie früher zum Einschlafen gehört hatte.
Ein Stückchen weiter links, auf der ihr gegenüberliegenden Seite, schliefen zwei Männer. Der Größere hieß Feo. Sie fragte sich, ob er sich den Spitznamen selbst gegeben hatte oder ob seine Kumpels das besorgt hatten. Passend war er, denn der Typ war hässlich wie die Nacht. Statt einer Sonnenbrille hatte er die obere Hälfte seines Gesichts mit Motoröl eingerieben. Feos Körperdunst, ein Konglomerat aus Klebstoff, Kotze und kaltem Schweiß, ließ sie verächtlich das Gesicht verziehen. Ein Schnüffler, der vermutlich alles inhalierte, was ihm unter die Nasenlöcher kam. In der City, so hörte man, hatten sich ganze Viertel das Hirn weggeschnieft.
Der Mann neben ihm roch nicht nach Glue. Er hatte die Arme unter dem Kopf verschränkt, einen Strohhut ins Gesicht gezogen und schnarchte laut. Wie Jumper trug er einen Pullover, auf dem sich Schweißflecken abzeichneten. Im Geiste titulierte sie ihn Sombrero.
Die beiden Frauen, die im Schneidersitz auf der gegenüberliegenden Seite saßen, hatten ihr giftige Blicke zugeworfen, wann immer Roman mit ihr geplaudert hatte. Sie konnte es ihnen nicht verdenken. Von all den Typen an Bord sah Roman mit Abstand am besten aus. Er spielte einfach in einer höheren Liga. Das gute Elternhaus ließ sich nicht verleugnen. Kleidung, Haarschnitt, Umgangsformen, Sprache - all das stellte die anderen in den Schatten. Roman war nicht nur ein Schnittchen, er war ein reiches Schnittchen. Einflussreich, charmant, bekannt. Außerdem war er hier der Boss. Autorität machte sexy, selbst wenn sie sich nur auf ein Dutzend Leute erstreckte.
Ansonsten hatten die Frauen Lina ignoriert, ihre Gesprächsversuche abgeblockt. Lina hatte sie die Schnepfen getauft. Die braune Schnepfe - eine Schädelseite kahl rasiert, die andere mit Zöpfchen verziert - sah aus, als könne sie Linas 57 Kilo einarmig über Bord werfen. Die blonde Schnepfe, deren Arme von Sommersprossen und Leberflecken übersät waren, trug eine Art Doppelgürtel mit zwei Schnallen, Armeehosen und klobige Stiefel mit zu vielen Ösen. Eine Gewichtheberin und eine Soldatenbraut. Lina fand, dass Letztere gut zu Russki passte, dem stämmigen Mann, der nicht aus Russland stammte, sondern aus Holland, allerdings aussah wie ein waschechter Russe.
Sie seufzte und streckte sich. Das Handtuch fühlte sich feucht an. Sie fischte die kleine Tube Sonnenmilch aus ihren Shorts. Höhnisch schauten die Schnepfen zu ihr herüber, als sie die Creme auf Gesicht, Schultern und Armen verrieb.
Lina musterte die Leberflecken der hellhäutigen Soldatin.
Selbst schuld, Hautkrebsmädchen.
Sie hasste die klebrige Schicht, doch wenigstens überdeckte der Duft den Schweißgeruch. Egal, wo sie heute Nacht stranden würden, Hauptsache, es gab einen Wasserhahn und vielleicht noch ein Stück Seife. So konnte sie Roman unmöglich an sich heranlassen.
Sie lehnte den Kopf gegen die Schiffswand und schloss die Augen. Selbst mit der Wayfarer auf der Nase stach das Sonnenlicht grell durch die Lider. Die Schnepfen tuschelten und kicherten. Ein Anflug von Heimweh piesackte sie.
„Hey, Blondie“, drang eine Stimme durch ihre Gedanken.
Lina blinzelte die braune Schnepfe an, die sich vorgebeugt hatte und sie über ihre gelben Gläser anstarrte.
„Was ist dein Job heute? Abgesehen davon, RoAdie schöne Augen zu machen?“
„Ich mach ihm keine schönen Augen.“
„Ja, genau“, prustete die Schnepfe und sah ihre Freundin an.
„Also. Was hat der Coronel für dich ausgesucht?“, übernahm die Soldatenbraut.
„Coronel?“
„RoAdie. Bist du blöd oder was?“
Der aggressive Ton ärgerte Lina. „Ich kenn mich mit euren Bezeichnungen nicht aus.“
„Dienstgrade“, korrigierte die blonde Schnepfe.
„Aha. RoAdie ist Coronel? Ich wusste nur, dass Jogga und Jumper seine Unteroffiziere sind.“
„Lieutenants“, berichtigte die braune Schnepfe.
„Ist das so was wie ein Leutnant?“
Die Schnepfen sahen sich an, bevor die Gewichtheberin sich zu einer Antwort entschloss. „Klingt so.“
„Was ist dann ein Coronel? Ein Oberleutnant? Oberst?“
„Willst du uns provozieren?“ Die Schultermuskeln der braunen Schnepfe stellten sich auf wie der Nackenschild einer Kobra.
Lina schüttelte schnell den Kopf. „Nein, das war eine echte Frage.“
„Scheißfrage. Er heißt Coronel, basta.“
„Okay. Gibt’s jemanden, der über ihm steht?“
„Einige. Peacock zum Beispiel.“
„Das ist der, der heute alles leitet?“
„Genau. Er ist der General.“
„Nicht Admiral?“
„General“, betonte die braune Schnepfe mit drohendem Unterton. „Verscheißer uns nicht. Wir sind nicht blöd.“
„Ich dachte nur, weil wir auf einem Schiff sind. Navy, Marines und so.“
Lina wich an die Bordwand zurück, als die braune Schnepfe aufsprang und zu ihr herüber stapfte.
„Noch mal, Blondie, wir sind nicht blöd. ‘Ne große Klappe hast du, aber ist da auch was dahinter? Also, was ist dein Job?“
Die Brillengläser der braunen Schnepfe stießen an Linas Wayfarer.
„Du zerkratzt mir die Gläser“, sagte sie, während sie versuchte, ruhig zu klingen.
Die Schnepfe lachte auf. „Du bist echt ‘ne Marke. Also?“
„Roman meinte, ich solle mir erst mal alles anschauen.“
„Warst du schon mal bei einer Bergung?“
„Nein.“
„Eine Jungfrau.“ Die braune Schnepfe drehte sich nach der blonden um. Lina nutzte die Gelegenheit, ihre Brille gerade zu rücken.
Sie versuchte, das Zittern ihrer Lippen zu unterdrücken, als die Gewichtheberin sich wieder ihr zuwandte. „RoAdies Hirn ist wohl nach Süden gewandert. Normalerweise läuft das hier anders. Strategisch.“
Lina nickte. „Wie beim Militär.“
Sofort verengten die Augen der anderen Frau sich. Lina stellte ihr Lächeln ab und schrumpfte ein paar Millimeter weiter.
„Kannst du irgendwas?“, fragte die Schnepfe.
„Was denn?“
„Kämpfen, Entern, Ausschlachten.“
„Entern?“
„Den Wal. Andere Boote, falls es Stunk gibt.“
„Ich hab ein paar Jahre MMA gemacht. Früher.“
„Und das ist was?“
„Mixed Martial Arts.“
„So ein Karatescheiß?“
„Auch.“
„Warst du gut?“
„Ging so.“
„Aber ‘ne Waffe abfeuern kannst du nicht.“
„Noch nie probiert.“
„Mit einer Klinge umgehen?“
„Zählt Zwiebeln schneiden?“
Diesmal lachte die braune Schnepfe auf. Die blonde gab eine Art Wiehern von sich.
Lina wartete, bis die beiden sich wieder eingekriegt hatten. „Ich dachte, wir schippern hierher, holen einen Wal, binden den hinten ran und fahren zurück. Und jetzt erzählst du mir was von Waffen, Kampf und Stunk. Und Roman was von Streit mit Trashern. Ich bin ein bisschen beunruhigt.“
Die braune Schnepfe grunzte. „Tja, manchmal gibt’s halt Stress. Wale sind superselten. Wenn einer auftaucht, sind alle zur Stelle. Peacer, Trasher, die Leute aus der Umgebung. Wobei die sich meist vom Acker machen, sobald sich Ärger anbahnt.“
„Dann wird gekämpft?“
„Sicher. Mamba und ich gehen am liebsten in den Nahkampf.“
„Bist du Mamba?“, wandte Lina sich an die blonde Schnepfe, die nickte.
„Und ich Kelli“, sagte die braune Schnepfe. „Die drei am Heck halten sich raus. Die schlitzen den Wal auf, bergen die Sachen, bringen sie auf die Schiffe. Am besten hilfst du denen.“
„Steckt denn so viel in einem Wal?“
„Der Rekord der letzten Jahre liegt bei 26 Kilo. Ein Pottwal in Skandinavien. Die Exemplare hier haben 10 bis 15, plus das Fleisch und so. Wenn wir ganz großes Glück haben, finden wir mehrere Wale. Die schwimmen in Schwärmen.“
„Schulen.“
„Das wäre auf jeden Fall der Hauptgewinn.“
„Verstehe. Eine Menge Zeugs.“
„Wirst du merken, morgen. Das ist kein Tussi-Scheiß.“ Ihr Blick wanderte an Lina hinunter. „Richtig anstrengende Arbeit ist das.“
„Dann ruhe ich mich mal lieber noch ein bisschen aus.“
„Mach das“, grunzte die braune Schnepfe, bevor sie zurück zu ihrer Freundin stapfte.
Lina schloss die Augen. Vielleicht hätte sie doch Zuhause bleiben sollen.
In ihre düsteren Gedanken quäkte das Schiffshorn.
Die Fragezeichen sprangen auf. Mamba rannte bereits nach unten, während Kelli Sombrero und Feo mit ihrem Basketballstiefel anstieß. „Die Trasher sind da.“
„Mach halblang, Kel.“ Sombrero gähnte, stupste Feo an und zog sich in die Höhe. „Bekannte?“, fragte er, während Feo sich mit der Geschwindigkeit einer Amöbe in die Senkrechte brachte. Auch Lina rappelte sich auf und trat mit eingeschlafenen Beinen zu den anderen.
Kelli sah die Fragezeichen an, die brav die Klappe gehalten hatten, so lange die Erwachsenen redeten.
„Vier Plavlots“, sagte einer der Jungen. „Das große könnte dem Polen gehören.“
„Krys?“ Sombrero kratzte sich im Nacken. Schweißgeruch breitete sich aus. „Okay. Alarmbereitschaft.“
Mit einem Mal wurde es an Deck lebendig. Mamba kehrte mit den Lieutenants im Schlepptau zurück.
Russki übernahm das Reden. „Same procedure as every year.“ Sein Englisch klang genauso seltsam wie sein Deutsch. „KaWe, die Mädels und ich springen rüber. Sunny und Feo, ihr schaut von oben.“ Russki reichte den beiden Männern je ein Gewehr. Sombrero und Feo verzogen sich ans Heck, wo sie durch die Visiere die Umgebung absuchten.
„Jogga, Jumper, ihr vorn.“ Die Angesprochenen kamen dem Befehl ebenso widerspruchslos nach wie die anderen. „Chazza, MacBig und H-Dog, ihr verzieht euch nach unten und wartet ab. Du“, wandte Russki sich an Lina, „bleibst bei den Kleinen.“
„Zum Babysitten?“
„Anordnung vom Coronel.“
„Was macht er?“
„Steuert den Kahn, kommuniziert mit Peacock und den anderen Coronels.“
„Wie viele kommen denn noch?“
„Peacock und noch ein Berger. Vielleicht ein, zwei Jets.“
„Sind wir in der Überzahl?“ Ein wenig ängstlich sah Lina den Holländer an.
„Schwer zu sagen. Wale und Robben locken Trasher von überall an. Egal. Wenn wir auftauchen, verkrümeln die sich ganz schnell.“
„Die hinter uns nicht.“
„Die versuchen, uns zu überholen und abzustauben, bevor wir ankommen. Keine Chance, Peacock wartet schon. Seine Jungs sind unsere Sturmtruppe. Und jetzt verzieh dich.“
Sie hielt sich am Geländer fest, als sie nach unten stieg. Nach den Stunden in der Helligkeit sah sie im Schiffsbauch zunächst gar nichts. Erst nach und nach schälten sich Umrisse heraus. Chazza, das weibliche Fragezeichen, MacBig und H-Dog hatten sich in die hintere Ecke verkrümelt und starrten durch die halb blinden Fensterscheiben nach außen. Direkt neben ihnen machte Lina eine handtuchbreite Metalltür aus.
Roman klopfte gegen das kleine Kabinenfenster und winkte sie zu sich hinein. Er thronte auf einem durchgesessenen Autositz, den irgendwer notdürftig auf den Bodenplatten befestigt hatte.
Sie rutschte neben ihn.
„Alles klar?“, fragte er, ohne den Blick vom Wasser zu heben.
„Yep.“
„Bereust du, dass du mitgekommen bist?“
„Hm. Ich stehe kurz vorm Sonnenstich, es stinkt nach faulen Eiern und wir kämpfen gleich um einen toten Wal. Nein.“
Grübchen erschienen auf seinen Wangen und seine Hand legte sich wie zufällig auf ihre. „Funny.“
„Sorry. Hab mir das Ganze wohl ein bisschen anders vorgestellt.“
„Du und ich auf einem romantischen Floß?“
„Übertreib nicht.“ Spielerisch schlug sie ihm auf die Hand. „So ein toller Hecht bist du nun auch nicht.“
„Als Lügnerin bist du so eine Niete.“ Er nahm die Augen vom Wasser. „Ich mach’s wieder gut. Versprochen.“
„Ach ja? Wie denn?“ Lina registrierte, dass seine Hand wieder auf ihrer lag, spürte den Ring um seinen Finger. Ein Bruderschaftsband. Seine Leute und er trugen es als eine Art Talisman.
„Mir fällt schon was ein. Ein Ausflug zu zweit. Leckeres Essen.“
„Bei der Hitze? Oje.“
„Wir könnten bis Oktober warten. Stell dir einen schönen Regensturm in einer kuscheligen Hütte irgendwo auf den Inseln vor.“
„Während die Bäume aufs Dach krachen?“
„Spielverderberin.“ Er nahm seine Hand weg.
„Sorry.“ Mit klopfendem Herzen und ein wenig steif lehnte sie sich gegen ihn.
Zu ihrer Erleichterung legte er den Arm um sie, steuerte das Schiff einhändig. „Hat dir schon mal jemand gesagt, dass du eine ziemlich freche Person sein kannst?“
„Wieso?“
„Na ja, du widersprichst ganz schön oft, korrigierst einen, bist ironisch und so.“
„Und das ist ein Problem für dich?“
„Weiß noch nicht.“ Er versenkte die Nase in ihren verschwitzten Nacken. „Aber du bist so verdammt hübsch.“
Er blickte auf sie nieder und in dieser Sekunde wusste sie, dass er sie küssen würde. Zu ihrem Bedauern dauerte der Kuss nur zwei Lidschläge, denn Roman richtete sich wieder auf und entließ sie aus der halben Umarmung. „Tut mir leid, aber wir sind da. Da liegt der Fisch.“
Lina glotzte aus dem Fenster. „Säugetier. Ich hätte nicht gedacht, dass die Dinger so riesig sind. Passt der überhaupt hier rein?“
„Nicht am Stück“, erwiderte Roman, der sich darauf konzentrierte, möglichst nahe an die Sandbank zu steuern. „Deshalb zerteilen wir ihn ja. Miss Besserwisserin weiß offensichtlich doch nicht alles.“
„Ist das Peacock? Der Typ mit dem Bart und dem Bandana?“
„Unschwer zu erkennen, hm?“ Halb aus dem Sitz gereckt und über die Armaturen gebeugt, kurbelte Roman an dem Steuerrad.
„Er ist barfuß.“
„Immer. Im Winter trägt er Flip Flops.“
„Sieht aus wie eine Mischung aus Waldschrat und Surfer.“
„Vorsicht! Du redest über meinen Boss.“
„Den General, ich weiß.“
Er warf ihr einen raschen Blick zu. „Uns bedeutet das was. Für Missionen wie diese ist eine Befehlskette wichtig.“
„Haben die Trasher die auch?“ Lina beobachtete, wie mehrere Plastikboote um den Wal schaukelten, die meisten in sicherer Entfernung. Manche der Boote waren kaum größer als Badewannen.
„Trasher sind unorganisierte Penner. Dreckiger Abschaum, zugedröhnt und von Krankheiten zerfressen. Die haben auch keine Frauen dabei. Die halten sie in ihren Camps als Sklavinnen.“
„Quatsch.“ Lina brachte nur ein halbes Lachen heraus.
„Kannst ja hingehen und nachsehen, was die mit ihren Weibern so treiben.“
Lina erwiderte nichts mehr. Auf ihrer Stirn erschienen zwei steile Falten. Romans Ansichten waren in den Vororten weit verbreitet. Flüchtlinge hatten sich in den letzten 50 Jahren über Europa ausgebreitet wie ein Flächenbrand und mit ihnen viele Probleme. Die Erde schrumpfte, spülte einen Ozean Verzweifelter ins Innere der Kontinente. Grenzen, Zäune und Mauern waren hochgezogen worden, um sie in Schach zu halten. Auch sie fürchtete sich vor der Menschenflut, mochte an den Fremden eine Menge nicht: die verunstaltete Sprache, die Sitten und Gebräuche, die Reste ihrer Religion. Aber sie fühlte keinen Hass. Manchmal taten sie ihr leid, empfand sie ihr Schicksal als ungerecht. Romans offene Verachtung enttäuschte sie.
Sie verzog sich in den hinteren Teil des Schiffes, trieb so tief in ihren Grübeleien, dass sie nicht mitbekam, wie der Kampf begann. Plötzlich trappelten Stiefel über ihr, hallten Schüsse, schrien Menschen. Motoren heulten auf und Körper klatschten ins Wasser. Sie duckte sich unter eins der Fenster und spähte hinaus, sah Plavlots, die die Flucht ergriffen oder um das Schiff kreisten, von den Wellen hin- und hergeworfen.
Backbord bot sich ein anderes Bild. Um den Wal kurvten Peacocks Motorboot und zwei Jets. Sie versuchten, die Plavlots in Schach zu halten, die sich immer wieder näherten.
Lina verstand die Strategie nicht. Wohin sollten die Trasher mit ihrer Beute fliehen? Im Umkreis von vielen Kilometern gab es nur Seen und Flüsse, die sich mit der Ostsee vereint hatten. Ein paar Inseln, ehemalige Hügel und Berge, waren das einzige Land, auf das man einen Fuß setzen konnte. Zu winzig, um sich zu verstecken.
Drei kleinere Plavlots formierten sich zu einer Pfeilspitze und schossen auf die Jets zu. Doch bevor sie die wendigen Wassermotorräder erreichten, fielen Schüsse. Zwei der Plastikflöße gerieten ins Schlingern.
„Treffer!“, hörte sie Joggas Stimme.
Erschrocken sah sie zu den Fragezeichen. „Haben sie sie abgeschossen?
H-Dog kaute auf der Innenseite seiner Wange, bevor er antwortete. „Die Lenker, ja. Deshalb treiben sie ab.“
„Sind sie tot?“
„Keine Ahnung.“
Gemeinsam beobachteten sie, wie die Männer auf den Plavlots die Lenker vom Steuer zogen, Gas gaben und abdrehten.
„Die kommen nicht weit“, murmelte Chazza. „Peacocks Leute fangen sie ab.“
„Und dann?“, hauchte Lina.
„Schlachten sie die Boote aus. Alles, was wir noch gebrauchen können.“
„Und die Trasher?“
„Nehmen wir mit bis Neustrelitz. Dort werden sie bestraft. Die Leutnants stehen auf so was.“
Das dritte Plavlot änderte die Richtung, schoss nun direkt auf Peacock zu. Der barfüßige General brüllte Anweisungen und erneut krachten Schüsse. Das Plavlot schlingerte auf die Sandbank zu, wo es knirschend aufsetzte. Drei Männer sprangen von dem Fahrzeug, Messer in ihren Händen. Zwei hetzten auf Peacocks Boot zu, während der dritte die Klinge in den Wal rammte.
Von oben fielen Menschen ins Wasser. Die Nahkampftruppe, erriet Lina. Sie schwammen zum Ufer, stürzten sich auf die Trasher, Russki und KaWe vorweg, Kelli dicht hinter ihnen. Das Gemetzel, das nun folgte, blendete Lina aus, indem sie die Augen schloss. Neben ihr keuchte Chazza.
„Das war’s.“
Lina öffnete die Augen wieder. MacBig stand am Fenster, zog mit dem Zeigefinger drei Striche auf die dreckige Scheibe.
Ihr Blick schwenkte zur Sandbank. Die Nahkampftruppe hatte sich um den Wal postiert, ihre Körper ein Bollwerk gegen weitere Angreifer. Drei Männer lagen zu ihren Füßen. Blut färbte Sand und Wasser rot.
„Die lassen wir hier“, sagte Chazza leise.
Vom Rest des Kampfes bekam Lina nicht mehr viel mit. An die schmale Tür gelehnt, starrte sie auf Romans Rücken. Er war auf den Sitz zurückgesunken, betrachtete konzentriert das Treiben draußen. Offenbar gab es immer noch Ausfälle der Trasher gegen die Fahrzeuge der Peacer, aber sie wirkten halbherzig und verzweifelt.
„Wir könnten ihnen einfach was abgeben“, murmelte Lina.
Chazzas Kopf zuckte hoch. „Bist du bescheuert?“
Lina erwiderte nichts. Sie fühlte sich ausgelaugt.
„Es ist fast vorbei“, sagte das Mädchen. „Wenn sie schlau sind, hauen sie ab, bevor Peacock beschließt, sie zu versenken. Dann holen wir den Wal. Stehst du das durch?“
„Kann ja nicht schlimmer sein als das da.“
„Deswegen bleiben wir drinnen“, gestand Chazza.
Plötzlich waren Lina die Kids sympathisch. „Habt ihr auch was gegen Gewalt?“
„Die gehört halt dazu“, brummte MacBig. „Uns geht nur keiner ab dabei.“
Linas Augen flackerten zu Roman, der die Faust triumphierend in die Luft reckte. Als er die Kabine verließ und sie ansah, strahlte Euphorie aus seinen Augen. Grinsend rannte er die Treppen hoch.
„Adrenalinkick“, erklärte H-Dog.
Lina stöhnte.
„Die kommen wieder runter“, beruhigte Chazza sie. „Nachher gehen sie schwimmen, dann sind sie wieder normal.“
„Fahren wir dann nach Hause?“
„Morgen.“
05.12.2036
Ab heute bin ich 8. Du bist mein Geschenk von Mama. Ein 100-Wörter-Heft. Ich habe mir gewünscht, dass Opa mich mit aufs Dach nimmt und ich die alte Bertha bedienen darf, aber ich habe dich bekommen. Ich freue mich, weil Mama sich so viel Mühe gegeben hat und niemand sonst ein leeres Buch hat. Trotzdem ärgere ich mich, dass Ton, Manu und Sascha immer alles dürfen. Laura war neidisch auf dich und hat geheult. Sie durfte dich ausmalen, alle Buchstaben. Laura hat nicht kapiert, was du bist, aber sie malt gerne und ich nicht. Winwin sagt Logan zu so was.
Lina lehnte den Kopf gegen die Kirchenmauer und betrachtete das Treiben um sich. Sie wirkten so aufgeputscht, so lebendig nach diesem elend langen Tag, sangen, lachten, quatschten, fummelten.
Unauffällig sah sie auf ihre Uhren. Die Smartwatch zeigte Hieroglyphen an, wie meistens. Die Urgroßmutteruhr hingegen versah zuverlässig ihren Dienst. Sie musste nur daran denken, sie aufzuziehen. Kurz nach zwölf. Seit 15 Stunden war sie auf den Beinen, fühlte sich ausgeknockt. Die Hitze, Roman, der Kampf. Das Ausweiden des Wals, das sie am liebsten aus ihrem Gedächtnis getilgt hätte.
Unglaublich, wie viel Flüssigkeit aus einem 13 Meter langen Buckelwal glitschte, wenn man ihn seitlich aufschlitzte. Die Berger hieben ihre sensenartigen Klingen in die zentimeterdicke Fettschicht, hackten viereckige Stücke heraus, wateten dabei buchstäblich in Blut. Schicht für Schicht legten sie die Innereien des Wals frei, eine schauderhafte Ansammlung von mannsgroßen Gedärmen, sackartigen Ausstülpungen und kotschwarzen Eingeweiden, angefeuert von Alco schlürfenden, grölenden Peacern. Zuletzt öffneten sie die Magenkammern und Darmschläuche. Gestank strömte ins Freie, vermischte sich mit dem Blutgeruch, vertrieb die meisten Zuschauer. Lina, die beim Stapeln der Fleischstücke geholfen hatte, hatte sich die Hände auf Mund und Nase gepresst, während ihr Magen sich umdrehte.
Die Strapazen lohnten sich. 20 Kilo Plastik und Metall holten sie aus dem Kadaver heraus. Vieles, was sie fanden, war ein halbes Jahrhundert alt, doch noch zu gebrauchen. Allerdings musste man es schrubben, mit chemischen und mechanischen Mitteln aufbereiten. Fleisch und Fett gingen an Fleischereien und Kochereien. Das Fleisch würde man salzen, räuchern, braten oder kochen, das Fett zu Tran verarbeiten. Er diente als Lampenöl und Brennstoff und in dürregeplagten Jahren als Nahrungsquelle. Auch Knochen, Sehnen, Haut, Walrat und Organe nahmen sie mit.
„Ein Cent für deine Gedanken.“
Sie sah hoch. Roman stand vor ihr, eine Dose Bier in der Hand.
„Einen.“
Er verdrehte die Augen. „Einen Cent.“
„Ist so ein Tick von mir, sorry. Nicht böse gemeint.“
„Nervt trotzdem.“ Er hockte sich neben sie und hielt ihr die Dose hin.
Lina rümpfte die Nase. „Woher habt ihr das Zeug?“
„Von Sammlertrupps.“
„Ist da nie was verdorben?“
„Falls ja, kippst du es weg.“ Roman zuckte mit den Schultern und trank einen weiteren Schluck. „Willst du jetzt was?“
Lina bemerkte den gereizten Unterton. Sie lehnte sich an ihn. „Ein Schlückchen.“
„Genau. Mach dich mal locker.“
Das Bier schmeckte schal und erdig. Sie würgte es hinunter, reichte Roman die Dose zurück.
„Mehr nicht?“
„Ich stehe nicht so auf Bier.“
Er sah sie von der Seite an. „Du bist doch keine von diesen Zugeknöpften?“
„Was?“
„Frauen, die keinen Spaß verstehen. Die nie was trinken, nie was nehmen, keinen an sich ranlassen.“
„Na ja, der Tag war anstrengend. Hatte ich so nicht erwartet.“
Roman trank einen Schluck. „Ist hart beim ersten Mal. Ging mir genauso.“
„Wirklich?“
„Hab gekotzt. Heimlich. Erzähl’s nicht weiter.“
„Dann war ich tougher als du. Mein Mageninhalt ist noch drin.“
„Ich glaub auch, dass du ganz schön tough bist.“ Er rutschte einen Zentimeter näher. „Macht mich irgendwie an.“
„Ach ja?“ Sie lehnte sich vor. Seine Augen wirkten verschleiert; schwer zu sagen, ob von dem wässrigen Bier oder vor Erregung.
„Mhm“, brummte er, sich ihrem Ohr nähernd. „Tough und süß. Wie Lara.“ Er beugte sich vor und küsste sie. Lippen, Zunge, eine Menge Bierspeichel. Das ganze Programm.
Linas Herz klopfte, aber es galoppierte nicht. Der heiße, allseits beliebte und angeschmachtete Roman Adenauer knutschte mit ihr. Sie hatte von diesem Moment geträumt, ihn ersehnt und gefürchtet, hatte Schiss gehabt, dass sie seine Erwartungen nicht erfüllen, er sie nicht begehren würde. Und jetzt? Sie erwiderte die Küsse, spürte, wie seine Hände an ihre Taille wanderten, an ihre Brust, wollte mehr fühlen als eine milde Aufregung.
Aber da war nicht mehr.
Er bemerkte ihren Rückzug. „Was ist?“, fragte er mit belegter Stimme.
„Keine Ahnung.“
„Zu viele Leute?“
Sie betrachtete den von Bäumen gesäumten Platz. Ein schöner Ort, einladend, friedlich, sauber. Die Kirche mit dem roten Dach stand noch. Neustrelitz hatte überlebt. Es gab Häuser und Straßenzüge, wenngleich sie unbewohnt schienen. Jogga hatte ihr erklärt, dass Einheimische sich oft versteckten, wenn Fremde nahten.
„Was ist jetzt?“, raunte Roman, den Kopf in ihrer Halsbeuge. „Verziehen wir uns nach drinnen?“
Er stand auf, zog sie hoch und an sich. Oh ja, er war erregt, kein Zweifel. Nicht gerade schüchtern, der gute Roman.
Willenlos ließ sie sich mitziehen, fragte sich kurz, ob er ihr was ins Bier geschüttet hatte, aber das war Unsinn. Schließlich hatte er fast alles allein getrunken. Nein, es lag an ihr. An ihrer Unentschlossenheit, diesem verdammten Tag, den Peacern, dem Wal, der Höllenhitze. Seinen Bemerkungen.
Feo lag benebelt auf dem Pflaster, die Hose besudelt von Urin. Mamba und Kelli soffen mit Russki und KaWe aus einem Plastikkanister, lallten ihnen Zoten hinterher. Die drei Fragezeichen saßen am Kircheneingang, hatten die Beine durch das Geländer gesteckt. Sie schienen nüchtern, verfolgten Lina und Roman mit wachen Blicken. Chazzas Augen ruhten eine Sekunde länger auf ihr.
Drinnen war es düster wie in einer Höhle. Aus einer Ecke tauchten Jogga und Jumper auf, die Körper angespannt.
„Relax“, warf Roman ihnen lässig zu. „Wir sind’s. Sonst noch jemand hier?“
„Nö“, gähnte Jogga.
„Was macht ihr hier? Fummelt ihr?“ Roman prustete.
„Red keinen Scheiß!“, sagte Jumper scharf. „Wir passen auf die Beute auf.“
„Gut. Lina und ich suchen uns mal ein ruhiges Plätzchen.“
Jogga grinste breit. „Alles klar. Viel Spaß, Jefe.“
„Wehe, ich erwische euch beim Lauschen.“
Jumper schnaubte. „Bin doch nicht pervers. Hab‘ eigene Weiber.“
Lina fühlte sich mit jeder Sekunde unwohler. Roman zog sie weiter in einen Raum, in dem außer Konturen nichts zu erkennen war.
„Hey“, flüsterte er. „Entspann dich.“
Dann fiel er sie an wie ein Wolf. Sein Mund schmatzte über ihr Gesicht, seine Nase strich über Hals, Ohren, ihr Haar, stupste ihr Basecap vom Kopf. Seine Hände fuhren über ihren Körper, schoben ihre Kleidung hoch, ergriffen Besitz von ihrer Haut. Er drängte sich an sie, erst seitlich, dann von hinten. Sie rang nach Luft. Das schien ihn nur anzustacheln. Sein Glied drückte sich gegen sie, rieb an ihr. Auch sie wurde steif. Es war zu viel. Zu schnell, zu hart, zu dunkel. Er überall. Sie versuchte, ihn abzuwehren; Arme, Körper, Mund, Schwanz, alles, aber er hielt sie fest.
„Hör auf“, keuchte sie in seinen Mund. „Stopp! Hör auf!“
Keine Schreie, eher gestöhnte Satzfetzen, niedergerungen von Atemnot und Enge.
Sie wurde rabiater, als Panik sie ergriff, trat nach ihm, stieß ihm beide Hände gegen die Brust, drückte ihn weg, bückte sich heftig atmend nach dem Basecap. „Schluss.“
Er legte den Kopf auf die Seite, musterte sie. Seine Hände strichen die eigenen Beine hoch und runter, als bräuchten sie etwas, an dem sie die Energie ableiten konnten.
„Spinnst du?“, fragte er schließlich. „Bin ich plötzlich nicht mehr dein Typ?“
„Keine Ahnung. Ich ... fühl dich nicht. Du machst mir Angst.“
„Du fühlst mich nicht?“, explodierte er. „Was ist das denn für ein Scheiß? Den halben Tag baggerst du mich an und jetzt so was? Mann, du bist echt bekloppt. Zicke!“
Sie biss sich auf die Zunge. „Ich gehe wohl besser.“
Zornig zerschnitt er mit den Armen die Luft. „Ja, hau ab! Zum Ficken find ich genug andere Huren hier.“
Finally I can see you crystal clear.
„Kein Grund, eklig zu werden.“
„Sag du mir nicht, wie ich mich zu benehmen habe.“ Er trat einen Schritt auf sie zu und sofort wich sie zurück. Etwas Neues war aufgeflammt in seinem Gesicht, eine Härte, die nichts mit Enttäuschung wegen der Abfuhr zu tun hatte.
„Stopp!“, warnte sie ihn.
„Leck mich!“, fuhr er sie an. „Das nervt mich schon den ganzen Tag. Eine Nutte, die sich aufführt, als hätte sie mir was zu sagen. Hat mich so abgetörnt, deine Klugscheißerei. Schon beim ersten Treffen.“
„Warum hast du mich dann eingeladen?“
„Geile Titten, geiler Arsch. Sah vielversprechend aus.“ Ihr war klar, dass er sie verletzen wollte, trotzdem tat es weh. Am meisten die Kälte in seiner Stimme.
„Tja“, brachte sie heraus. „Dachte ich auch. So kann man sich täuschen.“
„Hure!“
„Mehr fällt dir nicht ein?“ Ihre Angst wich heißer Wut. „Du bist so ein Schlappschwanz. Ein Muttersöhnchen, das keine Abfuhr erträgt. Mach’s gut!“
Verärgert ergriff sie die Flucht nach vorn. Er drückte sie zurück, machte sich breit. Genauso gut konnte sie versuchen, einen Schrank zu verschieben.
„Ich zeig dir gleich, wie schlapp mein Schwanz ist.“
Angst loderte in ihr auf wie eine Stichflamme. „Lass mich durch.“
„Sonst was?“, höhnte er. „Schreist du dann nach Hilfe? Ich glaube, das würde mich noch mehr anmachen.“
„Lass mich vorbei.“
„Schrei doch. Vielleicht wollen Jogga und Jumper sogar mitspielen. Jumper nagelt ziemlich hart, wie man so hört.“
Ein Klumpen bildete sich in ihrem Magen. „Hast du’n Ei am Wandern? Lass mich durch, ja? Ich nerv dich nie wieder.“
Seit wann krächzte sie so?
„Verdammt richtig. Du nervst mich nie wieder.“
Und dann explodierte seine Faust auf ihrer Wange.
Reflexartig verpasste sie ihm eine Ohrfeige, noch bevor der Schmerz ihr Bewusstsein erreichte.
Er zuckte zurück. Seine Augen verengten sich, die Stirn schob sich zusammen, der Mund wurde zu einem dünnen Strich. „Letzte Chance zu schreien.“
Ein grausames Lächeln erschien in seinen Mundwinkeln und ihre Nackenhärchen stellten sich auf. Er würde ihr wehtun. Richtig weh.
Ohne zu zögern trat sie ihm brachial gegen das Schienbein. Als er mit einem Grunzen nach vorn klappte, hieb sie ihm ihr Knie unter die Nase und er sackte benommen zu Boden.
Sie wollte noch einmal zutreten, doch ihre Sinne registrierten Geräusche von draußen. Sie sprang in die Ecke hinter der Tür, machte sie sich so unsichtbar wie möglich. Das Glück war auf ihrer Seite. Jogga und Jumper hatten keine Taschenlampe dabei, tappten blind in die Mitte des Raumes. Geräuschlos glitt sie hinaus, huschte den Gang hinunter, die Wand zu Hilfe nehmend.
Gerade, als sie den Eingang erreicht hatte, hörte sie das Brüllen der Männer und erstarrte. Die Fragezeichen wandten sich nach ihr um. H-Dog und MacBig sprangen auf und schauten sie unschlüssig an.
Chazza reagierte am schnellsten. „Hau ab!“, flüsterte sie, ihre Freunde zurückhaltend. „Mach schon!“
Lina blieb keine Zeit für ein Danke. Sie rannte ins Dunkel hinein.
14.03.2041
Nach fast zwei Wochen ist Sascha wieder da. Er hat seinen Freund Yianni mitgebracht. Zum Glück war er so schlau, Yianni die Augen zu verbinden und nur bis zu C zu bringen, sonst hätte Logan ihn erschossen. Geschimpft hat er trotzdem. Dann hat er Yianni ein Messer an die Kehle gehalten und danach Sascha. Daraufhin ist er mit Kevin und Ileana aneinandergeraten. Ileana hatte beinahe einen Tobsuchtsanfall. Yianni hat Sascha draußen gerettet. Vor einem Haufen Typen, die wohl mit Klebstoff handeln. Abends habe ich gesehen, wie Sascha und Yianni in D saßen. Ich bin mir sicher, sie hatten Drogen dabei.
Eine Hand presste sich auf ihren Mund. Panik überflutete ihren ohnehin überhitzten Verstand. Aufgelöst schlug und trat sie nach allen Seiten.
Ein zweiter Mann trat vor sie. „Sh. They’ll hear you.“
Lina würgte gegen die salzigen Finger an. Rotz rann aus ihrer Nase.
„We’re not going to hurt you. Be quiet.“ Lupenreines Englisch.
Der erste Mann zog sie von der Straße weg. Der Sprecher lief neben ihnen, passte auf, dass sie nicht stolperte. Entsetzt erkannte sie einen dritten Mann, der voraus huschte.
Drei Fremde. In stockfinsterer Nacht nahe einer gottverlassenen, von Wasser umspülten Stadt im Nirgendwo des Haveldeltas. Linas Verstand setzte aus, ebenso ihre Gliedmaßen. Wie eine Puppe ließ sie sich von den Männern wegtragen; tief in brackige Buschpfade hinein.
Irgendwann hielten sie an, zwangen sie in die Hocke, duckten sich hinter eine Art Deich. Dann erst verschwand die Hand von ihrem Mund.
„What happened?“, flüsterte der stämmige Mann, der versucht hatte, sie zu beruhigen.
„I don’t know“, gab sie zittrig zurück. Ihre Augen fühlten sich so wässrig an wie ihre Muskeln.
„What’s with your face?“ Sie erschrak, als er sich über sie beugte.
„I am not going to hurt you“, betonte er. „Relax.“
Ein gequetschtes Kichern drang über ihre Lippen.
„Karim! Malek!“ Die beiden anderen Männer erhoben sich und schwärmten aus.
„Better?“, fragte der Mann.
Unschlüssig nickte sie.
Er hielt den Kopf schief, wartete.
Sie musste ein paar Mal schlucken, bevor sie sprechen konnte. „Verstehst du Deutsch?“
„Ja.“
Sie gab ihm eine gestammelte Kurzversion ihres Abends, die er sich mit konzentriert gerunzelter Stirn anhörte.
„Ich heiße Len“, stellte er sich anschließend in grauenhaftem Deutsch vor. „Malek und Karim arbeiten für mich.“
„Seid ihr Trasher?“
„Ja. Hatten Probleme mit dem Plavlot.“
„Seid froh. Es gab Verletzte. Tote.“ Bei der Erinnerung legte sie fröstelnd die Arme um ihre Knie. „Dieser Peacock mit seiner Kampftruppe machte kurzen Prozess.“
„Woher kommst du?“
„Spandau.“
„Aus der Kolonie? Nicht schlecht.“
„Und du? England?“
Er nickte. „Angeschissen, nicht wahr? Wollte nach Schottland, aber am Hadrianswall war Endstation. No Brits. Wie überall.“
„Ein paar Staaten hätten euch mit Kusshand genommen.“
„Niemand nimmt mehr irgendjemanden mit Kusshand. Jeder sieht, wo er bleibt. Europa hat ausgedient.“
„Und Amerika?“
„Absprung verpasst. Als Kalifornien und die Ostküste noch existierten, hätte ich gehen müssen. Andererseits wäre ich da jetzt auch nicht mehr. Entweder würden die Fische mich fressen oder die Schwulenhasser im Bible Belt.“
„Bist du schwul?“
„Ist das ein Problem für dich?“
„Nein. Es bedeutet, dass ich safe bin.“
„Nicht jeder Kerl ist ein Dreckskerl.“
„Was ist mit deinen Freunden?“
„Meinen Angestellten. Sie werden dir nichts tun.“
„Solange du dabei bist.“
„Misstrauen ist eine gute Sache, aber manchmal muss man es überwinden.“
„Sie sind Araber und ich eine weiße Frau.“
„Blond und hübsch dazu, wenn das Veilchen nicht wäre. Leider voller Vorurteile.“
„Es gab genug Übergriffe dieser Art.“
„Glaub nicht jeden Scheiß. Außerdem sind sie auf der Balkanroute geboren, nicht in Arabien.“
Ein Rascheln ließ Lina zusammenzucken. Len drehte sich um. Der dünnste der drei Männer war aus dem Dunkel aufgetaucht.
„Karim“, begrüßte ihn Len. Dann wechselte er leise Worte mit dem Angestellten. Lina verstand weniger als die Hälfte, denn Karim sprach eine Mischung aus einem halben Dutzend Sprachen.
„Offenbar ist uns niemand gefolgt.“
Lina atmete erleichtert aus. „Gut.“
„Unser Plavlot liegt südlich von hier. Wir können dich mitnehmen.“
„Ich kenne euch doch gar nicht!“
„Du hast nichts zu befürchten.“
„Danke, aber ich komme schon klar.“
„Wie?“
„Irgendwie.“ Sie hörte selbst, wie verzagt sie klang.
„Dein Typ und seine Buddies streifen durch die Straßen und suchen nach dir.“
„Irgendwann hauen sie schon ab. Ich suche mir dann eine Mitfahrgelegenheit bei Händlern oder bleibe hier, bis meine Familie mich holt.“
„Für Einheimische bist du eine von den Peacern. Die pissen in ihre Straßen, besetzen ihre Häuser, plündern ihre Vorräte und Schlimmeres. Ich würde mich verkrümeln.“
Lina tastete nach ihrer glühenden Wange, spürte die Schwellung unter dem Auge. Gedanken jagten durch ihren Kopf. Kein einziger davon gefiel ihr. Sie zog die Knie an die Brust, legte den Kopf auf ihre Arme. Wie zur Hölle war sie in diese Scheiße geraten? Ein Ausflug über Land. Ein bisschen flirten mit RoAdie Fucking Adenauer. Jetzt hockte sie mit drei Typen auf einem Deich inmitten des Deltas. Nicht nur Scheiße. Ein Megahaufen Durchfall.
We can’t go on together with suspicious minds.
Sie seufzte. „Alright.“
Im ersten Streifen Dämmerlicht erreichten sie das Plavlot. Während die Männer das aus Ölfässern und Plastik bestehende Gefährt aus einem Schilfwald zerrten, schlief Lina beinahe im Stehen ein, dämmerte weg, sobald Len ihr eine Ecke im hinteren Teil zugewiesen hatte.
Stunden später weckte sie der Durst. Sie kroch unter einer klebrigen Plane hervor, nahm ihr Cap ab, zog es durch das Wasser und setzte es wieder auf.
Einer der Angestellten hielt ihr eine Flasche hin. Sie sahen einander ähnlich wie Brüder. Schmächtig, hellbraune Haut, kohlrabenschwarze Haare, die ihnen ungekämmt in die dunklen Augen fielen, kümmerliche Bartstoppeln.
Len, der das floßähnliche Boot lenkte, wirkte um einiges älter. Ein typischer Engländer mit rotblondem Haar und hellblauen Augen. Flammender Sonnenbrand sprenkelte Wangen, Nase, Stirn und Unterarme. Die Falten um seine Augen sahen aus wie mit weißer Tinte tätowiert.
Lina trank das Wasser in einem Zug und sah sich auf dem abenteuerlichen Gefährt um. „Eigenbau?“
„Ja. Sie leistet uns seit Jahren gute Dienste.“
„Sie?“
„Boote haben weibliche Namen.“
„Und wie heißt sie?“
„Darling oder Bitch. Je nach Situation.“
Lina musste lächeln. „Hat sie einen Motor?“
„Einen kleinen. Zwei winzige Segel, drei Paddel, eine Stakstange. Sie ist superleicht, deshalb reicht auch eine Brise zum Vorwärtskommen. Heute genügt ein Segel.“ Mit dem Kinn wies er auf ein Stück Stoff, das aussah wie eine mehrfach gefaltete Gardine.
„Und bei zu viel Wind? Fliegt sie dann weg?“
„Wenn niemand drin sitzt.“ Len hob seine Stimme. „Karim! Binocs!“
Der schmächtigste der drei hockte im Bug, eine Angel auf der einen Seite, ein Netz auf der anderen. Einem verborgenen Fach entnahm er ein Fernglas und hielt es an die Augen. „Nada“, rief er mit heller Stimme.
Len schien erleichtert.
„Keine Verfolger?“, fragte Lina.
„Zumindest haben wir sie nicht gesehen.“
„Wo sind wir?“
„Schwer zu sagen. Ich besitze kein Radar.“
„Wie orientierst du dich dann?“
Len entblößte gelbliche Zahnreihen. „Kompass und Karten, wie vor 500 Jahren. Land- und Wassermarken. Bojen, Schilder, Inseln und Halbinseln, alte Türme und Schlösser. Die Peacer sind besser ausgestattet.“
„Radar und Funk“, warf Malek in einer Art Pidgindeutsch ein.
Len nickte. „Falls sie dich verfolgen, werden sie sich aufsplitten.“
Besorgt rieb Lina sich ihren Nacken. „Darüber habe ich noch gar nicht nachgedacht. Was jetzt weiter passiert.“
„Der Kerl wird in einige Erklärungsnot kommen.“
Lina betastete den Riss, den Romans Ring hinterlassen hatte. „Sehe ich schlimm aus?“
„Ganz schön ramponiert. Was passiert jetzt mit ihm?“
„Anzeige. Hoffentlich verknacken sie ihn zu einer saftigen Strafe.“
„Hoffentlich?“
„Seine Familie gehört zu den oberen Tausend. Einem Adenauer pinkelt man nicht so leicht ans Bein.“
„Hm.“ Len verfiel in ein Schweigen, das Lina nicht gefiel.
„Ich würde ihm lieber ein paar aufs Maul hauen“, gab sie zu. „Aber das macht die Sache nicht besser. Roman hat eine Menge Freunde.“
„Sieh dich bloß vor. Solche Typen sind gefährlich.“
Lina sank in sich zusammen. „Was soll ich denn tun?“
„Dich verstecken, bis Gras über die Sache gewachsen ist.“
„Aber ein paar Leute haben mitbekommen, wie Roman hinter mir her ist. Das sind doch Zeugen, oder?“
„Wenn sie aussagen.“ Len legte ein Bein über die Ruderpinne, schwenkte ein Tuch durch das Wasser und band es sich um den Kopf. „Kannst ja noch mal drüber nachdenken. Da vorn liegt die Dreikircheninsel; wir sollten also etwa zwei Stunden westlich von Spandau sein.“
„Dann springe ich mal kurz ins Wasser.“
„Wir könnten essen und Wasser abkochen“, schlug Karim vor und holte das Netz ein. Darin wimmelte es von Fischen und Krebsen. Malek öffnete eine versteckte Klappe, unter der sich ein einfacher Grill aus Metallteilen befand.
„Okay, ankern wir“, sagte Len.
Das Bad hatte sie nicht nur erfrischt, sondern auch ihre Wange gekühlt und das Blut abgespült. Trotzdem bestand Len auf einer mit Jod bestrichenen Bandage. Gegen das geschwollene Auge musste ein nasses Halstuch genügen.
In der Zwischenzeit hatten Karim und Malek das Essen zubereitet und Wasser in einem hohen Topf zum Sieden gebracht. Beeindruckt beobachtete Lina, wie sie den Deckel verkehrt herum auf das Gefäß legten, sodass sich das Kondenswasser am Griff sammelte und direkt in den Becher tropfte, der im Topf stand.
Karim reichte ihr den Fisch zwischen zwei gerösteten Brothälften.
Vorsichtig biss Lina ab. Der Fisch schmeckte fade, das Brot bitter. „Was für eine Sorte ist das?“
„Eicheln“, gab Len zurück. „Samen. Nüsse. Cones.“
Lina verzog das Gesicht. „Zapfen?“
„Besser als Verhungern. Gibt es bei euch Brot?“
„Aus Weizen oder Mais, außerdem Fladenbrot aus Reis, Süßlupinen oder Soja.“
„Bei uns zahlst du dafür ein Vermögen.“
Linas Blick wanderte zu den Brotscheiben, die noch auf dem Grill lagen. „Ich werde mich revanchieren.“
Len winkte ab. „Eichelbrot ist billig. Und die Fische gab es umsonst.“
Die nächste Stunde glitten sie schweigend über das Wasser. Sie kamen gut voran. Schon die kleinste Brise blähte das Gardinensegel auf.
„Kommt ihr oft hier raus?“, fragte Lina.
„Manchmal“, erwiderte Len. „Für Wale, Fischschwärme oder Treibgut. Ansonsten bleiben wir in der Stadt. Bei Sturm sowieso.“
Lina richtete sich auf. „Ihr überwintert in Berlin?“
„Nicht in der City.“ Er spuckte aus. „Drecksloch!“
„Ich habe noch nie jemanden aus der Stadt getroffen.“
„Schnüfflerleichen allesamt. Oder Kriminelle. Oft beides.“
„Da!“, unterbrach Karim aufgeregt und setzte die Binocs ab.
Maleks Gesicht nahm die Farbe nasser Asche an. „Bloqueo?“
„Drei Kähne“, bestätigte Karim. „Harpunen und Gewehre.“
Sofort riss Len die Ruderpinne herum, sodass das Gefährt heftig schwankte und Malek sich auf die Seite warf. Karim rutschte zu ihnen und griff nach dem Segel. In Nullkommanichts waren sie auf einem anderen Kurs.
„Warum drehst du ab?“, rief Lina. „Es ist nicht Roman. Wir hatten keine Kähne.“
„Bewaffnete Patrouille“, schnappte Len.
„Das ist doch gut. Ich kann ihnen alles erklären.“
„Vorher erschießen sie uns.“
„Len!“
„Lass ihn“, mischte Malek sich ein und wies auf seinen Bauch. „Er hat ein gutes Gefühl für solche Situationen. Siditje.“
„Kharascho“, lenkte Lina ein, sein Russisch aufgreifend.
„Sie verfolgen uns“, rief Karim.
Len knurrte etwas zwischen zusammengebissenen Zähnen, doch Malek schien ihn zu verstehen, hebelte eines der Paddel ab und warf es Lina zu. „Rudern“, war alles, was er sagte.
Len steuerte in einem Bogen durch Inselgruppen hindurch und an Landzungen vorbei. Lina glaubte, dass sie sich den Siedlungen näherten, die nordwestlich vor Spandau lagen. Bojen schaukelten in den Wellen, außerdem Schilfgürtel, Inselchen und schwimmende Wälder. Möwenschwärme erschienen am Himmel. Das Meer begann, einem breiten Fluss zu ähneln, typisch für das Delta. Sandstreifen und Schlickebenen erhoben sich aus dem Wasser, später Strommasten und hohe Bäume, Kirchtürme und Spitzdächer. Gefährliches Terrain. Die Schiffe und Bergungskähne benutzten andere Zufahrten.
Die nächste Blockade tauchte jählings hinter einer Landspitze auf, so nah, dass sie die Männer in ihren Camouflagehemden auch ohne Binocs ausmachen konnte. Sobald sie um die Spitze bogen, richteten Zeigefinger und Schusswaffen sich auf sie, erschollen laute Rufe.
Reflexartig absolvierten Linas Retter ein waghalsiges Wendemanöver.
Lina umklammerte ihr Paddel, betäubt von der Erkenntnis, dass sie erwartet worden waren.
Das Aufheulen eines Motors schreckte sie aus ihrer Benommenheit. Ein Motorboot, das sich zwischen den Ruderbooten versteckt gehalten hatte, schoss auf sie zu. Sie begann, wie eine Besessene zu rudern.
Len hängte einen Außenbordmotor über das Heck und riss an der Zündschnur. Tuckernd erwachte der Motor zum Leben. Trotzdem näherte das Boot sich unaufhaltsam.
„Len“, kreischte Lina und duckte sich in dem Moment, in dem ein Knall ertönte.
Sie schießen, dachte sie fassungslos.
„Trottel“, brüllte Len, dessen Gesicht leuchtete wie eine Tomate. „Auf die Entfernung treffen sie nie was.“
Er hatte recht. Die Geschosse peitschten weit hinter ihnen ins Wasser. Aber sie drehten nicht ab. Das Gejohle wurde lauter, die Einschüsse kamen näher.
„Four kids“, schrie Karim, der es trotz des Geschaukels schaffte, die Binocs ruhig zu halten.
Lina lugte über den Bootsrand. „Das ist die Reserve. Rekruten, die noch nicht mit auf die Missionen dürfen.“
„Die machen die Drecksarbeit“, stellte Len fest.
Das Boot hielt direkt auf sie zu. Grölen übertönte die Motorengeräusche.
„Würde mich nicht wundern, wenn sie sich mit Alco aufgeputscht hätten“, sagte Lina und ging in Deckung.
„Plus Adrenalin und Hormone.“ Len schaute grimmig.
„Mit ein paar Teenagern werden wir fertig.“
„Sie haben Gewehre und ein schnelles Boot.“
Sie selbst hockten auf einem Plastikeimer. „Haben wir Waffen?“
„Messer, Harpune, Bogen.“
„Keine Knarren?“
„Nein. Würdest du auf Kinder schießen?“
„Wenn sie versuchen würden, uns zu töten, logo. Sie oder wir. Simple.“
„Nothing simple about killing.“
„Attenzione!“ Karim fuchtelte mit den Armen.
Ein Berggipfel erhob sich aus dem Delta. Hinter ihm lugten weitere aus dem Wasser, so niedrig, dass sie kaum zu sehen waren. Sie rasten an dem Gipfel vorbei, bemoosten Baumwipfeln ausweichend.
Die Ölfässer, auf denen das Boot montiert war, konnten an allem Möglichen hängenbleiben, trotzdem steuerte Len direkt in den unterseeischen Bergwald hinein. Lina erkannte Häuser am Grund, manche zerborsten, andere unbeschadet. Gärten, Straßen, Verkehrsschilder. Fahrräder und Autos. Eine ländliche Idylle, erdrückt vom Meer. Der Anblick machte sie traurig. Für einen Augenblick vergaß sie ihre Verfolger, hoffte, dass die Bewohner geflohen waren. Zeit hatten sie gehabt. Das Wasser war ja nicht über die Welt hineingebrochen wie eine monströse Flutwelle, sondern über Jahrzehnte eingesickert. Hatte das Land gefressen wie eine Raupe ein Blatt, die Böden versalzen, die Ernten vernichtet, das Grundwasser verseucht. Das Unbegreifliche war, dass es nicht geregnet hatte. Das Wasser war gestiegen, aber die Sommer waren heißer und trockener geworden. Nur im Herbst schüttete es. Wochenlang und monsunartig. Im Winter peitschten Stürme Wellen gegen Dämme, wehten alles weg, was nicht niet- und nagelfest war.
„Passt auf!“, rief Len.
Lina zwängte sich neben Malek, hängte sich über die Außenwand, Len schaltete den Motor ab. Nun vernahmen sie nur noch das Heulen und Jauchzen ihrer Verfolger.
Am Ende brauchten sie keine Waffen, denn jäh tat sich eine Fläche auf, die aussah wie mit Baumstümpfen gespickt. Ein Minenfeld. Plötzlich flog das Motorboot an ihnen vorbei. Schreiende Männer trudelten durch die Luft, klatschten auf das Wasser, fast so laut wie das Boot, das hüpfend auf dem Kiel aufkam. Lina klammerte sich an die Bordwand, während Malek geistesgegenwärtig das Gardinensegel herunterriss und Karim die Arme im Wasser versenkte, um das Plavlot auszubremsen.
Ein Körper landete neben ihnen. Galle schoss in Linas Hals, als sie die Baumspitze erkannte, die durch die Brust des pickligen Teenagers ragte.
„Oh Gott“, keuchte sie. Ihr Kehlkopf verkrampfte.
Direkt daneben trieb ein zweiter Körper. Malek und Karim glitten ins Wasser, hängten sich an die Bootswände, um das Gefährt zu stabilisieren, Len ergriff die Stange. Nach mehreren Versuchen gelang es ihm, den Körper herumzudrehen. Ein verzerrtes Kindergesicht kam zum Vorschein. Blut lief aus Auge und Ohr.
Den dritten Körper fanden sie im Boot. Offenbar hatte der Junge sich am Steuer festgekrallt und es auch während des Fluges nicht losgelassen. Ein Fehler. Er sah aus wie eine blutige Gliederpuppe, kein Knochen schien mehr heil zu sein. Seine Schienbeine ragten aus der Haut.
Einige Minuten fuhren sie im Kreis, doch der vierte Rekrut blieb verschollen.
„Wir sollten machen, dass wir wegkommen“, sagte Len.
Lina starrte auf den aufgespießten Körper. „Und sie?“
„Ihre Leute werden sie bergen.“
„Und falls nicht?“
„Sind sie Fischfutter.“ Lens Stimme wurde lauter. „Was willst du von mir hören? Sie wussten, auf was sie sich einließen.“
„Halbwüchsige?“
„Wir haben sie nicht umgebracht, sondern ihr Leichtsinn. Aber Roman wird uns umbringen, wenn er uns findet.“
Lina rieb sich mit der Hand über das Gesicht. „Fahren wir.“
Karim hielt sie zurück. „Ihr Boot. Vielleicht funktioniert es noch.“
Malek wartete Lens Antwort nicht ab. Er kraulte zum Motorboot, zog sich hinein, zerrte den Leichnam beiseite, betätigte die Zündung. Beim vierten Mal erklang ein Stottern, dann sprang der Motor an und Malek riss triumphierend einen Arm hoch.
Das erbeutete Boot war nur wenig größer als das Plavlot und ausgelegt für vier Personen. Sie verzurrten das Plavlot an der linken Seite und rollten den Leichnam ins Wasser.
„Glaubst du, sie waren wegen mir da?“ Lina hasste den verzagten Klang ihrer Stimme, doch sie fand nicht die Kraft, sich dagegen zu wehren, fühlte sich bleischwer und fiebrig.
Len nickte. „Er hat sie angefunkt. Der Kerl meint es ernst. Lässt dich umlegen, ohne mit der Wimper zu zucken.“
Tränen verfingen sich in ihren Lidern. „Ich hätte ihn nicht so reizen sollen.“
„Bullshit.“
„Vielleicht wäre gar nichts passiert.“
„Gib nicht dir die Schuld!“
„Aber ich wollte ja mitfahren, was mit ihm anfangen, verstehst du? Und letztlich ist nichts geschehen. Nichts richtig Schlimmes.“
Lens Stimme wurde giftig. „Jemandem zu drohen und ein blaues Auge zu schlagen reicht nicht?“
„Er käme nicht mal ins Gefängnis! Irgendwann wäre einfach Gras über die Sache gewachsen.“
„Du ruinierst seinen Ruf, besudelst seine weiße Weste. Vor allem hast du sein Ego verletzt. Eine Frau, die nicht nach seiner Pfeife tanzt, ihm eine scheuert und ihn vor seinen Untergebenen bloßstellt. Das wiegt tausendmal mehr als eine Strafe.“
Dazu schwieg Lina.
„Außerdem hat er ja eventuell schon was auf dem Kerbholz. Vielleicht bist du nicht die Erste. Wer weiß, was ein Verfahren noch ans Licht bringt?“
„Ich hab nie was in der Richtung gehört.“
„Wenn er die Frauen auch eingeschüchtert hat?“
Lina hieb auf den verschlissenen Kunstlederbezug. „Verdammter Scheißkerl!“
Len fing ihren Blick ein, sah sie eindringlich an. „Du kannst nicht nach Hause. Er wird alle Anlegestellen und Zufahrten beobachten. Wenn sie dich nicht vor den Toren abfangen, erwischen sie dich drin. Wir nehmen dich mit.“
Tiefe Mutlosigkeit überfiel sie. Len hatte recht. Roman kannte Leute, kannte ihren Wohnort. Sie dachte an ihre Eltern und blinzelte eine Träne fort. „Wohin denn?“
„Tegel.“
06.01.2042
Onkel Can ist tot. Wegen des Sturms können wir nicht hinaus, also liegt er fürs Erste im Keller. Julia und Cem weinen nur. Esra sieht aus wie ein Gespenst. Opa hat Angst, dass noch mehr Teile vom Dach und den Barrikaden wegfliegen und Plünderer die Gelegenheit nutzen. Niemand darf schlafen und muss Wache schieben; ich mit Mama, Kevin und Sascha. Ton darf mit Bertha schießen und Manu mit dem Sturmgewehr. Ich muss mit Laura im Schulzimmer lernen. Sie ist so dumm. Niemand liest so langsam wie sie, nicht einmal Ton. Immerhin ist sie nicht so eklig wie Ton und Manu.
Lina beugte sich vor und seufzte. Ihr Hintern war taub und ihre nackten Beine klebten an dem Kunststoffüberzug.
Len schnalzte. „Wir müssen schauen, dass du in andere Klamotten kommst. Deine sind zu sexy.“
Lina sah an sich hinunter. Shorts in Minirocklänge und ein figurbetontes Tanktop, unter dem sich der BH deutlich abzeichnete.
„Da, wo wir hin wollen, sorgt so ein Outfit für Unruhe. Camps, Wohnwagensiedlungen, Flussgemeinschaften.“
„Wo soll ich denn Klamotten herbekommen? Wo sind wir überhaupt? Schon in der Karibik?“
Len stieß ein Lachen aus. „Da drüben ist der Flughafen.“
„Lebt dort jemand?“
„Das ist eine Kleinstadt.“
„Wollen wir dorthin?“
„In die Nähe. Wird nicht mehr lang dauern. Gleich beginnt der Forst.“
„Ein Wald?“
Der Brite drosselte den Motor. „Früher gab es hier jede Menge Natur. Bäume, Wiesen, Felder, Moore. Gartenanlagen. Ein bisschen was ist noch da.“
Malek richtete sich auf, wechselte einige Worte mit Karim im Plavlot. Kurz darauf erschienen erste Inselchen und Sandbänke, die Überbleibsel der alten Welt.
„Peacer“, fuhr Len fort, „fahren selten hierher. Zu stadtnah. Wir werden am Wasserwerk ankern.“
„Wohnt ihr dort?“
„Karim und Malek leben im Lager, ich in einer Gartenkolonie. Wenn die Stürme kommen, kriechen wir im Flughafen unter. Kostet uns jedes Mal ein Vermögen.“
„Warum?“
„Weil der Flughafen anderen gehört. Ehemaligem Personal hauptsächlich. Sie lassen uns rein, aber nicht umsonst. Dafür sorgen sie für Sicherheit.“
„Vor den Stürmen?“
„Und vor Diebstählen, Vergewaltigungen, Morden.“
Lina wurde blass.
Len verzog das Gesicht zu einem dünnen Lächeln. „Die Stadt ist schlimmer. Wir haben die Flughafenpolizei, am Kanal Banden, die für Ordnung sorgen. Sie fordern Schutzgeld, aber sie lassen dich in Ruhe, wenn du ihnen nicht in die Quere kommst. In der City kämpft jeder ums eigene Überleben.“
„Wo genau beginnt die Stadt?“
„Für uns am Gefängnis. Von da aus ist es immer noch ein gutes Stück bis zur Innenstadt, doch für uns ist da Schluss. Du kannst bei mir unterkriechen.“
Der lang gestreckte Forst lag nur zu etwa einem Drittel unter Wasser. Östlich erstreckte sich der Tegeler See, dessen Ufergrenzen im Großen und Ganzen dieselben waren wie vor fünfzig Jahren. Das erklärte Len ihr, während er wachsam durch den Wald tuckerte.
„Wie lange bist du schon hier?“
„Seit 24 Jahren. Ich kam mit 17 nach Deutschland, ein paar Jahre später strandete ich hier.“
Lina sah ihn erstaunt an. „Du bist 41?“
„Hätte nie gedacht, die 30 zu überleben.“
„Die kommt bald auf mich zu.“
„Hier leben viele Alteingesessene. Mitglieder von Segelklubs und Anglervereinen. Hatten ihre Vereinshäuser direkt am Wasser, also auch Kanus, Boote und so. Als Berlin absoff oder abfackelte, war das hier der place to be. Sie verrammelten alles, stockten auf, holten ihre Familien, gründeten eine Gemeinschaft mit den Arbeitern des Wasserwerks.“
„Und wie kamst du zu ihnen?“
„Ich kannte einen der Söhne.“
„Romantisch?“
„Von einem Konzert in Bayern. Wir trafen uns, vögelten ein Wochenende lang.“
„Hey!“ Unbehaglich schlug Lina die Beine übereinander.
„Weltuntergang, Baby! Dachten wir zumindest. Also feierten wir. Orgien überall. Er verknallte sich in mich, wollte, dass ich mitkomme. Ich war noch nicht so weit. Hatte da unten gerade einen Platz zum Leben gefunden. Zwei Jahre später war die Welt nicht untergegangen, doch Süddeutschland von erzkonservativen Katholiken überlaufen, die Jagd auf alles machten, das nicht deutsch und straight war. Schlimme Zeit.“ Traurig schüttelte er den Kopf. „Nachdem sie einen Freund von mir beinahe gelyncht hätten, haute ich ab. Erinnerte mich an Jan. Hatte immer noch den Zettel mit seiner Adresse.“
„Hast du ihn aufgestöbert?“
„Ich fand ihn, aber da war er schon krank.“
„Cholera? Covid?“
„AIDS. Ich blieb bis zuletzt bei ihm. Deshalb akzeptieren sie mich.“
Beide verstummten.
Knöcheltiefes Wasser spülte um die Bäume. Schlamm machte einige Strecken unpassierbar, Buschwerk versperrte den Weg. Die untergehende Sonne tauchte die bemoosten, von Efeu verhangenen Stämme in ein seltsames Zwielicht, das einen Teil der Hitze schluckte. Lina genoss die kühlere Temperatur, wenngleich die Luft stickig blieb. Weiter weg sah sie verkohlte Baumstümpfe und eine teerfarbene Brühe aus Kohle, Ruß und Asche.
Dann verschwand der Wald hinter ihnen und sie schaukelten auf den erstaunlich sauberen Tegeler See. Len gab Gas. Kurz darauf erschienen am Horizont drei runde Türme, die an Getreidesilos erinnerten.
Len lenkte das Boot zwischen zwei bewaldeten Inseln hindurch. „Auf Scharfenberg sind die Leute bewaffnet“, brüllte er über das Jaulen des Motors hinweg. „Manche munkeln von Wasserminen. Auf Lindwerder gab es mal eine Sekte. Irgendeiner dieser Gurus, die nach der Flut aufgetaucht sind. Gab ein Massaker. Massenselbstmord. Eine Handvoll lebt noch, ernährt sich von Wurzeln, Gras und Fischen. Man sagt, sie hätten ihre Kameraden gefressen und wären durchgedreht.“
Entsetzt riss Lina die Augen auf.
„Man darf natürlich nicht alles glauben, was so erzählt wird.“
„Wird viel solches Zeug gequatscht?“
„Massenhaft. Gibt ja kein Fernsehen mehr. Die Welt ist scheiße, so wie sie ist, aber die Leute denken sich noch Abscheulicheres aus.“
Len fing das Boot kurz vor dem Ufer ab. Dann stellte er den Motor ab, winkte Lina hinter das Steuerrad und machte sich daran, hinter Malek in das Plavlot zu klettern.
Lina ließ sich in den feuchten Sitz plumpsen. Ihre Haut fühlte sich fiebrig an. Bestimmt hatte sie Sonnenbrand.
Vorsichtig navigierten sie in einen Schilfgürtel, an dessen Rändern Gebüsch und Unrat schwammen. Als das Schilf sich lichtete, gab es den Blick frei auf eine Anlegestelle, an der zwei Boote, ein Tretboot und ein kanuartiges Plavlot aus Plastikflaschen dümpelten.
Nachdem sie angelegt hatten, tauchten drei Männer und eine Frau auf.
„Len“, begrüßte einer der Männer den Engländer. Die anderen musterten Karim und Malek, dann Lina.
„Mathes.“ Len reichte dem Mann die Hand.
„Was ist passiert?“
„Stunk mit Peacern.“
„Das Boot?“
„Gehört nun uns.“
„Und sie?“ Mathes drehte sich zu Lina. Er war groß und dünn, trug eine Latzhose, sonst nichts. Sein gelbliches Gesicht sah zerknittert aus wie Papier.
„Lina. Wir haben sie unterwegs aufgelesen.“
Mathes musterte den Verband. „Wird sie uns Schwierigkeiten bringen?“
„Nein.“
„Bürgst du für sie?“ Das kam von einem älteren Mann mit Halbglatze und tropfnassen Wollhandschuhen.
„Ja.“
„Schläft sie bei dir?“
„Ja.“
„Hast du die Seiten gewechselt, Lenny?“ Der dritte Mann, ein Mittzwanziger mit asiatischen Gesichtszügen und einer Narbe am Kinn, entblößte makellose Zähne.
„Shut up, Dimash.“
„Lass ihn.“ Die Frau gesellte sich an Dimashs Seite wie eine Leibwächterin. Sie war schön wie eine samtäugige Prinzessin aus Tausendundeinernacht; jedoch mit einem bitteren Zug um den Mund.
„Belinda, entspann dich“, sagte Dimash. „Wir frotzeln nur. Stimmt’s, Lenny?“
„Shut up.“
Dimash lachte auf und umarmte Len. „Schön, dass du heil zurück bist. Hast du uns was mitgebracht?“
„Fische, Krebse und ein Boot.“
„Nichts vom Wal?“
„Die Peacer waren vor uns da. Darling hat schlapp gemacht.“
Die Halbglatze trat zu dem Plavlot und studierte es.
„Sie fährt noch, Uwe. Wir haben sie nur hinterhergeschleppt, um schneller zu sein. Wir sind alle ziemlich fertig. Kriegen wir Seife und ein Essen?“
„Wenn deine Leute uns den Fang geben, tischen wir euch ein Festmahl auf. Wir haben Kartoffeln und Erbsen und was zum Anziehen für deine Freundin.“ Mathes schob die Hände unter seinen Latz und stapfte davon.
Belinda hielt Karim einen Eimer hin. „Den Fang.“
„Bitte“, sagte Lina.
Belinda fuhr zu ihr herum. „Was?“
Len schob sich zwischen die Frauen und wies auf einen schmalen Uferstreifen. „Dort hinten kannst du dich frisch machen.“
Lina biss sich auf die Lippen, als Karim zurück zum Plavlot ging und Fische und Krebse in den Eimer warf.
Minuten später nahm Belinda ihm den Eimer ab, ohne ihn richtig anzusehen, und verschwand in Richtung eines flachen Gebäudes. Dimash und Uwe schlenderten hinterher.
„Was sollte das?“, wollte Lina von Len wissen, sobald sie unter sich waren.
„Fremde sind nicht gern gesehen. Sie wurden schon bestohlen, betrogen, angegriffen. Sind misstrauisch, wie alle Gemeinschaften, vor allem Flüchtlingen gegenüber.“
„Das ist Bullshit!“
„Tja. Die Welt ist eben nicht perfekt.“
Am Ende des Stegs erschien Mathes, in der einen Hand ein Eimerchen mit Bürsten und Seifennetzen, in der anderen einen Korb mit Kleidungsstücken. „In einer Stunde gibt es Essen.“
Der Uferstreifen schien verlassen. Lina streifte ihre Kleidung ab, legte sie zu Hipbag, Sonnenbrille und Uhren, stieg ins Wasser und schrubbte sich ab. Das Wasser war himmlisch, aber genießen konnte sie das Bad nicht. Zu viele Gedanken und Gefühle hagelten auf sie ein. Sorge. Heimweh. Erschöpfung und Erinnerungen.
Nach dem Abrubbeln mit dem winzigen Handtuch zog sie die ausgewaschene Baumwollunterwäsche, das Männerhemd und die Leggins an. Die Klamotten schlackerten an ihr, rutschten beim Gehen. Sie wusch ihre Kleidung, packte alles in den Korb, legte ihre Schuhe obenauf.
Die Männer beendeten ihr Bad, als sie um den Steg bog. Sie wartete mit dem Rücken zu ihnen, bis sie wieder in ihre Cargohosen und T-Shirts gestiegen waren. Ihre nassen Unterhosen und Linas Wäsche hängten sie über das Geländer des Hintereingangs, durch das sie ein Nebengebäude des Wasserwerks betraten.
Drinnen gingen sie an mehreren verschlossenen Türen vorbei, bis sie auf eine Kantine stießen. Essensduft strömte heraus.
An einem grünen Resopaltisch saßen Belinda, Uwe und Mathes. Lina entschied sich für den Platz neben Uwe, der die Handschuhe für das Essen abgestreift hatte. Sie roch die Kernseife, dennoch waren die Wurstfinger schwarz vor Schmiere.
Belinda beobachtete sie unter langen Wimpern. Der bittere Zug um die zusammengepressten Lippen passte nicht zu ihrem attraktiven Gesicht. Eine Disharmonie wie Romans Nase. Schnell schob Lina die Erinnerung von sich und lächelte. „Es riecht köstlich.“
„Dimash ist ein exzellenter Koch“, sagte Mathes.
Lina hörte Dimash in der Küche singen und mit Töpfen klappern. „Kocht er immer allein für alle?“
„Uns scheucht er raus. Nur fürs Gemüseputzen und Aufräumen sind wir gut genug.“ Mathes schien der Gesprächigste zu sein. Uwe stierte aus dem Fenster, Belinda verzog die Mundwinkel zu jeder Bemerkung und ihre Retter hockten mit schweren Lidern auf ihren Stühlen.
„Leben noch mehr hier?“
Drei Köpfe ruckten hoch und sechs Augenpaare durchbohrten sie.
„Falsche Frage, sorry. Wollte euch nicht aushorchen.“
Eine unangenehme Pause trat ein.
„Wir sind genug“, sagte Uwe.
„Und glaub uns, wir sind gut gesichert“, knurrte Belinda.
„Funktioniert das Wasserwerk noch?“
„Ist sie immer so neugierig?“, fragte Belinda Len.
Len gähnte ungeniert. „Keine Ahnung.“
„Seit wann bist du so vertrauensselig?“
„Die Ereignisse haben sich überschlagen.“
„Wieso? Was ist passiert? Hat sie was auf dem Kerbholz?“
„Sie ist auf der Flucht.“
Belinda lehnte sich zurück, verschränkte die Arme vor der Brust. „Vor wem?“
„Einem Riesenarschloch.“ Lina berichtete in Stichpunkten. Als sie fertig war, trug Dimash eine Pfanne an den Tisch. In ihr brutzelten Karims Fang, Kartoffelstücke, Erbsen und Möhren. Dazu servierte Dimash Wasser, in das er Kräuter gesteckt hatte.
„Das ist super“, lobte Lina nach den ersten Bissen. „Warst du mal Koch?“
„Er ist 22“, erwiderte Belinda. „Als er auf die Welt kam, gab es keine Restaurants mehr.“
„Das stimmt nicht“, widersprach Uwe. „Ein paar Imbisse und Schnellrestaurants hielten sich noch über Jahre.“
„Soll er als Kind Koch gelernt haben oder was?“ Genervt verdrehte die Prinzessin die Augen.
„Naturtalent“, sagte Dimash. „Hab’s als Kind schon geliebt. Wir haben zwischen City und Wasser gelebt, da gab es noch Konserven. Daraus konnte man was machen. Dann musste man erfinderischer werden. Tauben, Ratten, Katzen. Trotzdem verhungerten die Leute. Meine Mutter auch.“
Schlagartig hörten alle auf zu essen.
„Ups. Das war ein Stimmungskiller.“
„Mann!“, schimpfte Belinda. „Manchmal bist du echt so bescheuert!“
„Was denn? Mama ist doch verhungert!“
„Das geht doch keine Sau was an!“
Lina stockte. „Ihr seid Geschwister?“
„Halbgeschwister“, erwiderte Dimash.
„Unsere Väter machten sich beide aus dem Staub, sobald die Kacke am Dampfen war.“ In Belindas Zügen schwelte Zorn wie ein immerwährendes Feuer.
„Was ist mit deinen Eltern?“, fragte Dimash.
„Mutter und Stiefvater“, sagte Lina.
„Lebt ihr wirklich noch wie die Leute früher?“
„Na ja. Wir nutzen Solar, Windkraft und Wasserkraft, haben Generatoren, Elektroautos, Schiffe, Funkgeräte. Vor ein paar Jahren noch Handys.“
„Ein Paradies“, stellte Uwe fest.
„Auch bei uns gibt’s Dürrezeiten, Hunger, Überschwemmungen, Krankheiten. Der Strom fällt oft aus. Viele schuften echt hart für ihre Marken.“
„Marken?“, hakte Mathes nach.
„Statt Geld. Für Essen, Strom, Duschen, Möbel, Kerzen. Für alles eigentlich.“
Len erhob sich gähnend. „Wir hauen jetzt ab.“
Karim und Malek murmelten Dankesworte und verabschiedeten sich mit gesenkten Köpfen.
Mathes brachte sie zum Ausgang. Eine hohe Wand aus Holzbohlen, Spanplatten und Stahlträgern versperrte ihnen den Zugang zur Straße. Mathes führte sie zu einem Durchgang und entließ sie. Draußen hörten sie, wie mehrere Schlösser knackten.
„Schon ein bisschen paranoid“, flüsterte Lina.
Len pulte eine Gräte aus seinen Zähnen. „Denk an Spandaus Mauer und sag das noch mal.“
Lina streckte Karim die Hand entgegen. „Vielen Dank.“
Karim nahm ihre Hand flüchtig, wie etwas Verbotenes. Malek ergriff nur ihre Finger. Mit einem Winken entfernten sie sich.
„Home sweet home“, stöhnte Len, warf den Rucksack in eine Ecke und ließ sich auf eine durchgesessene Couch fallen. „Himmel, was für ein Trip!“
Lina sah sich um. Tisch, Sessel, Stuhl, Regal. Alles im Siebzigerjahrestil, abblätternd, vergilbt, verlebt. „Soll ich den Sessel nehmen?“
„Nein, nimm die Couch. Ich leg mich auf den Boden.“
„Ich passe locker in den Sessel. Kein Ding, ehrlich.“
„Wie du willst. Aber morgen Nacht tauschen wir.“
Len stand ein letztes Mal auf, um nach dem Rechten zu sehen. Sie hörte, wie er um die Laube schlich. Dann verschloss er die Tür, stellte den Stuhl davor, kramte nach einem Laken, sackte auf die Couch. „Klo ist im Garten.“ Er drehte sich zur Seite und war im nächsten Moment eingeschlafen.
Lina zog ihre Turnschuhe aus, rollte sich im Sessel zusammen und zog das Laken über sich. Hier in der Dunkelheit, an einem fremden Ort mit einem fremden Mann, fing ihr Herz an, wild zu schlagen.
Too late, too late, to live any other way.
Sie lauschte auf Lens Atemzüge, hörte seltsame Geräusche von außen, roch die abgestandene Luft. Es dauerte, bis auch sie die Erschöpfung überwältigte.
09.05.2043
Laura hat sich eine Tüte über das Gesicht gezogen und sich Klebeband um den Hals gewickelt. Sie sah fürchterlich aus, so tot. Ich glaube nicht, dass es so passiert ist. Ich glaube, Ton hat sie umgebracht. Ich weiß, dass er sie geschlagen hat. Dass er auf viele Arten gemein zu ihr war. Dasselbe hat er mit mir gemacht, nur das wirklich Schlimme nicht. Laura hat es mir nicht erzählt, aber sie hat viel geweint und eklige Bilder gemalt. Ton ist krank, ein Psycho. Alle wissen das und haben Angst vor ihm. Aber er gehört zur Familie. Ich hasse, HASSE, ihn.
Als sie erwachte, fand sie sich auf dem abgetretenen Teppich wieder, eingesponnen in das Laken und ohne Erinnerung daran, vom Sessel auf den Boden gerutscht zu sein.
Im Tageslicht sah Lens Laube noch abgeranzter aus. Staub flirrte durch die Luft, Fensterscheiben und Wände wiesen Risse auf.
„Morgen“, kam es verschlafen von der Couch her. Len streckte sich und warf die Beine über die Couchkante. „Durst?“
„Und wie.“
Barfuß schlurfte Len zur Tür und riss sie auf. Gleißendes Sonnenlicht empfing sie.
Sie schob die Wayfarer auf ihre Augen, das Cap auf ihren Kopf, merkte, dass sie vergessen hatte, Lens Leute nach einem Kamm zu fragen. Sie wühlte in ihrem Hipbag nach einem Gummi. Mit wenigen Handgriffen raffte sie das Gewirr zu einem Zopf.
„So langsam siehst du normal aus.“
Lina streckte Len die Zunge heraus, folgte ihm zum Carport, wo sie Campingstühle zur Seite räumten. Darunter lagen Teppiche, so stinkend und verlaust, dass Lina aufstöhnte. Der Brite zog sie beiseite, legte ölbespritzte Bohlen frei und trat auf die vierte Bohle von links. Ein Hohlraum kam zum Vorschein. Gleich darauf hielt Len zwei Flaschen in der Hand. „Wahrscheinlich abgestanden. Liegt da schon eine Weile.“
„Niemand hat dieses Versteck bisher gefunden?“
„Zwei Schnüffler. Hab dafür gesorgt, dass sie nichts weitersagen.“
Lina, die dabei gewesen war, den Deckel abzuschrauben, stockte. „Du hast sie doch nicht gekillt?“
„Viel fehlte nicht.“ Er wischte sich einige Tropfen vom Mund. „Hab für Junkies nichts übrig. Egoistische Scheißkerle allesamt. Die Jungs hatten mich beobachtet. Als ich weg war, räuberten sie das Versteck aus, brachen die Hütte auf, rissen Tapeten runter, schlitzten den Teppich auf. Ich fand sie, als sie gerade auf meine Couch scheißen wollten.“
„Wie alt waren sie?“
„Alt genug, um für ihre Fehler zu bezahlen.“ Er ließ sich auf einen der Campingstühle sinken, schob Lina den anderen mit dem Fuß hin. „Schau nicht so entsetzt. Niemand hat vor mir was zu befürchten, solange er mich und mein Eigentum respektiert. Leben und leben lassen.“
Lina klammerte sich an ihre Wasserflasche. „Shit. Ich fühle mich wie ein Alien auf einem fremden Planeten.“
„Du gewöhnst dich dran. Hier kann man leben.“
„Und wie?“
„Bedürfnispyramide.“
„Maslow?“
Len zog eine Augenbraue hoch. „Du kennst ihn?“
„Psychologiekurs.“
„Schule? Nicht schlecht.“
Lina kramte in ihrem Gedächtnis. „Existenzielle Bedürfnisse.“
„Anbauen, jagen, fischen, sammeln. Trocknen, einkochen, salzen, räuchern. Handeln und tauschen. Wie in der Steinzeit. Ein Dach über dem Kopf, Wachen, Medizin. Damit sind wir gut beschäftigt. Nebenbei erfinden wir alte Dinge neu oder basteln Sachen zusammen, bauen, erweitern, befestigen.“
„Gegen Angriffe?“
„Und das Wetter. Die Siedlung steht seit fast dreißig Jahren, wenn auch nicht ohne Verluste.“ Er hob die Flasche.
Lina prostete zurück. „So. What’s next?“
Der Engländer lehnte sich auf dem wackligen Stühlchen zurück. „Wir sollten zurück zu Mathes, Vorräte besorgen und helfen. Das Plavlot muss repariert werden, außerdem wollten Uwe und ich uns um die Gewächshäuser kümmern, Hochbeete anlegen, Holz suchen. Es gibt immer was zu tun.“
„Und was mache ich?“
„Was machst du denn bei dir zu Hause?“
„Bin gerade in einer Orientierungsphase.“
„Also nichts.“
„In letzter Zeit war ich mit den Müllsammlern unterwegs. Wollte eigentlich zu den Peacern. Jetzt nicht mehr.“
„Und wohin orientierst du dich?“
„Im Moment versuche ich einfach, nicht durchzudrehen.“
Eine halbe Stunde später waren sie unterwegs. Das langärmelige Baumwollhemd, die Wechselsachen und ihre Bauchtasche hatte sie in den blauen Rucksack gestopft, den Len unter der Couch aufgetrieben hatte. Außerdem hatte er sie mit einer weiteren Flasche Wasser und einem Klappmesser ausgestattet.
Er hatte sich umgezogen, während sie hinter einem Busch pinkelte und nebenbei ihre Augen kreisen ließ. Rund um Lens Hütte standen Lauben, Carports und Schuppen. Sie schienen allesamt unbewohnt.
Jetzt marschierten sie durch ein Wäldchen, das von zwei Straßen begrenzt wurde. Zwischen Bäumen und Sträuchern blitzten schiefe Baracken, Garagen, Verhaue aus Holz, Plastik und Metall auf. Und Silos, die man auf die Seite gekippt hatte.
„Deine Nachbarn?“
„Wenn du so willst.“ Len trug ein Eisenrohr in der Hand. Mit diesem zog er einen Halbkreis in der Luft. „Irgendwie gehören wir alle zu Mathes.“
„Ist er der Boss?“
„Sein Vater hat die Siedlung gegründet.“
„Arbeitet das Werk noch?“
„Sie nutzen die Becken als Zisternen und irgendwie bereiten sie auch Wasser auf, aber das ist ihr Geheimnis. Davon wissen nur Eingeweihte wie Uwe. Die Techniker und Ingenieure von früher. Ansonsten dient es als Schlafsaal, Gemüseanzucht, Destille, Schrottplatz und so.“
„Könnte man es wieder zum Laufen bringen?“
„Mit genug Ersatzteilen, den richtigen Leuten, dem Knowhow.“
„Und ihr anderen seid was?“
„Zulieferer, spezialisierte Handwerker, Jäger. Ein loser Verbund, der im Notfall zusammenhält. Eine Hand wäscht die andere. Hold on.“
Len ging zu einer Reihe großer Sträucher, säbelte einen langen Ast ab, schnitzte Zweige ab und hielt ihn Lina hin. Er reichte ihr bis zur Schulter.
„Soll ich den mitschleppen?“
„Für den Notfall. Damit kannst du zuschlagen, zustechen, dir jemanden vom Leib halten. Auch ein Tier, wenn es sein muss.“
Linas Mund wurde trocken. „Was für ein Tier?“
„Hunde. Füchse oder Waschbären. Wölfe.“
Aufgeschreckt sah Lina sich um, musterte das dichte Strauchwerk.
„Hier hast du wenig zu befürchten. Die allermeisten Stadtwälder sind verkokelt, von Käfern gefressen, abgesoffen. Da finden sie nichts zu fressen.“
Linas Magen verklumpte. „Tiere, Banden, Klebstoffpsychos. Noch was?“
„Es muss ja nichts passieren.“
Schweigend schlängelten sie sich durch den Wald, mal am See entlang, mal an der Straße. Zwischendurch blieb Len stehen, bückte sich nach Wurzeln und Gräsern, tastete Moos ab, pflückte Beeren, riss Löwenzahn aus dem Boden oder Blätter von den Sträuchern.
„Hier.“ Er hielt ihr ein Blatt hin. „Reinigt den Mund.“
„Zahnpflege aus dem Mittelalter?“
„Keine Zahncreme, aber immerhin.“
„Wir stellen sie her. Salbei, Nelken, Seife, Holzkohle, Bimsstein.“
„Wie kommt ihr an Bimsstein?“
„Flusshändler.“
Len pfiff leise und setzte sich wieder an die Spitze. Mittlerweile stand die Sonne fast senkrecht über ihnen. Trotz des Schattens, den die Bäume warfen, staute sich die Hitze. Auf Lens Stirn glänzte Schweiß und Linas Kopfhaut kribbelte.
„Puh“, stöhnte sie. „Gestern Nacht sind wir nicht so lange gelaufen.“
„Da sind wir nur der Straße gefolgt. Die führt übrigens nach Spandau. Wenn du dich nach dem Kanal rechts hältst, kommst du an der Zitadelle raus.“
„Das ist eins unserer Forts!“
„Habt ihr Ausweise oder so?“
Lina hielt ihm ihre rechte Handwurzel hin. Darauf prangte ein roter Kreis mit der Inschrift „KWS05“ und darunter das Abbild einer Burg.
„Hat die Zitadelle nicht vier Türme?“
„Das ist die alte.“
„Was ist KWS05?“
„Kolonie West Spandau. Ich wohne im 5. Bezirk. Das ist weit draußen am Wasser.“
„Dein Tattoo kann man leicht fälschen.“
Lina zog die Hand zurück. „Es gibt noch ein Erkennungszeichen unter der Haut.“
Der Engländer verzog das Gesicht. „Eklig.“
„Hab’s, seit ich 14 bin. Wie weit noch?“
„Da hinten siehst du schon die Coladosen.“
Lina spähte an Len vorbei. „Die Silos?“
„Wasseraufbereitungsanlagen. Jetzt Lagerräume. Wir haben Zwischendecken eingezogen, Trockengitter, Balken, Gestelle. Da kommen keine Ratten ran und keine Feuchtigkeit. Unser Fort Knox.“
„Holst du da deine Vorräte?“
„Einen Teil. Mal sehen, ob Mathes einen Auftrag hat. Meistens schickt er mich für Besorgungen. Ich kann gut mit Menschen.“
Mathes versprach ihnen eingelegtes Gemüse, Rettich, Rote Bete und ein Fässchen Bier für eine „kleine Sache“ von höchstens einem Tag. Die restlichen Vorräte - Pökelfleisch, Zwieback, Nüsse - würde er für Lens Rückkehr bereitlegen lassen.
Len verhandelte mit ihm, schlug ein Gratisfrühstück heraus. Eine Frau mit gelbstichigen Augen und einer Schürze bereitete die Mahlzeit zu. Von Dimash, Belinda und Uwe keine Spur.
Nach einem Besuch auf dem Torfklo und einer Katzenwäsche am See machten sie sich mit aufgefüllten Flaschen wieder auf den Weg. Len verstaute seine Getränke in Linas Rucksack; sein eigener war bereits prall gefüllt. Außerdem trug er eine quietschbunte Nylontasche vor dem Bauch.
„Was schleppst du da?“
„Salat, Kohl, Rettich. Essig. Frische Dinge sind begehrt im Lager.“
„Gehen wir ins Camp?“
„Nach ein paar Zwischenstopps.“
Nachdem sie das Tor hinter sich gelassen, eine Straße und braches Gelände überquert hatten, betraten sie ein Wohngebiet. Einfamilienhäuser säumten Straßen, die angelegt waren wie ein Schachbrett. Die Geometrie der Anlage gefiel Lina, denn sie war leicht zu durchschauen. Zerbrochene oder blinde Fenster starrten sie an, Türen hingen in den Angeln oder fehlten. Hasen und Eichhörnchen tobten durch die Vorgärten, deren Rasen schon vor langer Zeit verdorrt waren. Hin und wieder erspähten sie ein Obstbäumchen oder einen Beerenstrauch, aber alles war abgeerntet. Von Besorgern wie Dimash und Belinda, erklärte ihr Len.
„Wo sind die Bewohner?“ Sie waren allein, deshalb war es absurd zu flüstern, doch Lina hatte das Gefühl, die toten Fenster beobachteten sie.
„Geflohen oder gestorben.“ Len schaute sich permanent um und machte Lina damit nervös. Er beschränkte sich auf Aufzählungen, als lenke das Sprechen ihn ab. „Hitze, Wasser, Durst, Hunger. Viruswellen. Engpässe. Plünderungen. Überfälle. Wie überall auf der Welt. Leere Metropolen. Geisterstädte.“
„Und Leute wie Dimash klappern alles ab?“
„Systematisch, mit Karten und Plänen. Gefährlicher Job. Revierkämpfe, kaputte Gebäude, Streuner. Man weiß nie, was einen erwartet. Bleib auf der Hut.“
Lina fasste ihren Stock fester. „Findet ihr denn noch was?“
„Du glaubst nicht, wie viele Leute geheime Vorräte in Kellern oder auf Dachböden anlegten, doppelte Böden einzogen oder Sachen unter ihren Gartenteichen vergruben.“
„Lohnt sich also.“
„Irgendwann werden wir die Ziegel und Dachpappen abtragen. Alles, was man gebrauchen kann. Denker und Bastler wie Mathes und Uwe bauen daraus Neues.“ Wie immer redete Len in einem Kauderwelsch aus Englisch und Deutsch.
An das erste Viertel schlossen sich weitere an, endlose Reihen verödeter Häuschen. Schatten spendete erst eine kleine Kirche, unter der sie kurz verweilten.
An einer Schule trafen sie plötzlich auf Menschen, die sie misstrauisch beäugten.
„Ist das ein Markt?“
„Hm.“ Len sah sich um, ging zu einem Mann, der so lang und dürr war, dass Lina Angst hatte, er würde in der Mitte zusammenklappen.
Der Mann sah sie kommen, kniff die Augen zusammen. „Lenny, du alter Furz.“
„Helle. Dein Name ist Programm. Du stinkst wie die Hölle.“ Lina gab Len recht. Helle verströmte eine Mischung aus Schweiß, Kotze und Verwesung. Fast traten ihr Tränen in die Augen.
Der Händler, dessen Kopf mit pudrigen Schuppen übersät war, spuckte braunen Rotz aus. Angewidert wich Lina einen Schritt zurück.
„Vergiss es“, knurrte Len, als Helle ihm eine Hand entgegenstreckte. „Zeig dein Zeug. Hauptsächlich bin ich an Nägeln interessiert.“
Der Verkäufer schlug seinen Mantel auf und ein Schwall übler Luft entwich. Lina unterdrückte ein Würgen. An den Innenseiten baumelten Säckchen. Darunter war Helle nackt. Seine Haut spannte über den Rippen wie altes Pergament. Eitrige Geschwüre prangten unter den Armen und am Hosenbund.
„Das da“, wies Len auf ein Beutelchen. „Und ein paar von denen.“
„Was hast du anzubieten?“
„Vitamine.“
„Schnaps?“
„Auch.“
Helle nickte, ging zu einem Mäuerchen und begann, die Waren aus den Säckchen zu fingern.
„Skorbut“, flüsterte Len. „Und Glue. Bin jedes Mal überrascht, dass er noch lebt.“
Helle grunzte und trat einen Schritt beiseite. Auf der Mauer lagen Nägel in verschiedenen Größen und zerknitterte Plastikflaschen. Len befüllte sie mit Obstler, stellte ein Glas Sauerkraut daneben und suchte sich seine Nägel zusammen.
„See you, Hell Boy“, verabschiedete er sich.
„See you in hell, boy.“ Beide Männer grinsten. Der Wortwitz gehörte zum Ritual, begriff Lina und erschauerte vor Helles blutendem Zahnfleisch.
Sobald sie außer Hörweite waren, atmete Lina tief ein. „Mein Gott! Als ob er verfault.“
„Er ist Handwerker. Schmiedet, schweißt, all so was.“
„War er mal bei euch?“
„Seine Familie starb am Virus. Er ist von sich aus gegangen. Konnte unsere Blicke nicht mehr ertragen und unsere Hilflosigkeit. Eine Tragödie.“
Lina warf einen Blick zurück. Helle hatte eine der Flaschen geöffnet und trank mit gierigen Schlucken.
Len strich sich über die rötlichen Bartstoppeln. „Er hätte Ärzte gebraucht, Psychologen, Medikamente. Tja. So ist das.“
Nach der Begegnung mit Helle hatte Lina das dringende Bedürfnis, sich die Hände zu waschen. Sie beschloss, einen Teil ihres Wassers zu opfern, Lens missbilligendem Blick zum Trotz.
„Sorry“, sagte sie, nachdem sie ihre Hände an den Beinen abgerieben hatte. „Ich konnte einfach nicht anders.“
„Vielleicht können wir bei Stan nachfüllen.“
„Ein Landsmann von dir?“
„Stanislaw. Pole.“
Er bog in eine enge Straße. Einfamilienhäuser mit Garagen, Schuppen, Carports, Treppen, Geländern, Metallzäunen und umgefallenen Sitzbänken. Vor den Häusern stapelten sich Autos; ein Friedhof zerkratzter Wracks, allesamt ohne Räder. Beim Vorbeigehen warf sie einen Blick durch die zersplitterten Fenster. Aufgeschlitzte Sitze, abmontierte Armaturen, fehlende Lenkräder, durchgerostete Fußböden. Die meisten leer bis auf vertrocknete Insektenhaufen, mumifizierte Nagetiere und Vogelkadaver.
Sie betraten eine Sackgasse, die sich verjüngte, bis sie zu einem überwucherten Pfad wurde. Len schlug sich in die Büsche. Nach etwa hundert Schritten wandte er sich nach links, wischte überhängende Zweige beiseite. Vor ihnen erschien ein Maschendrahtzaun. Len lief an ihm entlang, mit dem Eisenrohr auf die Maschen schlagend, stoppte.
Kurze Zeit später teilte sich das Gestrüpp und zwei Männer näherten sich aus unterschiedlichen Richtungen. Erschrocken keuchte Lina auf, doch Len beruhigte sie mit einem Augenaufschlag. Die Fremden blieben stehen. Unter ihren T-Shirts zeichneten sich Muskeln ab. Bodyguards, augenscheinlich von der disziplinierten Sorte, denn sie verhielten sich passiv.
„Dirk“, begrüßte Len den blonden Typen, wobei er den Namen geradezu herauswürgte. „Adam“, sagte er zu dem Kerl mit den braunen Haaren.
Beide nickten, erwiderten jedoch nichts. Die Augen des Blonden glitten ausdruckslos über Lina. Ein professioneller Check.
Die Büsche raschelten erneut und ein dritter Mann trat zu ihnen. Eine Glock steckte gut sichtbar in seinem Gürtel. Das gedrungene Ding jagte Lina Angst ein.
And I swear that I don’t have a gun.
Der Mann breitete theatralisch die Arme aus. Ein struppiger schwarzer Schnurrbart mit grauen Strähnen verdeckte seine Zähne. „Len! Wo warst du? Hab schon letzte Woche mit dir gerechnet.“
Weiche slawische Vokale, gepaart mit kehligen Konsonanten, melodisch und einlullend. Doch die Glock und die stechenden Augen ließen Härte erkennen. Instinktiv erkannte Lina, dass sie vor diesem Mann auf der Hut sein musste.
„Witam, Stan. Tut mir leid. Aufträge.“
„Wer ist deine Begleitung?“
„Laura. Mein Lehrling.“
„Was ist mit den Flüchtlingen?“
„Arbeiten noch mit mir. Privat. Laura gehört zur Mathes.“
„Du bist ein geschäftiger Mann, Lennard.“ Stanislaw lächelte, doch seine Augen blieben ernst. „Sie sieht aus, als wäre sie in etwas hineingeraten. Probleme kann ich hier nicht brauchen.“
„Stress mit einem betrunkenen Verehrer. Er wurde zudringlich.“
„Habt ihr ihn beseitigt?“
„Er muss seine Schuld abarbeiten.“
„Ah, ihr seid zu weich. Ich hätte ihm den Schwanz abgeschnitten. Mindestens.“
„Und damit auf Dauer einen Kunden verloren.“
Der Pole legte den Kopf schief, feixte. „Pragmatismus. Gefällt mir. Aber unehrenhaft. Kommt herein.“ Mit einem Kopfnicken gab er Dirk und Adam Befehle.
Die beiden drängten Len und Lina den Zaun entlang zu einem Durchlass. Dann fühlte Lina, wie ihr etwas über den Kopf gestülpt wurde und eine kräftige Hand ihren Arm ergriff. Mühsam unterdrückte sie einen Aufschrei und das Verlangen, sich das Tuch wieder herunterzureißen.
„Ganz ruhig.“ Dirk, vermutete sie. Mit unerwartet sanfter Stimme. „Dir passiert nichts.“
Sie bemühte sich, ihm zu glauben. Dirk hielt sie fest, ohne ihr wehzutun, führte sie behutsam. Hell und Dunkel wechselten sich ab, Gebäudeumrisse blitzten auf. Sie liefen über Gras, Asphalt, Sand, zum Schluss über etwas Weiches, das sie nicht identifizieren konnte.
Nach wenigen Minuten brachte Dirk sie zum Stehen, drehte sie dreimal um sich selbst und zog das Tuch von ihrem Kopf. Sie blickte in die strahlendblauen Augen des Leibwächters. Er ließ sie los und machte Stanislaw Platz, der sich zwischen sie und Len drängte.
„Lass sehen“, befahl der Pole.
Len nahm Tasche und Rucksack ab. „Du wolltest Pickles und Obstschnaps.“ Er kramte in den Hosentaschen und zog Plastiktütchen heraus. „Und das da.“
Stans Gesicht hellte sich auf. „Ah, wunderbar. Darauf haben wir lange verzichtet.“ Er öffnete eins der Tütchen, zerkrümelte das Gras zwischen den Fingerspitzen. „Hast du auch das Dope?“
Len wies auf die Sporttasche.
Stan gab Adam einen Wink. Dieser zog die Tasche auseinander, brachte dunkle Täfelchen zutage.
Mit offenem Mund starrte Lina erst die Tafeln und dann Len an. Der vermied ihren Blick, wandte sich stattdessen an Stan. „Deal?“
„Oh ja, mein Freund. Deal.“ Stanislaw warf Adam einige Worte auf Polnisch zu. Adam verschwand um die Ecke eines niedrigen Gebäudes.
Während sie warteten, betrachtete Lina den Boden unter ihren Füßen. Weich und porös. Um sie herum Vierecke aus rotem Sand. Ein Sportplatz?
„Tennis.“ Dirk schien ihren Blick bemerkt zu haben.
„Klaro.“ Lina schenkte ihm ein flüchtiges Lächeln. Spielten Leute das noch? In der Kolonie gab es versandete Sportanlagen. Kinder spielten auf ihnen Fußball und Fangen, aber Tennis? Die Anlage hier sah gepflegt aus, fast neu. Mehrere Plätze, dazu die Laufbahn.
Adam erschien, in der Hand einen Stoffbeutel. Len schüttete ihn aus. Auf dem Boden verteilten sich Seifenschachteln, Zahnpastatuben, Kondome und Tampons, Döschen mit Cremes und Salben, Fläschchen mit Shampoo und Gesichtswasser. Alles in Miniaturgröße und Jahrzehnte alt. Proben, Testprodukte, Hotelartikel. Schmuggelware. Geraubte Restbestände. Produziert und importiert, bevor Herstellung und Handelsketten endgültig zusammenbrachen.
Ein Kosmetik-Kartell. Sie verkniff sich ein Lachen.
„Deal?“, fragte Stanislaw.
„Hast du noch was von dem Milchpulver?“
Die grimmigen Augen des Polen verengten sich. „Habt ihr Babys an Bord?“
„Für Notzeiten.“
Stan kaute auf einer Schnurrbartspitze, während er nachdachte. „Dobrze. Abgemacht. Weil sie dabei ist.“
Sein Blick strich über Lina. Nicht lüstern, dennoch unangenehm. Geschäftsmäßig, taxierend, als wäre sie ein weiteres Tauschobjekt.
„Dzieki.“
Lina hoffte, dass Lens Polnisch besser war als sein Deutsch.
„You’re welcome. Hol zwei.“
Adam sprintete um die Ecke.
Stanislaw kramte Zigarettenpapier aus der Hosentasche. Wo er das noch aufgetrieben hatte, blieb ein weiteres Rätsel. Wer Gras rauchte, griff normalerweise zu Maisblättern oder Strohhalmen. Sie kannte nur zwei Leute, die sich das Zeug überhaupt leisten konnten.
Die Geschicklichkeit, mit der Stan den Joint gedreht hatte, kündete von gewohnheitsmäßigem Konsum. Er zündete ihn an, nahm einen Zug, behielt den Rauch lange im Mund, atmete genießerisch aus. „Ah. Wunderbar.“ Er hielt Len die Zigarette hin.
„Nein, danke.“
„Die besten Dealer sind die, die ihre Droge nicht anrühren. Gut so, mein Freund.“
Dirk erlaubte sich einen einzigen Zug, bevor er den Joint zurückgab.
„Was ist mit dir, Laura? Kann man dir eine Freude machen?“ Stanislaw war neben sie getreten, zu dicht für ihren Geschmack.
Sie brachte ein Lächeln zustande. „Ich rauche nicht.“
„Ist gut gegen die Schmerzen.“
„Nein, danke. Mir würde übel werden. Bei der Hitze und überhaupt.“ Lina merkte, dass sie anfing zu stammeln.
Zu ihrem Glück kehrte Adam mit Milchpulver und Babybrei zurück. Im Leben wäre sie nicht darauf gekommen, dass so etwas gehandelt wurde.
Adam sog so gierig an dem Joint, dass Stan ihn ihm aus der Hand riss.
„Sind wir uns einig?“, fragte Len. „Dann würden wir wieder verschwinden. Ich habe noch zu tun.“
„Immer fleißig, der liebe Lennard.“ Stanislaw zwinkerte. „Wollt ihr nicht meine Gäste sein? Wir haben genug für eine Feier. Schnaps, Dope, gutes Essen, Frauen. Auch Männer. Ruht euch eine Nacht aus.“
„Wasser nehmen wir gern“, erwiderte Len ruhig. „Den Rest ein andermal. Du weißt, wie wichtig es ist, Verpflichtungen einzuhalten.“
„Und genau deshalb mache ich gern mit dir Geschäfte.“ Der Pole schlug Len auf die Schulter. „Du bist zuverlässig. Wärst du kein schwuler Inselaffe, hätte ich dich längst abgeworben.“
Lina sah, wie Len versteifte. Stan und Dirk sahen es auch. Ersterer lächelte erwartungsvoll, der Leibwächter spannte die Muskeln an.
Nervöse Sekunden verstrichen, dann zwang Len sich zu einem Lächeln. „Pech für mich. Aber Wasser hast du für uns übrig, oder?“
Diesmal schnalzte Stan mit der Zunge und Adam stob los.
„Was ist mit ihr?“ Stanislaw fuhr erneut zu Lina herum. „Sie wäre ein echter Hit.“ Chiet. Klang mehr nach russischem Akzent. Wieder die weiche, betörende Stimme, die ihr Gänsehaut auf die Arme zauberte.
„Sie ist nicht zu verkaufen“, sagte Len, während er ihre Sachen verstaute.
„Ich mache dir einen guten Preis.“
„Sie ist unverkäuflich.“ Len richtete sich auf. Stanislaws Hand fuhr zu der Pistole und Dirk trat einen Schritt vor.
Die Augen des Polen durchbohrten Len. Len starrte zurück, mit stählernem Blick und steinernem Gesicht, bis Stanislaw die Hand vom Gürtel nahm und grinste. „Schade. Meine Frauen haben es gut bei mir“, wandte er sich an Lina. „Sie werden beschützt und verehrt. Keine blauen Augen. Versprochen.“
„Nein, danke“, presste Lina heraus.
„Loyal, hm? Gut.“ Stan spuckte vor Len aus. „Du machst mir doch keine Konkurrenz?“
„Unsere Aufgaben sind klar verteilt. So bleibt es.“
„Wehe, du verarscht mich.“ Stans Worte klangen wie das Zischen einer Schlange, bösartig und gefährlich.
„Ich bin nicht lebensmüde.“
„Mach’s gut, Len.“
Adam brachte vier Flaschen mit frischem Wasser und wartete geduldig, bis sie alles eingepackt hatte.
Es folgte die Prozedur, die Lina schon kannte. Tuch, Dirks Finger um ihren Arm, der Wechsel aus Licht und Schatten.
Dann standen sie wieder im Gebüsch.
Dirk wartete, bis Adam vorgegangen war, drehte sich halb zu ihnen um. „Bring sie nicht mehr her, Len.“
„Alright.“
Dirk sah sie an. „Komm nicht mehr her. Verstehst du?“
Lina nickte.
„Du bist ein Drogenkurier?“, fuhr Lina Len an, sobald Dirk sie verlassen hatte. „Ein beschissener Dealer?“
„Komm runter! Cannabis und Marihuana lassen sich gut tauschen. Das Zeug hilft gegen Schmerzen.“
„Oh, klar, Hanf für medizinische Zwecke.“
„Steig endlich von deinem hohen Ross!“ Len blieb stehen und funkelte Lina wütend an. „Es ist besser als der Scheiß, den Schnüffler sich durch die Nase jagen. Es ist Gras! Eine beschissene sanfte Droge, die dich beruhigt. Jeder von uns hat das mal nötig. Mach kein Drama draus.“
„Happy wirktest du trotzdem nicht bei Stan. Eher als hättest du Schiss.“
„Ich hasse es, mit ihm Geschäfte zu machen. Der Typ geht über Leichen, lächelnd und seinen verfickten Schnurrbart streichend. Aber er hat Sachen, die wir brauchen. Lieber hab ich ihn als Geschäftspartner als zum Gegner.“
„Das ist er nur so lange, wie er dich braucht.“
„Das ist mir klar.“
Lens Wut verebbte, während sie durch Büsche und hohe Wiesen wanderten und einen sandigen Weg erreichten.
„Wohin jetzt?“
„Zum Lager. Warte.“ Er sah sich nach allen Seiten um, bevor er die Sporttasche absetzte und Lina Milchpulver und Babybrei reichte; außerdem Tampons, ein Stück Seife und eine Tube Zahnpasta.
Verdutzt verstaute sie die Sachen in ihrem Rucksack. „Setzt du mich aus?“
„Falls was schief geht. Das Pulver ist nahrhaft und sogar ganz lecker. Nimm auch was von dem Gras; das kann dir den Arsch retten.“
10.01.2044
Vorgestern haben Esra, Cem und ich Julia an einem Rohr hängend im Keller gefunden. Vor zwei Jahren lag Can im selben Raum. Ich habe sie untersucht. Sie hatte Cans Gürtel um den Hals. Genickbruch, obwohl sie so schmal war. Auf dem Boden lag ein Foto von ihr und Esra, noch aus der Zeit draußen. Ich wollte es Esra geben, aber sie hat es zerrissen. Wir haben Julia auf dem Hof verbrannt. Cem hat die ganze Zeit geweint, bis Logan ihm den Mund zuhielt. Da fiel mir auf, dass Cem jetzt eine Waise ist. In ein paar Wochen wird er dreizehn.
Fließend ging der Wald in das Camp über, ohne Zäune oder Schranken. Zwischen den Bäumen entdeckte sie Plastikplanen, Bettlaken, Decken, Handtücher, Matratzen, Hängematten, Iso-Matten und aufgeschnittene Schlafsäcke. Das waren keine Zelte, die eine Hilfsorganisation errichtet hatte, sondern zusammengebastelte Unterkünfte in allen Farben. Menschen standen oder saßen um ihre Zelte herum, etliche mit teilnahmslosen Blicken und Klebstofftüten in den Händen. Über vielen Biwaks wehten Fahnen, manche kunstvoll genäht, andere lediglich bemalte Kissenbezüge. Um die Behausungen stapelten sich Flaschen, Kanister und Schüsseln. Über Leinen und Ästen hingen Kleidung, Kräuterbüschel und in Beuteln verstaute Nahrungsmittel. Ausgehungerte Hunde strichen herum, wurden mit Fußtritten verjagt. Zeitgleich mit den ersten Zeltbahnen tauchte der Geruch auf, eigentlich ein Konglomerat aus Einzelgerüchen: Latrinen, Lagerfeuer, fauliges Wasser, Schimmel, Essen.
Len würdigte das Lager mit keinem Blick. Angespannt zog er Lina hinter sich her. Diese saugte alle Eindrücke gleichzeitig auf, stolperte über Wurzeln oder herumliegende Besitztümer, verlor schnell die Orientierung.
Zum Glück schien Len zu wissen, wohin er musste. Die Baumreihen lichteten sich, machten dornigem Gebüsch Platz. Das Gras wich zurück, kahle Stellen sprenkelten es. Bald darauf dominierten Braun und Gelb.
„Ist das ein See?“, fragte Lina außer Atem und wies auf etwas Glitzerndes zwischen dem kratzigen Strauchwerk. Len hatte an Tempo zugelegt, als sei ihm daran gelegen, so rasch wie möglich anzukommen.
„Früher mal. Jetzt ist es eine Kloake. Hier gibt es regelmäßig Ausbrüche von Cholera und Ruhr und weiß Gott was noch.“ Der Engländer stieß die Worte hervor, während er sich an Zelten und Familien vorbei zwängte, die Sporttasche vor dem Bauch umklammernd.
Vorsichtshalber zog Lina ihren Rucksack ebenfalls vor ihre Brust. Ihr Rücken war schweißnass, aber angesichts der vielen verhüllten Frauen war sie froh, dass das Hemd ihre Arme bedeckte und die Mütze ihren Schopf.
Es wurde voller, je mehr sie ins Herz des Lagers vordrangen. Zelt reihte sich an Zelt. Stimmengewirr drang heraus, Anzeichen dafür, dass die Menschenmassen, die sie sahen, nur einen Teil der Bevölkerung ausmachten. Das Lagerzentrum wirkte organisierter, mit Biwaks, die man zu Wohnblöcken gebündelt hatte, zwischen denen Straßen verliefen. Über sie hatte man Bohlen und Paletten gelegt. Sie dienten in Regenzeiten als Brücken und halfen, über den Unrat zu steigen, der vielerorts herumlag. Ratten huschten umher, schnüffelten an Exkrementen und verdorbenem Essen. Latrinen schien es zu geben; darauf verwiesen Schilder mit entsprechenden Symbolen, doch entweder schafften viele es nicht bis dorthin oder es waren ihnen egal oder zu gefährlich.
Wo Zeltbahnen aufgeschlagen waren, erhaschte sie einen Blick auf das Innere. Doppelstockbetten, Matratzenlager und Schlafsäcke. Überall saßen Leute, tranken Tee, spielten Karten, würfelten, lasen. Schränke oder Spinde gab es nicht; nicht einmal Haken. Der Boden in und um die Zelte stand voll mit Körben, Säcken, Taschen, Koffern und Tüten.
„Wohin müssen wir?“, fragte Lina, die sich zunehmend unwohl fühlte. Die Menschen schienen sich immer enger um sie zu schieben, raubten ihr den Atem. Ihre Kehle kratzte.
„Zum Imam des marokkanischen Viertels.“
„Wie groß ist das Lager?“
„Etliche Kilometer. Tausende Menschen.“
„Wovon leben sie?“
„Sie fischen, jagen, stellen Fallen auf, rotten sich zusammen und plündern.“
„Sie bauen nichts an?“
„Wo denn? Hunger ist hier allgegenwärtig. Viele Krankheiten, hohe Sterblichkeit. Der Lagerfriedhof breitet sich schneller aus als ein Virus.“
Entsetzen packte Lina. Sie presste den Rucksack an sich, umklammerte den Stock, wünschte sich weit weg.
Len blieb stehen und zeigte auf ein rotes Tuch, auf das jemand einen grünen Stern gestickt hatte. „Da lebt Djamal.“
„Wie bist du auf den gestoßen?“
„Mathes‘ Leute haben ihn mal während der Stürme getroffen. Damals suchten sie nach Tauschpartnern. Djamal willigte ein.“
„Was haben Marokkaner zum Tauschen?“
„Schutz.“
„Hä?“
„Im Winter. Auf dem Flughafen. Sie haben ein Auge auf uns.“
Afrikaner kamen auf sie zu, schnatterten aufgeregt miteinander. Ihre Köpfe zierten Tücher, löchrige Wintermützen oder traditionelle Kopfbedeckungen. Weite, luftige Gewänder umhüllten ihre Körper, an den Füßen steckten Flip-Flops aus Autoreifen. Len begrüßte sie mit aneinandergelegten Handflächen. Zwei Männer verschwanden in dem Zelt des Imams. Minuten später winkten sie Len heran.
Vor Lina schoben die Männer sich zu einer Mauer zusammen. Lina raffte das Hemd um sich und vermied Augenkontakt. Erst als ein Greis mit silbernen Haaren und einem Filzhut etwas sagte, rückten sie ein Stück ab. Der Zugang zum Zelt blieb ihr allerdings verwehrt. Die Männergruppe umringte sie, während sie, neugierig beäugt von Kindern, draußen wartete.
Irgendwann erbarmte sich eine Frau und bot ihr ein Glas Minztee an. Das brachte ihr aufgebrachte Blicke ihrer männlichen Verwandten ein. Die junge Frau starrte trotzig zurück.
„Danke.“ Das arabische Wort fiel Lina nicht ein, also neigte sie den Kopf.
„No problem“, gab die hohlwangige Frau in holprigem Englisch zurück. „Drink.“ Das Wort begleitete sie mit einer entsprechenden Geste. Lina dachte an das verseuchte Wasser im Flughafensee, überwand sich jedoch.
Der Tee schmeckte schlammig, doch Lina lächelte. „Good.“
„No. Bad. Not Morocco.“
Langsam löste die Männergruppe sich auf. Nur eine Handvoll überwachte mit misstrauischen Blicken die junge Frau und sie. Lina hielt den Kopf gesenkt. In ihr brodelten Angst und Empörung. Sie betete, dass Len bald herauskäme. Lieber ein zweites Abendessen mit der biestigen Belinda als diese abschätzigen Blicke.
Sie könnte auch einfach nach Hause laufen. Jetzt gleich, von hier aus. Bis zur Zitadelle schaffte sie es noch im Hellen. Tattoo und Implantat vorzeigen, et voilà. Mit Roman wurde sie schon fertig. Sie hatte zu trinken, Babybrei, zwei Waffen. Vielleicht begleitete Len sie sogar ein Stück.
Plötzlich einsetzendes Geschrei einige Zeltreihen weiter riss sie aus ihrem Tagtraum. Fragend sah sie die marokkanische Frau an, doch die schaute ebenso ratlos. Sie winkte Lina heran, plapperte aufgeregt mit ihren Verwandten. Die Männer spannten sichtlich an, knarrten einander Befehle zu, bildeten einen Kreis um die Frauen, sondierten mit sorgenvollen Gesichtern die Umgebung. Weitere Männer tauchten auf, gesellten sich zu ihnen.
Linas Sinne erfassten ungewohnt viele Einzelheiten. Es schien, als erzittere die Zeltstadt. Stimmengewirr schwoll an, die Halteseile der Biwaks surrten, gedämpfte Schreie stiegen empor, Kinder weinten. Jemand heulte auf, andere fielen ein.
„Riot.“ Die junge Frau murmelte das Wort mit angstgeweiteten Augen. Die Männer zogen sich enger zusammen, schirmten sie ab.
Riot. Aufruhr.
Len, Djamal und zwei alte Afrikaner traten aus dem Zelt und erstarrten.
„Shit!“ Len schlang Tasche und Rucksack um sich, sah sich gehetzt um.
„Warum?“ Lina sah fragend in die Runde.
Djamal antwortete in makellosem Englisch. „Es kann viele Gründe geben. Streit unter Nachbarn, ein verlorenes Spiel, Drogenrausch, Verzweiflung. Ein Verbrechen. Ein Racheakt. Gier. Wir dürfen jetzt nicht den Kopf verlieren.“ Er wandte sich um und sagte etwas auf Arabisch. Vier Männer scherten in verschiedene Richtungen aus. Ein neuer Befehl, und Lina fühlte sich zusammen mit Len und der Frau zum Zelteingang geschoben. Dann ordnete Djamal die Männer zu einer Art Pfeilspitze. Ein Knabe brachte angespitzte Pflöcke, zwei Halbwüchsige verteilten Schleudern und Bolas. Hände flogen an Gürtel, überprüften Messer und Koummyas.
Lina beobachtete die Vorbereitungen mit angstgeweiteten Augen. Len schien ebenso nervös wie sie. Mit weißen Fingerknöcheln umklammerte er das Rohr.
Hohes Klagen ertönte aus dem Zelt hinter ihr. Die junge Frau verschwand im Zelt. Lina hörte, wie sie beruhigend auf die Bewohner einsprach und versuchte, ein Kind zu trösten.
Jetzt war sie allein unter Männern, doch abgesehen von Len schenkte niemand ihr Beachtung. Man hatte sie an den Rand gedrängt und vergessen.
Die Bewegung innerhalb des Zeltmeeres verstärkte sich. Ganze Abschnitte schwankten, federten zur Seite, richteten sich wieder auf. Das Stimmengewirr verdichtete sich, wurde wütender. Männer brüllten, Zorn und Hass lud die Luft auf, Frauen kreischten, Hunde bellten, Menschen rannten an ihnen vorbei, Angst auf den Gesichtern. Flaschen und Steine flogen.
Dass sie nichts sah, zerrte am meisten an Linas Nerven. Der Tumult mochte drei Reihen von ihnen entfernt sein oder dreißig, im Osten oder im Westen. Sie hörte die Gefahr, spürte sie, roch sie sogar, doch sie konnte nicht einordnen, aus welcher Richtung sie kam. Es war wie in den alten Horrorfilmen.
Deshalb hatte Djamal die Männer ausgesandt, begriff sie jetzt, als Späher. Wie zur Bestätigung jagte einer der Marokkaner zurück in ihre Mitte, gestikulierte heftig nach Norden, wo anscheinend das Epizentrum des Ausbruchs lag: bebende Zeltbahnen, zitternde Fahnen, und plötzlich ein Geruch, bei dem ihre Knie zu Brei wurden.
„Feuer.“ Sie wollte es schreien, aber mehr als ein Krächzen brachte sie nicht heraus. Außerdem ging das Wort in einem kollektiven Schreckenslaut unter.
Qualm stieg über den Zeltdächern auf.
Djamal und seine Begleiter verständigten sich flüsternd, dann bellte der Imam einen Befehl. Die Afrikaner bildeten ein Spalier vor dem Zelt des Ältesten. Fliehende Menschen prallten gegen die menschliche Mauer. Djamals Männer schickten sie in eine andere Richtung; gleichzeitig sprangen Teenager mit Gefäßen durch den Menschenkorridor.
„Feuerwehr“, erklärte Len.
„Mit ein paar Eimern und Schüsseln?“ Aufregung versetzte Linas Stimme in hohe Schwingungen. Bestürzt betrachtete sie die Fliehenden, deren Anzahl minütlich zunahm.
„Besser als nichts.“ Len behielt die schwankenden Zelte im Auge, lauschte auf die Schreie. „Hauen wir ab. Solche Sachen eskalieren schnell.“
Len rief Djamal einige Worte zu. Der Imam verabschiedete sich mit einem Augenaufschlag, der Lina nur streifte.
Du mich auch.
Sie packte ihren Ast und hetzte Len hinterher. Um sie drängten sich die Körper der Marokkaner. Hinter ihr fraß sich das Feuer durch Zeltbahnen. Bewohner gingen aufeinander los, verteidigten ihren Besitz, beschuldigten sich gegenseitig. Lina begriff, was da erwuchs: Eskalation, Panik, Massenhysterie. Dazu die Enge, die Ausweglosigkeit. Immer mehr Menschen reihten sich in das Heer der Flüchtenden ein. Hunderte, getrieben von Angst und Verzweiflung. Panik rauschte durch Linas Schädel, hämmerte in ihren Adern, trieb sie voran.
Bis sie stolperte.
Entsetzt ruderte sie mit den Armen, sah den Erdboden auf sich zufallen, rollte sofort wieder auf die Knie, krallte sich an ihren Stock. Um sich sah sie Menschenmassen, die hin und her drängten. Die sich um sie schlossen, sie mitnahmen, sie wegspülten.
„Len!“, kreischte sie, doch ihre Rufe versanken im Meer der wogenden Leiber.
Geschockt ließ sie sich mittreiben. Ihr Verstand züngelte auf Sparflamme, ließ sie nur allmählich begreifen, dass sie Len in der Menschenflut verloren hatte. Wie betäubt zog sie den Rucksack als Puffer zurück vor ihre Brust. Als die Knüffe und Schubse zunahmen, drehte sie den Stock waagerecht. Dabei achtete sie darauf, nicht erneut zu stolpern. Der Gedanke, wie das Heer über sie hinweg trampelte, setzte ungeahnte Energie frei.
Nach endlosen Minuten hob sie den Kopf, hielt verzweifelt Ausschau nach einem Anker. Sie wollte innehalten, sich orientieren, durchatmen, die Scherben ihres Verstandes einsammeln. Dennoch hätte sie den Hügel beinahe übersehen.
Er lag 50 Meter abseits der Panikroute. Der Masse musste er wie ein Hindernis erscheinen, weshalb sie sich wie ein kopfloser Wurm an ihm vorbei wand.
Lina ließ sich an die Seite treiben. Ellenbogen trafen sie, Fäuste, eine Stirn. Arme schoben sie beiseite, Flüche in allen Sprachen der Welt hagelten auf sie ein. Doch sie gab nicht auf, setzte Stock und Körper ein, um nach außen zu schwemmen.
Als der Menschenstrom sie am Fuße des Hügels ausspuckte, ging sie zittrig in die Knie. Der Verband auf ihrer Wange hing herunter, an ihrer Schläfe blutete es, ihre Finger schmerzten vom krampfhaften Festhalten des Knüttels und ihre Arme pochten von ungezählten Schlägen.
Sie kraxelte den Hügel hoch. Sandhaufen traf es besser. Ein Erdwall mit stacheligen Büschen und Bäumen. Südlich von ihr glitzerte der Bakterientümpel. An seinem gegenüberliegenden Ufer flimmerte ein Gebäude durch Hitze und Qualm. Ein Tower. Sollte sie sich zum Flughafen durchschlagen?
Aufgelöste Menschen rannten zum See, prallten dort aufeinander, ballten sich zu aggressiven Haufen. Viele standen im Wasser, bedrängt von Nachfolgenden. Hilfeschreie Ertrinkender gellten bis zu ihr. Offenbar war der Tümpel so tief, dass man schwimmen musste, um an das andere Ufer zu gelangen.
Aus der Richtung, aus der die Fliehenden kamen, quoll dichter Rauch. An etlichen Stellen schienen Kämpfe stattzufinden. Leute warfen Steine und Flaschen, johlten und schrien. Sie konnte zusehen, wie das Feuer sich ausbreitete, immer mehr Bewohner die Flucht ergriffen. Manche rissen ihre Behausungen nieder, stopften in Koffer und Beutel, was sich wegschleppen ließ, behängten sich mit Decken, wickelten Kinder in Bettlaken. Der größte Teil rollte auf den See zu. Ein Mahlstrom an Menschen, der niederwalzte, was im Weg stand.
Zum See konnte sie nicht. Zu groß war die Gefahr, ins Wasser gedrückt oder überrannt zu werden. Außerdem machte die Angst die Menschen zu hirnlosen, vom Überlebensinstinkt gesteuerten Kreaturen.
Sie suchte nach Djamal, nach der Flagge der Marokkaner, nach Len. Nichts.
Plötzlich ging ein Zelt in einer Stichflamme auf und neues Geschrei setzte ein. Der Qualm wurde beißender.
Unentschlossen drehte sie sich im Kreis, stutzte. Weiter westlich blitzte es ebenfalls. Sie kniff die Augen zusammen, machte zwei Teiche aus. Sie lagen nicht entlang der Fluchtroute. Ohne sich noch einmal umzusehen, rannte sie den Hügel hinunter.
Das Laufen im lockeren Sand strengte an. Nach wenigen Schritten schmerzten ihre Waden und sie bekam Seitenstechen.
Als sie keuchend auf einem Pfad in der Nähe der Teiche anlangte, stellte sich ihr ein Mann in den Weg. „Rot op!“
Verdattert starrte Lina ihn an. Wie viele ältere Menschen hatte er stark an Gewicht verloren. Nun hing die Haut an Bauch und Rücken schlaff herunter.
„Dit is ons land!“ Dünnes Haar kräuselte sich um seinen puterroten Kopf. Mit beiden Armen stieß er Lina von sich.
Sie hämmerte den Stock vor seine Brust. Nicht sehr kräftig, mehr aus einem Reflex heraus. Der ausgemergelte Mann plumpste auf den Hintern und begann zu weinen.
Das brachte Lina aus der Fassung. „Was ist denn los mit dir?“, brüllte sie den Mann an, der vor ihr saß wie ein Kind.
Er schluchzte. „Rot op.“
„Verdammt, was heißt das? Welche Sprache ist das überhaupt?“
„Holländisch.“ Ein weiterer Mann tauchte neben ihr auf.
Sofort sprang Lina von ihm weg, mit dem Stockende auf ihn zielend.
„Du kannst ihn wegstecken“, sagte der zweite Mann müde. Dann zog er den älteren Mann auf die Beine, streichelte dessen Rücken. „Het is goed, papa.“
„Ist er dein Vater?“
„Ja. Er ist durcheinander. Meint es nicht böse.“
Der jüngere Mann war ein Durchschnittstyp mit struppigem Bart und sonnenverbranntem Gesicht.
„Was hat er gesagt?“ Lina senkte den Stock, blieb aber auf der Hut. Argwöhnisch musterte sie die Menschengruppe am Ufer, die sie neugierig begaffte.
„Dass du abhauen sollst. Dass das unser Land ist.“
Lina schnaubte.
„Wie gesagt: Er ist ein bisschen durch den Wind.“
„Lebt ihr hier?“
„Nein, wir machen Urlaub. Die Karibik war überlaufen. Dachten, wir campen hier.“
Lina starrte den Holländer an. Ein Witz? Wirklich? „Was ich meinte, war: Lebt ihr hier? An diesem Teich? Ist das euer Revier?“
„An dem kleineren.“
„Du und deine Familie?“
„Was von ihr übrig ist. Leute, die wir unterwegs getroffen haben. Niederländer, Belgier, Franzosen, Norddeutsche. Alle aus ehemaligen Küstengebieten.“
„Ihr seid vor dem Wasser geflohen.“
„Zurück ans Wasser. Eine Pfütze anstelle der Nordsee.“ Er tätschelte die Hand seines Vaters. „Was ist passiert am Mittelmeer?“
„Hä?“
„Im Lager. Die allermeisten da kommen aus Mittelmeerstaaten, deswegen Mittelmeer.“
„Ein Aufstand und Feuer. Jetzt sind fast alle auf der Flucht.“
Der Mann winkte ab. „Die kehren zurück. Ist nicht das erste Mal. Sie warten ein paar Stunden, bis das Gröbste sich gelegt hat.“
„Na ja, ich weiß nicht.“ Lina wies auf den Qualm, der hinter dem Sandhügel aufstieg. „Das sieht nach mehr aus.“
Der Mann runzelte die Stirn, sagte etwas zu seinem Vater und schubste ihn sanft Richtung Teich. Der ältere Mann drehte sich noch einmal um, schüttelte die Faust und zischte Lina giftige Worte zu.
„Hau ab“, sagte sein Sohn.
Lina fuhr herum. Der Kerl glotzte sie ausdruckslos an. „Was?“
„Das ist unser Land.“
„Bist du bescheuert? Was soll der Scheiß?“
„Wir haben es erobert. Es verteidigt gegen das Mittelmeer. Wir dulden keinen Abschaum.“
Lina war so empört, dass sie fast mit dem Fuß aufgestampft hätte. Mühsam zügelte sie ihre Wut. „Ich will nur vorbei.“
„Nimm einen anderen Weg. Der Teich gehört uns.“
Lina drehte sich um. Männer und Frauen stapften mit grimmigen Gesichtern auf sie zu.
„Was hast du deinem Papa gesagt? Dass er deine großen Brüder holen soll?“, blaffte sie den Kerl an. „Was für eine gottverfluchte Sippe seid ihr denn?“
„Lass Gott aus dem Spiel.“ Risse in seiner nichtssagenden Fassade.
„Ernsthaft? Seid ihr so eine scheiß Sekte? Verteidigt euer christliches Land gegen die Ungläubigen von da drüben? Bullshit.“ Verärgert wandte sich zum Gehen.
„Johan!“, rief eine der näherkommenden Frauen. „Rugzak!“
Der so normal wirkende Johan verwandelte sich in ein Raubtier, fletschte die Zähne und stürzte sich auf sie. Lina blieb die Luft weg, als er sie umwarf. Instinktiv griff sie eine Handvoll Sand und schleuderte sie in seine Augen.
Er schrie auf, ließ sie los. Sie hieb ihm das Knie in die Eier, schlängelte sich unter ihm hervor, hangelte nach dem Stock und kam auf die Beine. In dem Moment war der erste der Gruppe heran und grapschte nach ihrem Rucksack. Sie donnerte den Ast auf seine Finger und er brüllte. Lina scherte sich nicht um ihn, sondern rannte los. Sie vernahm Schritte und wütende Stimmen hinter sich, wagte aber nicht, sich umzusehen. Stattdessen erhöhte sie ihre Geschwindigkeit. Die Angst verlieh ihr Flügel.
Etliche Meter weiter hörte sie nur noch die eigenen Atemstöße, wurde langsamer, blickte zurück. Lediglich die Frau, die gerufen hatte, war ihr noch auf den Fersen. Sie war ausgehungert, verlor zusehends an Kraft. Für einen Sekundenbruchteil fühlte Lina Mitleid, dann überschüttete ihre Verfolgerin sie mit Obszönitäten. Lina reckte ihr den Mittelfinger entgegen und spurtete davon. Vorsichtshalber schlug sie ein paar Haken, blieb zwischendurch stehen und lauschte.
Eine Viertelstunde später hatte sie sich hoffnungslos verlaufen.
Eine Weile tapste sie noch weiter, schimpfte stumm auf die Arschlöcher dieser Welt, verfluchte Roman, der ihr den ganzen Mist eingebrockt hatte.
Als ihre Wut verraucht war, dachte sie an Len. Sollte sie umkehren? Vielleicht war er in Schwierigkeiten, in Gefahr.
Sie schaute auf ihre Uhr. Ausnahmsweise funktionierte die Smartwatch, zeigte die Uhrzeit (17:38), das Datum (21/05/58 Tue) und eine Temperatur von 33 Grad Celsius an. Stimmte das? Sie rechnete nach. Tatsächlich. Sie war mit Roman zu einem Sonntagsausflug aufgebrochen. Jetzt, am Dienstag, floh sie aus einem Flüchtlingslager, allein und ohne eine Ahnung, wo sie sich befand.
We’re going to die, die, down.
Tränen stiegen in ihre Augen. Sie stapfte zu einem dürren Bäumchen, lehnte sich dagegen und heulte. Rammte schluchzend ihre Stirn gegen die Rinde, ließ sich auf den Hintern fallen und nahm den Rucksack ab. Das übergroße Baumwollhemd klebte an ihrem Bauch. Sie zog es aus, genoss den Luftzug auf ihrer Haut.
Scheiß drauf.
22.10.2047
Kevin ist weg, um Sascha zu suchen. Dumme Idee, denn der Regen ist da. Früher kam Sascha immer nach ein paar Tagen zurück. Diesmal nicht. Er ist ein Gluey, beklaut uns. Trotzdem hoffe ich, er ist in Sicherheit bei Yianni. Laura hielt Yianni für einen Märchenprinzen, aber ich traue ihm nicht. Er sammelt Leute wie Sascha um sich. Sascha hat Opa gefragt, ob wir Yianni im Winter aufnehmen, aber Opa hat abgelehnt und Logan nur gelacht. Ausnahmsweise bin ich auf seiner Seite. Ich denke, Yianni plant etwas. Vielleicht will er uns die Burg wegnehmen. Man muss ihn im Auge behalten.
Stimmen scheuchten sie auf. Einen Augenblick überlegte sie, erneut davon zu rennen. Andererseits stand ihr Bäumchen abseits der Sandpiste, gut abgeschirmt von dornigen Sträuchern. Geräuschlos band sie das Hemd um ihre Hüften, verscharrte den Rucksack im Gestrüpp.
Sie unterschied vier männliche Stimmen. Waren die Holländer ihr gefolgt? Bald darauf hörte sie ein Schlappen. Flip-Flops. Die Holländer hatten Schuhe getragen.
Worte kristallisierten sich aus dem Stimmengewirr. Arabisch, Spanisch, Französisch. Die Fluchtroute aus Nordafrika.
Sie duckte sich, als sie die Männer sah. Einer war barhäuptig, zwei hatten Basecaps auf, einer ein im Nacken verknotetes Tuch. Der ohne Kopfbedeckung war auch der einzige ohne Flip-Flops und Gewand. Er trug einen Rucksack, die anderen schleppten Reisetaschen.
Sie redeten viel, schienen nervös. Ihre Köpfe ruckten beständig in alle Richtungen, ihre schmächtigen Körper wirkten angespannt. Das Geschnatter beruhigte wohl ihre Nerven.
Als sie auf ihrer Höhe waren, erkannte sie den Barhäuptigen. „Malek!“
Drei der Männer erstarrten zu Stein, der vierte rannte davon. Malek setzte ihm nach, griff um seinen Hals und zog ihn ruckartig zurück. Das brachte die Freunde des Fremden dazu, in ihren Kaftanen nach Messern zu greifen.
Lina sprintete zu ihnen. „Stopp! Nein!“
Die beiden gingen in Angriffshaltung, sodass sie hart abbremste und die Hände hob. „Schon gut.“
Der kleinere Angreifer sah Malek irritiert an. „Ella es? El contacto? Una mujer?“
Lina verstand genug Spanisch, um die Fragen zu verstehen. Waren denn alle Araber frauenfeindlich? Zum Kotzen.
Malek stieß den eingefangenen Mann von sich. „No. Amiga.“ Ein scheues Lächeln erschien auf seinem Gesicht. „Wo kommst du her?“
„Aus dem Lager. Ich war mit Len unterwegs. Wir wurden getrennt. Seid ihr auch vor dem Feuer geflohen?“
Malek wich ihrem Blick aus.
„Sind das deine Freunde? Ich wollte euch nicht erschrecken.“
Wieder schwieg er.
Einen Augenblick studierte sie Maleks Gesicht. „Ist das hier Business?“
Er starrte sie an, zögerte, legte den Finger auf die Lippen und bedeutete den Arabern auszuschwärmen. „Sie sind meine Kunden“, sagte er zu Lina. „Algerier aus Oran.“
„Ich dachte, die Fluchtrouten seien abgesoffen.“
„Es gibt immer Wege.“
„Bist du ein Schleuser?“
Malek kaute auf seiner Lippe. „Ich bringe sie auf den Flughafen. Angeblich haben ihre Familien es bis nach Skandinavien geschafft.“
Lina schnaubte. „Nie im Leben. Skandinavien hat vor 40 Jahren dichtgemacht. Totale Abschottung.“
„Sie wollen da hin.“
„Warum müssen sie dazu auf den ... ? - Nein!“ Lina fasste nach Maleks Arm. „Warte. Sag mir nicht, sie wollen fliegen.“
„Wenn der Preis stimmt, kannst du auch eine Cessna chartern.“
„Womit wollen die ein Flugzeug bezahlen? Weißt du, wann ich das letzte Mal eins gesehen habe?“
Malek kramte in seinen Taschen, hielt ihr etwas hin. „Damit.“
„Was ist das?“
„Eine Dattel. Süß und nahrhaft. Sehr begehrt. Getrocknet hält sie extrem lange. Die Palmen, an denen sie wächst, sind hitzebeständig und anspruchslos, brauchen aber viel Wasser und Zeit zum Wachsen. Man kann Öl aus ihr herstellen. Essig, Schnaps, Palmwein aus den Palmen. Dutzende anderer Sachen aus den Blättern.“
„Na dann. Willkommen in Europa, Dattel.“
Maleks Augen leuchteten. „Sie sind das Gold der Wüstenländer.“
„Du schmuggelst also Dattelschmuggler.“
„Ich bringe sie nur zum Flughafen. Normalerweise hätte ich bis zum Herbst gewartet, aber die Gelegenheit war günstig.“
„Habt ihr den Aufstand angezettelt?“
„Nein! Wohin willst du?“
„Nach Hause.“
„Nein! Geh zu Len!“
„Ich habe ihn verloren. Könnt ihr mich zum Flughafen mitnehmen? Von da aus finde ich nach Hause.“
Einer der Algerier kam auf sie zu gerannt. „Hommes“, rief er unterdrückt.
Linas Blut gefror.
„Merde!“ Malek packte Lina hart am Arm, zog sie vom Weg weg, winkte den Algerier zu sich. „Vamos.“
Er sprintete zu den Büschen, hinter denen sich Linas Versteck befand. Der Algerier alarmierte seine Freunde, während Lina ihren Rucksack aus dem Sand wühlte.
Dann sprinteten sie davon, Malek Haken schlagend vornweg. Nach einer Weile rannte er auf einen Erdwall zu, sprang über ihn, ließ sich fallen. Schweigend verharrten sie, ihr Schnaufen unterdrückend, spähten vorsichtig über die Kante.
„Wer sind die?“, flüsterte Lina Malek zu.
„Scheikh Raoufs Leute vielleicht. Er ist ihr Imam. Strenggläubig, extrem konservativ. Zu streng für viele seiner Landsleute, vor allem für die aus den Städten. Er lässt sie nicht gehen, behauptet, er habe für Nadim, Hafid und Boumedin bezahlt. Ihnen Essen und ein Heim gegeben, Unterricht und Bildung. Im Gegenzug verlangt er Gehorsam und Treue.“
„Bildung?“
„Muslimische. Runter!“ Malek drückte ihren Kopf in den Sand. Die Algerier duckten sich so tief wie möglich.
Lina hörte stampfende Schritte. Maleks Augen weiteten sich. Er legte einen Zeigefinger auf den Mund, rutschte näher. „Patrouille“, flüsterte er in ihr Ohr.
„Vom Flughafen?“
Mit verzerrtem Gesicht nickte er.
Die Zeit schien den Atem anzuhalten. Schweißtropfen kitzelten Lina an der Nase, während sie mit klopfendem Herzen lauschte und betete, dass die Männer weitergingen. Sie vermeinte, ein Murmeln zu hören, spitzte die Ohren. Doch sie konnte nicht ausmachen, was gesagt wurde.
„Hier!“, vernahm sie plötzlich ein bekanntes Wort. „Sie sind Berg hoch!“ Fehlender Artikel, türkischer Einschlag.
Malek hob den Kopf, scannte die Umgebung, nickte nach rechts. Lina erkannte ein Spalier weißer Bäume, aufgereiht wie an einer Schnur. Sie schätzte die Entfernung ab. 80 Meter?
„Los!“ Malek rutschte die Schanze hinunter, kam auf die Beine und begann zu rennen. Lina hetzte hinter ihm her. Die Algerier folgten mit minimaler Verzögerung.
Aufgeregte Stimmen ertönten hinter ihnen. Lina legte einen Zahn zu, auch Malek beschleunigte. Die Algerier hingegen blieben zurück. Ihre Flip-Flops platschten auf dem Sand. Ihre Verfolger brüllten sich Befehle zu, holten auf.
Kurz vor den weißen Bäumen schlug Malek einen Haken, rannte parallel zu der Allee entlang. Erneut jagten sie ein Hügelchen hoch, das abrupt in einem Graben endete. Malek schubste sie und zwei Algerier hinein, sprang hinterher. Sein dritter Schützling stolperte, prallte der Länge nach hin, verlor einen Schuh. Die Reisetasche begrub ihn unter sich.
„Hafid!“
Panisch befreite Hafid sich von der Tasche, stieß sie zu seinen Kameraden. Dann rollte er zurück zu seinem Schuh.
Seine Gefährten schrien erschrocken auf, machten Anstalten, das Hügelchen wieder hinauf zu kriechen, aber Malek zog sie am Kragen ihrer Kaftane zurück.
Ein Sicherheitsstiefel zerquetschte Hafids Hand, als er sie nach dem Schuh ausstreckte. Hafid brüllte auf, krümmte sich. Ein Mann mit kahl geschorenem Schopf bückte sich zu ihm hinunter und hob triumphierend den Flip-Flop auf. „Hab ihn!“, rief er seinen Kumpanen zu, die von allen Seiten an sie heranpirschten. Entsetzt sah Lina, dass sie Schlagstöcke, Taser und ein Sturmgewehr bei sich hatten.
Neun Männer, allesamt ohne Kopfbedeckung und Sonnenbrillen. Nicht verwunderlich. Die Sonne stand mittlerweile so tief im Westen, dass sie nicht mehr auf der Netzhaut prickelte. Sie glichen sich sehr. Türkische Züge, ultrakurzes Haar, sorgfältig gestutzte Bärte, Schmierfettstreifen unter den Augen. Alle trugen eine Art Uniform, bestehend aus einem stahlgrauen Muscle Shirt und einer dunkelblauen Hose mit breitem Gürtel, sowie eine Unmenge Tattoos, wirkten gut trainiert.
„Na, ihr Zecken?“ Der Kleinste von ihnen schob sich vor die anderen. „Kleine Spritztour gemacht? Mally! Dachte, wir hätten uns beim letzten Mal glasklar ausgedrückt. Keine Ausflüge. Bleibt in eurem verkackten Lager!“
„Alperen. Nicht so erfreut, dich zu sehen.“
Alperen feixte. „Große Klappe, hm? Hättest du die auch hier oben? Meine Jungs und ich würden dich gern richtig begrüßen.“ Die Männer lachten.
„Komm, sei Ehrenmann!“, brüllte einer.
Malek musterte ihn mit erzwungener Ruhe. „Leg deine Waffen ab und schick deine Kumpels zurück, dann reden wir von Ehre.“
„Willst du mich beleidigen, Hurensohn?“
Lina zuckte zurück, als der Mann nach seinem Schlagstock griff und einen Schritt nach vorn machte. Maleks Arm schob sich vor ihren Körper.
„Melih!“, maßregelte Alperen seinen Untergebenen.
„Der hat doch nur große Fresse, weil er da unten hockt!“ Melih spie einen Klumpen Rotz aus.
Lina sah Malek fragend an.
„Grenze“, sagte dieser zwischen zusammengebissenen Zähnen.
Der Graben. Er trennte zwei Reviere. Offenbar gab es ein Gesetz, das Banden verbot, auf fremdem Boden Leute aufzumischen.
„Also“, wandte Alperen sich an Malek. „Was machst du hier? Wer sind die Leute? Ist die Schönheit da deine neue Freundin? Oder bezahlt sie dich mit einem Gratisfick?“ Meckernd lachte er über den eigenen Witz. Seine Kumpane schnaubten belustigt.
„Vielleicht ist sie auch die Bezahlung für uns“, schlug einer aus der Mannschaft vor und erntete mehr Gelächter. „Dafür, dass wir sie reinlassen.“
„Uh.“ Alperen klatschte. „Geile Idee, Oktay. Wie wär’s, Mally? Bist du dabei? Hübsche Frauen sind Mangelware in Tegel City. Oder zu teuer für uns arme Schweine.“
„Im Lager gab es einen Aufstand“, ging Malek über das Angebot hinweg. „Ich wollte die vier einfangen, bevor sie aus Versehen Tegel betreten.“
„Aus Versehen“, stieß Alperen aus. „Klar doch.“ Dann musterte er Malek. „Ist das wahr mit dem Aufruhr? Wir haben Rauch gesehen.“
„Ja“, antwortete Lina an Maleks Stelle. „Massen sind geflohen. Einige ertranken, als sie über den See wollten.“
„Shit, Sonderschichten. Tagelang Zecken einfangen.“
„Tut uns leid, dass wir auf eurem Gebiet waren“, sagte Malek. „Die vier kennen sich noch nicht gut aus hier.“
„Tja, Pech für ihn.“ Alperen hob zwei Finger. Oktay legte das Gewehr an. Es knatterte, Sand stob auf, Hafid zuckte und erschlaffte.
Nadim und Boumedin schrien auf, Lina riss die Hände vor den Mund, Malek keuchte. Bestürztes Schweigen hing in der Luft, nachdem der Sand sich gelegt hatte. Selbst die Türken wirkten erschrocken.
Alperen wandte sich an Malek. „Ich kann euch mit reinnehmen, aber das kostet. Einmal gratis für jeden von uns.“
Lina starrte den Kerl an. „Lieber steche ich mir die Augen aus.“
„Kannst du haben, Süße.“ Alperen zog ein monströses Armeemesser aus dem Gürtel. „Für eine Nummer braucht man keine. Hab ich recht, Jungs?“
Nur Melih, Oktay und ein schielender Mann gluckerten zustimmend, der Rest der Truppe schaute eher angewidert. Dass er im Ernstfall eingreifen würde, bezweifelte Lina allerdings.
„Wir gehen zurück“, sagte Malek, unverwandt auf Hafid blickend, um dessen Kopf sich eine Lache ausbreitete. Blut sickerte an etlichen Stellen durch den Kaftan. „Ihr begleitet uns zum Lager?“
„Nein, ich denke, wir müssen ein paar Zecken einfangen. Letzte Chance: die Blonde für freien Zutritt.“
„Fick dich.“ Maleks Stimme hatte sich ebenso verfinstert wie sein Gesicht.
„Lieber sie.“ Alperen grinste und salutierte.
Sobald die Schritte der Patrouille verklungen waren, plumpste Malek zu Boden und vergrub das Gesicht in den Händen.
Die Algerier kletterten zu Hafid und berührten ihn, als könnten sie ihn damit aufwecken. Über ihre Gesichter rannen Tränen. Schließlich nestelte der Größere sein Tuch ab, breitete es über Hafids Gesicht, entfernte sich dann und starrte in die Leere. Der Kleinere hockte sich neben Malek, legte ihm einen Arm um die Schulter, murmelte Worte, die Lina nicht verstand. Malek schüttelte immer wieder den Kopf, blickte nicht auf.
Der Algerier sah zu Lina auf. „Er gibt sich die Schuld“, sagte er in gutem Englisch. „Dabei passieren solche Dinge. Wir kannten das Risiko. Hafid war nicht der Erste. Noureddine ertrank während einer Meuterei, Idir verschwand, als wir in einem Camp in Frankreich übernachteten.“ Traurig starrte der Mann auf Hafids Leiche. „Ihren Familien wird es das Herz zerreißen.“
„Ist es das wert?“
Der Algerier sah sie lange an. „In unserer Heimat sind wir schon gestorben. Arabien, Nordafrika - tot. Wasser oder Wüste. Ein paar Oasen, um die erbittert gekämpft wird. Schlimmer als hier. Wir müssen zu diesem Flughafen. Wenn Malek uns nicht bringt, gehen wir allein.“
„Aber die Männer könnten überall lauern! Die warten doch nur darauf, dass wir auftauchen!“
„Boumedin hat recht“, krächzte Malek. „Ich muss sie dahin bringen. Zurück können sie sowieso nicht. Raouf würde sie hart bestrafen.“
„Du spinnst!“
„Sonst verliert er sein Gesicht.“ Malek erhob sich. „Hinter den weißen Bäumen liegt eine Straße. Man muss sie und ein Feld überqueren, dann gelangt man zum Rollfeld. All das wird überwacht. Türme, Scheinwerfer, Patrouillen, Fallen.“
Lina blinzelte erschrocken. „Fallen?“
„Deswegen gehen wir nicht über das Feld, sondern einen Umweg. Sobald ihr durch den Zaun seid“, sagte er zu den Algeriern, „seid ihr auf euch gestellt. Ihr wisst, wie ihr dann vorgeht. Mit wem ihr sprechen müsst. Wo ihr euch verstecken sollt.“
Boumedin und Nadim nickten.
Malek verteilte Äpfel. „Wir ruhen uns eine Stunde aus.“
Als die Männer Hafid entkleideten und bis auf das Tuch alles an sich nahmen, schaute Lina weg, versuchte, das Schluchzen Nadims auszublenden, rang selbst mit den Tränen.
Mit dem letzten Tageslicht brachen sie auf, folgten dem Graben nach Südwesten, hielten Ausschau nach Alperen.
Irgendwann ging der Graben in eine schlammige Wiese über, danach in einen Sumpf. Wasserflächen glitzerten im verglühenden Sonnenlicht; Pfützen und Löcher, in denen man sich die Füße verstauchte, wenn man nicht aufpasste, später Mulden und Priele. Die Luft wurde kühler, dafür machten Mückenschwärme Jagd auf sie. Lina zog das Baumwollhemd über, krempelte die Ärmel hinunter und stellte den Kragen auf. Die beiden Algerier rollten sich über den Boden, um ihre Kleidung zu verdunkeln.
Ihre Sportschuhe schmatzten bald vor Nässe. Mittlerweile gab es mehr Wasser als Land, und sie wateten in knöcheltiefem Schlick. Das war anstrengend und Lina froh über ihren Stock. Die Afrikaner trugen ihre Flip-Flops an den Handgelenken.
I feel it in my bones enough to make my system blow.
Zum Glück bog Malek auf Grasland, sobald der Forst endete, und sie standen wieder auf freiem Gelände.
Die Feuchtwiese schwankte unter ihren Füßen, eine Wohltat für Beine und Rücken. Von Verfolgern gab es bislang keine Spur und Dunkelheit hüllte sie ein. Erfüllt von neuer Energie trabte sie hinter Malek und Boumedin her, spürte Nadims Atemzüge in ihrem Nacken.
Das schnappende Geräusch zerschnitt die Stille wie ein Kanonenschuss. Malek zuckte zusammen und fiel zu Boden. Im nächsten Augenblick flammten Scheinwerfer auf.
„Runter!“, keuchte Lina. Das Licht reichte nicht bis zu ihnen, erleuchtete die Umgebung jedoch gut genug, um zu sehen, dass Malek mit schmerzverzerrtem Gesicht sein Bein umklammerte.
Lina robbte zu ihm, starrte auf die Bärenfalle. „Oh Gott.“
„Biege die Bügel auseinander“, sagte Malek. Er atmete heftig durch die Nase. „Schnell.“
Lina versuchte es, danach Boumedin, aber die Bügel saßen fest in Maleks Bein. Erst als sie ihren Stock als Hebel benutzte, lösten sie sich schmatzend. Malek krümmte sich stöhnend.
Das Bein sah furchtbar aus, blutig und zerrissen.
„Kannst du laufen?“
Mit zusammengebissenen Zähnen untersuchte Malek die Wunde. „Mit dem Stock - ja.“ Er sah die Algerier aus tränenden Augen an. „Da hinten ist der Zaun. Sucht Löcher. Hinter ihm ... Rollbahn. Kniffelig. Ihr müsst den richtigen Moment abwarten. Dahinter Wald. Bäume, Deckung. Eine Hütte. Werkstatt. Garage.“ Malek sprach in von Qual zerhackten Sätzen. „Dort arbeiten Georg und Ivan. Sie mögen Türken nicht besonders. Auch keine Araber, doch ihr bezahlt sie. Ivan ist Russe. Pilot. Ein Säufer, aber ihr könnt ihm trauen.“
„Was ist mit dir?“, fragte Boumedin, der zu jedem dritten Wort genickt hatte, obwohl Panik sein Gesicht ins Groteske zog.
„Haut ab jetzt! Na los! Macht schon!“
Aufgescheucht stoben die Algerier davon.
Lina sah ihnen nach. „Das Areal ist riesig.“
„Zum Glück. Massig dunkle Ecken. Die Scheinwerfer kosten zu viel Strom, sind nur Abschreckung. In ein paar Minuten stellen sie sie ab.“
Schüsse peitschten über das Feld, ließen Lina und Malek ängstlich horchen. Doch sie vernahmen keinen Schrei, kein Stöhnen. Nadim und Boumedin schienen die Nerven zu behalten. Weitere Schüsse jaulten durch die Nacht, dann gingen die Scheinwerfer mit einem Knall wieder aus und Dunkelheit senkte sich über sie.
Geduckt warteten sie, bis sie einigermaßen sicher waren, dass niemand es auf sie abgesehen hatte.
„Vielleicht denken sie, es war ein Tier“, sagte Lina.
„Hoffen wir es. Gib mir deinen Stock.“
Malek lehnte sich auf den Ast und machte ein paar humpelnde Schritte.
„Stütze dich auf mich und benutze den Stock zum Stochern. Damit wir nicht noch eine Falle auslösen.“ Resolut schob Lina sich unter Maleks Schulter, legte einen Arm um seine Hüfte, spürte, wie er sich verhärtete. „Keine Angst, du bist nicht mein Typ. Na los!“
Es tat gut, zur Abwechslung mal Anweisungen zu geben.
Es dauerte nicht lang, bis sie an einer Schlaglochpiste ankamen. Vor einem eingefallenen Haus blieben sie stehen, betrachteten es prüfend, bevor sie durch ein Fenster einstiegen; Malek zischend, als er das verletzte Bein belastete. Innen traten sie in einen Berg Scherben. Lina führte Malek an umgestürzten Schreibtischen und Bürostühlen vorbei. Aus den Stühlen quoll die Polsterung und die Rollräder fehlten; ebenso die Tischbeine. Der Inhalt der Schubladen lag überall verteilt.
Auf einem Gang blieben sie stehen, um zu lauschen. Nichts. Absolute Stille. An einer Wand entdeckten sie ein aufgehebeltes Medizinschränkchen. Leer.
In einer Art Empfangszimmer stießen sie auf ein aufgeschnittenes Sofa, auf das Malek sich kippen ließ. Mit glänzendem Gesicht kramte er nach einem Metalldöschen mit Streichhölzern.
Im Schein einer flackernden Kerze begutachteten sie Maleks Wunde. „Sieht schlimm aus“, sagte Lina. „Muss wahrscheinlich genäht werden.“
Aus der Außentasche seines Rucksacks förderte Malek ein Fläschchen zutage. Es sah aus wie eine von Stanislaws Probepackungen. „Zum Desinfizieren.“
Während sie die Flasche aufschraubte und ein T-Shirt aus Maleks Rucksack ausbreitete, erklärte er, woraus und wie sie den Schnaps destillierten. Mittlerweile hatte Lina sich so sehr an sein Kauderwelsch gewöhnt, dass es ihr gar nicht mehr auffiel. Sie hörte ihm zu, nickte zwischendurch, presste das alkoholgetränkte Shirt auf das Bein.
Er bäumte sich auf, kämpfte Schreie nieder. Seine Nasenflügel bebten. Zitternd sank er schließlich zurück.
Lina reichte ihm die Flasche. „Trink!“
Er schüttelte den Kopf. „Kein Alkohol.“
„Oh, ein Heiliger.“ Lina hob das T-Shirt und fletschte die Zähne.
„Lass es drauf“, sagte Malek schwach. „Nähen kann es jemand zu Hause. Hauptsache, die Wunde bleibt sauber. Wir müssen sie verbinden.“
Am Ende zerschnitten sie eine Tischdecke in Streifen.
Bald nahm Maleks Gesicht wieder etwas Farbe an. „Gut“, lobte er Linas Verband. „Steck die restlichen Streifen ein.“
„Lass uns erst ausruhen.“
„Ich will nicht, dass sich was entzündet. Oder dass irgendwer uns aufstöbert. Ich schlag mich schon durch.“
„Ich bringe dich hin.“
„Ich dachte, du wolltest nach Hause.“
„Ich kann dich doch so nicht gehen lassen.“
Malek stand vorsichtig auf. „Alperen treibt sich draußen herum. Scheikh Raouf. Geflüchtete. Es ist gefährlich. Ich kann dich so nicht beschützen.“
„Aber ich dich. Bis zum Lager. Von da aus finde ich zurück zu Len, wenn du mir den Weg zeigst.“
Malek kaute auf seiner Unterlippe. „Wenn irgendwas passiert, rennst du! Versprich es!“
„Und du?“
„Schwöre es!“
„Okay. Ich haue ab, wenn es brenzlig wird.“
„Du kümmerst dich nicht um mich! Du rennst los!“
Sein Beschützerinstinkt rührte sie, auch wenn sie sich ein wenig wie die Jungfrau in Nöten fühlte.
Auf dem Weg nach draußen fanden sie einen Besen mit verklebten Borsten, schraubten den Kopf ab, damit Malek ihn als Gehhilfe benutzen konnte.
Langsam gingen sie die Zufahrtsstraße zurück. Das Flughafengelände lag nicht weit entfernt, dennoch erkannte Lina kaum Umrisse. Vor gut zwei Wochen hatte es eine Mondfinsternis gegeben, fiel ihr ein. Jetzt kam es ihr fast ebenso dunkel vor.
An der Kreuzung tasteten sie sich nach rechts, bis sie sicher waren, Asphalt unter den Sohlen zu haben.
„Wenn du dieser Straße nach Norden folgst, kommst du zu Lens Community. Am Tag und gut zu Fuß schafft man das in einer Stunde.“
„Echt? Ich bin den ganzen Tag mit Len hierhin und dahin gelaufen. Da verliert man das Gefühl für Entfernungen.“
Sie marschierten die verlassene Allee entlang.
„Wenn du Richtung Süden gehst“, fuhr Malek nach einer Weile fort, „kommst du zum Kanal. Dort steht eine Brücke, aber die ist bewacht.“
„Vom wem?“
„Flusspiraten. Banden. Je nachdem, wer kontrolliert.“
„Was kontrolliert?“
„Den Verkehr. Der Kanal wird noch befahren, zumindest einige Monate im Jahr. Man zahlt Brückenzoll und Steuern.“
„Wie im Mittelalter. Jeder popelige Fürst erhob Zölle auf alles Mögliche.“
„Die Revierbosse sind ein bisschen wie Fürsten“, bestätigte Malek, nachdem Lina ihm den Titel erklärt hatte. „Keine Ahnung, wie es weiter weg aussieht. Wahrscheinlich ähnlich.“
„Früher bist du einfach hingefahren, wohin du wolltest. Jetzt musst du an jeder Straßenecke neu verhandeln.“
Schüsse beendeten abrupt ihr Gespräch. Sie warfen sich in den Straßengraben, rissen ihre Stöcke an sich. Maleks aufgerissene Augen blitzten weiß.
Die Schüsse schienen nicht ihnen gegolten zu haben, denn nicht weit entfernt hörten sie Schreie, aufgeregte Stimmen und laute Befehle.
„Alperen?“, flüsterte Lina.
„Sind wohl auf der Jagd.“
Lina spitzte die Ohren. Brechende Äste und Zweige, panische Schritte.
Malek schreckte auf. „Kreuzfeuer! Los! Hau ab! Lauf!“ Überraschend kräftig schubste er sie den Graben entlang.
„Was? Nein! Wir sind doch fast ...“
„Du hast es versprochen! Verschwinde!“
Er drückte ihr seinen Rucksack in die Hand. Lina wollte widersprechen, als ein Querschläger den Ast über ihnen traf und Holzsplitter auf sie regneten.
„Lauf!“ Maleks Stimme wurde eindringlich. „Schnell!“
Das Buschwerk in der Nähe geriet in Bewegung und die Stimmen wurden lauter.
Lina raffte Stock und Rucksack an sich und preschte los. Oberhalb von ihr brach jemand oder etwas durch das Unterholz, versperrte den Weg. Also rannte sie auf die andere Straßenseite und sprintete zurück nach Süden.
03.08.2048
Ton hat draußen jemanden gesehen, der aussah wie Sascha. Er beschrieb ihn als verrückte, versiffte Vogelscheuche. Der Mann hätte geschrien, geweint und gelacht und sei dann weggesprungen. Ton hat ihn ein Stück verfolgt, bis zu einer U-Bahn-Station. Dahinein hat nicht mal Ton sich getraut. Sascha lebt also vielleicht noch. Ton und Manu trainieren den ganzen Tag, kämpfen, ballern herum, zeigen ihre Muskeln. Logan ist ihr Ausbilder. Cem macht mit, auch wenn er oft der Sandsack ist. Immer öfter suchen sie zu dritt Opfer draußen. Ich muss auf Cem aufpassen. Er darf nicht werden wie sie. Also muss ich kämpfen lernen.
Unversehens tauchte die Brücke vor ihr auf; eine Stahlbogenkonstruktion auf einer Anhöhe, an beiden Seiten von Geländern eingefasst. Barrikaden aus Fässern, Pollern, Kabelrollen, Fahrrädern und Einkaufswagen versperrten den Weg zu ihr. Über der Brücke ragte ein Gerüst in den schwarzgrauen Himmel. Ein Aussichtsturm? Sie erinnerte sich an Maleks Warnung und blieb mitten auf der Straße stehen.
Das plötzlich einsetzende Bellen eines Hundes jagte ihr Schauer über den Rücken. Ängstlich drehte sie sich im Kreis, darauf gefasst, jeden Moment von einer Bestie attackiert zu werden, meinte, die Schritte wütender Verfolger und die Warnrufe von Brückenwächtern zu hören.
Eilig schlug sie sich in die Büsche, zerkratzte sich Gesicht und Hände, rutschte aus, kugelte einen Abhang hinunter und blieb am Ufer des Kanals liegen.
Einen Augenblick schnappte sie nach Luft. Dann setzte sie sich auf, zerrte Maleks Rucksack vor sich, stopfte ihren eigenen hinein, angelte nach ihrem Stock und stakste ins Wasser. Sie könnte versuchen, ans andere Ufer zu schwimmen. Wenn ihre Orientierung sie nicht völlig trog, müsste sie dann in Spandau sein, wenngleich noch weit weg von ihrem Sektor. Spandau fühlte sich zumindest sicherer an als Tegel.
Als auf der Brücke Licht aufflammte, erstarrte sie. Gleich darauf begriff sie, dass die über das Wasser springenden Lichtkegel nicht ihr galten. Aus der Düsternis trieb ein Ungeheuer auf sie zu und auf der Brücke wurde es lebendig. Silhouetten tauchten auf dem Geländer und dem Gerüst auf, rannten hin und her. Zurufe schallten durch die Nacht.
Das Monstrum glitt träge auf sie zu, hielt sich in der Mitte des Kanals, wo das Wasser am tiefsten war.
Es war eins von den flachen Ungetümen, die sie von Bildern kannte. Sekunden später hörte sie das Tuckern eines Motors, sah die Bugwelle des Schleppkahns auf sich zurollen. Der Kahn fuhr extrem langsam, dennoch wirkte die Woge beängstigend, genau wie die Wellen, die an den Bordwänden entlang schwappten. Am Bug entdeckte sie eine Gestalt, die aufmerksam nach vorn starrte.
Von einem Augenblick zum anderen steckte sie in der Klemme. Bewegte sie sich, würde sie vielleicht erspäht. Blieb sie stehen, würde der monströse Kahn sie möglicherweise rammen.
Sie machte drei, vier hastige Schritte rückwärts, verlor den Halt. Gleichzeitig rauschte der Kahn vorbei und riss sie von den Füßen. Sie wirbelte durchs Wasser, kam gurgelnd wieder hoch. In diesem Moment erfasste sie ein Lichtstrahl. Aufgeregte Schreie auf der Brücke. Jemand schlug gegen das Metall, frenetische Takte, die ihren Herzschlag hochtrieben. Die Gestalt am Bug drehte sich um, duckte sich, als Schüsse durch die Nacht peitschten. Reflexartig tauchte Lina unter, trieb kurz mit, schwamm unbeholfen an die hintere Backbordseite, streckte einen Arm nach einer Art Ballon aus. Zweimal rutschte sie ab, dann stieß sie ihren Stock durch die Seile, mit denen der Fender vertäut war, und zog sich heran. Schnaufend klammerte sie sich fest, schlang ihren Arm um das Tau, spuckte Wasser.
Sie hing am Kahn, bis die Geräusche verebbt waren. Ihre Arme brannten vor Überanstrengung. Mit letzter Kraft zog sie sich auf einen fußbreiten Umlauf. Von dort aus hievte sie sich an der niedrigen Reling empor, bis sie schließlich unter dem Fensterchen des Steuerhäuschens zusammenbrach.
Als ihr Atem sich normalisiert hatte, kroch sie bis ganz nach hinten.
Achtern, schoss ihr in den Kopf. Hatte Roman ihr das erklärt?
Achtern war niemand. Nur eine Fahnenstange ragte über die Reling. Über ihr, auf dem Dach des Häuschens, knarrte ein Kran. Sie beschloss, dass es da oben sicherer war als auf dem Deck. Auf das Kabinendach gelangte sie ohne größere Mühe. Ein halber Klimmzug und sie war oben, verharrte, entdeckte zwischen Keilen ein zweisitziges Ruderboot.
Links und rechts glitt das Ufer als dunkles Band von Bäumen und Büschen vorbei. Am Bug, 50 Meter von ihr entfernt, stand die Gestalt.
Es musste mindestens eine weitere Person geben, die das Ungetüm steuerte. Lina vermutete sie unter sich. Deshalb bewegte sie sich so leise wie möglich, wagte es nicht, in das Boot zu klettern. Stattdessen quetschte sie sich darunter, schloss die Augen und lag ganz still, bis die Gedankenstrudel abflauten und ihr Herz wieder in normalem Tempo schlug.
In the future, where will I be?
Lens Hütte. Dort war sie heute Morgen aufgewacht. Jetzt trieb sie auf einem Schleppkahn durch einen Kanal.
Wohin eigentlich?
Sie schnellte hoch, donnerte mit dem Kopf gegen den Bootskiel. Ein Wummern breitete sich in ihrem Schädel aus. Die Welt versank in einem Strudel aus Schmerz.
26.12.2048
Traurige Weihnachten. Ileana ist gestorben. Endlich. Ihr beim Verhungern zuzusehen, war schlimmer als das Ende. Aus ihrer Familie ist niemand mehr da, um sie zu beweinen. Sascha und Kevin sind verschwunden, Laura tot. Mama, Esra und ich trauern, Sille und Jon versinken in Schweigen. Logan hat mit Ton und Manu auf Ileana angestoßen. Mit Wodka, natürlich. Cem hat im letzten Moment abgelehnt. Wahrscheinlich hat er Esras wütendes Gesicht gesehen. Esra ist Logan beinahe an die Gurgel. Jon musste sie vor seinem Bruder und Ton beschützen. Manu hat währenddessen mich festgehalten und dabei gegrinst. Wenigstens konnte ich ihm ins Schienbein treten.
Lina jaulte auf, als sie erneut gegen den Kiel prallte.
Unbeeindruckt wurde sie ein zweites Mal getreten, und zwar nicht gerade zimperlich. „Aufwachen!“
Sie rollte auf die Seite, blinzelte eine Frau an. „Ist ja gut.“
„Was machst du hier?“
Ächzend fuhr Lina sich mit der Hand über ihre bleischweren Lider. „Leute haben auf mich geschossen, als ich über den Kanal wollte. Ihr Kahn war meine Rettung.“
Ihr Gegenüber, eine breitschultrige Frau Mitte 50, saugte ihre Unterlippe zwischen die Zähne. „Hast du’n Namen?“
„Lina.“
„Bist du’n Schnüffler?“
„Nein.“
„Schmuggler?“
„Nein.“
„Pirat?“
„Nichts in der Art.“
„Komm raus. Schön langsam.“
Gehorsam kroch Lina unter dem Boot hervor, angelte nach dem Rucksack und dem Stock.
„Stopp!“
Die rauchige, leicht kurzatmige Stimme ließ Lina zurückzucken. „Ich wollte nur ...“
„Setz dich an den Kran.“
Wieder tat Lina wie geheißen.
„Also? Was bist du?“
„Verloren gegangen.“
Die Frau lachte hustend. „Bei was? ‘Nem Schulausflug?“
„Das ist eine längere Geschichte.“
„Dann leg besser los. Ich bin nicht die Geduldigste.“ Sie berlinerte heftig. Hörte man selten heutzutage.
Lina beschränkte sich auf die Fakten.
„Und du bist aus Spandau?“
„Ja.“
Wieder das hustende Lachen. „Ist dir klar, dass du in die falsche Richtung fährst?“
Siedendheißer Schrecken fuhr Lina in die Glieder. In ihrem Kopf überschlugen sich die Gedanken, dann dehnte Leere sich aus. Sie schlug die Hände vor ihr Gesicht und sackte in sich zusammen.
Die Frau musterte sie reglos.
„Können Sie mich irgendwo rauslassen?“, piepste Lina schließlich.
Die Frau legte die obere Zahnreihe über ihre Unterlippe, was ihr das Aussehen eines Kaninchens verlieh. „Schlechte Idee.“
„Sie wollen mich doch nicht entführen?“
„Wir verkaufen Ware, keine Menschen. Das ist was für abartiges Pack.“
„Also sind Sie Händlerin?“
„Schiffer.“
„Warum ist es eine schlechte Idee, mich rauszulassen?“
„Da ist nichts weiter als verbranntes Land.“
„Was meinen Sie?“
„Verbrannt halt. Geplünder, Raubzüge, Gemetzel. Hier willste nicht aussteigen, glaub mir.“
„Wo kann ich denn abspringen?“
„Erst mal zeigste, was du dabei hast!“ Ein wölfisches Grinsen erschien auf dem Gesicht der Frau. „Mitfahrgelegenheiten gibt’s nicht umsonst, Kleine.“
Lina war aufrichtig enttäuscht. Das Mannsweib in den derben Klamotten hatte wie eine ehrliche Haut gewirkt. Sie schmiss ihr den Rucksack vor die Gummistiefel.
Unbeeindruckt riss die Schifferin den Reißverschluss auf, schaute verdutzt, als sie Linas Rucksack darin fand. Sie knipste eine Taschenlampe an, reihte Maleks Besitz vor sich auf. Ein Wetzstein, eingeschlagen in Ölpapier, Streichhölzer, die kleine Flasche, eine Dose mit einer schwarzen Paste.
Die Frau schüttelte das Fläschchen, sah Lina fragend an.
„Alkohol. Ist das Schuhcreme?“
Misstrauen schwappte über die Schifferin. „Das ist nicht dein Zeug?“
„Der andere Rucksack gehört mir. Den hier gab mir der Mann, der mir am Flughafen geholfen hat. Hatte noch keine Zeit reinzuschauen.“
„Hat er gehandelt? Sieht aus wie ein Tauschobjekt.“
„Keine Ahnung.“ Lina rieb sich die Augen. Hinter ihrer Stirn pochte es.
Die Frau öffnete eine Tasche an der Vorderseite. Ein Tütchen mit Teebeuteln und Rosinen, ein verschrumpelter Apfel, der sofort im Mund der Frau verschwand, feuchte Kleidung. Ein Tuch, das Lina als Hafids erkannte, ein Basecap. Eine goldfarbene Foliendecke, ein Tablettendöschen, Kerzen, Bindfaden, drei Wasserflaschen, Klammern, eine Zahnbürste.
Die Schifferin begutachtete die Pillendose. „Irgendeine Idee?“
„Nein. Er hat keine genommen, obwohl er verletzt war.“
Sie lugte in einen Stoffbeutel. „Was ist das?“
„Datteln.“
Ein Hustenanfall, gefolgt von Kopfschütteln. „Was kommt als Nächstes? Bananen? Von den Dingern will ich zwei.“
„Krieg ich die Kerne?“
Die Schifferin gaffte sie an. „Zur Zucht?“
„Warum nicht?“
„Wir pflanzen auch ein bisschen an. Mittschiffs. Aber Datteln ... Hm.“ Sie stülpte Maleks nassen Rucksack von innen nach außen, schüttelte ihn. Dreck, Steine und Krümel fielen hinaus. „Die Tabletten nehme ich, den Wetzstein und den Alkohol. Die Kerne kannste behalten.“
Linas Rucksack war erstaunlich trocken geblieben. Nur einige Tampons waren aufgequollen. Achtlos warf die Schifferin sie über Bord. Beim Anblick von Seife und Zahnpasta pfiff sie durch die Zähne. Dann fand sie Babybrei und Milchpulver und starrte Lina an. „Woher hast du die?“
„Von einem Typen.“
Schneller als sie schalten konnte, hatte Lina die kräftige Hand der Schifferin um ihre Kehle. „Wie ist sein Name?“
„Stanislaw“, würgte Lina hervor und zerrte an dem Handgelenk.
„Wo lebt er?“
„Auf einer Sportanlage. Kennen Sie ihn?“
„Ich will das Babypulver, die Seife, die Klamotten. Den Tee brühen wir uns gleich auf. Lass das Zeug hier liegen zum Trocknen. Den Stock auch. Das Messer kannste mitnehmen, aber es bleibt in der Tasche.“
Mühsam kam Lina auf die Beine, torkelte hinter der Frau her.
„Maja!“, brüllte in dem Augenblick eine weibliche Stimme von vorn. „Fünfzehn!“
Die Schifferin winkte und schubste Lina zu einer Luke.
In der Steuerkabine erwartete sie eine dritte Frau, ohne Zweifel Majas Zwillingsschwester.
Diese beäugte Lina nur eine Sekunde lang, bevor sie wieder durch das Fenster starrte. Ihre Augen waren blutunterlaufen. „Wer ist das?“
„Ein blinder Passagier.“ Maja saugte an ihrer Unterlippe. „Ist auf der Flucht gleich vor mehreren Leuten, wenn ich das richtig verstanden hab‘. Wilde Story.“
„Sie ist aber wahr.“
„Ja, klar.“ Maja drängte Lina zu einer Sitzgruppe, zwängte sich an ihr vorbei in eine winzige Kombüse, die einen Gaskocher, einen Topf, angeschlagenes Geschirr und angelaufenes Besteck beherbergte. „Sie hat interessante Sachen dabei. Babybrei zum Beispiel.“
Die Augen der Lenkerin zuckten hoch. „Schau an.“ Damit starrte sie wieder auf den Kanal, in dessen Mitte etwas aufgetaucht war. Eine Insel? Ein Haus?
Maja setzte Teewasser auf. „Ich dachte, wir übergeben sie an Ronja und Eddy. Wegen des Breis. Und auch sonst.“
„Du schmeißt sie nicht runter? Wir sind gleich an der Schleuse.“
„Erst bereden wir alles bei einem Tee. Ronja ist eh noch nicht da.“
„Alles klärchen. Ich dreh nur bei.“
Lina drückte sich in ihre Ecke, beobachtete die Frauen. Gummistiefel und Männerklamotten, Haare, die aussahen wie graue Vogelnester. Majas Schwester hing mit ihrer beträchtlichen Oberweite über dem Steuerrad, kurbelte mit zusammengekniffenen Augen. Maja wusch Tassen in einer Schüssel aus, stellte eine Blechdose mit einer dunklen Flüssigkeit auf den Tisch.
„Ist der von uns?“, fragte Lina.
„Hab‘ nicht gefragt.“
„Wir stellen Zuckerrübensirup her.“
„Wow“, sagte Maja unbeeindruckt. Sie goss den Tee in Tassen. „Mach hin“, warf sie ihrer Schwester zu, „bevor er kalt wird.“
Die Angesprochene, konzentriert auf ihr Anlegemanöver, knurrte nur.
Lina war beeindruckt. Einen Kahn dieser Größenordnung an einer Mauer inmitten eines Kanals festzumachen, brauchte einiges an Geschick und Erfahrung. „Wie lang ist das Boot?“
„46 Meter“, erwiderte Maja. „7 Meter breit.“
„Und damit fahren Sie durch die Schleuse?“
„Nee. Wir legen nur an.“
„Ist hier Ihr Handelsposten?“
„Bist eine Blitzgescheite, was? Wir bleiben ein paar Stunden, handeln, fahren wieder zurück.“
„Und mich wollen Sie auch handeln?“
Maja warf ihr einen schiefen Blick zu. „Nicht, wie du denkst. Ronja, meine Tochter, fährt den anderen Kahn.“
Als sie an die Mauer trudelten, gab es einen heftigen Ruck, der den Tee über den Tassenrand schwappen ließ. „Anne“, tadelte Maja.
„Hör auf zu meckern.“ Anne zwängte sich aus ihrem quietschenden Stuhl, kam breitbeinig zu ihnen, schob sich neben Lina auf die Eckbank, goss sich reichlich Sirup in den Tee und nahm einen vorsichtigen Schluck. „Nicht schlecht. Schmeckt sogar nach was. Rooibos?“
Lina hob die Schultern.
„War das wegen dir vorhin? Die Schüsse?“
„Die auf der Brücke haben mich gesehen.“
„Hat uns einen ganz schönen Schrecken eingejagt. Hätte Anja treffen können.“
„Sorry. Ich hab versucht, denen aus dem Weg zu gehen.“
„Anja ist meine Tochter, verstehste? Da werd‘ ich sauer.“ Anne berlinerte genauso stark wie Maja.
„Tut mir echt leid. Ich will keinen Ärger. Ich will eigentlich nur nach Hause.“
„Und wo ist das?“
„Spandau.“
„Das ist groß. Der größte Brocken, der von Berlin noch übrig ist.“
„Fünfter.“
„Ach Gottchen. Jottwehdeh. Janz weit draußen.“
„Sie kennen sich gut aus.“
„Unser Opa mochte Spandau, ist viel über die Havel geschippert. Als Kinder sind wir oft auf den Ausflugsdampfern mitgefahren. War spannender als Schule.“
„Wenn’s nicht schaukelt, fühlt sich’s nicht richtig an“, bestätigte Maja.
„Sind Sie ein Familienunternehmen?“
„Schiffer seit mehreren Generationen. Wir waren mal wer auf dem Wasser. Jetzt gondeln wir nur noch die Havel hoch und runter.“
„Nur Frauen?“
„Horch uns nicht aus, Mädel.“ Annes Ton wurde eine Spur unfreundlicher.
Lina verkroch sich in ihrem Sitz. „Sorry.“
Anne blickte Maja an. „Also, warum soll sie zu Ronja? Den Brei können wir auch so rüberbringen.“
„Frag sie mal, woher sie den hat.“
Anne zupfte hektisch an ihrer Nase. „Kein Scheiß?“
„Nee.“
Lina sah verwirrt von einer zur anderen. „Ich verstehe nicht.“
Maja schlürfte ihren Tee. „Bald wird die Spreeprinzessin auf der anderen Seite der Schleuse anlegen. Er gehört Ronja und ihrem Mann Eddy. Ronja hat eine sechsmonatige Tochter namens Ruby.“
„Sie kann alles haben. Aber ich würde gern von Bord gehen, damit ich nach Hause kann.“
„Siehst du, hier liegt ein Problem“, erwiderte Maja. „Denn du kennst Stanislaw. Und mit dem haben wir noch eine Rechnung offen.“
„Ich habe ihn einmal getroffen!“
„Gut möglich, dass du die Wahrheit erzählst. Genauso gut möglich, dass du Stuss erzählst und eine von seinen Leuten bist.“
„Das ist doch totaler Blödsinn!“ Lina sprang auf. Sofort drückten vier kräftige Hände sie zurück.
Annes Gesicht wirkte ebenso unnachgiebig wie das ihrer Schwester. „Du trinkst deinen Tee aus, danach bringen wir dich ins Vorunter.“
„Was ist das?“
„Dort wohnt die Mannschaft. Wir werden dich einsperren.“
„Was?“
„Dir wird nichts passieren. Nimm dir ein Buch, schlaf eine Runde. Bald wird hier viel los sein. Händler, Geschäfte, manches nicht ganz sauber, manches ziemlich dreckig. Ich will nicht, dass jemand dich sieht. Hier gibt es feste Strukturen, eine bestimmte Ordnung. Du störst den Ablauf, deshalb bleibst du unten. Am Abend bringen wir dich zu Ronja. Der erzählst du dann ein bisschen mehr.“
„Es gibt nicht mehr!“
„Deinen Krempel bringen wir ebenfalls zu Ronja, abzüglich des Fahrpreises. Sie entscheidet, was danach passiert.“
Ein rothaariger Mann klopfte an die Kabinenscheibe. „Wir müssen!“, rief er, Lina neugierig musternd.
Sofort standen Anne und Maja auf. Zwischen den Schwestern kletterte Lina die Leiter hoch, balancierte den schmalen Umlauf entlang bis zu einer weiteren Luke am Bug, wo Anja sie erwartete, ein Gewehr über die Arme gelegt. Sie hatte ein auffallend rundes Gesicht mit mandelförmigen Augen. „Ich bin Anja“, sagte sie freundlich und strich sich das dünne Haar zurück.
„Hey. Lina.“
„Wir bringen sie runter“, erklärte Anne ihrer Tochter. „Sie bleibt unten, bis wir sie holen. Du gehst nicht zu ihr. Verstanden? Andi kümmert sich um Lina.“
„Klaro.“ Anja lächelte, wobei sie kleine, regelmäßige Zähne zeigte.
Andi entpuppte sich als Mann Mitte 30, dem die Haare großflächig ausgingen. Griesgrämig erwartete er Lina und Maja unter Deck. Hier war es niedrig und beengt, dafür aber kühl so nah am Wasser.
„‘Tschuldige, Mädel“, sagte Maja und grapschte Lina ungeniert ab. Sie nahm ihr das Messer ab, stutzte, als sie Lens Tütchen ertastete. „Ist es das, wofür ich es halte?“
„Ist von meinem Bekannten.“
„Jetzt ist es meins.“
„Sie rauchen Gras?“
„Seit dreißig Jahren nicht mehr, aber das Zeug ist Gold wert.“
„Sie können alles haben. Dafür lassen Sie mich gehen.“
„Nix da.“
Maja sperrte von außen ab. Lina hörte, wie sie Andi befahl, Brot, Wasser und einen Eimer zu holen.
Die nächste Viertelstunde verbrachte sie damit, den winzigen Raum zu inspizieren. Hin und wieder polterte jemand oder etwas auf dem Kahn. Sie sank auf das Bett, betrachtete die metallene Decke und das Regal, das an den Wänden entlang lief und gleichzeitig als Tisch diente. Darunter entdeckte sie einen Stapel zerlesener Bücher.
Andi kehrte zurück, stellte den Eimer hin, legte eine Brotscheibe mit Rübensirup auf das Regal, händigte Lina zwei Flaschen lauwarmes Wasser aus. Dann verriegelte er die Tür.
Nachdem Andi gegangen war, packte Lina verzweifelt ihren Kopf mit beiden Händen, schlief mitten in einem Heulkrampf ein und erwachte Stunden später. Sie zog ihre Uhr auf, stellte fest, dass es fast neun war. Die Sonne musste aufgegangen sein, doch das bekam sie hier unten kaum mit. Sie trank, aß, blätterte in einem Buch, klappte es wieder zu, weil Geräusche sie ablenkten. Sie schienen vom Kahn, aber auch von weiter weg zu kommen. Die Schleusenanlage war um eine Insel angeordnet, auf der, soweit sie das vorhin gesehen hatte, ein Haus stand. Tätigten die ausgefuchsten Schwestern von dort aus ihre Geschäfte? Hin und wieder hörte sie Knarren und Quietschen. War das der Kran? Verluden sie sperrige Waren? Womit genau handelten sie? Das Unternehmen schien jedenfalls genug abzuwerfen, um die Familie durchzubringen. Lina versank in Grübeleien, während der Geräuschteppich sie einlullte. Sie machte Stimmen aus, ohne Worte zu verstehen. Immer mal wieder schreckte eine Streiterei sie auf. Zweimal hörte sie einen Schuss. Von Anja? Das gab ihr schwer zu denken. Annes Tochter sah aus wie ein Downie. So jemandem drückte man doch keine geladene Waffe in die Hand.
Zunehmend frustriert rollte sie sich aus dem Bett, widerstand dem Verlangen, schon wieder auf ihre Uhr zu sehen. Stattdessen machte sie in der Enge Kniebeugen, reckte sich, boxte und erschrak beinahe zu Tode, als ein graues Fellbündel von dem oberen Regal sprang.
Der Kater starrte sie aus giftgrünen Augen an. Er war hübsch, nicht verlottert wie die Streuner, die man sonst so sah.
Lina tippte ihn an. „Hey.“
Er schreckte nicht zurück, als sie ihn vorsichtig streichelte, fing sogar an zu schnurren. Wahrscheinlich behielten die Schifferinnen ihn gegen Ratten und Mäuse. Wenigstens hatte sie nun Gesellschaft.
Dennoch zog sich der Tag so sehr in die Länge, dass sie irgendwann glaubte, verrückt zu werden. Selbst hier, knapp oberhalb der Wasserkante, wurde es am Nachmittag heiß und stickig. Lina zog ihre Klamotten aus, legte sich in Unterwäsche auf den Boden, weil sie das Gefühl hatte, das Bett erdrücke sie.
Lay me down. Let the only sound be the overflow.
Später wieder Getrampel an Deck, das Geräusch von sich drehenden Winden, Stimmen und Gelächter. Ein Geruch nach gebratenem Fleisch, der ihr das Wasser im Mund zusammenzog. Schwindendes Sonnenlicht, längere Schatten.
Sie zog sich an, hockte sich auf den Eimer, schüttelte ihre beinahe leeren Flaschen, sah auf ihre Uhr. Fast sechs. 17 Stunden Haft, auch wenn sie mehrere davon verschlafen hatte.
Sie machte noch ein paar Kniebeugen, ließ Kopf, Hüften und Arme kreisen, stieß sich am Bett. Dann endlich hörte sie Schritte. Sekunden später sprang die Tür auf und der Kater huschte hinaus. Nicht Andi stand draußen, sondern der rothaarige Schlaks, den sie heute Morgen am Fenster gesehen hatte.
„Ich bin Luis. Ich bringe dich hoch.“
Im Schatten des Schleusenhäuschens knisterte ein Feuer in einer Schale. Auf Spießen rösteten Kartoffeln und Fleischstücke. Neben der Schale kniete eine Frau mit ungekämmten, langen Haaren. Sie trug eine ärmellose Bluse, eine knielange Jogginghose und klobige Gummistiefel. Auf einem Plastikstuhl hockte ein Mann mit angegrautem Bart und Fusselfrisur, der sie düster musterte. Im Schoß hielt er eine Pistole und ein friedlich schlummerndes Baby.
Maja bedeutete Lina, auf dem Boden Platz zu nehmen. „Da ist sie.“
Die Frau drehte sich um. Sommersprossen sprenkelten Gesicht, Arme, Schultern und Dekolleté. Hübsch war sie, Majas Tochter, im Genpool der Familie die, die das Glückslos gezogen hatte, trotz der Fältchen um Augen und Mund und der grauen Strähnen im Nussbraun ihrer Haare.
Ronja musterte sie eine Weile. „Essen wir“, sagte sie dann. Zwischen ihren Schneidezähnen stand ein schmaler Spalt.
„Was ist das?“, fragte Lina, bemüht, nicht undankbar zu klingen.
„Kaninchen. Zumindest behaupteten das die Kerle, denen wir sie abgehandelt haben. Ich glaube, sie erzählten die Wahrheit. Steht zu viel auf dem Spiel, um uns zu verarschen.“ Sie schob Lina einen Spieß zu.
Lina pustete auf das heiße Fleisch, biss vorsichtig von einer Kartoffel ab. Ihr Gesicht hellte sich auf. „Lecker.“
Die Schifferin schaute den Mann an. „Du auch?“
„Später. Sie schläft gerade.“ Ihm fehlten ein paar Zähne.
„Wir haben Ruby den Brei gegeben“, sagte Ronja, nachdem sie sich auf ihre Fersen gesetzt und von ihrem Essen abgebissen hatte. „Jetzt ist sie satt.“
„Deine Mutter hat mir erklärt, dass ihr mich braucht, um mehr über Stanislaw zu erfahren. Aber ich weiß nichts. Ich habe ihn nur ein einziges Mal gesehen.“
Ronja wischte sich die Lippen ab. „Wir müssen dich mitnehmen.“
Lina fuhr hoch. „Was?“
„Wir haben noch eine Tour. Danach kommen wir zum Übersommern zurück. Sobald wir wieder hier sind, führst du uns zu Stanislaw.“
„Wozu?“
„Damit ich ihn umbringen kann.“ Ronja sagte das so gelassen, als erkläre sie Lina ein Rezept für Gemüsesuppe. Ihr Mann erstarrte kurz, als hätte er vergessen zu atmen, dann schaukelte er weiter das Baby.
Sprachlos starrte Lina die Kapitänin an.
„Iss auf. Wir nehmen dich mit an Bord.“
„Wohin fahrt ihr?“
„Berlin.“
Lina wiederholte den Namen so heiser, als sei sie erkältet. „Richtig rein?“
„Hauptbahnhof.“
„Das klingt ziemlich zentral.“
„Solange du bei uns bleibst, passiert nichts. Die Uferleute kennen uns. Falls du aber mit dem Gedanken spielst, abzuhauen, vergiss ihn besser.“
„Ihr nehmt mich also nicht gefangen?“
„An Bord kannst du dich frei bewegen.“
„Und wenn alles vorbei ist?“
„Kannst du gehen.“
„Versprochen?“
„Indianerehrenwort.“
05.02.2049
Elender Winter. Stürme. Kälte. Hunger macht uns schwach und krank. Niemand kann raus. Wir hocken aufeinander. Ton und Manu terrorisierten uns, stahlen unser Essen. Logan war auf ihrer Seite. Survival of the strongest. Ende Januar rastete Logan aus. Erst flogen böse Worte, dann Fäuste. Dann lag Sille tot am Boden. Ein Unfall, ausgelöst durch Wut und Alkohol. Jon erschoss Logan vor unser aller Augen. Vor vier Tagen rächten Ton und Manu sich und erstachen Jon im Schlaf. Mama, Esra, Cem und ich haben die beiden zum Teufel gejagt. Wir wollten sie erschießen, aber Mama konnte es nicht. Nicht ihre Söhne.
Die Besatzung der Spreeprinzessin bestand aus sechs Personen. Neben Ronja, Eddy und Ruby lebten an Bord noch Mick, der 15-jährige Sohn des Paares, Ronjas Schwester Amina und deren Freundin Lydia.
„Lyddi hat früher geschnüffelt“, erklärte Mick, mit dem Lina sich die Nachtwache im Bugausguck teilte.
Er hatte nichts von dem verschlossenen Wesen seiner Eltern, war gesprächig, distanzlos und von einer Unbeschwertheit, die Lina überraschte. Man sollte meinen, dass ein Junge, der auf einem Schleppkahn inmitten von Flusspiraten, zwielichtigen Händlern und Schmugglern aufwuchs, Fremden mehr Misstrauen entgegenbrachte.
„Ist sie auf Entzug?“
„War sie. So krass, dass sie sogar auf den Kapitän losgegangen ist.“
„Nennst du so deinen Vater?“
Mick lachte auf. „Eddy ist nicht der Käpt’n und nicht mein Vater.“
„Wo ist dein echter Dad?“
„Den haben wir über Bord geworfen.“
Lina lächelte, bis sie realisierte, dass Mick nicht mehr grinste. „Du spinnst.“
„Nee. Er hat den Käpt’n betrogen und so.“
„Habt ihr ihn ...?“ Mit der Hand machte sie eine Geste, als würde sie einem Huhn den Kopf umdrehen.
„Nee. Eines Tages wollte er beim Handeln bescheißen. Hat eklige Sachen gesagt. Oma und Anne stellten ihn zur Rede. Er wurde handgreiflich, dann hat Anja geschossen.“
„Annes Tochter?“
„Hätte auch Anne treffen können. Peng!“
„Erschossen?“
„Nee. In die Schulter. Er hat geheult, wollte nachts mit mir verschwinden, aber meine Mutter hat mit ihm gekämpft. Ich hab ihn geschubst und weg war er.“
„Du hast ihn ins Wasser gestoßen?“ Mit großen Augen musterte Lina den Teenager.
„Hm. Meine Mutter hat geschrien und wir haben überall geguckt. Dann hat sie mir gesagt, dass er ein Arschloch war und es so besser ist. Dass sie jetzt Kapitän ist.“
„Vermisst du ihn?“
Mick zuckte mit den Achseln. „Eddy ist cooler und gut zu uns. Ruby ist von ihm.“
„Ruby Tuesday. Rolling Stones. Der Sänger hieß Mick.“
„Du bist echt schlau.“
„Ich merk mir nur viel Kram.“
„Lydias Gedächtnis ist wie ein Netz. Selbst Amina ist stellenweise genervt, und sie ist echt verknallt in Lyddi.“
„Spätfolgen. Der Stoff zerfrisst dein Gehirn. Fang bloß nie an mit dem Scheiß.“
„Bin doch nicht bescheuert. Als Lyddi herkam, hat sie sich sogar mal in die Hosen gemacht. Hat ständig gekotzt, nichts gegessen, nur getrunken, manchmal direkt aus dem Fluss. Sie würde von innen verbrennen, hat sie gesagt. Hat sich die Haare ausgerissen. Jetzt geht’s.“
„Sie wird ihr Leben lang abhängig bleiben. Niemals dürft ihr sie in die Nähe von dem Zeug lassen.“
„Sagt der Käpt’n auch.“
„Mick!“
Der Junge fuhr herum, das Gewehr im Anschlag.
Ronja kam zu ihnen balanciert. „Geh Eddy helfen. Ich übernehme.“
Mick händigte seiner Mutter das Gewehr aus, warf Lina ein flapsiges Tschüssikowski zu und tappte nach achtern.
„Hat er sehr genervt?“, fragte Ronja.
„Nein. Langeweile hatte ich schon genug.“
Um Ronjas Lippen spielte ein dünnes Lächeln. „Gibt Schlimmeres.“
„Ja. Dass ich nicht nach Hause komme, zum Beispiel.“
„Ein paar Tage werden dich nicht umbringen.“
„Meine Eltern ... Mann, ich will gar nicht dran denken.“
Ronja musterte sie mit einer Spur von Verachtung. „Du bist erwachsen. Deine Eltern werden es verknusen.“
Lina trat gegen die Reling. „Sie wissen aber nicht, wo ich bin. Was passiert ist. Dieser Mistkerl erzählt ihnen sonst was.“
„Der Kerl, der sich an dir vergriffen hat?“
„Deine Mutter hat’s dir gesteckt?“
„Informationen sind alles.“ Ronja lehnte das Gewehr an ihre Beine, zog einen Joint hinter ihrem Ohr hervor, zündete ihn mit einem silbernen Feuerzeug an, inhalierte tief.
„Ist das mein Dope?“
„Jep.“ Ronja pustete Rauch aus und hielt Lina den Joint hin.
„Nein, danke.“
„Du dealst damit und rauchst nicht selbst?“
„Der Mann, der mich vor Roman gerettet hat, dealt damit. Mit Stanislaw, den ihr so verzweifelt sucht.“
Ronja versteinerte. Dann nahm sie einen weiteren Zug. „Hast du das Zeug geklaut?“
„Len hat’s mir gegeben. War nicht happy, dass er mit Stan zu tun hatte.“
„Ein Dealer mit Gewissensbissen? Und er lebt noch? Nicht schlecht.“
„Dieser Stanislaw ist gefährlich. Ich hatte ein sauschlechtes Gefühl.“
„Das kannst du laut sagen.“
„Woher kennst du ihn?“
Ronja zog die Nase hoch, blickte eine Weile aufs Wasser. „Ach, was soll’s“, stieß sie schließlich hervor. „Mein Ex war ein Arschloch von stellaren Ausmaßen. Ein Wiesel. Kennst du solche Typen? Spielen mit ihrem Charme, kriegen stets, was sie wollen, winden sich aus allem raus. Nur auf den eigenen Vorteil aus. So war er. Jakub.“ Ronja spuckte den Namen von sich. „Meine Mutter hat mich vor ihm gewarnt. Alle. Aber ich wollte nicht hören. Immer wieder schaffte er es, mich rumzukriegen. Ich war einfach bescheuert. Hatte Schiss ohne ihn. Dachte, allein - das schaffe ich nie. Dann noch mit Mick. Jakub hatte mich total in der Hand.“
Sie verstummte. Lina musterte sie von der Seite, studierte die Fältchen um Augen und Mund, die winzigen Narben.
„Irgendwann verguckte er sich in meine Schwester. Amina hatte keine Chance. Er machte ihr Komplimente, brachte ihr Geschenke, nahm sie mit auf Landausflüge. Kleine Abenteuer, nach denen Jugendliche dürsten. Er hat sie entjungfert, gab ihr Dope, Alco, was Härteres bisweilen. Sie haben sogar hier gevögelt. Ich hab sie gehört, ihn zur Rede gestellt, eine Tracht Prügel kassiert. Amina hat zugesehen, sich hinterher bei ihm untergehakt. Aber sie guckte erschrocken, also verzieh ich ihr. Sie wusste einfach nicht, was für ein Schwein er war. Als sie es merkte, war es zu spät.“
„Wieso?“
„Jakub kannte eine Menge Leute. Von seinen Kontakten leben wir teilweise noch heute. Meine Familie hat die Kähne, das Knowhow, doch er hatte die Beziehungen. Die Fähigkeit, Leute um den kleinen Finger zu wickeln.“
„Er kannte Stanislaw?“
„Er hatte von ihm gehört. Sagte eines Abends, er will dahin. Mick war noch ein Kleinkind, doch er bestand darauf, wollte seine Geschäftsbeziehungen erweitern. Es ging uns schlecht damals. Annes Mann war gerade gestorben, Händler meuterten, Waren blieben aus oder kamen verdorben hier an. Wir hungerten und trauerten. Eine beschissene Zeit.“
Ronja biss sich auf die Lippen. Ihre Hände zitterten. Hastig saugte sie an dem Joint. „Wir waren alle dagegen, nur wir brauchten die Kontakte, also stieg er auf Mutters Kahn um. Mit Amina im Schlepptau. Eddy arbeitete damals auf der Havelqueen, kam rüber, um Mick und mich zu unterstützen.“
„Sind sie zu Stanislaw?“
„Ja, das sind sie. Jakub war auch Pole, dachte wohl, das mache sie automatisch zu Brüdern oder so was.“
„Stan schmeißt Partys“, sagte Lina langsam. „Drogen, Alkohol, Sex. So hörte es sich zumindest an. Er wollte mich von Len abkaufen.“
„Bist du deswegen abgehauen?“
„Nein, Len ist anständig. Er hat mir wirklich geholfen.“
„Tja, das Glück hatte Amina nicht.“ Ronja kickte ein unsichtbares Steinchen weg. „Jakub kam allein zurück.“
Lina nahm ihr Cap ab, strich sich über die Haare. „Scheiße.“
„Ich brüllte ihn an, wurde fast verrückt, aber er verriet mir nicht, wo sie steckte. Prügelte mich, bis Eddy und Andi eingriffen. Da sagte er, Händler würden sie bald mitbringen. Das passierte nicht, weil er sie übers Ohr gehauen hatte, wie sich später herausstellte. Es gab wieder Streit und Jakub starb.“
„Und Amina?“
„Tauchte Wochen danach an der Brücke auf. Zusammen mit Lydia. Vollgepumpt, kaum zurechnungsfähig. Meine Mutter wurde zur Berserkerin, schrie die Brückenleute zusammen, bedrohte sie. Die wussten nichts. Irgendjemand hatte die Mädchen in der Nähe abgelegt oder sie waren geflohen. Beide waren völlig durch den Wind, erinnern sich bis heute nicht.“
„Was ist passiert?“
Ronja schnippte den Joint ins Wasser. „Das, was du vermutest. Amina schaffte den Entzug leichter als Lydia. Die ist kaputt. Ein Wunder, dass sie noch lebt.“
Lose your dreams and you will lose your mind. Ain’t life unkind.
„Immerhin ist nicht mehr jeder Tag die pure Hölle, nur noch jeder dritte.“ Ronja sah Lina an. „Deshalb musst du uns alles sagen, was dir einfällt. Damit ich Stanislaw umbringen kann.“
„Er hatte Leibwächter um sich. Der hat ein Netzwerk, verstehst du?“
„Dann zerschlagen wir das Netz.“
24.02.2049
Mama ist weggegangen. In einem Sturmloch, mitten in der Nacht. Sie hat mir ihre letzten Rationen und einen Zettel voller Entschuldigungen und Erklärungen hinterlassen. Ich habe ihn zerrissen. Später bin ich sie suchen gegangen. Allein, weil Esra und Cem auf die Burg aufpassen müssen. Außerdem geht es Esra immer noch ziemlich schlecht. Draußen habe ich Yianni getroffen. Stundenlang haben wir alles abgesucht, auch Bahnhöfe. Ohne Yianni wäre ich jetzt tot oder Schlimmeres. Zwei Tage später kamen Ton und Manu. Zum Glück hatten wir die Wege neu verbaut, die Eingänge repariert, Fallen ausgelegt und mit Essigsäure gedroht. Yianni hat uns geholfen.
Der Westhafen lag nicht weit von der Schleuse entfernt, aber er rückte in Zeitlupe näher, denn sie krochen im Schneckentempo durch die Nacht. Den Motor hatte Ronja nur beim Ablegen angeworfen, jetzt trieben sie geräuschlos durch das Wasser. Das sparte Treibstoff und weckte weniger Aufmerksamkeit.
Kurz nach vier Uhr morgens riss Lina ihren Mund zu einem Gähnen auf. Im nächsten Augenblick klappte sie ihn erschrocken wieder zu, denn aus dem Nichts tauchten die Pfeiler einer Stadtbrücke auf. Ein geisterhaftes Monument aus Beton und Stahl, beinahe unsichtbar in der Neumondnacht.
Ronja schien die Sockel bemerkt zu haben. Der Kahn kam beinahe zum Stillstand, als sie die Ruder querstellte, um abzubremsen.
Eine Gestalt jagte Lina einen Riesenschrecken ein, als sie neben sie glitt. „Lydia.“
„Schichtbeginn.“
„Wo ist Amina?“
„Passt auf Ruby auf. Bei mir heult sie immer.“
Lydia redete schnell und undeutlich, knibbelte an ihren Fingernägeln, wusste nicht, wohin mit ihren Händen.
Lina beobachtete die Frau, die es geschafft hatte, den Drogen und Stanislaw zu entkommen. Ihre Augen wirkten wie Kohlestückchen, dünnes Haar und schorfige Stellen bedeckten ihren Kopf. Ihr magerer Körper steckte in Shorts und Gummistiefeln, darüber flatterte ein T-Shirt.
„Ist es immer so?“, fragte Lina. „Mit der Unruhe?“
Lydia kratzte sich am Kopf. „Sie kommt und geht, genau wie das Nasenbluten. Ich mach’s wie eine Katze, weißt du? Wenn ich müde werde, lege ich mich hin und schlafe. Am Anfang habe ich nur ein paar Minuten geschafft, dann kamen Zeiten, in denen ich zwanzig Stunden gepennt habe. Ganze Tage wie weg.“ Sie schnippte mit den Fingern.
„Sorry, dass dir das passiert ist.“
„Bin selbst schuld. Als ich zu Stan kam, war ich schon längst drauf. Leute wie mich gibt’s zu tausenden, da wo ich herkomme.“
„Und wo kommst du her?“
„Prenzlauer Berg, aufgewachsen in Glut und Flut.“ Sie lachte auf. „Das sagt man so bei uns. Du bist nicht aus der City, oder?“
„Nein. Aber auch bei uns gibt es Junkies.“
„Ist ein hakeliger Abschnitt hier. Die nächste Brücke ist auf einer Seite eingestürzt. Die Reste hängen ins Wasser, Stahlkabel und so. Wir müssen gut aufpassen.“
„Stahl? Der ist doch bestimmt Gold wert.“
„Du kannst nicht einfach herkommen und ihn holen. Die Hafenleute erschießen dich. Wir kennen sie aber. Sie lassen uns passieren.“
„Gegen Zoll?“
„Kann sein. Aussteigen ist jedenfalls tabu. Wir fahren nur vorbei, nehmen nichts mit, lassen nichts hier. Nicht einmal einen Furz, kapiert?“
Rechterhand schälten sich turmhohe Gebäude aus dem Dunkelgrau; Krangerippe, die meisten weggeknickt wie Grashalme, Lastwagen, Container, meterlange Lagerhallen.
Ein Trampeln kündigte Mick an. Er gab Lydia ein Zeichen, woraufhin sie nach Backbord ging und er nach Steuerbord. Lina beugte sich über die Bugspitze.
Das tiefschwarze Wasser hob und senkte sich schwach. Schaumbläschen kräuselten sich an den Kahnrändern. So geräuschlos und langsam, wie sie sich bewegten, mussten sie unsichtbar sein für neugierige Augen. Lina dachte an die Raumschiffe aus den Filmen; wie diese majestätisch durch das Nichts des Alls glitten.
Am I floating round my tin can far above the moon?
Gab es noch Menschen im Weltall? Die chinesischen und russischen Raumstationen waren abgestürzt. Die ISS auch? Oder trudelte sie für alle Zeiten durchs All?
„Wir halten Abstand zum Hafen“, flüsterte Mick. „Da liegen Boote unter der Wasseroberfläche. Manche wurden absichtlich versenkt. Barrieren, verstehst du?“
Lina ließ ihre Augen kreisen. So eine Bootsfahrt war gefährlicher, als sie gedacht hatte. Eingestürzte Brücken, halb versenkte Schrottkähne, Treibgut und die allgegenwärtigen Banden.
Ein tiefes Bellen zerriss die Stille. Kurz darauf schlugen andere Tiere Alarm. Hohe Schreie, dumpfes Kläffen, aufgeregte Vogelstimmen; ein schauriger Chor aus Tierlauten.
Lina griff sich ans Herz. „Der reinste Dschungel.“
„Dreiviertelmarke“, murmelte Mick.
„Hm?“
„Wenn es heller wäre, würdest du ein rotes Gebäude sehen. Nach drei Vierteln des Hafens. Dort schlägt der Köter an. Rennt über das Gelände. Ein Höllenvieh.“
Lydia grunzte. „Ein Rottweiler.“
„Jedenfalls“, fuhr Mick nach einem Seitenblick auf Lydia fort, „kommt da hinten gleich die Brücke.“ Mit der Taschenlampe signalisierte er seiner Mutter ihren Standort. Der Kahn schwenkte eine Kleinigkeit mehr in die Kanalmitte.
„Früher haben sie die Hitzeleichen hierher gebracht“, sagte Lydia. „Mit Schleppkähnen. Ende der Zwanziger, als die Leichenhallen überquollen. Die Leute nannten sie Kadaverschiffe.“
Lina merkte auf. „Auch auf diesem?“
„Ja. Ronjas Familie hatte die Boote längst eingemottet und war auf Touristen umgestiegen. Für sie waren die Toten ein Glücksfall.“ Lydia rieb sich die Nase, kratzte sich am Arm. „Auf dem Hafengelände gab es Kühlhallen und Recyclinghöfe. Sie haben die Leichen hier zwischengelagert und später auch entsorgt.“
„Igitt.“ Linas Blicke schwenkte zu der Hafensilhouette. „Und auf diesem Friedhof leben Menschen?“
„Hab gehört, die haben mittlerweile riesige Beete. Plus das Wasser drumherum. Besser geht‘s kaum. Aber sie lassen niemanden rein. Wie bei euch.“
„Die Ressourcen sind halt begrenzt.“
„Dafür gibt es viel weniger Menschen.“
„Wie viel weniger?“, mischte Mick sich ein.
„Weltweit? Weiß niemand so genau“, sagte Lina. „Irgendein Wissenschaftler hat mal gesagt, mehr als die Hälfte.“
„Die Hälfte von was?“
„Acht Milliarden.“
Eine atemlose Pause entstand.
„Wow“, brachte Mick heraus. „Krass.“
Dazu gab es nicht viel zu sagen, also schwiegen sie.
„Achtung.“ Mit dem ausgestreckten Arm wies Mick auf ein monströses Betongerippe. Einzelheiten waren schwer zu erkennen, aber es schien, als sei ein Brückenstück in Ufernähe abgeknickt und den Abhang hinuntergerutscht; eine Straße, die im Wasser endete. Rund um die Abbruchstelle entdeckte Lina Trümmerteile, manche so groß wie Gartenlauben. In unzähligen steckten Metallstreben, gewaltige Nieten und mannsgroße Ösen. Über ihren Köpfen ragten die Brückenüberreste weit über die Kanalmitte, getragen von Pfeilern, die ihre besten Tage hinter sich hatten. Es war nur eine Frage der Zeit, bis die Straße endgültig kollabieren und den Kanal unpassierbar machen würde.
Ronja navigierte das Fünfzigmetergefährt unbeschadet durch die Gefahrenstelle. Hin und wieder knirschte der Kahn, wenn er gegen etwas schrammte, aber weder Mick noch Lydia schienen deswegen beunruhigt.
„Okay“, sagte Mick kurz darauf. „500 Meter bis zur nächsten Brücke.“
Lina setzte sich hin und lehnte den Kopf gegen die Bootswand.
„Das da ist das Kraftwerk Moabit.“ Mick wies auf eine Ansammlung hoher Gebäude, Türme, zylindrischer Gebilde und seltsamer Säulen. Tanks und Schornsteine, vermutete Lina.
„Ist es in Betrieb?“
„Nee. Hat ausgedient.“
Minuten später passierten sie eine kleine Bogenbrücke. Mittlerweile kündigte die Dämmerung sich an, ließ mehr Konturen erahnen. Am rechten Ufer erstreckten sich niedrige Gebäude, links Ruinen großer Wohnhäuser, verlassene Spielplätze und eingerissene Zäune. Im einsetzenden Vogelgezwitscher wirkte die Landschaft beinahe friedlich.
Hinter der Brücke machte der Kanal einen Bogen.
„Obacht. Vier Brücken direkt nacheinander. Danach Nordhafen.“
Schläfrig rappelte Lina sich auf.
Die ersten drei Brücken erwiesen sich als unbewachte Ungetüme. Sie brauchten beinahe eine Viertelstunde, um sie zu passieren. Auf der vierten vernahmen sie Bewegung und hektische Stimmen.
„Kopf runter!“, befahl Mick, dann prasselten Steine auf sie herab. Unbeeindruckt schwamm Ronjas Lastkahn unter der Brücke hindurch. Männer und Frauen wechselten oben brüllend die Straßenseite.
„Vollidioten“, murmelte Mick und grinste, als ein Gewehrschuss die Meute auseinandertrieb wie einen Schwarm Schmeißfliegen.
Weitere Schüsse knallten; jeder einzelne bejohlt von Mick, der beide Mittelfinger in die Luft reckte.
Lydia hingegen setzte einen zornigen Gesichtsausdruck auf. „Eddy ist manchmal so drüber. Die Typen merken sich so was. Irgendwann rotten die sich ernsthaft zusammen.“
„Quatsch.“ Mick stand breitbeinig in der Bugspitze. „Die haben sich längst ihr Gehirn weggeschnüffelt. Steine werfen, runter pissen, lahme Beleidigungen, that’s it. Für die sind wir Spaß. ‘Ne Abwechslung.“
„Kleiner Scheißkerl“, knurrte Lydia leise, als Mick wieder nach vorn starrte. „Ich wette, du wartest nur auf deinen ersten Abschuss.“
Linas Blick schwenkte zwischen Mick und Lydia hin und her. „Habt ihr schon mal jemanden erschossen?“
„Auf den Märkten, wenn’s Stunk gab. Von den Brückenidioten zwei.“ Lydia kratzte sich unter dem Auge. „Manchmal ist es einfach ätzend.“
Der Rest der Fahrt verlief ohne Zwischenfälle. Bei Sonnenaufgang dümpelten sie in den Nordhafen; einen See, etwa dreimal so lang wie der Schleppkahn. Keine Hafenanlagen, keine Kräne, Tanks oder Lagerhallen, nur ein Streifen Asche rund um den See.
Nach einem Viertelkilometer verengte der See sich unter einer Bogenbrücke erneut zum Kanal. Kurz danach wurde die Gegend städtischer. Am rechten Ufer erstreckten sich hohe, aneinander gequetschte Häuserzeilen. Linkerhand sah das Gelände weniger bebaut aus. Ein breiter Uferstreifen, große leere Flächen zwischen vereinzelten Gebäuden, keine Bäume oder Büsche. Der Anblick erinnerte an ein vergilbtes Foto in dunklem Sepia. Zahllose Wohnhäuser zeigten Spuren von Feuer und Vandalismus, Stürmen und Einschüssen. Fenster, Türen und Dächer fehlten, in den Wänden klafften Löcher. Ein seltsamer Geruch hing in der Luft; eine Mischung aus Ruß, Holzkohle und etwas Süßlichem.
„Wie nach dem Krieg“, murmelte Lina.
„Weißt du, was mir in der Stadt am meisten fehlt?“, fragte Lydia, die neben ihr an der Bordwand lehnte. „Licht. Als ich Kind war, leuchtete Berlin, trotz der Stromausfälle. Laternen, Lampen, Werbung. Und jetzt - nichts. Mick kennt die Welt nur so.“
„Ich finde die Stille überwältigend.“
„Totenstille.“ Lydia stützte beide Arme auf den Bootsrand.
„Laut bedeutet Ärger.“ Mick nahm sein Basecap ab, rubbelte sein glattes Haar.
Lydia musterte ihn traurig. „Ich geh zu Amina und Ruby.“
„Das macht sie immer, wenn wir in die Stadt einfahren“, sagte Mick, sobald Lydia außer Hörweite war. „Als ob der Anblick sie schockiert.“
„Vielleicht hat sie schlechte Erinnerungen an die Gegend hier.“
„Oder gar keine.“ Mick spuckte ins Wasser.
„Sei nicht so gemein.“ Lina dachte an den Joint, den seine Mutter letzte Nacht geraucht hatte. „Wie ist Amina denn so? Wie hat sie den Entzug verkraftet?“ Ronjas Schwester, eine Frau Mitte Zwanzig, hatte gestern mit ihnen am Tisch gesessen, doch nicht viel gesagt. Sie sah aus wie die Kapitänin, aber ohne deren prägnante Züge. Ronjas Gesicht trug Narben und Fältchen; Aminas war glatt und nichtssagend. Nur in ihren Augen hatte etwas gestanden, das Lina nicht zu deuten vermocht hatte. Eine Mischung aus Leid und Härte.
Mick betrachtete die träge vorüberziehenden Häuserreihen. „Normal. Quatscht wenig, macht, was man ihr sagt. Da vorn kommt die letzte Brücke. Danach noch ein Schlenker und wir sind da.“
Sie näherten sich einem hässlichen Beton-Stahl-Gebilde, auf dem sich etwas befand, das Lina stutzen ließ. „Ist das ein Zug?“
„Straßenbahn. War mal mit Eddy oben. Er steht total auf Züge, hat Bilder und Bücher in seiner Kabine. Die Bahn hat jemand aus den Gleisen gehebelt. Fenster kaputt, drinnen verschimmelt. Eine Schande, meint Eddy.“
„Vielleicht war’s auch ein Sturm. Oder Hochwasser.“
„Egal. Die Brücke heißt Sandkrugbrücke. Ulkiger Name. Ein Krug aus Sand? Der fällt doch zusammen.“ Kopfschüttelnd sah der Junge sich um.
In Linas Kopf begann ein Lied zu spielen, während der Kanal sich vor ihnen zum Humboldthafen entfaltete.
Sand. We cannot fight getting tanned.
Der Hafen war klein. Viereckiges Becken, schräg abfallende Uferbefestigungen, schwimmender Müll. Keine Spur von Schiffen, Containern, Verladestationen und Anlegestellen. Um das Becken erhoben sich weiß leuchtende, luftig wirkende Gebäude, die ein wenig an gigantische Kartenhäuser erinnerten. Viele von ihnen standen auf schwärzlichen Säulen. Etwas entfernt entdeckte Lina einen Kirchturm, nicht weit daneben einen frei stehenden, schlanken Turm. Ein Schornstein vielleicht. Oder ein Sendemast.
„Ist es denn tief genug?“, fragte sie. „Nicht, dass wir aufstoßen.“
„Wir haben 1,70 Tiefgang. Weniger, weil wir nicht voll beladen sind. Das Wasser ist über drei Meter tief. Null problemo.“
Als sie in der Beckenmitte stoppten, fiel ihr ein ungewöhnliches Gebäude ins Auge, das sie von Bildern kannte. „Hauptbahnhof“, murmelte sie.
Zwei riesige Klötze mit Millionen von - meist zerbrochenen - Fenstern. Aus einem der gedrungenen Quader ragte ein zylindrisches Ungetüm wie eine Zunge aus einem monströsen Schlund weit über das Wasser. Die Zughalle, in der sich früher Zehntausende geballt hatten. Das seltsame Bauwerk jagte Lina unerklärliche Angst ein. Vom Wasser aus konnte sie Strommasten und Pfeiler erkennen, Signallampen und merkwürdige Aufbauten. Unter der Halle herrschte Dunkelheit. Sie erkannte Säulen, Anbauten und Unmengen von Müll.
„Hier seid ihr an Land gegangen?“, fragte sie.
„An der Hafeneinfahrt, nicht hier. In den Bahnhof gehe ich nicht.“ Geräuschvoll zog Mick einen Klumpen Rotz hoch. „Da drin hausen die Schnüffler. Die Kaputtesten der Kaputten. Zombies, Mann. Fressen Rost von den Wänden und trinken das, was andere ausgepisst haben.“
Lina schrak zurück. „Kommen sie auf den Kahn?“
„Nee. Falls doch, knallen wir sie ab. Oder Jala und Naz.“
„Wer sind die?“
„Hafenpolizei. Cousin und Cousine. Sorgen dafür, dass die Regeln eingehalten werden. Handeln und Tauschen nur bei Tageslicht. Immer nur eine Gruppe. Nur Ware, keine Körper.“
„Was?“
„Manche wollen für ihr Zeug Sex, meistens mit Amina oder mir. Der Käpt’n macht das nicht mit. Zum Glück.“ Micks Gesicht hatte sich vor Abscheu verzogen.
Fassungslos starrte Lina den Jungen an.
„Jala und Naz sorgen dafür, dass alles läuft. Jeder weiß, dass man sich mit denen nicht anlegt. Am Ende hat man Ton am Hals.“
„Wer ist das?“
„Ihr Boss. Gegen den ist Stanislaw ‘ne beschissene Made. Den frisst Ton zum Frühstück.“
04.05.2054
Esra ist tot. Cem ist weg. Alle sind weg.
Ronja ankerte inmitten des Beckens, mit der Bugspitze zur Hafenausfahrt, und stoppte die Maschinen. Sie kletterte aus dem Fahrerhäuschen, pfiff und winkte.
Mick wandte den Kopf. „Geh mal zum Käpt’n. Sie will was.“
„Nennst du sie nie Mama?“
Ein Lächeln erschien auf Micks Gesicht. Im Morgenlicht waren Pickel und Mitesser deutlich zu erkennen. „Nicht mehr, seit wir meinen Vater entsorgt haben.“
Lina kletterte auf die Deckaufbauten und ging Ronja entgegen. Ihr Bauch rumorte. Ein Brot mit Zuckerrübensirup und ein Kaninchenspieß; dazu Tee und eine Kartoffel kurz vor Mitternacht - das war nicht viel für einen langen Tag.
„Diesmal bleibst du oben.“ Lina roch die Spuren des Joints an Ronja. „Jalaludin und Nazrin haben hier das Sagen. Glotz sie nicht an, red‘ kein dummes Zeug. Du bist von der Havelqueen. Es gab Krach, deshalb bist du hier. Die müssen deine Geschichte nicht kennen.“
„Wieso?“
Ronja schenkte ihr einen tiefen Blick. „Irgendwem in deiner Community bist du bestimmt was wert.“
„Hast du keine Angst?“
„Sie wissen, dass ich meinen Mann umgebracht und meine Schwester zurückgeholt habe. Dass Eddy und Mick verflucht gute Schützen sind und Lydia völlig unberechenbar ist. Dass ich trotz eines Babys hierher komme.“
„Nur die Hälfte davon stimmt!“
„Mehr braucht es nicht. Leute wie Naz und Jala denken nur an sich. Sie sind brandgefährlich, aber berechenbar. Geschäftsleute. Wenn sie meinen Kahn kapern oder uns was passiert, dann kommt kein Nachschub. Ohne uns keine Ware.“
„Was soll ich also tun?“
„Legt euch auf’s Ohr, bis Naz ihr Signal gibt. Nicht vor Mittag, schätze ich. Sind keine Frühaufsteher. Amina zeigt dir deine Koje.“ Sie pfiff wieder, drehte sich mit erhobenem Arm im Kreis.
Abzug.
Unten stieß Amina eine Kabinentür auf. Déjà vu, dachte Lina. Anderer Kahn, gleiche Ausstattung.
Ihre Habseligkeiten hatte jemand auf die Koje geworfen. Zwischen all dem Kleinkram fand sie drei Literflaschen Wasser, einen Beutel mit Milchpulver, ihr Klappmesser, das sie sofort in die Hosentasche schob, und ein weißes Tuch.
Hafids Tuch.
Lärmend überfielen sie die Erinnerungen. Sie taumelte, hielt sich an der Kabinenwand fest. Hafid im Sand, die Blutlache um den Kopf. Malek, die Bärenfalle, Len. Die Panik im Zeltlager. Schüsse. Flucht.
Sie setzte sich auf das Bett, wiegte ihren Kopf in den Händen. Noch mehr Erlebnisse strudelten durch ihr Hirn, viel zu viele für so wenige Tage. Der aufgespießte Peacer. Roman, sein ungestümer Atem, sein harter ... Übelkeit wallte so plötzlich in ihr hoch, dass ihr heiß und kalt gleichzeitig wurde. Tränen erstickten in ihrer Kehle. Sie ließ sich auf das Bett fallen, wartete, bis der Schwindel vorüber war.
Was zurückblieb, war eine geradezu überwältigende Sehnsucht nach Zuhause.
Es klopfte zögerlich, dann öffnete sich die Tür.
Lydia, blass wie ein Gespenst.
Lina schaute an die Paneeldecke, schmeckte Salz auf ihren Lippen.
„Alles klar?“ Lydia blickte zurück in den Korridor, schob sich hinein. Viel Platz blieb jetzt nicht mehr.
„Ja. Mir ist mur schwindlig geworden.“
Lydia kratzte sich die Handfläche. „Alles ein bisschen viel?“
Eine Träne kullerte über Linas Wange. „Kann man so sagen.“
Lydia strich über Linas Arm. „In ein paar Tagen hast du es geschafft.“
„Ohne Ronjas Rachepläne könnte ich schon längst zu Hause sein.“
Die magere Frau zog ihre Hand zurück.
Lina zog die Nase hoch. „Sorry. Das ist alles so ein Durcheinander. Berlin. Banden. Tote.“ Zittrig sog sie die Luft ein. „Nie weiß man, wer sich als was entpuppt.“
Lydia kratzte Schorf von ihrem Arm, ließ sich auf der Koje nieder. „Morgen sind wir wieder an der Schleuse.“
„Und dann macht ihr Jagd auf Stanislaw? Zusammen mit zwei Omas und einem halben Kind?“
„Es ist Ronjas Plan“, flüsterte Lydia und biss sich auf die Lippen.
„Aber nicht deiner.“
Lydia blickte zur Tür, kratzte sich an der Schläfe. „Ich will nur meinen Frieden. Wozu es wieder aufwühlen? Mina und mir geht es gut hier.“
„Was sagt sie denn dazu?“ Lina richtete sich auf. Vorsichtig entkrampfte sie ihre Finger, wickelte Hafids verknülltes Tuch auseinander. Datteln und zwei Kerne.
Das Knallen einer Tür verschluckte Lydias Antwort. Schritte im Korridor, dann erschien Amina im Türrahmen. „Und?“
„Schwächeanfall.“ Lydia erhob sich von der Bettkante, wandte sich an Lina. „Du solltest mehr trinken und was essen. Ich hole dir was.“ Sie schob sich an Amina vorbei, ohne ihr in die Augen zu sehen.
Amina verschränkte die Arme. Auf ihrer Stirn standen tiefe Furchen. Lina rollte sich vom Bett, begann, ihre Habseligkeiten zu verstauen.
Amina beobachtete sie schweigend, schnaubte, als sie die Kondome erkannte.
„Das sind nicht meine. Ich hab‘ sie bekommen.“
„Von Stanislaw?“ Klar und deutlich, ohne jegliches Zögern.
„Tut mir leid.“ Hastig griff Lina nach der Schachtel.
„Hör schon auf. Der Typ hat keine Macht mehr über mich.“
„Aber ihr wollt ihn auslöschen!“
„Um damit abzuschließen.“
„Du widersprichst dir selbst.“
„Die Welt braucht nicht noch mehr Monster.“
„Dann müsstest du die halbe Welt abmurksen.“
„Manchmal will ich das.“ In Aminas Zügen glomm etwas auf, das Lina erschreckte. Eine Dunkelheit, die einen verschlingen konnte.
„Vielleicht solltest du lieber auch versuchen, deinen Frieden zu finden. So wie deine Freundin.“
Amina kniff die Augen zusammen. „Hat sie das gesagt? Dass sie Frieden gefunden hat? In den meisten Nächten fühlt sich das nämlich nicht so an, weißt du? Wenn sie heult und glaubt zu ersticken.“
„Vielleicht gehört es zum Heilungsprozess.“
Amina stieß verächtlich die Luft aus. „Also. Wo steckt er?“
Lydia näherte sich der Kabine, in den Händen einen Teller. Amina nahm ihn ihr ab und gab ihr einen flüchtigen Kuss. „Geh schon mal ins Bett. Ich komme gleich.“
Überrumpelt ließ Lydia sich die Tür vor der Nase schließen und Lina wich instinktiv vor der kleineren Frau zurück, die sie aus flammenden Augen anstarrte. „Wo?“
„Tennisclub.“
Amina wischte Linas Sachen beiseite und zog eine geradezu antike Karte aus ihrer verblichenen Jeans. Das Papier war weich wie Leder und so verblasst, dass die Straßennamen beinahe unleserlich geworden waren.
Sie hockte sich vor die Koje und tippte auf ein hellblaues Viereck, fuhr die Linie des Kanals entlang und stoppte. „Hier haben wir dich aufgelesen.“
„Tegeler Brücke“, entzifferte Lina. „Da ist die Hauptstraße. Die bin ich bis zur Brücke gerannt. Vorher sind wir über das Flughafengelände geirrt, und davor durch das Flüchtlingscamp. Da ist das Wasserwerk, da das Viertel, da der See. Die Schule. Da, wo der Markt ist. Ja. Hell Boy.“
Amina runzelte die Stirn. „Hm?“
„Skorbut.“ Linas Finger wanderte nach Süden. „Hier irgendwo. Tennis, hat Dirk gesagt. Kennst du Dirk? Adam? Stanislaws Leibwächter?“
Aminas Gesicht verkrampfte. „Nein.“
„Hier.“ Lina tippte auf einen Namen. „Das ist es.“
Amina zog die Karte zu sich, faltete sie zusammen, stand auf. „Iss was. Schlaf. Putz dir die Zähne und wasch dich. Du müffelst. Hast doch alles, was du brauchst.“ Sie wies auf Maleks Zahnbürste. „Hab‘ sie ausgekocht. Zwei Türen weiter ist eine Waschkabine.“
Ganz unten fand sie ihr Hipbag, atmete erleichtert auf. Es war alles da: Wayfarer, Schlüssel, Ausweis.
Sie aß die Hälfte des Frühstücks, zog sich bis auf ihre Unterwäsche aus, legte sich hin und schloss die Augen. Aus der Nebenkabine drangen Geräusche. Offenbar trieben Amina und Lydia es gern wild, aber zum Glück nicht besonders lang. Kurz nach dem Aufschrei einer der beiden Frauen wurde es still und sie nickte ein.
Sie schlief tief und traumlos, erwachte von Babygreinen und Getrappel, taumelte ins Bad, erleichterte sich auf der Toilette der winzigen, kompakten Kabine, drehte die Dusche auf und stöhnte vor Wohlbehagen. Danach stand sie in feuchter Unterwäsche vor dem offenen Bullauge, solange das Wasser abfloss.
Als sie auf den Gang trat, prallte sie beinahe gegen Lydia.
Lydia sah zerknittert aus wie ein Laken. Sie warf einen Blick auf Linas halb nackten Körper, senkte hastig den Kopf. „Ausgeschlafen?“
„Geht so. Und du?“
Wieder ein flüchtiger Augenaufschlag. „Mhm.“
Unentschlossen verharrten die Frauen voreinander, bis Lina sich räusperte und Lydia an die Wand trat. Lina quetschte sich an ihr vorbei, spürte Lydias Augen im Rücken, drehte sich um. „Hast du einen Kamm?“
Lydia tauchte kurz in ihre Kabine. „Soll ich dir helfen?“
„Beim Kämmen?“, gab Lina perplex zurück.
Von mittschiffs näherte sich eine Gestalt.
„Na, dann.“ Hastig verschwand Lydia in der Duschkabine.
Amina kam näher, musterte Lina düster. „In zehn oben. Nimm dein Zeug mit.“
An einer Karotte knabbernd, trat Lina neben Amina auf das Deck. „Ich dachte, vor Mittag passiert nichts.“
Amina trug ein Gewehr auf dem Rücken. „Ab und zu kriegt einer der Penner aus dem Bahnhof ’n Rappel.“
„Knallst du ihn dann ab?“, fragte Lina scherzhaft.
„Das übernehmen Jalas Jungs.“
Lina verschluckte sich und hustete.
Mit dem Kinn wies Amina zu einer Gruppe leuchtend gelber Tanksäulen. „Da sitzen seine Scharfschützen. Mit Zielfernrohr und allem Tamtam.“
„Wo kriegt man denn so was her?“
„Von Ton. Armeebestände. Außerdem wimmelt’s von Ratten.“
Lina verzog das Gesicht, musterte den Boden.
„Nicht die Ratten. Gesocks, das alles Mögliche verkaufen will oder versucht, uns zu entern. Jala und Naz sortieren zwar gut aus und an Bord bekommen wir meist nur die Normalen zu sehen, aber man weiß nie.“
Furchtsam ließ Lina ihren Blick schweifen. Dreck, Häuser, Ruinen. Überreste einer halb untergegangenen Welt. Ein paar armselige Gestalten in einiger Entfernung.
„Jala hat die Manpower, Naz die Geschäftsnase. Auf sie muss man besser aufpassen.“
„Und bis die beiden auftauchen, schieben wir Wache?“
„Ronja und Eddy schlafen, Mick ist im Steuerhaus.“
„Warum nicht du?“
„Er ist der Kronprinz, ich nur die fiese kleine Königinschwester.“
„Warum lebst du nicht bei deiner Mutter?“
„Seit Ronja Käpt’n ist, hat sie gern alles unter Kontrolle, mich besonders. Ist wie eine Strafe, auch für sie.“
„Weil sie nicht aufgepasst hat?“
„Erfasst.“
Beide drehten sich um, als die Luke sich öffnete und Lydias zerstrubbelter Kopf erschien. Ihr T-Shirt war neu, die Müdigkeit die alte.
„Hey.“ Sie schlenderte näher, sich die Handgelenke reibend, sowohl Aminas als auch Linas Blicken ausweichend.
Amina wies auf einige rostrote Flecke an Lydias Kinn „Nasenbluten?“
„Ein bisschen.“ Lydia klang noch verschnupfter als sonst.
Und plötzlich wusste Lina Bescheid. „Du hast was genommen.“
„Das geht dich nichts an“, schnauzte Amina.
„Lass.“ Lydia schob sich vor ihre Freundin. „Vor einem Jahr konnte ich nicht mehr. Hab mir unterwegs was besorgt. Mina bewahrt es auf, gibt mir nur alle paar Tage was.“
Amina justierte ihr Gewehr, starrte in die Gegend. „Ich bin so blöd.“
Lydia lächelte ein dünnes Lächeln unter Tränen. „Nein, ich bin es.“
Du bist eine wandelnde Leiche.
Amina stieß mit der Fußspitze gegen etwas Unsichtbares. „Misch dich nicht ein, okay?“
„Hey, das ist euer Mist.“ Lina trollte sich in die Deckmitte, ließ sich im Schneidersitz nieder, stützte sich auf ihre Ellenbogen, legte den Kopf in den Nacken und starrte in den pastellblauen Himmel. Gedanken quirlten durch ihren Schädel. Wo war sie? Was tat sie hier? Wie war sie in diesen Riesenhaufen Scheiße geraten? Was nun? Was. Nun.
Your head will collapse but there’s nothing in it.
Lydias und Aminas Stimmen tanzten im Hintergrund, wurden lauter.
„Ich bin bei Mick!“ Lina fühlte Lydia an sich vorbei gehen, sah zu Amina, die an derselben Stelle stand wie vorhin, bewegungslos wie eine Statue.
„Woher kriegt sie das Zeug?“
Amina blies einen frustrierten Atemstoß aus, kam zögernd zu ihr. „Von irgendwelchen Typen.“
„Beklaut sie euch?“
„Anfangs. Jetzt zweige ich Sachen ab. Manchmal besorgt sie’s einem dieser Wichser.“
Lina verzog das Gesicht. „Geht sie in den Bahnhof?“
„Gott, ich hoffe nicht.“ Amina plumpste neben Lina zu Boden. Ihre Gesichtsfarbe war eine Spur heller geworden.
Plötzlich empfand Lina Mitleid mit Amina.
„Du musst sie vor die Wahl stellen. Du oder Glue.“
„Glue gewinnt.“
„Manchmal kann man Menschen nicht mehr helfen. Manchmal sind sie so kaputt, dass sie dich mit kaputtmachen.“
Amina starrte zu Boden, während ihre Kiefer mahlten.
„Tut mir leid. Sie ist ein netter Mensch.“
„Sie hat deine Titten angestarrt.“
„Fang gar nicht erst an mit dem Eifersuchtsdrama.“
„Scheiße.“ Mit heftigen Bewegungen wischte Amina sich Tränen von den Wangen.
„So gut können die Wachen von diesem Jala nicht sein, wenn Lydia es schafft, von Bord zu gehen.“
„Wir waren alle schon drüben. Ab und zu muss man mal an Land, sonst kriegt man einen Koller. Jala und Naz wollen nur Bescheid wissen. Da sind sie.“
Amina wies auf zwei Gestalten, die von vier bewaffneten Männern begleitet wurden. Sie drehte sich um und winkte Mick, trat mehrere Male hart mit dem Hacken auf, was vermutlich als Weckruf galt.
Die Bodyguards hoben einen Ponton aus Plastikhohlkörpern aus dem Ufergras. Sie ließen ihn ins Wasser und hielten ihn fest, bis Jala und Naz auf einer Bank Platz genommen hatten. Dann stießen sie sich mit langen Stangen vom Ufer ab.
„Der Kerl ist groß“, sagte Lina.
„Das ist sie.“
Jala und Naz saßen aufrecht, hatten die Hände auf die Schenkel gelegt. Statt Helmen trugen sie militärische Kappen und Überreste alter Uniformen, die farblich zwischen Ocker, Khaki und Staubgrau schwankten.
„Jala ist ein ganz netter Kerl, aber so hässlich, dass er gegen die Genfer Konvention verstößt.“
„Was?“
„Altes Sprichwort. Er ist potthässlich. Wirste sehen.“
Jala und Naz sprangen leichtfüßig an Bord. Gleichzeitig wurde die Luke geöffnet und Ronja erschien. Jala begrüßte die Frauen freundlich, während Naz‘ Blick auf Lina verweilte. Die Bodyguards stellten sich im Halbkreis um die Gruppe.
Die Schwestern tauschten Floskeln mit der Hafenwache, dann kamen alle auf Lina zu, abgesehen von Amina, die mit einem der bewaffneten Männer ihren Posten bezog.
Naz überragte selbst Eddy. Unauffällig musterte Lina das Schuhwerk der Frau: Lederstiefel mit Schnallen und hohen Sohlen, die sie größer wirken ließen. Einschüchterungstaktik, genauso wie die Uniformen, die Waffen, das militärische Gehabe. In Naz‘ Gesicht mischten sich südosteuropäische und hinterasiatische Züge. Olivgrüner Teint, dunkelbraune Augen mit schweren Lidern und langen Wimpern, betont durch kunstvoll aufgetragenen Lidschatten und Mascara. Exakt getrimmte Augenbrauen. Tätowierung unter dem rechten Auge. Eine Nase mit winzigem Höcker, verziert durch zwei goldene Ringe, sinnliche, rubinrote Lippen. Eine bengalische Prinzessin, wären die extrem kurz geschorenen Haare und das soldatisch Straffe nicht gewesen. Nazrin wirkte hart, eckig und kantig, trotz femininer Bemalung.
Im Gegensatz dazu erweckte ihr Cousin den Eindruck, als stecke er im falschen Körper, mindestens aber in der falschen Kluft. Jala gab sich alle Mühe, düster und kraftvoll auszusehen, scheiterte jedoch. Seine Uniform saß nicht, schien überall zu zwacken, denn hin und wieder schob er einen Finger unter den Kragen oder zupfte an seinem Schritt. Sein Gesicht, obwohl wirklich unattraktiv, strahlte Schalk und Humor aus. Auch er trug das Haar millimeterkurz. Bei Naz betonte die Frisur die glühenden Augen, bei Jala die Segelohren. Der Anführer der Hafenwache hatte so lange Vorderzähne, dass er beständig zu grinsen schien. Kinn und Stirn flohen nach hinten, ließen die Jochbögen riesig erscheinen.
„Jalaludin“, stellte er sich vor, das J wie Dsch aussprechend. „Nazrin und ich müssen dir einige Fragen stellen und hoffen auf deine Kooperationsbereitschaft.“
Er sprach melodisch und weich. Schwer zu glauben, dass er den Männern Befehle erteilte, Erschießungen und Bestrafungen anwies. Lina blieb auf der Hut.
„Lina. Schön, euch kennenzulernen.“
„Hast du einen Nachnamen?“ Naz, knatternd wie ein Maschinengewehr.
„Popova.“ Das russische Äquivalent zu Smith oder Müller.
Naz und Jala verzogen das Gesicht zu einem Lächeln. „Russisch?“, fragte Naz.
„Bulgarisch“, log Lina und hoffte, dass keine Bulgaren unter den Soldaten waren.
„Früher gab es Türken in Bulgarien. Sie mussten ihre Namen ändern und durften nicht mehr Türkisch sprechen. Viele wurden vertrieben.“ Jalas Tonfall hatte sich nicht verändert, dennoch spürte Lina, wie Kälte zwischen ihre Schulterblätter kroch.
„Wann war das?“, hörte sie sich sagen.
„Hat nichts mit dir zu tun. Oder uns. Ist nur ein Fakt. Eine Information.“
„Aha.“ Eine bessere Antwort fiel ihr nicht ein.
„Woher kommst du?“, fragte Naz.
Ronja hatte sie gewarnt, aber Naz‘ Blick durchdrang sie wie ein Röntgenstrahl und Jalas Lächeln ließ ihre Knie weich werden. „Spandau.“
Naz‘ getrimmte Augenbrauen zogen sich zusammen. „Du bist weit weg von Zuhause.“ Eine versteckte Frage.
Lina seufzte. „Reicht eine Zusammenfassung?“
„Vorerst.“
Linas Synopse wies Löcher und Ungereimtheiten auf, aber weder Naz noch Jala fragten nach.
„Spandau“, sagte Naz am Ende. „Man hört, ihr habt krasse Abriegelungsmaßnahmen.“
„Stimmt“, gab Lina nach kurzem Nachdenken zu.
„Was denn so?“
Daher wehte der Wind. Linas Wissen über die Kolonie war interessanter als ihre Anekdoten.
Sie zuckte mit den Schultern, hielt Naz‘ Blick stand. „Wachen natürlich. Bewaffnete Forts, kleinere Außenposten. Kontrollen an den Grenzen und innerhalb. Razzien und Überprüfungen.“
Naz‘ Augen weiteten sich. „Ihr werdet kontrolliert?“
„Man kann immer angehalten werden, muss stets bei sich tragen, was einen ausweist.“
„Und das wäre?“
Wieder zögerte Lina. „Passport. Und das.“ Sie hielt Naz ihr Handgelenk hin.
Naz und Jala beugten sich vor, studierten das Tattoo.
„Kann man leicht fälschen“, sagte Naz.
„Deshalb die Passports.“
Jala entblößte seine Hasenzähne. „Kann mir nicht vorstellen, dass Spandau lückenlos kontrolliert wird. Ist immer noch eine Riesenkolonie, obwohl so viel abgesoffen ist.“
„So weit ich weiß, hat es nur eine Handvoll Illegaler hinein geschafft.“
„Das sind die, die ihr erwischt habt“, stellte Naz richtig.
„Ja, aber ohne Registrierung keine Wohnung, keine Arbeit, keine Marken.“
Naz pfiff durch die Zähne und sah ihren Cousin an. „Klingt straff organisiert. Können wir noch was lernen.“
Jala zwinkerte Lina zu. „Sie will an deine Geheimnisse, merkst du?“
„Ich hab keine Geheimnisse.“ Das kam vielleicht ein wenig zu schnell, entsprach aber der Wahrheit. Im Großen und Ganzen jedenfalls. „Ich wohne am Arsch der Welt, da kriegen wir eh nichts mit.“
„Fahrt ihr viel raus aufs Meer?“
Lina nahm ihre Sonnenbrille ab, rieb sich die brennenden Augen. „Hin und wieder.“
„Zeig mal dein Zeug!“ Der plötzliche Themenwechsel irritierte Lina, doch sie gehorchte. Auf Naz‘ Stirn perlte Schweiß; vielleicht wollte sie aus der Sonne raus. „Ihr könnt schon mal runter“, sagte sie zu Jalaludin. „Ich glaube, Lina Popova hier macht keine Probleme.“
Jala summte eine Zustimmung und wies Ronja und Eddy an, vorauszugehen. Einen seiner Männer sandte er ins Fahrerhäuschen zu Mick und Lydia, einen weiteren positionierte er an der Luke.
Naz wühlte in Linas Sachen, richtete sich kurze Zeit später wieder auf, die Kondome in der Hand. „Sieht aus wie ein Survivalpack. Wo sind die Waffen? Der Stock ist nicht alles, nehme ich an?“
Lina starrte Naz an, die auffordernd eine Hand ausgestreckt hatte, zog das Messer aus ihrer Tasche. Naz‘ Hand steckte in einem Handschuh mit abgeschnittenen Fingern. Sie nahm das Messer entgegen, klappte es auf, begutachtete es. „Das ist Mist. So was gibt man Kindern zum Spielen.“ Sie zog ihr eigenes Messer aus einer Scheide am Gürtel. Es strahlte Kampfeslust aus. 30 Zentimeter glänzendes Schwarz, feststehende Klinge. „Japanischer Stahl. Wird nie stumpf. Damit kannst du ohne Probleme Finger abhacken. Ein Biest.“
Lina schluckte. „Meins ist gut für alles Mögliche.“
„Nur nicht zum Kämpfen.“
„Hatte ich nicht vor.“
„Ich saue meins auch nicht gern ein.“
Unschlüssig betrachtete Lina die bengalische Prinzessin in Kampfmontur, konnte nicht sagen, ob Naz‘ Gehabe Spielerei war oder echt.
Naz packte ihre Waffe ein. „Deins ist nur ein Büchsenöffner. Der Stock ist besser, hält Gegner auf Abstand. Kommt einer in Messernähe, bist du tot.“
„Eigentlich will ich nur nach Hause. Da brauche ich weder das eine noch das andere.“
„Sag das nicht. Bei den Typen, die du kennst.“
Diesmal schlug Lina die Augen nieder.
Naz schüttelte die Kondomschachtel. „Woher sind die?“
„Hab sie in einem Gebüsch gefunden.“
Naz starrte Lina eine ewige Minute an, grinste dann. „Verschenkst du sie?“
„Bedien dich.“
Die Kommandantin tätschelte ihre Wange. „Danke, Lina Popova. Sicher, dass du nicht abgehauen bist aus Spandau?“
Lina wies auf ihre Wange. „Den Scheiß hab ich mir nicht aufgemalt.“
„Das kann sonst wie passiert sein.“
„Das war Romans beschissener Ring. Ich bin nicht abgehauen. Und selbst wenn? Warum ist das wichtig für euch?“
„Vielleicht wurdest du losgeschickt.“
Perplex wich Lina zurück. „Von wem denn?“
„Was weiß ich?“ Naz grinste nicht mehr. Ihr lockerer Tonfall war so hart geworden wie der Stahl ihres Messers.
„Wozu? Um Berlin zu erobern?“
„Informationen sammeln. Kundschaften. Ausspähen.“
„Jetzt klingst du ein bisschen paranoid.“
„Ich nenne es wachsam.“
„Nein, Nazrin“, sagte Lina betont langsam. „Ich bin nicht ausgesandt worden. Für was auch? Sand? Schutt? Müll?“
Die Kommandantin schürzte die Lippen und betrachtete sie nachdenklich. Dann klopfte sie auf die Kondompackung. „Ich behalte dich im Auge, Lina Popova.“
„Kann ich den Rest von meinem Zeug wiederhaben?“
„Klar. Krempel haben wir genug. Lass uns wissen, wenn du auf Sightseeing gehst. Geleit bis zur Straße ist im Service inbegriffen.“
„Ich hab kein Interesse an der City.“
„Schlaues Mädchen. Hast du unten noch was von Interesse?“
„Alles, was ich habe, siehst du hier.“
„Ganz sicher?“
„Ja.“
„Du hast was von einem Passport erzählt. Hab aber keinen gesehen.“ Plötzlich erinnerte Naz an eine Löwin in hohem Savannengras.
Lina senkte den Kopf. „Vergessen. Passiert mir ständig.“
Naz taxierte sie. „Nicht gut, wo ihr doch so oft kontrolliert werdet.“
„Schau ruhig nach. Wenn du ihn findest, um so besser. Steht eh nichts drauf, was du noch nicht weißt. Außer, dass mein Vorname eigentlich Galina lautet.“
Naz forschte in Linas Gesicht. „Ich behalte dich im Auge.“
„Fein.“
Naz griff unter ihr Kinn. „Nicht frech werden, Galina Popova.“
„Sorry. Ich weiß nur nicht, was das Ganze soll. Warum ist mein Name wichtig? Führt ihr Buch über Besucher?“
„Das tun wir“, sagte Naz zu Linas Überraschung. „Ton interessiert sich für so was.“
„Dein Boss?“
„Unser Boss. Hast du auch einen?“
„Nein.“
„Musst du nicht arbeiten?“
„Doch, aber für einen vom Rat bestimmten Vorgesetzten.“
„Das heißt, reich bist du nicht?“
„Wie kommst du darauf?“
„Hört man immer mal. Strom, fließend Wasser, W-LAN, Autos.“
„Manchmal zumindest.“
„Medikamente?“
„Ja.“
„Benzin? Diesel?“
„Fragst du mich aus?“
Naz grinste. „Bin nur neugierig.“
Gerumpel kündigte Jala und seine Abordnung an. Keine zwei Minuten später standen alle wieder an Deck. Eddy hielt Ruby im Arm, die vor sich hin wimmerte, ihre Fäustchen im Mund. Ronja sah verkniffen aus.
„Alles paletti“, verkündete Jala. „Wir schauen nur noch hinten nach. Kommst du mit, Naz?“
„Nicht weggehen“, sagte Naz zu den Umstehenden. „Sind bald durch. Dann könnt ihr öffnen. Käpt’n?“
Ronja warf Eddy einen düsteren Blick zu und schlappte den Kommandanten hinterher.
„Was ist?“, wandte Lina sich an den bärtigen Mann, mit dem sie bislang kaum zwei Worte gewechselt hatte.
„Sie wollten eine Extra-Abgabe wegen dir. Weil sie keine Überraschungen mögen“, brummte Eddy in den filzigen Bart hinein. Deswegen und wegen der fehlenden Zähne war er schwerer zu verstehen als Lydia.
„Tut mir leid. Ich werde sehen, dass ich das wieder gutmache.“
„Hast du schon. Jala hat dein Dope.“
„Und Naz die Kondome. Wird eine coole Party.“
„Ruby zahnt.“ Mit diesen Worten ging Eddy zur Seite, die Kleine wiegend.
Die restlichen Minuten standen sie schweigend in der Vormittagssonne. Lina sehnte sich nach einem Regenguss. Es stank nach Urin und Fäkalien, nach Dreck und Verdorbenem. Seufzend band sie ihre Haare zu einem Pferdeschwanz. Die kalte Dusche war nicht mehr als eine schöne Erinnerung.
„Dein Sohn wird jeden Tag hübscher.“ Naz näherte sich, eine grimmige Ronja im Schlepptau.
Jala winkte seine Leute zusammen und betrat den Plastikponton.
„Wir sehen uns“, verabschiedete sich seine Cousine. „Ausflüge signalisieren, neue Passagiere vorab ankündigen. Ansonsten alles schicki. In einer Stunde schicken wir die ersten rüber. Ciao, Lina Popova.“
Nazrin trat mit herausgereckter Brust auf den Ponton und nahm neben Jalaludin Platz.
Amina kam zu ihnen hinüber, Mick und Lydia näherten sich vom Heck aus. Schweigend beobachteten sie die Überfahrt des Pontons. Ruby knabberte an Eddys Finger.
„Heute Nachmittag“, sagte Ronja in die Stille hinein.
Eddy nickte.
„Was?“ Fragend sah Lina in die Runde.
„Wir bringen dich zu einem Versteck.“
„Was?“
„Jala plant was, ich kann es riechen.“
„Ja“, stimmte Amina zu. „Naz hat auch was vor.“
„Was denn?“ Lina fühlte sich, als hätte sie Säure geschluckt. In ihren Eingeweiden brodelte es. „Hab ihr kaum was erzählt.“
„Die riecht Lügen Meilen gegen den Wind“, sagte Ronja. „Ist dein Name überhaupt Lina?“
„Ja. Das, was ich euch erzählt hab, stimmt auch.“
„Du musst verschwinden. Am besten gleich. Noch rechnen sie nicht damit. Ihr verteilt euch auf eure Plätze. Du kommst mit mir.“ Jetzt sprach der Kapitän.
Im Führerhaus drehte Ronja sich zu ihr. „Sie werden dich unter irgendeinem Vorwand festhalten.“
„Wozu?“
„Um deine Kolonie um Lösegeld zu erpressen. Du hättest nie sagen dürfen, dass du von dorther stammst. Hätte dir mehr Grips zugetraut.“
Linas Kehle verengte sich. „Das könnt ihr doch nicht machen.“
„Ich könnte dich auch einfach denen überlassen. Wahrscheinlich verdiene ich sogar was dabei.“
„Aber dann bringt dich niemand zu Stanislaw.“ Linas Bestürzung schlug in Bitterkeit um.
Ronja packte sie hart an den Schultern. „Wenn Ton dich in die Finger kriegst, kannst du dir dein Zuhause abschminken.“
„Und wenn du mich in Berlin aussetzt, kannst du mich genauso gut erschießen!“
„Ich setz dich nicht aus. Wir sammeln dich später wieder ein.“
„Wo?“
„Sandkrugbrücke. Du musst da für ein paar Stunden unterkriechen und uns abpassen.“
Lina kaute auf ihrer Unterlippe. „Und Naz?“
„Ich überleg mir was. Einen Trip, der dich und Eddy rausbringt. Wahrscheinlich kurz nach Mittag, wenn die Hitze alles lahmlegt. Pack zusammen.“
Zurück an Deck befühlte Lina den in den Rand des Hipbags eingenähten, rollenförmigen Passport. Ausweise im Brieftaschenformat gab es schon ewig nicht mehr. Stattdessen erhielt man das Hipbag in der Farbe des Wohnbezirks.
Die nächsten Stunden briet sie in der Sonne. Es war so heiß, dass man kaum atmen konnte. Die Luft flimmerte, Schweiß brannte in den Augen. Irgendwann kam ihr sogar das verdreckte Hafenbecken einladend vor.
In unregelmäßigen Abständen brachte die Mini-Fähre Händler auf den Kahn. Die beiden Soldaten, die das Gefährt steuerten, gähnten offen, schlummerten während der Wartezeiten. Die Händler, von denen immer nur zwei oder drei an Bord gelassen wurden, waren nicht auf Ärger aus. Man grüßte sich freundlich, verhandelte, tauschte. Gemüse gegen gesalzenen Kanalfisch, Dörrobst gegen Nägel, Gebackenes gegen Werkzeugköpfe und Draht, Fleischspieße gegen Eisenstangen, Decken, Planen, Bezüge, Stoffwickel gegen selbst genähte sackähnliche Hosenanzüge und funktionale Ponchos. Manche brachten Alkohol oder Fruchtsäfte, andere Salben und Tinkturen aus Kräutern und Blumen. Besonders begehrt waren Holz, Kraftstoffe, Hygieneartikel, Bücher und Medikamente. Dinge, die man früher in jedem Laden kaufen konnte.
Ronja hörte sich an, was die Besucher brauchten, schüttelte entweder den Kopf oder ließ sie von Amina oder Mick unter Deck führen. Seltener brachte sie Händler nach achtern, wo Schrott lagerte. Manchmal fanden sich Artikel in den containerartigen Deckaufbauten.
Die meisten Händler verließen den Kahn zufrieden. Einige brummten, weil sie von Ronja vertröstet worden waren, andere schimpften, weil sie den Weg umsonst gemacht hatten.
Als die Sonne ihren Zenit überschritten hatte, näherte sich die Fähre ein weiteres Mal. Ronja gab Lina ein unauffälliges Zeichen. Lina schlenderte näher, als würde sie sich die Beine vertreten.
Eine näselnde Stimme war zu hören und Ronja verzog das Gesicht. „Vielleicht ist er unsere Chance. Zusel. Das Oberarschloch. Bleib in der Nähe.“
Zusel entpuppte sich als verschrumpelter Mann mit hervorquellenden Augen und verschlagenem Gesichtsausdruck. Seine beiden Gefolgsleute ähnelten ihm. Alle drei trugen einen lichten Haarkranz und stanken nach Fusel und Rauch.
Die Soldaten schienen erleichtert, als der Alte seine Behälter und sich selbst an Deck gehievt hatte.
„Ronja!“, begrüßte er die Kapitänin. „Wenn ich nur zehn Jährchen jünger wäre. Mein Gott, dieser Körper, dieses Gesicht! Du machst mich ganz wuschig, Süße.“
„Käpt’n“, rügte Ronja. „Zeig, was du hast.“
„Hier? Vor allen Leuten? Wie du willst.“ Grienend macht er Anstalten, seinen Hosenstall zu öffnen. Seine Söhne feixten.
Ronja verdrehte nur die Augen. „Lina!“
Lina trat näher und sofort befiel sie ein unangenehmes Gefühl. Der Alte und seine Brut glotzten, schmatzten und pfiffen. Ihre Augen glitten über ihre Brüste, ihre Hüften und ihre Beine wie schmierige Finger.
„Mannomann! Ronjalein, gegen die stinkst du ab“, gackerte Zusel. „Sie ist wie ein Gemälde! Ist sie zu haben?“
„Fick ...“, begann Lina, doch Ronja stoppte sie mit erhobenem Zeigefinger.
„Gern.“ Zusel schob sich an sie, prallte jedoch gegen Ronjas ausgestreckten Arm.
„Schluss!“ Die Augen der Kapitänin blitzten dunkel. „Benimm dich, sonst schmeiße ich dich vom Kahn.“
„Gewalt wird hier nicht gern gesehen.“
„Naz gibt dir einen Arschtritt extra.“
„Das glaube ich nicht. Manu schätzt meinen Gin.“
„Mir scheißegal. Gibt noch mehr Leute, die Gin herstellen.“ Sie wandte sich an Lina. „Wenn er noch einmal ausfallend wird, holst du Eddy.“
„Man wird wohl schönen Frauen noch Komplimente machen dürfen. Ihr seid doch schuld, wenn’s juckt da unten.“ Lächelnd justierte er seinen Schritt.
„Hol ihn!“, befahl Ronja ungerührt.
Lina sprintete nach achtern. Sofort richtete Eddy sich auf, während Zusel aufgeregt auf Ronja einredete und die Söhne dazwischen schnatterten.
Lina bemerkte, dass am Ufer ein dritter Soldat erschienen war, der ein Fernglas hielt. Ihr Blick schwenkte zu den Gebäuden, streifte die Fenster. Beobachteten Naz und Jala sie?
Eddy stellte die Beine auseinander und das Gezeter verstummte. „Gibt’s ein Problem?“
„Nein.“ Aus Zusels wässrigen Augen schossen giftige Pfeile. Spucke hing in seinen Mundwinkeln.
Lina behielt das Ufer und Eddy im Auge, der wieder nach achtern stapfte. Sie trat aus dem Dunstkreis der drei Händler, die ihre Waren wortreich anpriesen; ein Sammelsurium aus Kleinteilen, die sie vermutlich irgendwem geklaut hatten. Ihr fiel auf, dass Zusel die Besatzung nie aus den Augen ließ. Seine Söhne wirkten unterbelichtet, aber auch sie ließen aufmerksam ihre Blicke kreisen. Ihre Arme bewegten sich unentwegt, holten mal weit aus, schoben sich wieder zusammen, wie bei einem Zauberer, der Tricks vorführte.
Ablenkung.
Zusel quatschte pausenlos, stellte Fragen, blickte ruckartig irgendwohin. Ronja fiel nicht darauf herein. Stoisch stand sie vor ihm, die Arme vor der Brust verschränkt.
„Okay“, sagte sie schließlich und nickte Lina zu, die erneut nach hinten lief, um Eddy zu holen. In diesem Moment erhoben sich wieder die Stimmen und ein Handgemenge entstand. Eddy eilte herbei, Lina machte auf dem Hacken kehrt.
„Betrügerin!“, brüllte Zusel gerade und stieß Ronja gegen die Brust.
Eddy zog den Alten am Kragen auf die Zehenspitzen. Zusel spuckte Gift und Galle, seine Söhne jedoch mischten sich nicht ein, sondern fummelten mit ihren Beuteln herum.
„Ey!“, rief Lina. „Die klauen ihre eigene Ware!“
Die Arme der Söhne zuckten zurück; ihre Augen durchbohrten Lina zornig. Dann hoben sie die Hände wie Krallen.
„Zurück!“, bellte eine jugendliche Stimme über das Deck und alle erstarrten. Mick stand auf einem der Deckcontainer, ein Gewehr im Anschlag.
Lautlos formten Ronjas Lippen den Namen ihres Sohnes.
„Nimm es runter!“, befahl Eddy ruhig.
„Das Arschloch hat den Käpt’n geschubst!“
„Falsch!“, behauptete Zusel. „Sie hat mich geschubst. Hat’s nur so aussehen lassen, als ...“
„Halt die Klappe!“ Mick schwenkte das Gewehr zu den Söhnen. „Die beiden wollten Lina angreifen.“
„He!“, schrie einer der Wachen vom Ponton herüber. „Nimm die Waffe runter! Wir regeln das!“
Ronja mischte sich ein. „Mick! Wir haben es unter Kontrolle.“
Eddy stapfte zu seinem Ziehsohn und flüsterte mit ihm, bis er trotzig das Gewehr übergab und nach achtern lief, woraufhin die Wachen sich wieder setzten.
Am Ufer war Bewegung entstanden. Händler wurden unruhig, einzelne verschwanden. Auch der Mann mit dem Fernglas fehlte.
„Haut ab.“ Eddys Blick bohrte sich in Zusels Augen.
„Was ist mit dem Deal?“
„Je fünf Liter Gin, Absinth und Obstler“, zählte Ronja auf. „Die beiden Säcke samt Inhalt. Von uns eine Stiege Kartoffeln und einen Sack Zwetschgen. Sind wurmstichig.“
„Das ist dem Obstbrand egal. Hefe?“
„Hab ich da. Zucker nur noch zwei Kilo.“
„Das ist nichts.“
„Kann’s nicht ändern. Paar Rüben hab ich.“
Zusel rümpfte die Nase. „Besser als nichts. Wir klappern noch Jackie und Nic ab. Vielleicht haben die was.“
„Vogelbeeren“, sagte Ronja abschließend.
„Klingt nach einem Hauptgewinn.“
„Verschwinde. Eddy und Mick bringen dir die Sachen.“
„Nicht bescheißen.“
Während Zusel und seine Brut zurück auf den Ponton kletterten, wechselte Ronja einen vielsagenden Blick mit Lina.
Mick schmiss den Sack dem Alten hinunter, sodass dieser wankte. Die Söhne belegten ihn daraufhin mit vulgären Beleidigungen. Der Alte reckte den Stinkefinger, streckte die Zunge heraus und machte eine leckende Bewegung.
Mick fauchte und rannte auf den Kahnrand zu.
Eddy fing ihn ab. „Lass ihn.“
„Ich knall ihn ab!“
„Nicht heute.“
„Komm schon, Süßer“, lockte der Alte. „Deine Mutter wäre mir zwar lieber, aber ich bin nicht wählerisch. Loch bleibt Loch.“
„Halt deine Zunge im Zaum“, rief Eddy.
„Sonst was? Knallst du mich dann ab?“
Die Hand eines Soldaten riss ihn auf die Sitzbank. „Maul!“, herrschte er Zusel an.
„Das ist Staatsgewalt.“
„Und das meine Faust.“
„Manu wird davon erfahren“, grunzte einer der Söhne.
„Schnauze jetzt. Alle drei.“
Der Ponton legte ab und endlich war Stille.
Ronja schickte Mick zu Ruby. „Irgendwann macht er es wahr“, sagte sie leise zu Eddy.
„Hm.“
„Dann schlage ich mal Alarm.“
Die Schwäche überfiel sie hinterrücks. Eben noch hatte sie mit einem Buch im Lichthof gesessen, nun fand sie sich auf dem Boden wieder.
„Shit“, murmelte sie, sich vorsichtig aufrichtend. Ihr erster Blick galt dem Roman, der zweite ihren bläulich verfärbten Fingernägeln.
Sie horchte in ihren Körper, betastete ihren Kopf, atmete erleichtert aus. Nichts passiert. Anscheinend war sie einfach zur Seite gekippt. Doch ihr war fürchterlich übel und kalt. Nicht gut bei 30 Grad Raumtemperatur.
Auf dem Rücken robbte sie zu einer Stahlbox, legte die Beine darauf, ließ ihren Kopf auf den Boden sinken. Das Buch auf ihrem Bauch zitterte mit ihr. Ihre Augen wanderten zu der Feldflasche an der Wand. Sie versuchte, sich zu erinnern, wann sie das letzte Mal getrunken hatte, doch eine Melodie ließ sie zusammenzucken.
„Ella, elle l’a, elle l’a. Dudubdududubdudu.“
Sie sammelte Kraft für ein Wort. „Hier.“
Minuten verstrichen. Sie blieb bewegungslos liegen, die Arme um das Buch auf ihrer Brust gepresst, öffnete die Augen, als sie Schritte vernahm. Beine in Jeans schoben sich in ihr Blickfeld.
„Alles klar?“
Die Stimme war betörend wie ein warmer Umschlag. Ein Gesicht erschien vor ihrem. Chromfarbene Augen blitzten auf sie herab.
„Was machst du hier?“, presste sie hervor.
Das Gesicht verschwand kurz, tauchte neben ihr wieder auf, als er sich zu ihrer Linken niederließ, sich über das stoppelige Kinn fuhr und sie anstarrte.
Seine Mimik war nicht zu entziffern. Sie hasste das. Sein Pokerface. Er blieb ein Rätsel, ein Geheimnis.
Er zuckte mit den Achseln, nahm das Tuch vom Kopf, schüttelte es aus.
„Lass deine Keime gefälligst draußen.“
„Meine Keime haben dich beim letzten Mal auch nicht gestört.“
„Ich dachte, ich hätte dir gesagt, du solltest dich zum Teufel scheren.“
„Das sagst du immer nach dem Sex.“
„Und ich meine es jedes Mal ernst.“
„Wollte nur nach dem Rechten schauen. Sieht aus, als hätte ich den perfekten Moment abgepasst. Du siehst aus wie eine Leiche. Hast du Wasser?“
Matt wedelte sie Richtung Wand.
Sie roch die Mischung aus Sonne, Schweiß, Öl und Tabak, als er sich erhob. Gleich darauf hielt er ihr die Flasche vor die Nase.
Sie rollte sich auf die Seite, stützte sich auf den Arm, trank, bemerkte erst jetzt, wie durstig sie war.
„Ist es gut?“ Er nickte in Richtung des vergilbten Romans.
Sie lehnte sich gegen die Kiste. „Es geht um Schnee.“
Ungläubig lachte er auf. „Schnee?“
Sie nahm einen weiteren Schluck. „Ja.“
„Wie heißt es?“
„Fräulein Smillas Gespür für Schnee.“
„Was ist Gespür?“
„Ein altes Wort für Sinn.“
„Und Fräulein?“
„Gib dir ein bisschen Mühe. Selbst ein Bummler wie du kriegt das raus.“
„Sag‘s mir einfach, okay? Oder lass es.“ Ärger wehte über seine Züge, wahrnehmbar sogar für sie.
„Seit wann bist du so empfindlich?“
„Leck mich.“ Abrupt erhob er sich. Seine Augenbrauen bildeten ein finsteres Dreieck.
Ihr Magen ballte sich zusammen. „Es bezeichnet eine junge Frau. Ein altertümliches Wort. Selbst die Deutschen dürften es kaum mehr kennen.“
„Aber du kennst es, weil du so gebildet bist.“
Sie atmete tief ein, dann stand sie unsicher auf. Noch immer tanzten Lichter um sie. „Deshalb lebe ich lieber allein. Weil die Welt aus lauter Arschlöchern wie dir besteht.“
„Fein. Verkriech dich unter deinen Bücherberg.“
Sie sah ihm ins Gesicht. Es hatte sich geschlossen, als wäre die Tür zu einem Zimmer zugefallen. „Was willst du? Essen? Wasser? Sex?“
„Medikamente. Saubere Verbände. Patronen.“
Sie schnaubte. „Vergiss es.“
„Ich zahle.“
„Womit? Deinem Traumkörper?“
„Wenn du willst.“ Er sagte es ganz ohne Anzüglichkeit.
Sie stemmte die Arme in die Hüften. „Was ist passiert?“
„Das Übliche. Ein Deal geriet außer Kontrolle, der Schnüffler hackte zu.“
„Hackte zu?“
„Er hatte eine Metallschiene. Handmade.“
Wie die meisten Waffen. „Wen hat es erwischt?“
„Gregoire. Unterarm. Ziemlich tiefer Schnitt, ziemlich rostiges Eisen.“
„Ist es schon entzündet?“
„Bin direkt vom Kampf gekommen.“
Misstrauisch flogen ihre Augen umher. „Wo ist der Rest von euch?“
„Niemand außer mir kennt den Eingang. Abgesehen von deinen verrückten Brüdern.“
„Hatte der Deal mit einem von ihnen zu tun?“
„Alles da draußen hat mit ihnen zu tun. Natürlich tauchen sie nie selbst auf.“
„Früher ließen sie keine Gelegenheit aus, sich zu prügeln.“
„Heute haben sie ihre Schwadronen.“ Yianni malte mit den Fingern Gänsefüßchen in die Luft.
„Mach sie nicht größer als sie sind.“
„Und was sind sie?“
„Wichser mit kleinen Schwänzen.“
„Aber riesigen Fäusten und einem gigantischen Ego. Aufgeblasen von Drogen.“
„Die du ihnen verkaufst.“
„Auch ich muss leben.“
„Sie sind dumm wie ein Meter Scheiße.“
Yiannis Faust schloss sich um ihren Oberarm. „Unterschätze sie nicht. Irgendwann beschließen sie, dir euren Familiensitz wegzunehmen, einfach nur, um dir eins reinzuwürgen.“
Sie wand sich aus seinem Griff. „Sollen sie doch. Die Eingänge von damals existieren nicht mehr, die anderen bewache ich.“
„Du bist hier drin nicht sicher.“
„Bis jetzt hat es funktioniert.“
„Niemand hat ewig Glück.“
Sie funkelte ihn an. „Mit Glück hat das nichts zu tun. Deshalb kriegst du auch keine Munition. Ibuprofen, was Antibiotisches, Verbände. Und wage es nicht, mich zu beklauen!“
„Ich habe dich nie beklaut.“
„Erzähl das meiner toten Großmutter.“
„Kleinigkeiten“, meinte er wegwerfend.
„Du beklaust mich nur nicht, weil das Zeug hier sicherer ist als draußen. Weil ihr es teilen müsstet. Du bist ein Trickser, der denkt, mich ab und zu zu vögeln, reicht, damit ich ihn in mein Leben lasse. In meine Burg. Vergiss es! Ich brauche weder dich noch sonst wen.“
„Ich könnte dich auch einfach verdreschen“, sagte er ausdruckslos. „Dich abmurksen und dein Rattenloch übernehmen.“
Sie verschränkte die Arme, sah ihn herausfordernd an. „Warum tust du es nicht?“
„Gibt nicht mehr viele Frauen, die halbwegs normal sind. Und halbwegs ansehnlich.“
„Soll ich mich jetzt bedanken?“
„Du bist gerissen, schlagfertig und mutig. Das respektiere ich.“
„Ich bin deine verdammte Dealerin für fast alles.“
„Das auch. Gibst du mir nun das Zeug?“
„Womit wolltest du zahlen, sagtest du?“
Er zog einen schlaffen Rucksack vom Rücken, kramte darin herum, hielt ihr ein Päckchen hin.
„Wehe, es sind verfluchte Pilze.“ Sie nestelte das Papier auseinander und erstarrte. „Wo hast du die her? Sind sie echt?“
„So echt, wie sie Kekse in den Provinzen noch hinbekommen.“
„Dafür hat Gregoire seinen Arm geopfert?“
„Und für ein paar andere Sachen.“
„Wie seid ihr da drangekommen?“
„Willst du nicht wissen. Reicht das?“
Statt einer Antwort stopfte sie sich zwei Kekse auf einmal in den Mund. „Warte hier“, befahl sie kauend.
„Soll ich nicht mitkommen? Du siehst immer noch beschissen aus.“
„Der Deal ist vom Tisch, wenn du mich verscheißerst.“
„Ich hab meinen Teil geliefert.“
„Pech für dich.“
Er setzte sich auf die Stahlkiste und rüttelte an dem Vorhängeschloss, während sie mit unsicherem Gang in einem der unzähligen dunklen Korridore verschwand.
Sie beeilte sich, öffnete und schloss wahllos Türen, polterte laut herum. Sie wusste, dass ihre an Paranoia grenzende Vorsicht ihn amüsierte; dennoch lief sie Umwege und sah sich immer wieder um, bevor sie schließlich in ein Zimmer schlüpfte.
Als sie aus einem anderen Flur wieder bei ihm auftauchte, einen Beutel in der Hand und Kekskrümel um den Mund, saß er reglos auf der Kiste.
Seine Augen wanderten zu dem Smith and Wesson an ihrem Gürtel. „Doch Schiss vor mir?“
„Wolltest du zum Essen bleiben?“
„So, wie du aussiehst, hast du nicht mehr viel zu essen.“
„Hatte es nur vergessen.“
„Wegen einem Buch? Du bist echt bescheuert.“
„Trotzdem kommst du immer wieder zurück.“
„Weil du mich anmachst. Männerfrisur, Männerklamotten. Sexy as hell.“
„Verpiss dich.“
„Keinen Dank für die Rettung?“ Er breitete die Arme aus.
„Verschwinde. Ich hab Kopfschmerzen. Und das ist nicht mal eine Ausrede.“
Schweigend durchquerten sie ein Labyrinth aus Räumen, Treppen, Pfeilern, Möbeln, Stellwänden und ausgehängten Türen. Vor einem Durchlass in einer zerlöcherten Mauer blieb sie stehen. „Bye, Yianni.“
„Der Drecksack hat uns beklaut. Das war das letzte Mal, Naz! Eddy und Lina gehen ihm nach.“
Sie standen in einem Hausflur unter einer Treppe. Lina hatte das Gefühl, endlich wieder richtig atmen zu können.
„Das mit Manu ist keine Spinnerei“, sagte Naz, nachdem sie Ronjas Geschichte zum dritten Mal gehört hatte. „Er hat einen Stein im Brett bei ihm.“
„Könnt ihr Manu keinen Wink geben? Alle Welt weiß, dass Zusel jeden übers Ohr haut. Manu bestimmt auch.“
Jala legte einen Zeigefinger an die Nase. „Dann wäre er echt lebensmüde. Was habt ihr vor?“
„Wir wollen unser Zeug zurück.“
Naz lachte auf. „Das ist alles?“
„Eddy wird ihm ein paar verpassen.“
„Ich auch“, sagte Lina düster.
Naz musterte sie. „Hat er dich angebaggert?“
„Ronja, mich, sogar Mick.“
„Das stimmt“, mischte Eddy sich ein. „Hat ihm gedroht.“
„Ihr müsst euern Sohn im Auge behalten. Für unseren Geschmack ist er ein bisschen zu impulsiv, vor allem mit Waffen.“
„Deswegen geht er auch nicht mit“, entgegnete Ronja. „Aber Eddy allein möchte ich auch nicht schicken. Und Amina und Lydia ...“
„Keine gute Idee“, beschloss Naz den Satz. „Hab gehört, du hast Alco an Bord.“
„Lässt du Eddy und Lina gehen?“
Naz wiegte ihren Kopf. „Zwei Liter von allem?“
„Einen. Plus ein Kanister Essigwasser.“
„Beim nächsten Mal Dope oder noch je einen Liter.“
„Deal.“
„Ich schicke Thomas mit“, setzte Jala hinzu. „Wohin genau?“
„Tiergarten.“
„Den gibt’s doch gar nicht mehr.“
„Da wollte Zusel hin.“
Naz kniff die Augen zusammen. „Thomas wird aufpassen, dass die Lektion nicht zu hart ausfällt.“
„Ich nehme eine Knarre mit“, sagte Eddy. „Lina soll mit ihr die Söhne in Schach halten.“
Naz wechselte Blicke mit Jala. „In Ordnung“, willigte Jala ein. „In drei Stunden bringt Thomas euch zurück. Bis dahin müsst ihr den Wichser aufgestöbert haben.“
Sie nickten sich zu, dann schoben Jalas Männer Ronja, Eddy und Lina zurück in die Sonne. Nach dem Treppenhaus empfing die Hitze sie wie eine Feuerwand.
„Zwischendurch haust du ab“, flüsterte Ronja auf dem Weg zum Ponton. „Verkriech dich in der Straßenbahn. Morgen früh legen wir ab.“
Am Ufer stand nicht mehr viel. Die niedrige Kaimauer bröckelte, die einst schmucken Laternen waren zerstört, das gusseiserne Geländer abgerissen, die Bäume von Ungeziefer befallen. Auf den Gehwegen fehlten Pflastersteine.
Sehnsüchtig sah Lina zu den hohen Steinhäusern der ehemaligen Charité. „Können wir nicht da gehen? Im Schatten?
Thomas schnäuzte sich. „Umweg.“
Nach 300 schnurgeraden Metern erreichten sie eine offene Straße. Hinter ihnen ragte die Rückseite des Hauptbahnhofes auf, links die Überreste der Reichstagskuppel. Gespenstische Stille und der modrige Geruch brackigen Wassers hüllten sie ein.
Thomas führte sie zu einer Uferpromenade.
Lina betrachtete das schmutzige Rinnsal und die Überbleibsel der Motorboote. „Das ist die Spree?“
„Was von ihr übrig ist“, entgegnete Eddy. „Als Kind war ich ein paarmal hier. Jetzt stinkt’s hier nur noch.“
Sie erreichten die ersten Gebäudeschluchten, überquerten an einer Kreuzung mit einer Ampelanlage, die seit Jahrzehnten außer Betrieb war, eine Brücke, und standen vor futuristischen Bauwerken mit vorspringenden Kanten.
„Spreebogenpark“, erklärte Eddy.
„Hier gibt es keinen einzigen Baum.“
„Verdorrt und dann weggeschwemmt.“
„Von der Spree?“
„Glaubt man nicht, bis man es sieht. Hab ich mal miterlebt. Muss so 29 gewesen sein. Hier stand alles meterhoch unter Wasser.“
Thomas drängte sie die Straße hinunter. Bislang waren sie nicht mehr als einen Kilometer gewandert, doch die Hitze brachte ihr Blut zum Kochen. Zum Glück spendeten auf dem nächsten Abschnitt von Säulen getragene Vordächer Schatten.
Auch die anschließende Straße verlief schnurgerade. Die einstmals modernen, luftigen Gebäude mit den riesigen Glasflächen waren bis auf Schulterhöhe von schwarzem Schimmel befallen, ihre Dächer eingedrückt. Von Stürmen entwurzelte Bäumchen türmten sich neben der Fahrbahn. Betonquader, deren Sinn sich Lina nicht erschloss, versperrten die Bordsteine. Überall klafften Löcher. Müll stapelte sich zu allen Seiten. Zweifellos war er schon hundertfach durchwühlt worden. Übrig geblieben waren ausgebleichtes Papier, modrige Kleidung und aufgerissene Schuhe; Unrat, den niemand mehr gebrauchen konnte. Sand, den erst der Herbstregen wieder wegspülen würde, häufte sich an Hindernissen.
Linkerhand lag der Reichstag. Seine Mauern glänzten rußschwarz, Breschen waren herausgebrochen, Säulen gesprengt, die Treppenstufen ein Mosaik verstreuter Steine, die Fenster eingedrückt oder zerschlagen, die Kuppel eine zugige Halbkugel. Dennoch wirkte er noch immer imposant.
Die langweiligen Straßen ermüdeten Lina. Der poröse Asphalt schien die Hitze zu speichern. Fast erwartete sie, dass kochender Teer aus einem der vielen Löcher sprudelte.
Thomas überquerte die Straße, ohne nach rechts und links zu sehen. Ein Gehweg, ein Streifen gelbes Gras, dann stoppte er. „Ankunft Tiergarten 14:37“, raunte er in ein Walkie.
Lina drehte sich im Kreis, prägte sich die Gegend ein. Regierungsviertel. U-Bahn. Brücke. Ihr Puls hämmerte und sie verspürte Durst.
People say that you’ll die faster without water.
„Was ist das?“, fragte sie und wies die Straße hinauf.
Thomas hob eine schweißige Augenbraue. „Glockenturm.“
Glockenturm links. Reichstag rechts.
Er teilte die kümmerlichen Büsche, gab damit den Blick frei auf eine riesige Fläche.
„Oh Mann.“ Sichtlich erschüttert blieb Eddy stehen.
„Das ist das grüne Herz Berlins?“, murmelte Lina.
„Das schwarze Herz“, sagte Thomas gallig.
Lina ließ die Augen kreisen. Verkohlte Baumstümpfe, verschüttet von Sand und trockenem Schlamm. Krümelige Erde, vermischt mit Knochen, Glas und Holz. Wellenförmige Furchen, die zerstäubten, sobald sie auf sie traten. Aschewehen, aufgehäuft an Mauerresten. „Wo fangen wir an?“
„Vielleicht bei dem Denkmal“, sagte Eddy. „Ist gut zum Unterkriechen.“
„150 Meter“, schätzte Thomas. „Ist schnell kontrolliert.“
Lina hielt ihn zurück. „Wir sollten auf den Boden achten.“
„Wieso?“ Thomas hieb die Stiefelspitze in die Erde. Eine Aschewolke erhob sich.
„Fußspuren.“ Sie schwenkte einmal um die eigene Achse. „Zusel ist bestimmt wie wir von der Straße da gekommen. Wir sollten uns an sie halten.“
„Wir haben zwei Stunden“, gab Eddy zu bedenken.
„Zusel sucht doch Leute, die hier Rüben anbauen. Ihr schaut nach Spuren, ich nach allem, was aussieht wie ein Beet oder Acker.“
Eddy nickte. „Pflanzen brauchen Wasser. Früher gab’s hier Teiche. Vielleicht ist einer erhalten geblieben.“
„Also Grünzeug und Wasser“, beschloss Lina. „Ich Kopf hoch, ihr runter.“
Die Suche gab Lina die Gelegenheit, sich von den Männern zu entfernen. Unter dem Vorwand, einen Streifen Grün entdeckt zu haben, lief sie, Flocken aufwirbelnd, mal nach hier, mal nach da. Immer wieder musterte sie Thomas‘ schweißglänzenden Nacken und zögerte. Ließ sich mit klopfendem Puls zurückfallen, packte den Stock wie einen Speer. Wohin sollte sie laufen? In dieser Ödnis war sie weithin sichtbar und Thomas mit Sicherheit schneller als sie. Er würde sie einholen und dann?
„Das ist alles ein Haufen Scheiße, nicht wahr?“ Ohne Vorwarnung hatte Thomas seine Pistole gezückt und sie auf Eddy gerichtet. Lina japste und stockte in der Bewegung. „Euer Plan.“
Er war also doch nicht so stumpfsinnig, wie er aussah.
„Ist Zusel überhaupt hier?“
Eddy hob die Arme. „Er hat davon gefaselt.“
„Hat er euch beklaut?“
Eddy kaute auf seiner Lippe. „Nicht heute. Der Rest stimmt.“
„Hast du eine Ahnung, wie gefährlich es hier ist? Hier kreuzen sich Tons Revier und Manus. Cem bewacht alles bis zur Else. Zwischendrin ein paar Guerillas wie der Grieche. Die schießen alle erst und fragen hinterher.“ Thomas blinzelte, als ein Schweißtropfen von den Wimpern rollte. „Warum sind wir wirklich hier? Nur, damit sie abhauen kann?“
Eddy nickte zögernd.
Thomas wischte sich Tropfen von der Nase. „Dachte ich mir.“
Dann knallte es zwei Mal, Thomas‘ Stirn flog in Fetzen und er nach hinten.
Eddy ging sofort in Deckung, robbte zu dem Soldaten, schirmte sich mit dessen Körper ab. Lina stand starr, stierte auf das Blut und einige Gehirnkrümel. Weitere Schüsse peitschten den Aschesand auf, klatschten in Thomas‘ Leib.
„Lauf!“, brüllte Eddy. „Renn weg! Los!“ Hastig zwängte er die Waffe aus Thomas‘ Hand. „Verpiss dich!“
Ein erneutes Knallen, dann stäubten Bröckchen auf Linas Füße. Sie schrie auf, drehte sie sich um und preschte los, sah aus dem Augenwinkel, wie sich schwarzgepuderte Gestalten vom Boden erhoben, meinte, einen von Zusels Söhnen zu erkennen, wechselte die Richtung, beide Arme schützend vor den Kopf gehoben. Eddys Schuss holte eine der Gestalten von den Füßen. Eine andere krakeelte vor Wut, duckte sich und verschwand mit wilden Sprüngen.
Den Rest sah Lina nicht mehr. Blind vor Panik hetzte sie weg von den Männern, die in der Asche auf sie gelauert hatten. Aus den Schatten des Säulenmonuments tauchte eine weitere Gestalt auf, klein, gedrungen und laut keuchend. Lina beschleunigte, ungeachtet der Seitenstechen. Salz und Ruß brannte in ihren Augen. Sie erkannte eine Straße, preschte auf diese zu. Der Abstand zu ihrem Verfolger wuchs; die Atemzüge verklangen. Noch ein Schuss, ein Aufschrei hinter ihr, danach ein Fluch. Dann Stille, bis auf ihr pfeifendes Japsen.
Ohne sich umzusehen, rannte sie über die Straße, Schlaglöchern ausweichend, Asphaltfurchen überspringend, vorbei an einem Denkmal und wieder hinein in den Tiergarten. Auch hier verbrannte Erde, tote Stümpfe, Ruß und Asche, Schlamm und Knochen. Bisweilen ein struppiger Busch, wie durch ein Wunder verschont von Flammen und Flutwellen.
Vor ihr tauchten Steine auf. Keine Feld- oder Pflastersteine, sondern richtig große Brocken. Sie spurtete hinter einen roten Findling, gönnte sich eine Minute zum Luftholen und Schweißabwischen. Eine Minute, in der sie ihrem galoppierenden Herzen zuhörte, dem Rauschen in ihren Ohren, den Schüssen, die in der Entfernung verhallten.
Sie rutschte um den Felsen herum und spähte zu der Stelle, an der Thomas lag, meinte, Schemen dort zu sehen, Eddy vielleicht, der sich schießend einen Fluchtweg bahnte; ein, zwei Gestalten, die ihm auf den Fersen waren.
Dann vernahm sie ein Lachen, das sie beinahe aufschluchzen ließ.
„Du sitzt in der Falle, Süße. Wir haben dich umstellt.“
Zusel.
Ohne nachzudenken, sprang sie auf und rannte weiter. Ein niedergetrampelter Metallzaun versperrte ihr den Weg. Sie schwang sich darüber, sprintete auf die Straße, sah von der Seite etwas heran rollen, hörte das Quietschen von Bremsen.
Dann knallte das Auto gegen sie.
Missmutig starrte sie auf ihre mageren Vorräte.
Zwei Kreislaufzusammenbrüche in einer Woche, ständig das flaue Gefühl im Magen, der Schrecken, wenn ihre Muskeln plötzlich zu Brei wurden. Sie brauchte Essen, das sättigte. Eiweiße und Kohlehydrate. Soja, Bohnen, Fisch. Fleisch, auch wenn sie bei der Erinnerung an die Nutriaspieße Jahre zuvor erschauerte. Tagelang hatte sie unter heftigem Brechdurchfall gelitten, war am Ende so entkräftet gewesen, dass sie durch die Burg gewankt war wie eine Betrunkene.
Mit Fischen und Flusskrebsen hatte sie bessere Erfahrungen gemacht, aber die stanken immer häufiger verrottet. In letzter Zeit spielte sie mit dem Gedanken, Insekten zu züchten. Würmer und Schnecken. Terrarien anzulegen für Eidechsen und Blindschleichen. Über Seetang und Seegras hatte sie nachgedacht, hatte sich bis an die Flusstreppen geschlichen, den übel riechenden Spreeschlamm inspiziert, war entmutigt zurückgekehrt. Draußen, am Neuen Meer, gediehen möglicherweise essbare Algen, doch sie war nicht lebensmüde genug für einen Trip dorthin.
Sie beschloss, eine Runde um ihre Beete zu drehen. Straßenhändler standen auf frisches Zeug. Auf grüne Sachen wie Salate, Gurken oder Löwenzahn. Noch mehr auf rote. Allerdings würde sie sich lieber eine Hand abhacken, als mit Tomaten, Paprika oder Radieschen hausieren zu gehen. Bete konnte sie abgeben. Die weckte weniger Begehrlichkeiten und schmeckte widerlich.
Bevor sie einen Fuß vor die Burg setzte, checkte sie die Lage vom Dach des Haupteingangs aus. Dies erforderte eine umständliche Kletterpartie über Vorsprünge und Dachterrassen. Mit einem Fernglas suchte sie den Vorplatz und die nähere Umgebung ab. Anschließend kraxelte sie wieder zurück.
Nach draußen gelangte sie durch einen Durchlass hinter einem Regenrohr. Sofort legte Hitze sich um sie wie ein heißer Umschlag. Der Himmel sah aus, als hätte jemand einen Pinsel in schmutziges Wasser getaucht und Streifen über den Horizont gezogen. Smoggies hingen über der Stadt, überall stank es ranzig. Das Lied, das Jon stets gesungen hatte, wenn sie draußen waren, kam ihr in den Sinn: Hot town, summer in the city. Back of my neck getting dirty and gritty.
Den Revolver in beiden Händen, huschte sie um das Gebäude herum. Dumpfe Geräusche erregten ihre Aufmerksamkeit, doch sie schienen weit weg, waren nicht zu orten. Eine der zahllosen Schießereien zwischen Glueys und ihren Dealern? Nichts Akutes jedenfalls.
Schweiß kitzelte in den Achselhöhlen, juckte unter dem Bund von BH und Unterhose. Jede Bewegung raubte Energie, doch sie blieb nicht stehen, blinzelte Salz aus den Augen, wurde nur langsamer, wenn sie um eine der unzähligen Mauerkanten lugte. Sie schraubte sich um entlaubte Bäumchen und Sträucher herum, sprang in Gräben, erklomm Erdwälle, duckte sich unter haardünnen Drähten hindurch, wich gut getarnten Fallgruben und Tellereisen aus, verschwand schließlich im Schatten eines Wirtschaftsgebäudes, schlich an die Wand des gegenüberliegenden Hauses und tastete diese mit einer Hand ab, den Revolver schussbereit in der anderen. Einhändig stapelte sie lose Mauersteine neben sich, bis das freigelegte Loch groß genug war, dass sie hindurch passte.
Im Inneren war es stickig, aber tausendmal angenehmer als in der flirrenden Hitze. Wieder vernahm sie Geräusche. Stirnrunzelnd lauschte sie, packte die Waffe fester. Hier drin jedoch schien alles wie immer. Rasch huschte sie durch breite Korridore, Möbel und Spieltische als Deckung nutzend. Geschlagene fünf Minuten hockte sie hinter der letzten Barriere, starrte auf ihren Jeep, warf eine Tasse in eine Ecke.
Niemand reagierte, nichts regte sich.
Erst als sie sich ins Innere des Wagens geschwungen und den Zündschlüssel gedreht hatte, wie immer betend, dass das Gefährt ansprang, legte sie die Waffe auf den Beifahrersitz, rammte den ersten Gang ein und trat auf das Gaspedal. Der Jeep röhrte auf, machte einen Satz und schoss durch die Eingangsfront auf die Straße.
Selbst angesichts allgegenwärtiger Gefahren liebte sie es, mit dem Iltis durch die Stadt zu brausen. Er war uralt und ungefedert, aber zuverlässig. Jon hatte ihn aus Armeebeständen erbeutet. Er besaß weder Dach, noch Türen, noch Außenspiegel, dafür eine zerkratzte Windschutzscheibe, unzählige Dellen und ein Ersatzrad.
Während der Fahrt spähte und lauschte sie unentwegt, konzentrierte sich auf das Gewirr der Straßen und die Hindernisse, die sie in Nullkommanichts aus der Bahn katapultieren konnten: Fahrbahnunterspülungen, aufgerissener Asphalt, abgesackte Ränder, Bodenwellen. Außerdem Autowracks, Einkaufswagen, Fahrrad- und Rollerleichen; Gegenstände, deren Anordnung und Streuung sie genau studierte und mit früheren Beobachtungen verglich.
Als die Schüsse fielen, duckte sie sich, umklammerte das Lenkrad.
Viel zu nah.
Schreie ertönten. Ihre Augen zuckten über die Straße, die verbrannte Erde zu ihrer Rechten, überallhin. Und dennoch kam die Gestalt aus dem Nichts.
Fluchend trat sie mit beiden Beinen auf die Bremse. Mit einem harten Ruck und quietschenden Reifen kam der Jeep zum Stehen. Gleichzeitig rumste es.
Mit klopfendem Herzen blieb sie sitzen, roch den qualmenden Gummi. Schließlich beugte sie sich über die Windschutzscheibe.
Nichts. War die Gestalt Einbildung gewesen?
Mehr Schreie. Männerbrüllen, brunftig und aggressiv.
Sie schloss die Augen, spulte das Geschehen im Geiste noch einmal ab. Schlanke Gestalt, kariertes Hemd, gelbe Kappe.
„Damn!“ Sie ließ den Motor laufen, sprang aus dem Wagen.
Eine Frau mit schwarz beschmiertem Gesicht. Lange Haare in einem zerzausten Zopf, die Kappe daneben. In einem Rutsch stülpte sie die Kappe auf ihren eigenen Kopf, zerrte die Frau unter dem Jeep hervor. Sie war bei Bewusstsein, wenn auch benommen, stöhnte und murmelte undeutliches Zeug. Keine echte Hilfe, als sie sie auf den Beifahrersitz hievte. Blondie plumpste auf den Sitz wie ein Mehlsack und rutschte ein Stück hinunter. Der Revolver polterte in den Fußraum, aber dafür war jetzt keine Zeit. Sie ahnte die Verfolger mehr, als dass sie sie sah, sprintete um den Wagen, gab Gas.
Im Rückspiegel sah sie Männer auf die Straße rennen.
„Down!“, schrie sie der Blondine zu. Im nächsten Augenblick peitschten Schüsse weit über sie hinweg.
„Lausig“, murmelte sie.
Die Umgebung erwachte wie ein Tier aus dem Winterschlaf. Ihr Instinkt sandte warnende Botschaften, ihr Bauch zog sich zusammen. Das alles war nicht unbemerkt geblieben. Sie hatte keine Ahnung, wie die genaue Revieraufteilung momentan aussah. War auch egal. Ton. Manu. Pest. Cholera.
Im Geist zoomte sie eine Straßenkarte heran, bremste abrupt, bog nach rechts, beschleunigte. Den verkohlten Stadtpark nahm sie nur aus dem Augenwinkel wahr, ebenso die Häuserzeile. Sie fuhr konzentriert, mit beiden Händen am Lenkrad. Schweißnassen Händen, die bei Abbiegemanövern vom Steuer zu rutschen drohten. Dennoch drosselte sie das Tempo nicht einmal, als sie vor einem quer über die Straße verlaufenden Riss auf den Gehweg auswich und an Tiefgarageneinfahrten und Autoleichen vorbei preschte.
Der Platz mit der Skulptur war verwaist und vollgestellt mit Containern. Ein mulmiges Gefühl erfasste sie. Das sah nach Barrikade aus, nach neuen Grenzen und Schleichwegen. Sie zauderte einen Sekundenbruchteil, dann lenkte sie den Jeep zwischen Containern und Wracks hindurch und bremste vor einem stählernen Würfel.
„Wo sind wir?“ Blondie stemmte sich aus dem Sitz hoch.
Sie zeigte auf die reifengroßen Metallbuchstaben.
Offenbar bereitete der Blondine das Lesen Mühe, denn sie setzte mehrfach an, bevor sie „Potsdamer Platz“ nuschelte. Fairerweise musste man sagen, dass einige Buchstaben fehlten.
„Verletzt?“, erkundigte sie sich.
Die Blonde tastete sich ab. „Blessuren.“
„Solltest vorsichtiger sein. Konnte gerade noch bremsen.“
„Wohin fahren wir?“
„Zu mir. Was hast du angestellt?“
„Nichts.“
„Ton wird stinksauer sein.“
Blondie lehnte den Kopf gegen die Lehne und seufzte.
Schweigend jagten sie die Potsdamer Straße hinunter. Heißer Wind schlug ihnen ins Gesicht. Sie korrigierte den Sitz ihrer Motorradbrille, gab ihrer Passagierin das Cap zurück.
„Du siehst aus wie Furiosa“, sagte diese.
„Wer?“
„Egal. Ich bin Lina.“
„Quinn.“
„Danke, dass du mich nicht zurückgelassen hast.“
Am Marlene-Dietrich-Platz bremste Quinn ab, fuhr über in die Straße eingelassene Gräben unter das segelförmige Vordach, lenkte den Jeep in das Foyer. Hinter einem Berg aus Spielautomaten, Tischen und Stühlen parkte sie. Danach holte sie ihren Rucksack, ihre Flasche und einen Kanister aus dem Jeep und bedeckte ihn mit aufgequollenen Wandpaneelen.
„Was ist das hier?“, fragte Lina.
„Spielbank. Out of order.“
„Lebst du hier?“
„Nebenan.“
„Das Auto lässt du hier?“
„Ist ein gutes Versteck. Wir müssen einmal ums Karree.“
„Warum nicht durch den Verbindungstrakt?“ Ein Mann schälte sich aus einer verborgenen Ecke. Quinn sah, wie Lina zusammenzuckte und nach ihrer Tasche tastete. Auch sie selbst musste tief Luft holen. „Yianni.“
„Hallo, Schönheit.“
„Kannst dein Messer steckenlassen“, sagte sie zu Lina.
„Guter Rat.“ Yianni sah zu Lina, die zögernd die Hand von der Tasche nahm. „Wer ist das Kohlegesicht?“
„Ist mir vors Auto gerannt.“
„Bringst du sie zu dir?“
„Wo soll ich sonst mit ihr hin?“ Quinn schulterte ihren Rucksack. „Bye, Yianni.“
„Schmuggelst du sie durch den Haupteingang oder direkt durch die Bank?“
„Bye, Yianni.“
„Ich finde deinen Geheimgang.“
„Bye. Yianni.“
„Αντίο.“ Mit katzenhaften Bewegungen verschwand er im gleißenden Licht.
„Freund von dir?“, fragte Lina.
„Schwer zu sagen.“
„Soll heißen?“
„Dass ich mir nicht sicher bin.“ Quinn lugte um die Ecke. „Meine Großeltern nannten ihn einen Trickser“, erzählte sie, während sie über die Straße schlichen. „Sie trauten ihm nicht.“
„Und du auch nicht.“
„Irgendwas ist an ihm.“ Sie wedelte mit der Revolverhand, bedeutete Lina, leiser zu sprechen.
„Was macht er?“
„Schlägt sich durch.“
„Wie?“
„Ein bisschen dealen, ein bisschen rauben, ein bisschen tauschen, ein bisschen Bandenüberfälle, ein bisschen bezahlten Sex, ein bisschen von allem.“
„Sex, hm? Er sieht aus wie ein Gott.“
„Er stammt aus Kolymvari, nicht vom Olymp. Und jetzt Vorsicht! Hier wimmelt’s von Fallen und Gruben.“
Lina studierte die verwitterten Buchstaben. „Staatsbibliothek.“
„Die größte wissenschaftliche Universalbibliothek Europas.“
War das Stolz in Quinns heiserer Stimme? Sie betrachtete ihre Retterin in dem verwaschenen Overall, der altmodischen Fliegerbrille und den knöchelhohen Armeestiefeln. Trotz des Modevergehens und des ausgezehrten Gesichts war Quinn eine Schönheit. Schwarze, unterschiedlich lange Stoppelhaare, vermutlich von ihr selbst geschnitten, grünbraune Augen, düsterer Blick, klare Züge.
„Dieser Klotz hat mehr Löcher als meine Socken.“
„Einschusslöcher.“ Wieder der seltsame Triumph.
„War das während der Unruhen?“
„Nette Beschreibung für einen Krieg.“
Lina musterte das ramponierte Gebäude, den mit Schrott übersäten Vorplatz. Nach ein paar Stunden in der Stadt nahm sie die Trümmerlandschaft kaum mehr zur Kenntnis. „Wo ist das Empfangskomitee?“
Quinn forschte in Linas Miene, bevor sie antwortete. „Steht hier.“
„Du lebst hier allein?“
„Mein Großvater war der Hausmeister. Als die Stadt den Bach runter ging, schaffte er seine Familie hierher und verrammelte alles. Das ist unsere Burg.“
„Du bist hier drin aufgewachsen?“
„Geboren.“
„Ernsthaft?“ Lina trat an die Mauer und kratzte in einer Kerbe herum. „Musstet ihr euch oft verteidigen?“
„Schon. Ein paar Straßen weiter treibt sich ständig Pack herum. Gangs, Irrläufer, Glueys, Psychos. Das Wetter hat ihr auch zugesetzt. Sie hat etliches abgekriegt.“ Quinn sah aus, als wolle sie ihre Burg streicheln.
„Und du beschützt sie.“
„Ist viel Arbeit. Seit alle tot sind, ist eine Menge kaputt gegangen.“ Quinns Timbre klang rau; als rede sie nicht viel.
Alle tot.
„Hast du keine Angst? Ich würde durchdrehen. Bei uns erzählt man sich krasse Schauermärchen von der City.“
„Gehen wir rein, bevor jemand auftaucht.“
Lina folgte Quinn um eine Gebäudeecke und japste auf, als diese sie plötzlich an die Mauer drängte und den Revolver an ihre Stirn presste. „Wer bist du?“
„Lina Popova“, stotterte Lina.
„Für wen arbeitest du?“ Quinn forschte in ihrem Gesicht, das eigene vor Konzentration zusammengezogen.
„Für eine kleine Community in Tegel. Nicht für einen dieser Gangsterbosse hier, falls du das meinst.“
„Warum wollte man dich umbringen?“
„Weil jeder hier jeden umbringen will.“
„Kein Gequatsche!“
Lina schloss die Augen, atmete tief aus. Dann sah sie Quinn ins Gesicht. „Ich war mit Spreeschiffern unterwegs. Sie machen Geschäfte mit meiner Gemeinschaft. Wir glaubten, Naz und Jala hatten was mit mir vor, deshalb sollte Eddy mich unter einem Vorwand wegbringen und später wieder auflesen.“
„Und das ging schief.“
„Gewaltig. Jemand erschoss den Soldaten, der uns begleitete, und ich rannte weg.“
„Jalas Soldat?“
„Ja.“
„Jala arbeitet für Ton.“ Quinn nahm die Waffe von Linas Stirn. „Ich handle mir eine Menge Ärger ein.“
„Ich hab niemandem was getan. Ich will nichts von dir. Wenn du mir nicht glaubst, lass mich gehen. Oder verbinde mir die Augen.“
„Dann läufst du Ton in die Arme. Oder einem anderen Kerl.“
„Das ist dann nicht mehr dein Problem.“
Quinn zögerte. Lina konnte beinahe sehen, wie sie in Gedanken die Geschichte nach Löchern abgraste, verschiedene Szenarien durchspielte, stumme Zwiegespräche mit sich selbst führte. Schließlich steckte sie den Revolver weg. „Komm.“
„Irre.“ Staunend drehte Lina sich im Kreis.
Sie standen in einem verwinkelten, halbdunklen Saal mit breiter Fensterfront, schmucklosen Säulen und ausladenden Fensterbrettern. Etwa zwei Drittel der raumhohen Fenster waren verhängt oder mit Paletten blockiert, weitere zersprungen. Dennoch heizte Sonnenlicht den Raum auf. Brücken und Treppen, teilweise eingefasst von Geländern, verliefen kreuz und quer durch ihn. Die terrassenartigen Emporen verstellten den Blick, schufen Nischen und Verstecke, nahmen dem Saal jedoch nicht die Offenheit.
Regalreihen zogen sich an Wänden entlang oder standen wie Dominosteine mitten im Raum. In ihnen stapelten sich Utensilien, Apparaturen und Werkzeuge, hauptsächlich für die Gartenarbeit. Zwischen Säulen, Geländern und Regalen waren Leinen gespannt. Auf ihnen baumelte Wäsche zum Trocknen, aber auch Decken und Handtücher, was Lina an das Flüchtlingslager erinnerte und damit an Len, Malek und Karim.
Sie verdrängte die Schuldgefühle, musterte die imposante Decke, die aussah wie das Innere eines Raumschiffs. Lichtvierecke, runde Lampen, seltsam aufgeschnittene Halbkugeln. Mal hing die Decke tiefer, mal durchbrachen sie Schächte, durch die sie weit nach oben blicken konnte.
„Irre“, wiederholte sie, während sie Quinn durch die verrückte Landschaft aus geometrischen Formen und Grünpflanzen folgte. „Das sind mehrere Räume in einem. Auf mehreren Ebenen.“
„Lesesäle.“
„Wo sind die Tische und Stühle?“
„Verheizt. Verbaut. Außerdem brauchten wir Platz für Landwirtschaft.“
Kopfschüttelnd betrachtete Lina die Obststräucher auf dem Fensterbrett und auf den Emporen, die Hochbeete rund um die Säulen, die Kräutertöpfe auf Boden und Möbeln. Alles, was sich mit Erde, Mulch, Kies oder Sand befüllen ließ, diente zur Aufzucht von Gemüse und Obst: Schubladen, Kloschüsseln, Mülleimer, hohle Würfel mit Zahlen oder dem Buchstaben I darauf. Selbst Autoreifen entdeckte sie. An Spiralen und Treppengeländern rankten mickrige Tomatenpflanzen, in den Nischen unter den Fenstern erspähte sie Gurken, Zucchini und tennisballgroße Kürbisse.
„Die Pflanzen sind nicht mehr ertragreich. Jedes Jahr ernten wir weniger. Wir pflanzen überall an: in den Innenhöfen, auf den Dächern, im Keller, in der Tiefgarage.“
„Pilze?“
„Brachten uns durch zwei Hungerwinter.“ Quinn sprach stets so, als lebten noch Menschen mit ihr.
„Was sind das für Gebilde an der Decke?“
„Lichtpyramiden und Kalotten. Eigentlich sorgen sie für Tageslicht, sind aber völlig verdreckt. Das meiste Licht kommt durch die Fenster.“
„Muss früher total hell gewesen sein.“
„Ja. Die Bibliothek galt als architektonisches Meisterwerk, vieles hier drin als Kunst. Die Glassteine zum Beispiel.“
Lina erinnerte sich an die Eingangshalle mit den Glasmosaiken. Doch das Foyer war so verstaubt und vollgestellt gewesen, dass sie ihren Glanz verloren hatten.
„Wie lang ist dieses Saalgewirr?“
„125 Meter. Die gesamte Burg ist 229 Meter lang und 152 Meter breit.“
„Du kennst deine Zahlen.“
Quinn blinzelte irritiert, bevor sie fortfuhr. „58 Meter hoch. Im Winter 37 verloren wir einen Teil der Nordspitze, 40 sackte die südwestliche Ecke ab. Einige Räume haben wir gesprengt, um Eingänge zuzuschütten.“
Quinn schlängelte sich um Gummibäume, Palmen, Büsche und Säulen, tauchte unter Wäscheleinen hindurch, umrundete Regale. Lina folgte ihr, erschöpft und überwältigt gleichermaßen. Sie würde ewig brauchen, um das labyrinthartige, mehrstöckige Gebäude zu begreifen.
Der Gedanke ließ sie stocken. „Wo sind wir?“
„Über dem Westfoyer.“ Mit der Revolverhand beschrieb Quinn einen Bogen. „Dahinten ist das Magazin. Die goldfarbene Wand. 42 Meter. Sieht man durch den Spalt in der Spielbank.“
„Hör mal auf, wie ein Reiseführer zu reden. Wie zur Hölle komme ich von hier nach Hause?“ Plötzlich wurde Lina so schwindlig, dass sie sich setzen musste.
Quinn nahm neben ihr auf einer Treppe Platz. „Nördlich von hier bist du mir vor den Iltis gerannt.“
„Ist da der Hauptbahnhof?“
„Ja.“
Lina beugte sich vor, suchte Quinns Blick. „Hör zu. Ich muss zu einer Brücke.“
„Berlin hat viele Brücken.“
„Auf dieser liegt eine umgestürzte Straßenbahn.“
Verwirrt schüttelte Quinn den Kopf.
„Ach, verdammt! Ich muss dahin, verstehst du? Sie lesen mich da auf. Bringen mich zurück nach Spandau.“
„Du sagtest Tegel.“ Quinns Hand zuckte nach dem Revolver. Ihre Augen verdunkelten sich; ihr Blick wurde so stechend, dass Lina unter ihm zusammensackte.
„Tut mir leid, war ein Reflex. Ich habe wirklich nichts gemacht. Bin mit einem miesen Typen aneinandergeraten und abgehauen. Seither stolpere ich von einem Schlamassel in den nächsten. Ich will deine Burg nicht ausrauben, diesem Ton nicht in die Quere kommen, oder Stan oder Naz oder sonst wem. Ich will nur nach Hause. Meine Eltern sind bestimmt schon verrückt vor Angst. Roman hat ihnen vielleicht erzählt, ich sei tot oder sonst was. Gott!“ Sie vergrub ihren Kopf in ihrem Schoß.
Quinn betrachtete sie reglos. „Die ganze Geschichte. Lügst du wieder, erschieße ich dich.“
Lina krümmte sich.
„Fang an.“ Aus Quinns Stimme drang keinerlei Mitleid.
Kurz überlegte Lina, ob sie ihr die Waffe aus der Hand schlagen könnte, aber dann verwarf sie den Gedanken. Quinn hatte sie gerettet und fühlte sich von ihr - einer Fremden - bedroht. Also erzählte sie.
Quinn unterbrach sie kein einziges Mal. „Welche Brücke?“, fragte sie, nachdem Lina verstummt war.
Eine Melodie erklang in Linas Kopf.
Sand. We cannot fight getting tanned.
„Sand. Sandkrug.“
„Die liegt in Spuckweite vom Bahnhof. Warum der Riesenumweg?“
„Weil Naz und Jala uns überwachten. Ich sollte heimlich zurück.“
Quinn schüttelte den Kopf. „Ich kann dich da nicht hinbringen. Mein Bruder murkst mich ab, sobald er mich sieht.“
„Ton ist dein Bruder?“ Lina schien noch immer fassungslos.
Quinn konzentrierte sich auf das Lenken. „Ja. Manu auch.“
„Warum wollen sie dich umbringen?“
„Weil Ton so tickt. Ein paar unserer Haustiere gehen auf sein Konto. Manu ist nur dumm und gewalttätig.“
„Haben sie dich gequält?“, fragte Lina leise.
Quinn rutschte auf ihrem Sitz herum. „Hin und wieder.“
„Hat denn niemand geholfen?“
„Ton drohte, er würde mich umbringen, wenn ich petze.“
„Scheiße. Der Typ, vor dem ich weggelaufen bin, war auch so ein Arsch.“
„Ton wollte mir ständig an die Wäsche, manchmal mit Manu als Zuschauer. Man wusste nie, wo sie lauerten. Ich hab mich gewehrt und geschrien. Dann taten sie immer so, als wäre alles nur Spaß.“
Lina schüttelte sich. „Gruselige Kindheit. Eingesperrt mit denen.“
Quinns Hände krampften sich um das Lenkrad. „Da vorn kommt der Alex. No Man’s Land, seit der Turm umgefallen ist.“
„Spend an hour in no man’s land. You’ll be leaving soon“, sang Lina leise. „Das haben wir mitbekommen. Die Staubwolke konnte man vom Hahneberg aus sehen.“
Quinn wich einem Schlagloch von der Größe des Jeeps aus.
„Warum No Man’s Land?“
„Die Gegend gilt als verflucht. Nach dem Einsturz retteten sich Glueys und Sergejs Kaufhausmiliz in die Kirche. Ein Junkie klaute einem Russen was, der zündete den Gluey an. Alle gingen aufeinander los, während die Kirche abfackelte. Erst der Turm, dann die Kirche. Als sende Gott Botschaften.“
„Furchtbar.“
„Aber gut für uns.“ Die Allee, die zum Alexanderplatz führte, war gut befahrbar, sobald man das Brandenburger Tor passiert hatte. Früher hatten Ton und Manu die alte Touristenmeile kontrolliert, doch seit dem Turmfall die meisten Checkpoints in der Gegend aufgegeben.
„Freie Fahrt“, hatte sie Lina erklärt, nachdem sie sich dazu entschlossen hatte, ihr zu helfen. „Wir wehen durch wie der Wind. Ein Restrisiko bleibt, als überleg’s dir. Ich kann dir Unterschlupf bieten, bis die Lage sich beruhigt hat.“
Lina hatte den Kopf geschüttelt. „Ich will nach Hause.“
Nach einer Mahlzeit aus Milchbrei und Apfel hatte Quinn Lina zu einem Lüftungsschacht in der Verschalung der Westmauer geführt und sich vor ihr hineingequetscht. Über einen unterirdischen Versorgungstrakt waren sie in den Keller der Spielbank gelangt.
„Du hast Yianni belogen“, hatte Lina gewispert.
„Oh, mein Gott“, hörte sie ihre Beifahrerin jetzt murmeln. Mit riesigen Augen musterte Lina den Betonsockel, der wie ein monströser Zahn aus dem Boden ragte. „Sieht aus wie nach einer Atombombe.“ Mit offenem Mund starrte sie in die Schuttlandschaft; in Geröll, zersplittertes Glas, zerfetztes Metall. Der Turm hatte das Bahnhofsgebäude halbiert und eine gewaltige Schneise quer über den Platz und die angrenzende Straße geschlagen. Die Staubwolke hatte Glueys über die Schienen geblasen und sie, zusammen mit den Ruinen, unter sich begraben.
„368 Meter“, sagte Quinn. „Reichte locker bis rüber zu dem Hotel.“ Sie wies auf eine zerdrückte Masse aus Stahl und Beton.
„Als wäre es zermanscht worden. Meine Fresse.“
„Man erkennt noch die Kugel.“
„Wo ist die Antenne?“
„Hat eine Spalte in die Straße geschlagen.“
„Was für ein Trümmerfeld. Die armen Leute.“
„Um die meisten ist es nicht schade.“
Verstört flackerte Linas Blick über sie.
Abrupt bremste sie ab, umkurvte eine Furche, schwenkte hart nach links und fuhr zwischen Bahntrasse und Geschäftszeile entlang. „Pass gut auf“, warnte sie Lina, die sich am Armaturenbrett abstützte. „Hier lebt eine Menge Geschmeiß.“
Unter den Bögen drang infernalischer Gestank hervor. Irgendwas Organisches, das in der Hitze verfaulte. Wahrscheinlich ein Gluey. Stöhnend presste Lina ihre Nase in die Ellenbeuge. Quinn versuchte, durch den Mund zu atmen und gab Gas, obwohl die Straße mit Wracks vollgestellt war. Immer wieder warf sie beunruhigte Blicke auf die Trasse über sich, dachte an Kundschafter oder nervöse Anwohner, die Steine und Schienenteile schleuderten.
An einer großen Kreuzung bog sie nach rechts in eine breite, von mehrstöckigen Gebäuden gesäumte Straße. Sie rauschten an Fußgängerwegen, Fahrradleichen und Haltestellen vorbei.
„Hier gibt’s Unmengen Metall“, sagte Lina. „Warum holt das keiner?“
Quinn umkurvte eine umgestürzte Straßenbahn. „Wäre ein Selbstmordkommando.“
Sie steuerte über ein Gewirr sich kreuzender Schienen, bog links ab, danach in ein schnurgerades, enges Sträßchen ohne Ausfahrten oder Ausweichmöglichkeit. Sie war froh, als sie den Platz erreichten und die Sicht sich wieder öffnete.
Lina wies auf eine versumpfte Fläche. „Was ist das?“
„Monbijou.“
Der verrottete Park verschwand links hinter ihnen, als Quinn beschleunigte. Lina nahm ihre Mütze ab und stülpte die schwarze Seite nach außen. Ihre Locken flogen im Fahrtwind. Quinn riskierte einen längeren Blick. Anmutiges Gesicht, Stupsnase, Grübchen, dichte Wimpern. Dass Linas Augen leuchteten wie Tansanit, hatte sie bereits in der Burg bemerkt. Und sie schien normal zu sein. Kein Schnüfflerzombie, keine Gangbraut. Nett, alles in allem.
„Bald geschafft“, murmelte sie. „Da vorn ist die Friedrichstraße.“
Cems Gebiet, so weit sie wusste.
Gründerbauten glitten an ihnen vorüber. Farblich schwankten sie zwischen Kackbraun, Rotzgelb und Gallegrün. Abgesehen von vereinzelten Rissen, herabgefallenen Dachziegeln und herunterhängenden Schriftzügen schienen sie weitestgehend heil. Selbst Fenster und Türen sahen nahezu unbeschadet aus. Nur die Ladenschaufenster waren eingeschlagen worden, Rollläden und Jalousien abgerissen.
An einer großen Kreuzung stoppte Quinn, ließ den Motor jedoch laufen. „Invalidenstraße. Führt direkt zur Sandkrugbrücke.“
„Woher weißt du das alles? Hier gibt es nur Hausnummern.“
„Karten.“
„Und die hast du alle auswendig gelernt? Bist du so eine Art Wunderkind?“
Quinn hörte nicht mehr zu, sah stattdessen die Straßen hinauf und hinunter, horchte auf merkwürdige Geräusche. Vögel zwitscherten, Mücken sirrten, irgendwo gluckerte es, Metall knackste. Nichts Außergewöhnliches, trotzdem protestierte ihr Bauchgefühl. Doch noch länger herumzustehen, machte sie zur perfekten Zielscheibe.
Langsam bog sie nach links, musterte den breiten Fußweg, die Litfaßsäule, die Torbögen eines Säulengangs. „Naturkundemuseum“, murmelte sie, als ein wuchtiges Steingebäude auftauchte. „Früher gab es dort einen Brachiosaurier.“
„Giraffatitan.“
„Hm?“
„Die Leute dachten die ganze Zeit, es sei ein Brachiosaurier. Wollen wir nachschauen, ob es ihn noch gibt?“
„Besser nicht.“ Quinn wies auf die verschwundene Westwand und die Ruinen der Nebengebäude.
Linas Lippen formten sich zu einem stummen O.
Die Straßenkriege mussten heftig hier getobt haben. Überall türmten sich Schuttberge. Zerstörte Panzer und Lastkraftwagen versperrten den Weg. In den Seitenstraßen lagen Bagger und Baufahrzeuge, weiter vorn ein umgestürzter Kran, der die Straße in eine Mondlandschaft verwandelt hatte.
Lina schüttelte den Kopf. „Pure Zerstörungswut.“
Quinn umkurvte die Kranteile, indem sie über eine Mittelinsel und den Fußweg rumpelte, lose Pflastersteine und aufgerissenen Asphalt vermeidend.
„Da ist Wasser.“ Lina deutete auf ein großes Becken. Tauben und Spatzen saßen auf der Einfassung, flatterten ängstlich auf.
Eine dunkle Vorahnung erfasste Quinn. Wachsam rollte sie an die nächste Kreuzung und bremste.
Lina sah sich um. „Was ist?“
„Hab ein mieses Gefühl.“ Sie musterte den plumpen Ministeriumsbau vor sich, spähte die Straße entlang. „Da hinten ist die Brü ...“
Etwas Glühendes schlug in ihre Brust ein, zerschnitt den Satz.
Aufschreiend riss Lina sie zur Seite und duckte sich. Keinen Augenblick zu spät, denn die Windschutzscheibe zerbröselte, als eine zweite Kugel sie traf.
Reflexartig gab Quinn Gas und kurbelte am Steuer. Sand wirbelte auf, als sie mit quietschenden Reifen mitten auf der Kreuzung wendete und die Straße zurück raste.
Lina blickte wie gejagt um sich, zupfte an ihrem Ärmel. „Leute!“
Quinn machte sie verschwommen aus. Etwas brannte sich durch ihr Schlüsselbein, betäubte ihre Seite. Männer kamen aus den Seitenstraßen gerannt, warfen mit faustgroßen Steinen. Sie zog den Kopf ein.
Die Invalidenstraße füllte sich mit Menschen. Mit erhobenen Armen stellten sie sich auf die Straße, als wollten sie den Jeep mit purer Körperkraft aufhalten.
Mit zusammengebissenen Zähnen hielt sie auf die Gruppe zu. Die Schlaueren sprangen rechtzeitig beiseite, aber einen besonders Verwegenen nietete sie um wie einen morschen Baum.
Lina kreischte, doch Quinn drückte das Gaspedal bis zum Boden durch.
Nach etlichen weiteren Schüssen sah sie in den Rückspiegel. Die Meute hetzte hinter ihnen her. Einige Männer fluchten in Walkie-Talkies.
„Sie holen Verstärkung.“ Verwundert hörte Quinn, wie verschleiert ihre Worte klangen.
„Wer sind die?“ Linas Stimme gellte hysterisch.
„Cem ...“ Das Sprechen fiel ihr schwer. Ihre Gedanken schwammen davon.
„Quinn? Quinn! Hey!“ Ohrfeigen klatschten auf ihre Wangen, holten sie aus dem Nebel.
„Du musst fahren“, brachte sie mühsam heraus. „Zu Cem.“
„Wer ist Cem?“
„Cousin. Sein Revier. Stück zurück.“ Plötzlich brüllte der Schmerz in ihrer Brust. Sie wollte den Arm auf ihre rechte Seite pressen, doch er funktionierte nicht richtig.
„Aber ...“
Sie sah in den Rückspiegel, trat auf die Bremse, stieß gegen das Lenkrad. Die Schmerzen breiteten sich aus wie ein Flächenbrand. „Jetzt.“
Hastig zog Lina sie zu sich, kletterte unsanft über sie und plumpste auf den Fahrersitz. „Wo lang?“
„Geradeaus.“ Quinn fühlte, wie ihr Bewusstsein mit reichlich Blut aus ihr sickerte. Kein schöner Gedanke, doch ein angenehm warmes Gefühl. Sanft wie Schlaf.
Ein Hieb lenkte sie ab.
„Links.“
Dann kam die Dunkelheit.
Am liebsten hätte Lina laut aufgeheult. Quinn blutete durch ihren Overall, war bleich wie eine Wand.
Blinde Panik drohte sie zu überwältigen. Sie biss sich auf die Lippen, bis sie Blut schmeckte. Das klärte ihren Kopf.
„Links“, hatte Quinn gesagt, bevor sie auf die Seite gesackt war.
Pessa hatte ihr Fahren beigebracht. Dennoch kam der Wagen beim Abbiegen ins Schlittern, rutschte quer über die Fahrbahn auf einen U-Bahn-Eingang zu, der aus der Straße klaffte wie ein offener Mund.
Vor Schreck ließ sie das Steuer los. Der Jeep drehte sich um seine Achse und krachte gegen das Geländer.
Mit wackligen Beinen stieg sie aus dem Wagen. Adrenalin und Todesangst verliehen ihr ungeahnte Kräfte, sodass sie Quinn aus dem Auto zerren konnte. Diese kam stöhnend wieder zu sich, als Lina sie Richtung U-Bahn schleppte.
„Blöde Idee.“
Zu Tode erschrocken fuhr sie herum.
Der Mann war klein und kompakt, hatte ein rundes Gesicht, dichtes, schwarzes Haar und einen zerzausten Bart. Er hielt einen Baseballschläger in der einen Hand und einen Revolver in der anderen.
„Pst“, sagte er und kam näher.
Aller Speichel lief in Linas Mund zusammen.
„Du siehst vielleicht scheiße aus“, sprach er dann unerwartet zu Quinn, die schwer über Linas Schulter hing.
„Gleichfalls.“ Quinn brachte ein gruseliges Lächeln zustande. „Hi, Cem.“
Linas Verstand schaltete sich wieder ein. „Du bist ihr Cousin?“
„Großcousin.“ Cem pfiff halblaut. In den Häusern rundum öffneten sich Fenster. Gewehrläufe schoben sich heraus. In den Eingängen bezogen Männer Stellung.
„Das wird unschön“, sagte Cem. „Cellos Bande geht uns schon seit Tagen auf den Sack. Ton ist not amused und ich auch nicht.“
„Arbeitest du für Ton?“, fragte Lina.
„Temporär. Die U-Bahn ist eine blöde Idee. Da unten sitzt ihr zwischen all den Zombies in der Falle.“ Er steckte den Revolver weg. „Erst mal ins Haus.“
„Was ist mit dem Jeep?“
„Scheiß auf den Jeep.“
„Nein.“ Obwohl sie kaum stehen konnte, protestierte Quinn entschlossen. „Ton und Manu riechen Sachen wie diese gegen den Wind. Ich will weg sein, wenn sie kommen.“ Sie sprach undeutlich und abgehackt, doch so energisch, dass Cem seufzte.
„‘Kay. Aber ich komme mit.“ Er händigte Lina den Baseballschläger aus und hievte seine Cousine mit einem Schwung in den Wagen.
„Hab ich ihn kaputt gefahren?“, fragte Lina, nachdem sie sich neben Quinn gequetscht hatte. Mittlerweile war die Straße zum Leben erwacht. Steine und Gewehrkugeln flogen aus den Fenstern, Männer rannten brüllend aufeinander zu.
„Der ist unverwüstlich.“ Zackig setzte Cem zurück und gab Gas.
Nach einem Zick-Zack-Kurs durch mehrere Seitenstraßen gab Lina sich geschlagen. „Ich habe keine Ahnung, wo wir sind.“
„Vertrau mir.“
Cem schien irritierend aufgekratzt. Rücksichtslos jagte er über Bürgersteige, Parkplätze und Mittelinseln, durch Hauseingänge und Tankstellen. Zwischendurch sah Lina Wasser zwischen Hochhäusern aufblitzen, dann wieder versandete Parks und lange Schlangen verendeter Fahrzeuge. Zwischen Müll und Trümmern fraßen Waschbären von einem toten Tier, aus verrußten Kirchtürmen stoben Krähenschwärme.
„Wie geht’s ihr?“ Der Jeep röhrte so laut, dass Cem schreien musste.
„Ziemlich weggetreten.“
„Blutet sie noch?“
Lina betrachtete den durchtränkten Overall. „Ja.“
„Hinten auch?“
Umständlich drehte Lina ihre Retterin nach vorn. „Ich glaube nicht.“
„Hoffentlich nur ein Streifschuss. Straßenkrieger schießen eher ins Blaue. Außerdem sind die Waffen oft verzogen.“
„Nicht so wie im Film.“ Behutsam kippte Lina Quinn zurück an die Lehne, musterte mit steigender Sorge den wächsernen Teint.
Hold your head up, keep your head up, movin‘ on.
Cem grinste und wich im letzten Moment einem Straßenpoller aus. Kurze Zeit später kam die unverwechselbare Silhouette der Philharmonie in Sicht. Ein paar Straßenzüge weiter bremste er vor dem Haupteingang der Bibliothek hart ab und hopste aus dem Wagen, drückte Lina den Revolver in die Hand. „Schieß auf alles, was sich bewegt.“
„Deine Cousine hat in der Spielbank geparkt.“
„Keine Zeit“, schnaufte Cem, Quinn bereits auf dem Rücken. Sein Blick wanderte die Wände hoch, dann schüttelte er die dunkelhaarige Frau. „Wo steigst du neuerdings ein?“
Quinn brabbelte etwas, das niemand verstand.
Plötzlich erklang eine Melodie hinter ihnen. Lina kannte sie. Ein Song aus den Achtzigern. Was Französisches.
Cems bärtiges Gesicht verzog sich zu einem Grinsen. „Wusste ich’s doch. Alter Hurensohn.“
Aus einem der Autoskelette erhob sich eine Gestalt.
„Yianni“, keuchte Lina.
Der Grieche war mit wenigen Schritten bei ihnen. „Was ist passiert?“
„Wir wurden beschossen.“
„Cello“, setzte Cem hinzu.
Der Grieche stieß Luft durch die Nase. „Kommt.“
Er führte sie zu einem Regenrohr, das hinter Müll und staubigem Efeu versteckt lag. Hinter dem Rohr entfernte er Latten und Steine.
„Wird eng“, sagte Cem nach einem Blick auf die Öffnung.
Bis Lina durch die Wand gekrochen war und sich in der düsteren Eingangshalle wiederfand, war Yianni am oberen Treppenabsatz angelangt, Quinn wie eine Braut auf den Armen tragend.
Cem verschloss den Spalt und schob Tische und sperrige Bürostühle dagegen.
Oben passierte Yianni eine Reihe identisch aussehender Räume. Am Ende des Ganges betrat er ein nichtssagendes Zimmer, vermutlich ein Büro. Lina fiel auf, dass er Quinns Unterkunft direkt angesteuert hatte.
Quinns Bett bestand aus vier übereinandergestapelten Matratzen. Keuchend legte der Grieche Quinn darauf, knöpfte ihren Overall auf und streifte ihn von ihren Schultern. Ein blutiger Baumwoll-BH kam zum Vorschein.
Cems Gesicht verkrampfte und er sog laut die Luft ein. „Ich kümmere mich um Licht.“ Abrupt drehte er sich um und verschwand.
„Er konnte noch nie Blut sehen.“ Yianni sah auf. „Wie steht’s mit dir?“
„Erste-Hilfe-Kurse, aber nicht an Menschen.“
Unverständnis blitzte in seinen Augen auf, doch er konzentrierte sich sofort wieder auf Quinn. Ohne Scheu und nicht gerade zimperlich wanderten seine Hände über Quinns Körper, ertasteten schließlich das Einschussloch, was Quinn aufstöhnen ließ.
„Hinten ist nichts“, sagte Lina, als sie sah, wie er sie herumdrehen wollte.
„Die Kugel ist noch drin.“ Abermals sah Yianni hoch. „Irgendwo gibt es medizinische Vorräte. Besteck, Desinfektionsmittel, Verbände, Schmerztabletten. Sobald Cem zurückkehrt, müsst ihr die Sachen finden. Heißes Wasser und saubere Tücher wären auch nicht verkehrt.“
„Bist du Arzt?“
„Òchi. Aber das kriege ich hin. Ist nicht das erste Mal, dass ich eine Kugel raushole. Und hier haben wir beinahe sterile Verhältnisse. Sie kommt durch.“ Er tätschelte Quinns käsige Wange. „Hörst du, Schönheit? Ich rette dich.“
„Wehe, du versaust es“, wisperte Quinn.
„Was ist mit inneren Verletzungen?“, fragte Lina.
Mit schmerzverzerrtem Gesicht stocherte Quinn in ihrer eigenen Wunde herum. „Steckt im Muskel. Unterm Schlüsselbein. Klavikula.“
Yianni stupste sie an. „Hör auf anzugeben. Kann ich den BH durchschneiden?“
„Immer noch nicht gelernt, ihn aufzumachen?“ Quinn brachte ein Grinsen zustande, das sofort wieder in sich zusammenfiel. „Deck mich ab, ja?“
„Sonst bist du nicht so prüde.“
„Cem ist wie mein kleiner Bruder.“
„Der bestimmt schon mal Titten gesehen hat.“
Sie stöhnte auf. „Arschloch.“
Quinn lehnte Yiannis Diazepam ab, schluckte lieber Cems Gemisch aus Wodka, Gin und Rum.
„Wehe, du kotzt“, warnte Yianni.
Statt einer Antwort biss Quinn die Zähne zusammen und wappnete sich für den Eingriff. Sie hielt minutenlang durch, dann wurde aus ihrem Stöhnen Wimmern und sie begann, sich auf dem Bett herumzuwälzen. Kurz darauf verlor sie das Bewusstsein.
Yianni brauchte über eine Stunde, um die Kugel herauszupulen. Lina assistierte mit revoltierendem Magen und beobachtete ängstlich Quinns Atmung. Cem bezog vor dem Zimmer Wache, patrouillierte durch die Burg und versteckte den Jeep.
Yianni arbeitete gründlich. Er goss Alkohol direkt auf die Wunde, säuberte sie mit heißen Tüchern, nähte sie zu und verband sie. Zum Schluss breitete er zwei Decken über Quinn. Anschließend sank er neben ihr auf die Matratze und trank den Rest ihres Alcos. Lina sammelte blutige Waschlappen ein und warf die Instrumente in eine Schüssel.
„Das müsst ihr desinfizieren“, sagte Yianni, in dessen stoppeligem Gesicht sich Müdigkeit abzeichnete. „Und jeden Tag ihren Verband checken. Gebt ihr Ibu. Wenn sich die Wunde entzündet, haben wir ein Problem.“
„Wie lange wird es dauern, bis alles verheilt ist?“, fragte Lina, sich einen Stuhl heranziehend.
„Vier Wochen. Wenn es keine Komplikationen gibt.“
Lina lehnte den Kopf an die Wand. „Shit.“
Yianni beugte sich vor, musterte sie eindringlich. „Erzähl mal. Wer bist du? Wieso wurdest du verfolgt? Was hattet ihr vor?“
Lina seufzte. „Ich weiß nicht, wie oft ich die Geschichte schon erzählt habe.“
Yianni verschränkte die Arme über der Brust. „Wir haben Zeit.“
Diesmal ließ sie nichts aus. Vielleicht, weil sie zu erschöpft war nach all den Ereignissen, vielleicht, weil sie glaubte, es Quinn zu schulden, vielleicht weil die drei anständig schienen.
„Tja.“ Yianni reckte sich, dass seine Knochen knackten. „Nach Spandau wird dich so schnell niemand bringen. Es steht dir natürlich frei, es allein zu probieren, aber das wäre dumm.“
Frustriert ließ Lina den Kopf sinken. „Und nicht fair ihr gegenüber.“
Cem lächelte grimmig. „Ist auch besser für dich. Halt dich mal ein Weilchen bedeckt.“
Eiseskälte machte sich in Lina breit. „Warum?“
„Hab gehört, am Hafen gab’s Trouble. Eddy hat erzählt, wie ihr angegriffen wurdet. Zusel wurde zu Naz und Jala geschleppt. Er faselte irgendeine Story, die niemanden interessierte. Aber man hört, sie seien erbost, dass die Bulgarin weg sei. Das bist du, oder?“
Lina lächelte verzerrt. „Durfte Ronja ablegen?“
„Naz ärgert doch ihre Dealer nicht.“
„Ohne mich bekommt sie ihre Rache nicht.“
Yianni gähnte. „Ist vielleicht gut so. Ich hau ab. Glaubst du, Ton rückt an, Cem?“
„Nicht heute Nacht. Erst Cello, dann wird er mit Naz und Jala sprechen, über Zusel entscheiden, dann mit mir verhandeln.“
„Weiß er, dass es seine Schwester war, die angeschossen wurde?“, fragte Lina.
„Gibt nicht viele Frauen, die in Jeeps durch Berlin kurven. Die Frage ist, ob es ihm wichtig genug ist.“
„Ich halte Augen und Ohren offen“, versprach Yianni.
Cem nickte. „Hast was gut. Bei Quinn auch.“
Auch nach zehn Tagen irrte Lina durch die Burg wie ein Querschläger. Für jede Besorgung brauchte sie ewig, trotz genauer Anweisungen und einer mit links gekritzelten Karte.
„Es ist so unübersichtlich. Wie haben Leser hier jemals ein Buch gefunden?“ Frustriert schüttelte Lina das Bettlaken aus.
Quinn hockte auf einem Stuhl und drückte auf dem unbequemen Verband herum. „Damals sah es völlig anders aus.“
„Irrgänge, Blockaden, verschachtelte Architektur.“ Lina zog das Laken über die Matratze und klopfte die Decken zurecht. „Wie viele Stockwerke gibt es denn bitte schön allein?“
„Zehn oberirdische, zwei im Keller. Über die Hälfte haben wir versperrt.“ Vorsichtig stand Quinn auf. Ihre rechte Seite fühlte sich an, als sei sie gegen eine Mauer gerannt. „Lass uns ein paar Schritte gehen.“
Überrascht sah Lina sie an. „Ist es nicht ein bisschen früh?“
„Ich muss mich bewegen.“
„Du sagst aber Bescheid, wenn dir schwindlig ist oder so.“
„Hm hm.“ Quinn stakste zur Zimmertür. Das Atmen fiel ihr schwer. Wenn sie tief Luft holte, protestierte ihr Brustkorb. Dennoch wagte sie sich auf den Korridor.
Lina blieb an ihrer Seite. „Ist das der Verwaltungstrakt? Ist total anders als der Rest.“
„Der Flügel hier war mal ein Riesenbüro, aber dann haben sie ihn restauriert. Die Leute wollten lieber kleine Räume. Das Büro war fast so lang wie der Lesesaal.“
„Auf dem Gang hättet ihr sprinten können, Cem und du.“
„Sind wir. Half uns, im Winter nicht durchzudrehen.“
„War bestimmt ein toller Platz zum Versteckspielen.“
Quinns Laune verdüsterte sich. „Manu hat sich mal im Veranstaltungssaal im Untergeschoss versteckt. Er wusste, dass ich da gern hinging, um allein zu sein, hat mir einen Riesenschrecken eingejagt und sich kaputt gelacht. Ich bin auf ihn los. Er prügelte mich windelweich. Als ich zu Jon gehen wollte, ist er zu Ton gerannt und hat geflennt. Daraufhin fing Ton mich ab und brach mir den Arm. Einfach so.“ Quinn schnippte mit den Fingern.
Lina war mucksmäuschenstill geworden. „Was hat er den anderen aufgetischt?“
„Dass ich im Saal gestolpert sei. Sie haben ihn verrammelt. Uns wurde verboten, dort zu spielen.“
„Muss schlimm gewesen sein mit den Typen.“
„Ich hasse sie. Noch mehr hasse ich es, vor ihnen Angst zu haben.“
Sie betraten den Lesesaal, dessen Anblick Lina noch immer faszinierte. „Er wirkt so groß, obwohl er so verwinkelt ist. Ich hätte ihn gern wie früher gesehen.“
„Imposante Architektur macht nun mal nicht satt.“
„Ich weiß. Getreide und Kartoffeln auf dem Dach, Pilzzucht im Keller, Gemüse in den Lesesälen, eine Zisterne unter dem Magazin, Brunnen, Regenwannen. Stellst du alles selbst her?“
„Essig, Zuckersirup, Mehl, Alkohol. Eine Zeit lang hielten wir Kleinvieh. Wir hatten Milch, Butter und Käse.“
„Und dann?“
Quinn blieb stehen. Ihre Beine zitterten und Schweiß stand auf ihrer Oberlippe. „Dürren. Parasiten. Sturmschäden und Hungerwinter. Ton. Die Tiere starben, eins nach dem anderen.“
„Setz dich lieber. Siehst überanstrengt aus.“ Lina zog einen Hocker heran, auf dem Quinn sich schnaufend niederließ. „Das ist ganz schön viel für einen allein.“
„Ich komm schon klar.“
Lina musterte die vielen Nischen und Ecken. „Wirklich?“
Plötzlich ertönte von irgendwoher ein Lied.
„Ella, elle l’a, elle l’a. Dubdubdududubduduu.“
„Hier“, schrie Lina in die Stille.
Zehn Minuten später sahen sie Yianni, der sich einen Weg zwischen herabhängender Wäsche und buschigen Pflanzen bahnte. Sein von Bartstoppeln umrahmter Mund verzog sich, als er sie sah. „Du solltest dich schonen“, sagte er zur Begrüßung.
„Hi.“ Mehr brachte Quinn nicht heraus. Schmerz schwappte wellenartig durch ihre Seite.
Tadelnd sah der Grieche Lina an. „Du musst auf sie aufpassen. Sie ist stur wie ein Esel.“
„Es geht ihr gut. Sie ruht sich gerade aus. Ich mache ihr Tee und warmes Bier, wie du gesagt hast, Gemüsesuppe und Salat.“
„Nicht eben üppig.“
„Was soll ich machen? Die Kürbisse sind winzig.“
„Kartoffeln?“
„Ich war noch nicht auf den Dächern. Bin froh, wenn ich zwischen Lesesaal, Verwaltung und Foyer nicht verloren gehe.“
Quinn sah Yianni an. „Du könntest Wasser holen für ein Bad. Und danach Kartoffeln.“
„Ich bade jede Woche“, erklärte Quinn, nachdem sie sich mit Yiannis Hilfe bis auf die Unterwäsche entkleidet hatte. „Ansonsten nur Katzenwäsche.“
„In diesem Ding?“ Lina wies auf das Fass. „Sieht aus wie ein Aufbewahrungsbehälter für nuklearen Abfall.“
Das Fass stand im Waschhaus, einem ehemaligen Besucher-WC. Ihre Familie hatte einen Teil der Kabinen herausgebrochen und die Becken abgebaut. Eimer, Kannen, Schüsseln, Fässer und Wannen stapelten sich an den gefliesten Wänden. Auf Hockern lagen Handtücher und Waschlappen, in den Waschbecken Seifenstücke und Shampoowürfel.
„Darin haben wir schon als Kinder gebadet.“
Quinn legte Latzhose und Hemd ordentlich zusammengefaltet auf einen Schemel. Sie wusste, dass sie ohne ihre übergroßen Hosen und Overalls mehr einem schlanken Jungen ähnelte als einer Frau, war dennoch verunsichert, als Lina sie stirnrunzelnd betrachtete.
Offenbar war daran jedoch nicht ihre Magerkeit schuld, denn Lina zeigte auf ihre rechte Körperhälfte. „Heftiger Bluterguss.“
Sie blickte an sich herab. Rund um die Bandage prangten hässliche blau-violette Verfärbungen, die an den Rändern ins Gelblich-Braune übergingen.
„Lässt du den Verband dran?“
„Erst mal.“ Vorsichtig stieg Quinn in das niedrigere Fass. Aus dem Waschbecken angelte sie sich ein Stück Kernseife und begann, sich langsam und methodisch zu waschen.
Lina wartete kurz, schlüpfte danach aus ihren geborgten Cargohosen und dem Männerunterhemd. „Kann ich einen von den Rasierern haben?“
„Klar.“
„Und eine Zahnbürste?“
„Plastik oder Bambus?“
„Elektrisch.“
Eine Viertelsekunde lang stockte Quinn, dann tauchte sie ihren Kopf in den Bottich. Anschließend tastete sie nach einem verschlissenen Handtuch.
„Habt ihr einen Military-Shop geplündert?“, fragte Lina. „Ich meine Stiefel, Handtücher und Klamotten in Grün, Braun und Oliv. Waffen. Ein Jeep.“
„Wir haben die Kasernen geplündert. Meine Großeltern waren Soldaten, haben ein paar Geschäfte gemacht. Den Rest haben sie ausgeräumt, lange bevor andere darauf kamen.“
Quinn rubbelte sich durch das kurze Haar, bis es nach allen Seiten von ihrem Kopf wegstand, und knüpfte ihren BH auf. Sofort drehte Lina sich weg und begann, ein Lied zu summen. „I always feel like somebody’s watching me.“
Minuten später war Quinn aus dem Bottich gekraxelt und in frische Unterwäsche geschlüpft. BH und Höschen schwammen noch im Fass. Quinn warf weitere Wäsche hinein und rührte im Wasser herum. „Die Seifenlauge heben wir auf.“
„Was passiert damit? Nutzt du es für die Toilette?“
„Für alles Mögliche. Meine Tante Ileana nahm die Lauge sogar zum Filzen von Schuhen, Hüten und Joppen. Sie war eine richtige Künstlerin.“
„Eine Überlebenskünstlerin.“
Lina hatte sich eben abgetrocknet, als die Melodie erneut erklang. Eilig zog sie sich unter dem Handtuch um und warf ihren Kleinkram in das Ölfass.
„Kartoffeln, Mini-Kürbis, Kräuter, Zwiebel und Karotten“, sagte Yianni, sobald er das WC betreten hatte.
Lina strahlte. „Klingt nach einem leckeren Abendessen. Ich fange gleich an zu kochen. Isst du mit?“
Er sah zu Quinn, bevor er antwortete. „Muss noch mal los.“
„Was Neues von Ton?“, fragte Quinn.
„Alles ruhig. Cem hat die Hälfte von Cellos Gebiet bekommen, die andere hat Ton geschluckt. Unter Umständen gibt Cem mir dafür ein paar Straßen seines Stammterritoriums ab. Manu hält die Füße still, solange Ton nichts anfängt. Der will seine Ruhe haben.“
Quinn schnaubte. „Zum Schnüffeln, ja.“
Yianni starrte sie an. „Er hat es nicht von mir. Ich hab ihn auch nicht angefixt.“
„Aber Sascha.“
Lina erstarrte und musterte sie beide.
„Wenn ich es nicht gewesen wäre, hätte ein anderer ihn versorgt. Er kam zu mir.“
Ärger wallte in ihr auf. „Er war in dich verknallt und du hast es ausgenützt!“
„Er bettelte mich an. Immer wieder.“
„Also gabst du nach.“
„Ich hab nie behauptet, ein guter Mensch zu sein.“
Quinn setzte zu einer Erwiderung an, doch Lina mischte sich ein. „Was ist mit der Spreeprinzessin?“
Yianni starrte Quinn noch sekundenlang an, bevor er antwortete. „Kein Lebenszeichen. Sie sind fort, wahrscheinlich bis zum Frühherbst. Sie sind okay.“ Damit verschwand er.
„Er ist kein schlechter Mensch“, sagte Lina nach einer Weile. „Er hilft dir, hat dich gerettet.“
„Nicht ganz uneigennützig.“
„Er hat nichts gefordert. Ihm liegt was an dir, das sieht man doch.“
„Ach ja?“
Lina musterte sie. „Warum singt er immer diesen Song?“
„Es ist eine Parole.“
„Schon klar. Aber wieso ausgerechnet diesen?“
Quinn verzog das Gesicht. „Ella, elle l’a“, sagte sie langsam.
„Kapier ich nicht.“
„Ella ist ein Name.“
Lina schlug sich vor die Stirn. „Quinn ist dein Familienname. Klar.“
„Ella nennt mich niemand, nicht einmal ich selbst.“
„Aber Yianni kennt ihn.“ Linas Lippen verzogen sich zu einem Lächeln. „Du hast ihn ausgeplaudert. Bei einem Tête-à-tête?“
Unwirsch wandte Quinn sich ab. „Du nervst, Lina.“
„Elina. So heiße ich eigentlich. Elina Kureya.“
Quinn hielt inne. „Russisch?“
„Da.“
Nadia starrte durch das streifige Küchenfenster. Fliegen surrten um sie, aber sie verscheuchte sie nicht.
Sie schreckte aus ihren Gedanken, als die Haustür knallte.
Pessa trug Arbeitskluft, stank nach Motoröl und Schweiß. „Was Neues?“, fragte er, noch bevor er einen Kuss auf ihre Stirn hauchte.
Sie schüttelte den Kopf, kämpfte die Tränen nieder. Sie wollte nicht heulen, nicht schon wieder. Flennen brachte rein gar nichts. Lieber wollte sie etwas zerschlagen, jemanden verprügeln. „Gestern waren es zwei Wochen.“
„Ich weiß.“ Pessas braune Augen ruhten auf ihr. Sie wusste, dass er sie erforschte, ihren Gefühlszustand analysierte, ihr Seelenleben durchforstete.
Er schob beide Hände über den Tisch. Warme Hände, die Trost und Kraft spendeten.
„Ich bin zornig.“
„Auf wen?“
„Nje snaju. Die Welt. Sie. Ihn. Ich traue ihm nicht.“
„Ich auch nicht. Er lügt.“
Überrascht sah sie von ihrem Schoß auf.
Pessa hatte das Kinn vorgeschoben. Er kannte sich aus mit Menschen, sah, wenn jemand litt oder Hilfe brauchte. Seit über 25 Jahren reparierte er Autos und Maschinen, aber er hatte es nicht verlernt. Die Leute kamen in seine Werkstatt, wenn sie reden wollten. Er hörte zu, während er mit Schraubenziehern und Hämmern hantierte.
Nadia atmete zittrig aus.
„Roman behauptet, dass Lina beim Schwimmen untergegangen sei. Dass die Bergung sie sehr aufgeregt und sie Alkohol und Drogen zu sich genommen habe.“
„Niemals!“ Nadia hieb auf den Tisch. „Sie verabscheut das Zeug.“
„Es machte mich ebenfalls stutzig. Noch mehr seine Freunde.“
Nadia kramte in ihrem Gedächtnis. Eine sommersprossige Frau und ein untersetzter Mann. Beide hatten sich sichtlich unwohl gefühlt. „Marie. Und Jogger.“
„Jogga. Jonas. Du kennst ihn von den Schulaufführungen. Der Sänger.“
„Stimmt.“
„Ich fand ihre Reaktionen merkwürdig. Sie sagten nur etwas, wenn Roman sie ansprach. Ihre Sätze klangen einstudiert. Sie wichen uns aus, wirkten nervös.“
„Roman schien niedergeschlagen, doch seine Augen blieben so kalt.“
„Ich halte ihn für einen Psychopathen.“
Nadia schlug die Hände vor das Gesicht. „Oh Gott. Wie konnte Lina an so einen geraten?“
„Er ist charmant. Attraktiv. Aber er zeigte kein echtes Mitgefühl, empfand keine Reue. Ganz offensichtlich manipuliert er Marie und Jonas.“
Nadia richtete sich auf. „Hat er sie umgebracht?“
„Nein.“ Pessa schüttelte den Kopf, dass seine Locken flogen.
„Woher willst du das wissen?“
„Ich habe mich umgehört, ein paar Kunden gefragt, Gefallen eingefordert. Unauffällig, um Roman nicht aufzuscheuchen.“
„Welche Gefallen?“
„Für Therapiestunden und kostenlose Reparaturen. Jedenfalls fand ich heraus, wer noch auf dem Schiff war. Sie benutzen Tarnnamen und nicht alle leben in Fünf. Aber zwei konnte ich identifizieren. Zufällig kenne ich den Vater des Mädchens, also arrangierte ich ein Treffen in der Werkstatt. Chantal kam heimlich. Sie hatte Angst, brachte ihren Freund Julien mit.“
Gespannt beugte Nadia sich vor.
„Sie nennt sich Chazza, er H-Dog. Sie widerlegten Romans Geschichte in so ziemlich allen Punkten, sahen Lina vor ihm und seinen Kumpeln weglaufen. Roman kehrte ohne sie zurück. Das Mädchen sagte, er war außer sich. Er hat sie nicht gekriegt.“
Nadia sprang so heftig von ihrem Stuhl hoch, dass dieser gegen die Wand kippte. „Wir müssen sie suchen.“
„Aber heimlich. Roman und sein Vater haben ihre Finger überall drin, auch bei der Bootsverleihung.“
„Und nun?“
„Heirate mich.“
Völlig verdattert sah Nadia ihn an. „Was?“
„Linas letzter Wunsch. Wir machen eine Hochzeitsreise in den Spreewald. Beerdigen Lina symbolisch, nehmen Abschied.“
„Ist sie dort?“
„Nein, in Neustrelitz.“
Mittags wurde es zu heiß in den Lesesälen. Dann stiegen sie über eine Reihe geheimer Gänge in die Tiefgarage, in der sich Quinns Lieblingsplatz befand: ein unterirdisches Magazin.
Lesen konnte man hier nur mit künstlichem Licht. Wegen des Papiers verzichtete Quinn auf Kerzen und Ölfunzeln. Selbst die mit einem Glaszylinder geschützten Öllampen gebrauchte sie nur mit äußerster Vorsicht. Früher, so hatte sie Lina erklärt, habe sie Taschen- oder Petroleumlampen benutzt, aber ihre Batterien und Brennstoffe gingen zur Neige, sodass sie auf Rüböl umgestiegen war.
Manchmal redeten sie, aber meistens lasen sie stundenlang. Bei den Büchern handelte es sich überwiegend um Fachliteratur, Lexika, Bibliografien, Enzyklopädien. Nichts, womit Lina etwas anfangen konnte, also las sie in Tageszeitungen über vergangene Katastrophen. Quinn vertiefte sich in die wissenschaftlichen Werke, stöberte in psychologischen Aufsätzen, archäologischen Fachzeitschriften, dicken Kunstbänden, antiken Handschriften oder Rechtstexten.
„Gibt es keine Krimis?“, hatte Lina an einem diesigen Tag gähnend gefragt. „Liebesschnulzen? Fantasy? Von mir aus sogar Comics?“
Quinn hatte von einem Astronomiewälzer aufgesehen. „So was haben wir aus Buchläden besorgt. Laura, Ton und Manu besaßen Comics. Die hab ich zum Feuermachen benutzt oder als Einwickelpapier.“
Die täglichen Spaziergänge belebten Quinn, auch wenn sie schnell erschöpft war. In den entfernteren Ecken des Gebäudekomplexes achtete Lina penibel darauf, Quinns Schritten zu folgen, denn die Burg war das reinste Minenfeld. Bisweilen sah sie die hauchdünnen Drähte, die verborgene Geschosse oder Gewichte auslösten. Oft genug jedoch stoppte sie abrupt, wenn Quinn eine Hand hob und sich bückte oder vorsichtig über etwas hinüberstieg. Auf manchen Abschnitten gab es versteckte Löcher im Fußboden. Stürzte man durch sie, landete man im Stockwerk darunter auf scharfkantigen Möbelstücken oder präparierten Nagelbrettern. Angreifer starben durch die Fallen vielleicht nicht, aber sie verletzten sich und warnten Quinn, die wie eine Spinne in der Mitte ihres Netzes lauerte.
„Wie prägst du dir ein, wo welche Falle ist? Markierst du sie irgendwie?“
Darauf antwortete Quinn nicht. Sie blieb eine misstrauische Natur, auch wenn sie an anderen Tagen gesprächiger war.
„Oder die Wege. Ich kann sie mir nicht merken.“
„Versuch’s mit Eselsbrücken. Merke dir die Wege als Bildfolge.“
„Das hat Pessa mir auch mal erklärt, als ich für die Schule lernen musste.“
„Es gibt Schulen bei euch?“
„Wenn es nicht zu heiß, stürmisch oder nass ist. Ich sollte Zahlen mit Bildern assoziieren. Hat nicht funktioniert.“
„Nimm Lieder. Wie bei deiner Brücke. Ist nur Übungssache.“
Gestern hatte sie es probiert. Es hatte nicht geklappt.
Auch vorhin war sie falsch abgebogen und in einen schmalen Korridor eingetaucht. Dort hatte eine bunt bemalte Wand ihr Aufsehen erregt, doch Quinn hatte sie unwirsch zurückgezogen und mit sich gezerrt.
„Was war das da hinten? Sah aus wie ein riesiges Graffiti.“
Es waren nicht die ersten Zeichnungen, die Lina hier drin sah. Viele Mauern waren verziert mit Gekritzel, ungelenken Schreibversuchen oder Spielen wie Tic Tac Toe und Hangman. Doch in dem Korridor hatten wahre Kunstwerke geprangt. Echte Gemälde. Zauberhafte Landschaften, Skylines, Kriegsbilder, Porträts. War Quinn die Künstlerin? Überrascht hätte Lina es nicht. Quinn schien in vielen Dingen außergewöhnlich begabt.
„Nichts.“
Schämte Quinn sich für ihr Talent?
Lina hatte nicht nachgebohrt, sondern sich einen Roman über einen Arzt geschnappt. Ein Buch mit buntem Einband und aufgequollenen Seiten. Aber jetzt, Stunden später, realisierte sie, dass sie nicht umgeblättert hatte, dass die Konterfeis und Kriegszeichnungen sie mehr beschäftigten als der Medicus. Vor ihrem inneren Auge sah sie Quinns Familie, welche die Mauern als Leinwände, Kalender und Tagebücher benutzte, Kinder, die an den Wänden schreiben lernten, ihre Eindrücke zeichneten, vielleicht auch sich selbst.
Mit einem Mal erfasste sie eine erdrückende Einsamkeit. Ihre Augen schwenkten zu Quinn. Die saß vertieft in ihre Lektüre, hatte ihre Umwelt ausgeblendet.
„Quinn? Möchtest du mit mir kommen?“
Quinn hob den Blick, der noch verhangen war vor Konzentration. „Wohin?“
„Spandau.“
„Warum?“
„Cem war nur einmal hier seit dem Unfall, Yianni nicht mehr seit dem Bad. Dir muss doch die Decke auf den Kopf fallen. Ich bin erst zwei Wochen hier und merke, wie hibbelig ich werde.“
„Wir können auf die Innenhöfe gehen.“
„Willst du das hier forever? Bedroht von deinen Brüdern und vom Wetter? Mit Essen, das immer knapper wird?“
„Mir fällt schon was ein.“
Lina beugte sich vor. „Allein wirst du eingehen wie deine Kürbisse. Du brauchst Gesellschaft. Menschen, die dir helfen, Leute, mit denen du reden kannst.“
Quinns Gesicht verschloss sich. „Ich bin gern für mich.“
„Es gibt einen Unterschied zwischen mal allein sein und immer allein sein. Letzteres macht krank.“
„Hältst du mich für krank?“
Lina setzte ein Lächeln auf. „Für ein wenig seltsam vielleicht. Belastet es dich nicht? Ganz ehrlich? Wünschst du dir nicht manchmal eine Gemeinschaft?“
„Es ist nicht das schlechteste Leben.“
„Aber auch nicht das beste. Ich kann dich bei uns unterbringen.“
Auf dieser Antwort kaute Quinn herum. „Hast du Heimweh?“, fragte sie dann.
„Logo.“
„Du musst nicht länger hierbleiben.“
„Und du musst mich jetzt nicht wegschieben.“
Quinn studierte Linas Gesicht wie eins von ihren Büchern, offenbar unsicher, wie sie auf die Bemerkung reagieren sollte.
„Denk darüber nach.“
Quinn nickte und starrte in ihr Buch.
„Hast du alle Bücher hier gelesen?“, lenkte Lina das Gespräch in eine andere Richtung.
„Eine halbe Million? Selbst wenn ich jeden Tag ein Buch schaffte, wären das 365 Bücher in einem Jahr. Ich lese seit 22 Jahren ...“
„... und somit hätten wir um die 8000 Bücher. Okay. Kapiert.“ Lina seufzte.
„8030. Aber das ist kein absoluter Wert.“
„Vergiss es.“ Lina klappte ihr Buch zu und rappelte sich auf. „Ich dreh mal eine Runde.“
Im Treppenhaus hätte sie am liebsten geschrien. Manchmal war Quinn schwer zu ertragen.
Sie ließ sich auf einem oberen Treppenabsatz nieder, legte den Kopf gegen die Wand, lauschte. Es war beklemmend still, ihr Atem das lauteste Geräusch, das Gebäude, obwohl so riesig und vollgestopft, enervierend leer. Metall knackste. Alte Rohre, vermutete sie. Etwas schabte hinter den Wänden. Ratten? Mäuse? Ihr war unbegreiflich, wie Quinn es hier aushielt. Selbst zu zweit jagte die Burg ihr Angst ein, schien sie zu bedrohen. Dunkle Ecken überall, Schatten, aus denen sie sich beobachtet fühlte. Zwei Frauen mitten im Herzen einer verrohten Stadt. Wenn Yianni den Weg hinein kannte, kannten ihn dann auch andere? Schlichen Fremde hier herum? Hör auf, befahl sie sich, als sie merkte, wie ihre Brust enger wurde, und schloss die Augen.
Ich will nach Hause.
Unten fiel eine Tür zu. Quinn erschien am Fuß der Treppe, stockte und musterte sie. „Es tut mir leid.“
„Was denn?“ Linas Stimme gehorchte nicht richtig.
Vage beschrieb Quinn einen Halbkreis. „Das hier. Ich. Das, was dir passiert ist.“
„Das ist doch nicht deine Schuld. Du hast mich gerettet. Ich bin nur ein bisschen durch den Wind. Hüttenkoller. Heimweh. Höllische Angst.“
Langsam stieg Quinn die Stufen hinauf. „Ich verstehe.“
„Wirklich? Du wirkst nämlich nicht so. Ton wird dich möglicherweise angreifen! Wir haben kaum genug zu essen! Ich begreife nicht, wie du hier sitzen und lesen kannst!“
„Ich bin vorbereitet.“
„Wie denn?“
„Verrammelte Eingänge, vernagelte Fenster, Irrgänge, Sackgassen, Fallen, falsche Fährten, tote Winkel. Alle Zugänge zum Kern sind Engpässe, auch die über die Dächer und durch die Tiefgarage. Manche haben wir einstürzen lassen, Wände niedergerissen, andere errichtet. Auf den Dächern gibt es Geschütze, Steine, Schrott, Essigwannen, Waffen.“
„Essig?“
„Statt heißem Pech.“
„Du schüttest Essig auf Angreifer? Wir trinken das Zeug!“
„Essigwasser. Eisessig ist konzentrierte Säure.“
„Du bist eine gegen viele!“
„Wir sind zwei.“
Lina stieß ein schnaubendes Lachen aus. „Ich wüsste gar nicht, was ich machen soll.“
„Ich zeige dir alles.“ Quinn beugte sich vor, die Hand auf ihre Seite gepresst. „Ton und Manu haben mich schon mehrfach bedroht. Andere Banden. Es ist nichts passiert.“
„Bis jetzt.“
„Falls sie wirklich kommen, handeln wir was aus.“
„Was ist mit Yianni? Du sagtest, er ist auch auf die Burg scharf.“
„Er ist in Camps aufgewachsen, sucht Sicherheit. Schutz. Eine Burg eben. Deshalb hat er sich an Sascha rangemacht. Und jetzt macht er sich an mich ran.“
„Er hätte dich längst einfach abmurksen können. Er ist an dir interessiert. Ihr treibt es miteinander!“
„Und?“
„Wollte er mehr?“
Abrupt verstummte Quinn. Ihr Blick schien nach innen zu wandern.
„Hab ich mir gedacht“, sagte Lina leise. „Wovor hast du denn Schiss?“
Quinn schürzte die Lippen und stand schwerfällig auf. „Komm mit.“
Die Wand erinnerte an eine verrückte Collage. Lebensechte Kreideporträts wechselten sich ab mit wütenden Fratzen in Eddingschwarz, flüchtige Kugelschreibernotizen mit akribischen Filzstiftniederschriften, Bleistiftskizzen mit Tuschelandschaften, Kohlegraffiti mit Schönschrifttextblöcken. Dazwischen unleserliches Buntstiftgekritzel, Zahlen, Symbole, sowie ein riesiger Stammbaum. Über allem verlief in schwungvollem Bogen die Überschrift: Quinnsland.
„Was ist das?“, flüsterte Lina. Jetzt, aus der Nähe, jagten die Zeichnungen und Schriftzüge ihr Schauer über den Rücken.
„Eine Chronik.“
Lina strich über die akkuraten Druckbuchstaben eines Textes. „Ab heute bin ich 8. Du bist mein Geschenk von Mama. Ein 100-Wörter-Heft“, las sie vor und schaute sich nach Quinn um, die an der gegenüberliegenden Wand lehnte. „Was soll das sein?“
„Mein Tagebuch. Exakt 100 Wörter pro Eintrag.“
„Seltsames Geschenk.“
„Es beschäftigte mich. Ich formulierte alles im Kopf vor und solange um, bis ich 100 Worte hatte. Manchmal tagelang. Das half.“
„Wobei?“
„Als sie 2028 hierher kamen, waren sie 15 Leute. Zehn Erwachsene, fünf Kinder, später noch Cem und ich.“
Lina studierte die Namen und Beziehungen. Und die vielen Kreuze. „Was ist passiert?“
„Wir zerfleischten uns.“
Mit angehaltenem Atem starrte Lina Quinn an. Deren Augen schienen zu glühen. Ihre rechte Hand lag auf dem Verband, mit der linken stützte sie sich an der Wand ab.
„Lebt noch jemand außer deinen Brüdern und Cem?“
Quinn presste die Lippen zusammen, trat neben Lina und deutete auf einen Namen.
„Alexander?“
„Sascha. Doch als wir ihn das letzte Mal sahen, war er mehr tot als lebendig. Ausgefallene Haare und Zähne, blutige Akne, vollgepisste Klamotten. Mein Onkel Kevin ging raus, um ihn zu suchen. Er kehrte nie zurück.“
Mitleidig blickte Lina auf Quinn. „War er ein guter Mann?“
„Ein bisschen wie mein Vater.“
„Was ist mit deinem Vater passiert?“
„Erstochen. Auf einer Besorgungstour.“
„Wie alt warst du?“
„Fünf.“
„Oh, Mann.“ Lina legte ihr die Hand auf den Arm, aber Quinn entzog sich ihr, räusperte sich und wies auf den obersten Namen des Baums. „Meine Urgroßmutter war die Erste, die starb.“ Sie tippte auf die Beschriftung darunter. „Jon, das Familienoberhaupt. Umgebracht von meinen Brüdern.“
Linas Magen verwandelte sich in einen Klumpen.
„Silvia, meine Großmutter. Zu Tode geprügelt von Logan. Tante Ileana. Verhungert.“
„Oh mein Gott.“
„Sie hörte auf zu essen. Ein langer Selbstmord.“ Quinns Stimme wurde noch eine Spur heiserer. „Kevin weg, Sascha weg, Laura, ihre Tochter, tot. Ileana war Russin, verliebt in Luxus und Partys. Eine gute Seele. Sie hatte das nicht verdient.“
„Niemand verdient so etwas.“
Quinn zeigte auf die rechte Seite des Baums. „Julia, Logans Tochter. Hat sich erhängt. Cem war erst zwölf. Seine Schwester Esra hat ihn später großgezogen. Sie war die Letzte, die gestorben ist.“ Die letzten Worte brachte sie nur mit Anstrengung heraus.
„Wann war das?“
„April 54. Kurz danach haute Cem ab. Hielt es nicht mehr aus zwischen all den Geistern.“
„Ganz allein“, entzifferte Lina eine krakelige Inschrift unter Esras Namen. „Hast du das geschrieben?“
„War eine schlimme Nacht. Hab mich besoffen. Als ich aufwachte, stand mein Tagebuch an der Wand.“ Quinns Stimme klang belegt.
„Warum hat Esras Mutter sich erhängt?“
„Ihr Mann hatte sich bei einem Wintersturm das Bein aufgeschlitzt. Wir konnten ihn nicht retten. Sie ging einfach kaputt.“
„Sie hatte zwei Kinder!“
„Und Depressionen. Behandelbar, solange die Welt funktioniert.“ Betäubt von Erinnerungen verstummte Quinn.
But it’s not an ordinary world and you’re not an ordinary girl.
„Sind die Zeichnungen und Graffiti auch von dir?“
„Von Ileana und Laura. Laura war dumm wie Bohnenstroh, aber zeichnen konnte sie. Esra hat die eingeritzten gemacht, ich die Fratzen.“
„Deine Brüder?“
Quinn brachte ein verzerrtes Lächeln zustande.
„Du hasst sie wirklich.“
„Logan war der Schlimmste von allen. Ein tyrannisches Arschloch. Forderte Jon immerzu heraus.“
Lina schüttelte sich. „Das reinste Paradies.“
„Jon und Logan waren Verschwörungstheoretiker. Prepper. Die Ersten, die in großem Stil plünderten. Sie installierten Maschinengewehre und Geschütze, legten Fallen und all das. Echte Kriegsfreaks.“
„Zum Glück für euch.“
„Nur, dass sie dafür über Leichen gingen. Buchstäblich.“
„Und Ton und Manu haben von ihnen gelernt?“
„Schlimmer. Ton hat Laura über Monate vergewaltigt. Sie gequält und zum Schluss umgebracht.“ Quinns Stimme versagte. Die Erinnerungen verzerrten ihre Züge.
Lina wollte sie umarmen, sie irgendwie trösten, doch Quinn schlang die Arme um sich selbst und wandte sich ab. Also studierte Lina weiterhin die Wand. „Da ist noch ein Name“, sagte sie leise. „Durchgestrichen und unkenntlich gemacht.
Quinn schüttelte den Kopf.
„Wo ist sie?“
„Mir scheißegal.“ Quinns Lippen zitterten.
„Wieso? Was hat sie getan?“
„Sie sollte Ton erschießen. Ihn und Manu endlich bestrafen.“ Quinn zog die Nase hoch.
„Sie konnte es nicht“, sagte Lina leise.
„Nein. Nicht ihre Söhne.“ Matt klopfte Quinn an die Wand. „Das hier ist meine Vergangenheit. Ich kann sie nicht einfach hierlassen.“
„Und Yianni gehört dazu?“
„Irgendwie schon.“
Die alte Bertha sah aus, als hätte sie das Zeitliche längst gesegnet. Sie bezweifelte, dass man mit dem Zehnmeterungetüm auch nur einen einzigen gezielten Schuss abgeben konnte. Ihr Blick schwenkte zu den sechs 40 Jahre alten, in Plane eingewickelten Granaten. Abschreckung. Zu mehr waren Haubitze und Projektile vermutlich nicht zu gebrauchen. Wusste Ton das? Als Kind hatte er die M777 bedient, Ziele in 50 Metern Entfernung anvisiert. Eigentlich schaffte Bertha mehr, aber nur, wenn man die passenden Geschosse verwendete. Die waren jedoch mit dem Ausfall von GPS sinnlos geworden, also hatten Jon und Logan Ersatzgranaten beschafft und an ihnen herumgefeilt, bis sie in das Rohr passten. Sie bewunderte den Erfindungsreichtum ihres Großvaters. Wie hatten sie das Stahlmonster auf das Dach bekommen? Die Spreizlafette montiert und von allem überflüssigen Gewicht befreit? Mit einem Kran? Mit Flaschenzügen und Muskelkraft?
„Here come the man with the look in his eye. Fed on nothing but full of pride.“
Linas Gesang lenkte sie ab. Die Blondine lag am Rand des Daches, abgeschirmt von einem Metallgeländer, an das Kevin und ihr Vater Stahlplatten mit Sichtspalten geschweißt hatten. Anstatt die Straßen zu beobachten, musterte Lina Yianni, der das Nebendach inspizierte.
„Kennst du Michelangelos David?“
Sie ahnte, worauf die Frage hinaus lief. „Du sollst Wache halten.“
„Dein Prachtexemplar sieht aus wie er.“
Sie musterte den Griechen. Zerrissene Jeans, darunter der Saum einer Boxershorts, schlabberiges T-Shirt, derbe Stiefel. Schwarze Haare, Dreitagebart, Augen wie polierter Chrom. Die Verführung in Menschengestalt.
„Hat er ein Sixpack?“ Lina blinzelte sie über den Rand der Brille hinweg an.
„Guck auf die Straße.“
„Nur die Locken fehlen. Und sein Pimmel ist hoffentlich größer.“
Quinn wandte sich wortlos ab, pulte in Berthas Dellen.
Nach zehn Minuten wechselte Lina Thema und Stimmlage. „Es kommt keiner. Denn niemand ist bei der Affenhitze draußen.“
Quinn klopfte auf das Haubitzenrohr. Rost rieselte auf ihre Stiefel. „Cems Späher melden, dass Ton und Manu sich mit Jala und Naz getroffen haben. Etwas braut sich zusammen.“
„Wird Cem uns helfen?“
„Wenn er schlau ist, nicht.“ Yianni war neben ihnen aufgetaucht, die Hände schwarz vom Teer, das T-Shirt streifig. „Aussitzen und beobachten, was sich entwickelt. So würde ich es machen. Er ist noch nicht so weit, sich mit Tons und Manus Gangs anzulegen, doch er arbeitet daran.“
„Was meinst du?“
„Er kann mit Leuten umgehen, behandelt sie anständig. Sie sind loyaler und disziplinierter als Manus Haufen.“
„Wirbt er Leute ab?“, hakte Quinn nach.
„Kann ich mir vorstellen. Wir haben ausreichend Zeug zum Werfen, Spieße und Pfeile, Cocktails. Wie sieht’s aus mit Fallen und Gruben?“
„Präpariert. War gestern draußen.“
„Wann?“, wunderte sich Lina.
„Zwei Fluchtwege“, fuhr Quinn fort. „Der hinter dem Rohr und der alte unter dem Copyshop in D.“
Yianni wischte sich Schweiß von der Stirn. „Okay. Ich geh den Keller checken.“
„Nimm Gelb.“
Er verschwand durch eine Luke in den Überresten der seltsamen spitzen Dachaufbauten.
Lina wandte sich an sie. „Gelb?“
„Eine Kellerroute.“
„Markierungen. Ich wusste es!“
„Die meisten sind falsche Fährten.“
„Ihr seid echt paranoid.“
Der Tag zerlief wie Sirup. Nichts hatte sich getan. Nach Stunden auf dem kochend heißen Dach hatten sie sich in das Kellergeschoss zurückgezogen, wo sie Lina die unauffälligen Markierungen zeigte. Yianni hielt oben Wache, ein Walkie am Ohr.
„Also vertraust du ihm jetzt?“, fragte Lina von ihrer Matratze aus.
Das war die Eine-Million-Dollar-Frage.
Lina stützte sich auf einen Ellenbogen. „Er riskiert sein Leben für dich. Gib ihm einen Teil der Burg.“
Quinns Kopf ruckte hoch. „Was ist, wenn er seine Leute mitbringt?“
„Könnte ein Gewinn sein.“
„Lauter Kerle und ich?“
„Vielleicht hat er Frauen dabei. Weißt du irgendwas über sein Leben draußen?“
„Nicht viel“, gab sie zu.
Lina ließ sich wieder zurückfallen. „Er ist so ein Typ, glaube ich. Harte Schale, weicher Kern.“
„Kerne sind nicht weich. Yianni lügt, betrügt, führt an der Nase herum, verspricht.“
„Wenn du in einer Welt wie dieser etwas erreichen willst, schaffst du das nicht allein mit Menschlichkeit. So viel hab ich gelernt.“
Quinn lauschte auf das Trappeln der Nager, während sie nachdachte. Trotz Fallen und Ködern waren sie dem Heer der langschwänzigen Biester nie gewachsen gewesen. Niemals würde sie die Nacht vergessen, in der sie hier unten eingeschlafen war. Als sie aufgewacht war, hatte eine Ratte auf ihrer Brust gesessen. Sie neigte nicht zu Hysterie, aber in dieser Nacht war sie aufgesprungen, hatte eine Lampe geworfen und sich in einem der Verwaltungsbüros eingeschlossen. Dennoch mochte sie die kühlen Keller mit ihrem Geruch nach Heizöl. Natürlich gab es Abschnitte, die sie mied. Die Totenräume. Den Raum, in dem Julia mit geschwollener Zunge und schwarzem Gesicht gebaumelt hatte. Den Verschlag, in den Ton sie gezogen hatte, um ihr sein Ding zu zeigen und sich an ihr zu reiben, bis sie ihn angespuckt hatte.
Sie tastete über eine Stelle auf ihrem Hinterkopf, sah die Haarsträhne in Tons Händen, sein gehässig feixendes Gesicht, als sie in Tränen ausgebrochen war. Wie immer, wenn sie an seine Schikanen dachte, wurde ihr übel und schlagartig begriff sie, dass sie mit ihm nichts würde aushandeln können.
Ihr Blick wanderte zu Lina, die an die Decke starrte. Gab es Rattenkolonien in Spandau? Brüder, die einen in Ecken zerrten? Mütter, die wegschauten?
Sie drehte sich auf den Bauch, zog das Laken bis zum Hals hoch, hob die Beine, schlug es mit den Füßen unter sich. Dann begann sie, das Laken an den Seiten zurechtzuzupfen.
Ein unterdrücktes Glucksen ließ sie innehalten.
„Du bist so Asperger.“ Lina klang amüsiert.
„Ich hab kein Asperger.“
„Die Tatsache, dass du weißt, wovon ich spreche, beweist das Gegenteil.“
„Du weißt doch auch, was das ist.“
„Mein Stiefvater ist nebenberuflich Psychologe.“
„Ich hab kein ...“
„Gut, du bist nur speziell“, lenkte Lina ein. „Lass uns über was anderes reden. Ein bisschen Smalltalk, um mich von der Angst abzulenken.“ Sie klatschte in die Hände. „Geburtstag. Wann ist deiner?“
Quinn drehte sich zur Wand.
„Komm schon.“
„Fünfter Dezember.“
Lina richtete sich auf. „Du verarscht mich.“
Quinn wälzte sich auf die Seite. „Deiner auch?“
„Ja.“
„Welches Jahr?“
„2028. Bald bin ich erwachsen.“
Quinn starrte sie an. „Unmöglich.“
Lina lachte. „Sind wir etwa exakt am selben Tag geboren?“
„Die Wahrscheinlichkeit, dass das passiert, muss utopisch gering sein.“
„Nein. Geburtstagsparadoxon.“
„Was ist das?“
„Ein mathematisches Problem.“ Lina furchte die Stirn, während sie sich zu erinnern versuchte. „Im Grunde lief es darauf hinaus, dass die Wahrscheinlichkeit eben nicht so gering ist, dass Menschen am selben Tag Geburtstag haben. Wundert mich, dass du es nicht kennst.“
Quinn schürzte die Lippen. „Gilt es auch für dasselbe Jahr?“
„Keine Ahnung.“
„Wer hat es aufgestellt?“
„Vergessen. Warum ist das wichtig? Zufällig sind wir am selben Tag geboren. Coole Anekdote auf jeder Party, aber abgesehen davon: So what?“
Quinn schüttelte sich aus dem Laken. „Stichwortkatalog.“
„Es ist keine kosmische Verschwörung.“
„Oder Schlagwort. Bestimmt ist es vermerkt.“
„Wovon redest du?“
„Kataloge.“ Sie stand auf.
„Du willst das Buch finden?“
„Wahrscheinlich eher ein Aufsatz.“
„Hier. Unter einer Trilliarde Büchern.“
„Fünfhundertzehntausendachthundertdreiundvierzig.“
Linas Mund blieb offen stehen. „Du hast sie gezählt.“
„Aber das war vor neun Jahren. Ich kann sie nicht alle schützen, verstehst du?“
„Absolut.“
Quinn horchte in Linas Stimme nach Sarkasmus, fand keinen. „Ich schätze, etwa die Hälfte des ursprünglichen Bestandes existiert noch. Und die Kataloge. Sie sind unvollständig und schwer lesbar. Schreibmaschinentinte.“
Lina lächelte. „Klaro.“
Aufatmend hielt Quinn inne. „Du hältst mich für bescheuert.“
„Nur ein klitzekleines bisschen.“
Quinn rieb sich die Stirn. „Das Alleinsein ist vielleicht doch nicht so gut.“
„Ach was.“ Diesmal war der Sarkasmus eindeutig. „Du hast eine Burg. Platz für mehr Menschen. Ich kann zum Beispiel hierbleiben, während du das Paradoxon von Mises findest und herauskriegst, wie astronomisch niedrig die Wahrscheinlichkeit ist, dass unsere Mütter am selben Tag entbunden haben.“
„Mises“, wiederholte Quinn.
„Was?“
„Du sagtest ‚das Paradoxon von Mises‘.“
„Ist wohl doch was hängengeblieben.“ Lina gähnte. „Viel Spaß.“
Sie schrak hoch, als die Tür aufsprang und Yianni hereinstürmte. „Sie rücken an!“
Lina rieb sich die Augen. „Wie spät ist es?“
„Wo ist Quinn?“
„Sucht ein Buch.“
Er fluchte etwas auf Griechisch und die Tür knallte zu.
Sie tastete nach den Notfallrucksäcken. Quinn hatte ihr einen Armeerucksack aufdrängen wollen, aber sie mochte sich nicht von ihren beiden trennen.
Vor der Tür orientierte sie sich, studierte die Zeichen an Wänden und Geländern, folgte den grünen Punkten, stieg eine mit Gerümpel verbaute Treppe hinauf, fand die verborgenen Durchgänge wieder und krabbelte hindurch; mit zwei Rucksäcken ein mühseliges Unterfangen. Nach wenigen Minuten stand sie im Foyer, suchte die Wände mit den Mosaiken. Von hier aus war es ein Kinderspiel, in den Lesesaal zu gelangen, in dem sie auf Quinn traf.
Lina händigte ihr den Rucksack aus. „Hat Yianni dich gefunden?“
„Ist schon oben.“ Wie zur Bestätigung hörten sie das Knattern eines Maschinengewehrs.
„Shit!“ Mit großen Schritten rannte Quinn zum Aufgang.
Auf dem Hauptdach fanden sie Yianni, der hinter dem MG kauerte und Stoßsalven abfeuerte.
„Parkplatz“, brüllte er ihnen zu. „Zehn Mann. Zwei down.“
Lina keuchte auf. „Tot?“
„Oder verletzt“, sagte Quinn. „Komm mit.“
Geduckt hasteten sie zum Dach des südlichen Anbaus, quetschten sich zwischen die pyramidenförmigen Aufbauten.
„Können sie uns beschießen?“, fragte Lina und zuckte zusammen, als ein spitzer Schrei von unten erklang.
„Sprengfalle“, meinte Quinn. „Südosten.“
„Umzingeln sie uns?“
„Anzunehmen. Und ja, sie können von den Häusern aus auf uns schießen. Nach Osten hin sind wir durch das Magazin geschützt.“
Erneute Schreie. Quinn robbte zur befestigten Dachkante. Lina folgte ihr und lugte durch die Ritzen in den Platten, sah Männer über verdorrtes Gras huschen. Sie trugen Tücher um den Kopf und Stangen in den Händen. Auf der Erde lagen die Überreste zweier Angreifer; blutiger Matsch, aus dem Gliedmaßen ragten.
„Manus Indianer.“ Quinn, in tarnfarbener Kampfmontur inklusive Feldmütze, strahlte anormale Ruhe aus, während Linas Magen Purzelbäume schlug, Angstspeichel ihre Kehle verklebte und sie sich in ihren Freizeitklamotten völlig deplatziert vorkam.
Von den acht Kämpfern war keiner mit mehr bekleidet als Hosen, Kopftüchern und Stiefeln. Ihre Oberkörper und Gesichter waren rot und schwarz beschmiert.
„Guck nicht so verängstigt“, sagte Quinn. „Wir sind im Vorteil. Das sind halb verhungerte und ausgedörrte Irre. Glueys in Kriegsbemalung.“
In der Tat waren die Brustkörbe der Angreifer eingefallen und sie bewegten sich abgehackt und orientierungslos. Dass zwei ihrer Mitstreiter von Quinns Sprengfallen zerfetzt worden waren, schien sie nicht zu interessieren.
„Hier.“ Quinn drückte ihr einen Ziegelstein in die Hand. „Wirf erst, wenn sie nahe genug an der Mauer sind.“
Bevor sie protestieren konnte, war Quinn verschwunden.
Sie behielt die halb nackten Männer im Auge, während sie Quinn und Yianni beobachtete. Yianni kniete auf einem Bein, feuerte kurze Stöße auf anrückende Feinde ab, die sie von hier aus nicht erkennen konnte. Sie hörte Schreie, wann immer er einen Gegner traf.
Quinn huschte an den Dachkanten entlang, lugte durch Gucklöcher und Sehschlitze. Die niedrigeren Dächer neben der Magazinwand waren mit Stahlträgern, Wellblech und Autoreifen gesichert, sodass sie nur drei Seiten verteidigen mussten. Unter ihnen rannten Manus Krieger kopflos umher, lösten eine Falle nach der anderen aus. Dennoch blieb Quinn wachsam, spähte durch ihren Feldstecher, behielt die Straßen im Blick.
Lina wusste, dass es neben dem Maschinengewehr noch zwei Maschinenpistolen gab. Wundersamerweise hatte sie den sperrigen Namen behalten: MP7A1, Heckler und Koch. Wuchtige Waffen mit Schulterstützen. Stangenmagazin mit 20 Patronen plus Ergänzungsmagazine. Das MG3 fasste 1300 Schuss und konnte Flugzeuge vom Himmel holen. Dazu die alte Bertha. Die Angreifer hatten miese Chancen. Dennoch bekam Lina butterweiche Beine. Es gab zu viele Schleichpfade: Häuserschluchten, Keller, Tiefgaragen. Quinns Brüder kannten Geheimgänge, Tons Armee besaß Waffen. In ein paar Stunden würde die Sonne untergehen, dann wäre die Sicht um einiges schlechter. Vielleicht besaßen Jalas Knarren Nachtsichtvisiere oder so was. Letztlich kämpften sie zu dritt gegen eine unbekannte Anzahl von Straßensoldaten.
Gebrüll von unten. Lina lugte über die Absperrung. Manus verbliebene Krieger hatten sich zusammengerottet, rannten, Kriegsgeschrei ausstoßend und ihre Stangen schwingend, auf die Mauer zu. Hinter ihnen waren Verbündete aufgetaucht. Sie wirkten gelassener, sondierten die Lage, sahen kräftiger aus als die Vorhut.
„Quinn!“
Von den bemalten, mit Klebstoff zugedröhnten Männern erreichten nur zwei die Mauer. Eine detonierende Sprengfalle riss Krater in die gelbe Wiese und beide Beine eines Mannes. Schrille, abgehackte Schreie stiegen in die Abendluft, versiegten schneller als der Blutstrom aus den Beinstümpfen. Splitter derselben Rohrbombe zerstäubten die Nasenspitze eines zweiten Mannes, gruben sich in Wangen und Lippen. Auch er schrie, fiel auf die Knie und bedeckte sein blutgesprenkeltes Antlitz mit seinen Händen. Ein dritter Gluey stolperte über ihn, schlug lang hin und verlor dabei seinen Kopfwickel. Verwünschungen fauchend rappelte er sich auf, zerrte das Tuch herunter und schwenkte es wie eine Fahne. Nummer vier trat in eins von Quinns Falllöchern, verrenkte sich das Fußgelenk und blieb stöhnend liegen. Nummer fünf brüllte triumphierend, als er an der Mauer anlangte, hieb mit einem Gewinderohr dagegen. Der Mann, der gestolpert war, tat es ihm begeistert nach.
„Idiots“, murmelte Quinn und nickte Lina zu.
Lina ließ ihren Ziegelstein fallen. Aus mehreren Metern Höhe entwickelte er beachtliche Wucht. Der kahle Kopf des Mannes knackte vernehmlich, als der Ziegel einen Streifen Haut abschälte. Der Mann taumelte zurück und brach zusammen.
Quinn zielte und warf. Die Kraft reichte, um den Schädel trotz des Kopftuchs beinahe zu spalten. Erstaunlicherweise dauerte es Mikrosekunden, bis das erste Blut herausströmte. Da lag der Halbnackte bereits tot am Fuß der Mauer.
Die Frauen duckten sich hinter die Absperrung. Von unten drang das Gewimmer der Verwundeten zu ihnen hinauf.
„Schwesterchen“, vernahmen sie plötzlich eine tiefe, raue Stimme. „Begrüßt man so seine Familie?“
„Manu?“, wisperte Lina.
„Höchstpersönlich.“
Gemeinsam schoben sie sich vor einen Sehschlitz. „Welcher ist es?“
„Der Hässliche.“
Sie erkannte ihn auf Anhieb. Manu war riesig, schwer und muskelbepackt wie ein nordischer Krieger, nur leider ratzekahl. Zudem watschelte er wie eine monströse Ente, als er näher kam. Sein Unterkörper passte nicht zu den Dimensionen seines Brustkorbs und der Arme.
„Sicher, dass ihr Geschwister seid?“
Quinn lächelte nicht. Zum ersten Mal seit Beginn des Angriffs wirkte sie angespannt.
„Er sieht doppelt so alt aus wie du.“
„Sind deine Eier von den Steroiden schon verschrumpelt?“, rief Quinn. „Läufst du deswegen so komisch?“
„Sie sind riesig wie sonst was, deshalb“, brüllte Manu zurück. „Kann sie dir nachher gern mal zeigen. Und deiner Schnecke. Eins reicht für euch zwei.“
Pflichtbewusstes Grölen seiner Mannschaft, während Quinn und Lina die Augen verdrehten.
„Und jetzt, Ellalein? Wie geht’s weiter?“
„Du sammelst die Reste deiner lächerlichen Armee ein und verschwindest.“
„Das glaube ich nicht.“
„Finden deine Männer es so geil, als Kanonenfutter verheizt zu werden?“
„Wie viele Booby Traps kannst du schon haben?“
„Probier’s aus.“
„Quinn!“, zischte Lina. „Die schleichen sich an.“
„Seh ich.“ Mit einer einzigen Bewegung zog Quinn eine Felge aus einem Haufen Gerümpel, schleuderte sie nach unten, rollte zur Seite und zog an einem versteckten Draht. Ein Mechanismus knackte und Lina hörte etwas platschen.
Kurz darauf war die Luft erfüllt von Männergebrüll.
Lina wagte einen Blick. Der Radkranz hatte sein Ziel verfehlt, aber die präparierte Dachrinne hatte sich geöffnet und einen Schwall Essigsäure entlassen. Die Männer, die der Felge ausgewichen waren, hatte es voll erwischt. Prustend und sich die Augen reibend torkelten sie herum.
Leider war Manu nicht unter ihnen. Er stand abseits, bewacht von zwei großen Männern in Lendenschurzen. Als sie wahrnahmen, dass die Frauen zu ihnen hinunter gafften, lüfteten sie sie grölend.
Aus der Nähe hätte Lina das Gebaren als furchteinflößend und widerlich empfunden, aus luftiger Höhe wirkte es albern. Quinn sah das offenbar anders, denn sie legte den Revolver an, zielte und schoss.
Lina schrie zeitgleich mit dem Hünen auf, der sein Gemächt umklammerte und wie ein Wahnsinniger kreischte.
„Du hast ihm den Schwanz weggeschossen!“ Lina starrte Quinn fassungslos an.
Deren Gesicht war aschfahl und verzerrt. „Sie kommen von überall. Yianni hört nicht auf zu schießen. Horch!“
Quinn hatte recht. Das MG bellte. Wenn sie darüber nachsann, hatte sie auch die Maschinenpistolen gehört, was bedeutete, dass Yianni seine Position wechselte. „Scheiße.“
„Dafür wirst du büßen!“ Manus Stimme glich einem Gewittergrollen. „Ich werde dir nicht nur dein Gesicht verätzen!“
„Wir müssen das beenden“, sagte Quinn. „Du schmeißt Sachen runter, egal was. Ich versuche, die hinten zu treffen.“
Mit schmerzverzerrtem Gesicht robbte sie zu einer Plane, unter der Pfeile, Bogen, Molotowcocktails und Feuerwerkskörper lagen. Sie hielt sich die Seite, während sie einen Holzbogen herausfischte. Dann legte sie einen Pfeil ein und spannte die Sehne.
„Kannst du damit umgehen?“, fragte Lina.
„Nicht gut genug, um Logans Ansprüchen zu genügen. Er hielt Recurves für Weiberkram. Lenk sie ab, ich hab nicht viel Zeit zum Zielen.“
Die Essigsäure hatte gute Dienste geleistet. Sechs Männer irrten immer noch orientierungslos herum. Lina schleuderte eine Felge wie einen Diskus. Gleichzeitig erhob sich Quinn.
Aufschreie verkündeten Treffer. Lina linste durch ein anderes Guckloch. Der zweite Lendenschurzträger lag neben Manu am Boden. Aus seiner Brust ragte der dreifiedrige Fiberglaspfeil. Manu und ein weiterer Mann knieten neben ihm und redeten auf ihn ein. Er schien also noch zu leben. Linas Felge hatte einen der schmächtigen Glueys umgehauen. Bei ihm war nicht zu erkennen, ob er bewusstlos oder tot war. Der Gedanke, dass sie den Mann unter Umständen ausradiert hatte, schickte eine Schockwelle durch Linas Körper und löste ein Zittern aus, das Quinn mit hochgezogenen Augenbrauen quittierte.
„Scheiße, Quinn, was mache ich hier?“
„Hör auf, darüber nachzudenken.“
„Das waren vielleicht mal nette, normale Jungs.“
„Das ist Pack.“ Auf Quinns Stirn stand Schweiß, ihre Augen glänzten. Setzte die Schusswunde ihr wieder zu?
Lina kramte ein Blister Ibuprofen 600 aus ihrer Arschtasche. Quinn würgte die Tablette ohne Wasser hinunter und griff zum nächsten Pfeil. Unterdessen hatte Manu sich zu voller Länge aufgerichtet und sah zu ihnen herauf.
Aus dem Schrotthaufen zog Lina ein rostiges Ofenrohr. Wie eine Gewichtheberin mit einer Hantelstange ging sie in die Knie und suchte Quinns Blick. Als diese nickte, wuchtete Lina das Rohr über die Brüstung, hörte Quinns Pfeil von der Sehne schnappen, verlor die Balance und fiel nach hinten.
Erneut Schreie, Gebrüll, Flüche.
Es folgten Möbelstücke, Armaturen aus Edelstahl, zwei Lampen, Regenrinnenteile, ein Fahrradrahmen und Steine. Das MG und die Maschinenpistolen knatterten, Quinn feuerte Pfeile ab. Einer zersplitterte in ihrer Hand und hinterließ einen langen Schnitt, andere trudelten wirkungslos über die Dachkante.
Manus Krieger wichen aus oder schossen zurück. Die Frauen achteten darauf, stetig ihren Standort zu wechseln. Zweimal prallte eine Pistolenkugel von der Barrikade ab, zweimal sirrten Armbrustbolzen über ihren Kopf. Ein Stein traf Lina am Arm. Als sie aufschrie, lachten die Kerle triumphierend.
Als die Sonne weit im Westen hing, sondierte Lina erneut die Lage und schluchzte vor Erleichterung auf. Von Manus Stadtindianern standen noch zwei. Der Rest lag tot oder verwundet auf den Grasstreifen oder robbte in Richtung Straße. Eine weitere Sprengfalle hatte gezündet. Ein Kämpfer war in eine Schlinge getreten und hatte einen als Ast getarnten Bolzen ausgelöst, der ihm glatt durch die Kehle gefahren war; ein anderer war über ein Seil gestolpert und in eine spitz zugefeilte Zaunlatte gestürzt. Viele Männer ächzten und wimmerten, hielten sich blutende Köpfe und gebrochene Gliedmaßen. Sie taumelten davon, obwohl Manu sie anbrüllte, umzukehren. Einzelnen lief er hinterher, trat nach ihnen, versetzte zornige Hiebe. Einem jagte er eine Kugel in den Schädel. Daraufhin stoben die Männer auseinander.
Schließlich ragten nur noch Manu und ein Soldat gegen den feuerroten Himmel auf. Manu schnaubte wie ein aufgebrachter Stier, spuckte Beleidigungen aus, übergoss sie mit Obszönitäten, derben Kraftausdrücken und Drohungen.
Quinn beachtete ihn nicht. Sie saß mit dem Rücken gegen die Absperrung, ihren Recurvebogen im Schoß. Lina fand, dass sie furchtbar erschöpft aussah.
Sie selbst fühlte sich seltsam euphorisch. Immerhin hatten sie in der letzten Stunde eine Legion Krieger niedergemacht. „Halt deine verdammte Fresse, du dummes Stück Scheiße!“, schrie sie den Muskelprotz an, der daraufhin tatsächlich verstummte.
Gleich darauf setzte eine erneute Tirade ein.
„Shut up“, sagte Quinn, brachte aber nicht die Kraft auf, die Worte zu rufen.
Yianni, der irgendwann auf ihr Dach gesprungen sein musste, beendete das Ganze. Das MP7A1 knatterte, Quinn zuckte zusammen, dann war Ruhe.
Lina schielte über die Brüstung. Manu lag zerfetzt auf dem Boden. Sein letzter Verbündeter stob davon, als sei der Leibhaftige hinter ihm her.
Yianni trat zu ihnen. „Geht’s?“
Quinn antwortete nicht.
„Ella?“
Quinn nickte, als hinge ihr Kopf an Schnüren.
„Dann los. Ich brauche eure Hilfe im Osten und vorn. Ton hat zwei Verbände geschickt. Sie haben sich zurückgezogen, aber ich denke, sie attackieren wieder, sobald es dunkler ist.“
Schwerfällig raffte Quinn sich auf, suchte Pfeile und Bogen zusammen. „Nimm du die Flaschen und das Feuerwerk“, sagte sie zu Lina. „So viel du tragen kannst.“
Auf dem Hauptdach verschanzten sie sich zwischen den Aufbauten, aßen eine Kleinigkeit, tranken lauwarmes Wasser. Quinn schluckte eine weitere Tablette, während Yianni ihren Verband abrollte. Sie stöhnte, als er auf das Einschussloch drückte.
„Ist wahrscheinlich nur die Anstrengung. Hältst du durch?“
„Hm.“
Lina fiel auf, dass Quinn seinen Blicken auswich. Dass sie einsilbig antwortete, sich unter dem Vorwand, die Munition kontrollieren zu wollen, davon stahl.
„Sie ist sauer auf dich“, stellte Lina fest.
„Ich habe ihren Bruder getötet.“
„Ich dachte, das wollte sie.“
„Jemandem den Tod zu wünschen und ihn tatsächlich umzubringen ist nicht dasselbe. Manu war ein Teufel, doch er war ihre Familie. Davon hat sie nicht mehr viel.“
„So eine Familie braucht kein Mensch. Sie muss hier weg. Weg von Ton und den Kämpfen. Raus aus der Einsamkeit.“
„Die Burg ist alles, was sie hat. Alles, was geblieben ist. Der letzte Faden zu ihrer Vergangenheit. Verlässt sie sie, ist sie wirklich allein.“
„Nicht, wenn sie mit mir kommt.“
Der Grieche starrte sie an. „Ich kann auf sie aufpassen.“
„Ich habe eine Kolonie, die auf sie aufpasst. Auf dich auch, wenn du willst.“
Er schnaubte; die erste Gefühlsregung, die sie von ihm sah. „Ich passe nicht zu euch.“
„Woher willst du das wissen?“
„Weil ich mich kenne.“
„Willst du Quinns Burg?“, fragte Lina geradeheraus. „Oder willst du sie nur mit ihr darin?“
Sie studierte sein Gesicht, das sich noch mehr zu verschließen schien. Dennoch glaubte sie, einen Hauch von Wehmut darin gesehen zu haben.
„Cem wird Manus Leute abfangen“, sagte er. „Sie zu seinen machen. Manus Terror ist Geschichte.“
„Hast du ein Abkommen mit Cem getroffen? War Manus Tod geplant?“
„Du bist nicht so dumm, wie du aussiehst.“
„Kein Grund, gemein zu werden.“
„Das war ein Kompliment.“
„Dann hat dein Charme ganz schön gelitten.“
Statt einer Antwort reichte er ihr das Fernglas.
Sie schnappte hörbar nach Luft, während sie es von rechts nach links schwenkte. „Oh, mein Gott. Sind sie alle tot?“
„Oder sie werden es in Kürze sein.“
Entsetzt sah sie ihn an. „Das sind dutzende Menschen. Berührt dich das nicht?“
„Mein Charme hat gelitten.“ Er sagte es leichthin, als Scherz, aber seine Kiefer waren fest aufeinandergepresst, seine Augen dunkel.
Langsam ließ sie das Fernglas sinken. „Wir haben Menschen getötet! Ich habe Männer umgebracht.“ Plötzlich fühlte sie sich schwach wie nach einer heftigen Krankheit. Ein Zittern erfasst ihren gesamten Körper.
Er setzte sich neben sie. Seine Körperwärme hüllte sie ein. „Ja.“
„Glaubst du wirklich, sie werden uns was antun?“
„Ohne mit der Wimper zu zucken.“
„Vielleicht wollen sie nur Quinns Besitz.“
Sein Gesicht wurde steinhart. „Und dafür gehen sie über Leichen. Haben sie früher schon.“
„Haben sie Leute von dir getötet?“
„Mehrere. Naz hat ein 14-jähriges Mädchen erschossen, Jala ihre Mutter, als die sich auf ihn stürzte.“
„Oh, mein Gott!“ Lina wischte sich über das Kinn.
„Wir sind alle Monster. Wenn man es muss, tötet man. Aber Ton und Manu genießen es, fordern es heraus. Ihre Opfer leiden, manchmal tagelang.“
Lina musterte ihn. „Klingt nach etwas sehr Persönlichem.“
Yianni senkte den Blick, lachte rau auf. „Das wird die Nacht der Geständnisse, hm? Okay. Ich kannte ein Mädchen aus einem Lager in Slowenien. Haben viel zusammen erlebt. Sie wurde meine erste Freundin, die erste Frau, mit der ich schlief. Sie war etwas Besonderes.“
„Scheint so.“
„Sie hieß Aliki. Auf einer Tour geriet sie an Ton. Als wir sie fanden, hatte er sie angekettet, geknebelt, missbraucht und gefoltert. Sie starb einen fürchterlichen, grässlichen Tod. Vorher beschrieb sie ihn. Sie hatte ihn gesehen, wie er aus der Burg kam.“
„Kamst du wegen ihr zu uns?“
Quinns leise Frage schreckte sie auf.
„Sascha war die perfekte Eintrittskarte, süchtig nach Leben und Liebe.“
„Du hast ihm vorgegaukelt, du wärst in ihn verknallt.“
„Ich habe ihn nicht verführt, nur zugehört und für Abwechslung gesorgt.“
„Pff.“
„Er war schwach. Weich und lieb.“
„Ja, genau“, stieß Quinn aus. „Dich hatte er nicht verdient.“
„Das ist wahr“, gab Yianni zu. „Und würde ich ihn heute treffen, würde ich versuchen, es wiedergutzumachen, aber ich war jung, dumm und auf Rache aus.“
„Dumm warst du nie. Eher ein gerissenes Arschloch.“
Yianni atmete langsam durch die Nase aus. „Ja. Okay. Doch wir beide wissen, dass er gescheitert wäre in dieser Welt. Mit mir oder ohne mich. Er war nicht gemacht für das hier.“ Er beschrieb einen großen Bogen. In seinem Gesicht stand unverkennbar Traurigkeit.
Auch in Quinn arbeitete es. Schmerz, Wut und Trauer wogten in ihren Zügen.
„Ton abzupassen erwies sich als unmöglich. Ihr alle wart extrem misstrauisch. Du vor allem. Hast mich ständig beobachtet und verfolgt. Unheimlich, aber auch aufregend.“
„Wieso?“
„Du sahst Aliki so ähnlich. Düster, ernst, nachdenklich. Kein bisschen kindlich. Schwarze Haare, grüne Augen. Vielleicht war das die Rettung deiner Familie.“
Quinn funkelte ihn an. „Sonst hättest du die Burg erobert?“
„Und vorher Ton getötet.“
Sie lachte hart auf. „Niemals wärst du an Jon vorbeigekommen.“
„Nicht mit Gewalt. Mit List eventuell schon.“
„Ich wusste es.“ Zornig blinzelte sie Lina an. „Ich wusste es.“
Ihren Satz zerschnitt eine Serie von Brandpfeilen, die auf das Dach niederregneten. Instinktiv wollte Lina aufspringen, doch Quinn und Yianni hielten sie zurück.
„Lass“, sagte Yianni. „Die testen nur aus. Blindpfeile. Richten keinen Schaden an.“
Er behielt recht. Noch mehr Pfeile kamen geflogen, erloschen aber bald.
„Kommen fast alle von vorn“, stellte Yianni fest.
Quinn nickte. „Nur sieben von den Seiten. Schätze, je ein Schütze pro Flanke, fünf oder sechs vorn.“
„Kümmern wir uns um die zuerst. Lina behält die Seiten im Auge.“
Quinn sah Lina an. „Achte auf Haken.“
„Was für Haken?“
„Von Seilen. Pass auf das Ibero auf!“, rief sie Yianni zu, bevor sie aufsprang.
Geduckt hasteten sie das Dach entlang, Yianni in die eine, Quinn in die andere Richtung, stellten Flaschen mit benzingetränkten Tüchern bereit, legten Feuerwerksraketen daneben.
Unter dem Dach verlief eine Wirtschaftsstraße, dahinter erstreckte sich eine etwa fußballfeldgroße Sandfläche mit abgestorbenen Bäumen. Daneben stand ein sechseckiges, vom Haupthaus abgetrenntes Gebäude, das Quinn nicht mehr betrat, weil es zu abgelegen war. Ibero. Hoch und nah genug, um auf ihm Schützen zu postieren. Linas Furcht erhielt neue Nahrung.
Yianni gab ein Signal, woraufhin er und Quinn die ersten Cocktails entzündeten. Von ihrer Ecke aus konnte Lina nicht sehen, ob sie jemanden getroffen hatten, aber plötzlich erhellte Feuerschein die Nacht.
Weitere Brandbomben flogen, Glas splitterte, Feuer loderte auf. Männer schrien, dazwischen vereinzelt Frauen. Ein gespenstisches Schauspiel.
Linas Kopf zuckte in alle Richtungen. Sie musterte die Dachkanten, behielt Quinn und Yianni im Blick, spähte durch das Fernglas. Nichts auf Ibero, nichts auf den anderen Dächern, zumindest so weit sie in der flackernden Düsternis erkennen konnte.
Yianni zündete eine Rakete, die mit hohem Pfeifen nach unten schoss. Quinn schnappte sich die MP, robbte zum Dachrand und sandte eine Salve hinterher.
Mit einem Mal war die Nacht erfüllt von Geräuschen. Die Laute einer Silvesterfeier mischten sich mit den schrillen Schreien von Verwundeten und den entsetzten Rufen der anderen. Dazwischen hämmerte die kantige Waffe, schickte Rückstöße durch Quinns Körper, bis sie wankte. Yianni nahm sie ihr ab, schubste sie zur Seite, sodass Quinn wieder nach Pfeil und Bogen griff.
Lina verharrte in Alarmbereitschaft, doch auf den umliegenden Häusern und an den Seiten blieb alles ruhig. Offenbar hatte Ton sich für einen Frontalangriff entschieden, rasselte gewaltig mit den Säbeln, erreichte jedoch nichts.
Quinn und Yianni schienen denselben Gedanken zu haben, denn sie stellten das Feuer ein, krochen zurück zu Lina. Mitten in der Bewegung stockten sie, legten dann die Waffen auf den Boden.
„Was?“, fragte Lina und spürte im selben Augenblick eine Klinge am Hals. Japanischer Stahl. Schwärzer als die Nacht.
Naz schob sich in ihr Blickfeld, bedeutete ihr, langsam aufzustehen. „Lina Popova“, sagte sie mit einem Haifischgrinsen. „Schön, dich wiederzusehen.“
Lina schluckte. Die Klinge hüpfte.
„Und das muss Tons Schwesterherz sein. Ella, richtig?“
„Quinn“, knurrte Quinn, mittlerweile in Jalas Würgegriff.
„Ihr seht euch nicht sehr ähnlich.“
„Sie hat die guten Gene abgekriegt.“ Jala lächelte, während zwei Männer Yianni festhielten und ein dritter die Waffen einsammelte.
Quinn verzog keine Miene, auch nicht, als Naz einen gellenden Pfiff ausstieß. Der Waffeneinsammler trat an den Dachrand und gestikulierte eine Reihe Signale. Truppenabzug. Feuerpause.
„Wie seid ihr hier herauf gekommen?“
„Denk mal nach, Galina.“
Quinn übernahm die Antwort. „Sie haben sich vom Magazin abgeseilt.“
Jala applaudierte, ohne die Arme von ihrem Hals zu nehmen.
Naz grinste kokett. „Nicht schlecht, oder?“
„Das bedeutet, ihr seid durch die Garage rein und innen aufgestiegen. Alles draußen war eine Ablenkung.“
„Ton erwähnte mal, dass seine kleine Schwester ein schlaues Biest sei.“
„Ist er drin?“, fragte Quinn.
„Gott, ja. Ohne ihn hätten wir nie nach oben gefunden. Selbst mit ihm war’s die Hölle. Was für ein beschissen verbauter Bunker. Drei Verletzte.“
„Lass uns reingehen“, sagte Jala, entließ Quinn aus der Genickklammer, drückte ihr einen Revolver ins Kreuz. „Schön langsam.“
„Gleich.“ Naz presste die Klinge an Linas Kehle. Scharfer Schmerz ließ Lina aufkeuchen. Ein Blutstropfen kullerte ihren Hals hinab. „Wer hat Thomas erschossen?“ Die Luft um Naz schien einige Grad kälter geworden zu sein.
„Jemand aus Zusels Truppe. Danach bin ich gerannt.“
Naz‘ perfekt getrimmte Brauen schoben sich zusammen. Sie warf ihrem Cousin einen wütenden Blick zu.
„Stimmt mit Eddys Story überein“, sagte der achselzuckend.
„Die ganze Geschichte ist doch von vorn bis hinten erstunken und erlogen.“
Lina deutete ein Kopfschütteln an. „Ich wollte nur zurück nach Hause. Zusels Angriff kam dazwischen und alles ging den Bach runter.“
Das Tattoo unter Naz‘ Auge verzog sich. „Hattest du Angst, wir würden dir was antun?“
„Ja. Na ja. Handeln. Foltern für Informationen. Erpressen.“
Naz zwinkerte Jala zu. „Wir sollten sie behalten. Sie ist einfallsreich.“
„Der Boss wartet.“ Jalaludin gab Quinn einen Stoß, der sie taumeln ließ.
Yianni gab ein missmutiges Geräusch von sich. Seine Bewacher reagierten sofort. Einer drosch ihm die Faust in den Magen, der andere den Revolvergriff an den Hinterkopf. Danach schleiften sie ihn mit sich.
„Hui, du scheinst einen Beschützer zu haben“, sagte Naz zu Quinn, deren Gesicht noch eine Spur düsterer geworden war.
Lina fand Quinns ältesten Bruder reichlich unspektakulär. Nach all den Erzählungen hatte sie ein Monster erwartet, einen Koloss wie Manu, vernarbt und von Kopf bis Fuß tätowiert, halb nackt und mit Muskeln bepackt.
Nur Letzteres stimmte. Die Ärmel von Tons schwarzem T-Shirt waren über den Bizeps zurückgerollt, das Shirt spannte über dem Brustkorb. Im Gürtel seiner Hose steckten ein stumpfnasiger Revolver und ein Messer. Ton war groß, aber Naz überragte ihn um einige Zentimeter. Abgesehen von dem kurz geschorenen Haar und der Tätowierung unter dem Auge gab es nichts Besonderes in seinem gebräunten Gesicht. Lina verglich seine Züge mit Quinns, entdeckte nur wenige Gemeinsamkeiten. Seine Augen wiesen dieselbe grünbraune Färbung auf, blickten jedoch härter.
Überhaupt schien es nichts Sanftes an ihm zu geben. Eckiges Kinn, bedeckt von einem Bartschatten, an der Spitze gespalten. Kantige Nase mit Höcker. Quadratischer Kopf, rechteckiger Körper. Nicht gerade attraktiv, aber auch nicht abstoßend. Doch etwas umgab den Boss der Innenstadt. Eine Aura aus Macht, Geltungsbedürfnis, Unantastbarkeit, Furchtlosigkeit. Bislang hatte Ton sie ignoriert, dennoch kitzelte eisige Furcht Linas Nacken.
Sie räusperte sich, um den Kloß in ihrer Kehle loszuwerden. Sein Blick schwenkte zu ihr, wanderte ihren Körper hinunter, verweilte länger, als ihr lieb war.
„Hallo, Ella“, sagte er dann, ohne die Augen von Lina zu lösen.
„Anton.“ Quinn betonte die erste Silbe, sprach den Namen englisch aus.
Ein kaum merkliches Grinsen zog seine Wangen auseinander und er nickte Jala zu. Dieser versetzte Quinn eine Ohrfeige.
„Hey!“, rief Lina reflexartig und spürte sofort Naz‘ Arm um ihren Hals.
„Schön still halten“, zischte die Hafenkommandantin.
„Sag meinen Namen noch mal“, befahl Ton. Er hatte eine seltsam knarrende Stimme. Wie eine Tür, die lange nicht geölt worden war.
„Leck mich.“ Quinns Wut schien größer als ihre Angst.
Courageous, stumbling. Fearless was my middle name.
Jala schlug erneut zu und Quinns Schädel schnellte zur Seite. Als sie wieder hochschaute, tröpfelte Blut von ihrer Lippe und sie schniefte.
„Das ist alles, was du drauf hast, großer Häuptling?“ Yianni klang schwach und schwankte. „Frauen hauen? Und nicht mal selbst.“ Er spuckte aus, was ihm einen Hieb in die Niere einbrachte.
„Oh, die Privatunterhaltung mit meiner Schwester hebe ich mir für später auf.“
Linas Magen verklumpte.
„Was willst du?“ Quinn schaffte es, normal zu sprechen.
„Mein Erbe. Meine Rache. Mein Vergnügen.“
„Du hast dein Erbe ausgeschlagen, als du Jon getötet hast und abgehauen bist.“
„Der alte Gauner war nur noch ein Klappergestell. Ich habe ihn erlöst.“
„Hör gut zu“, wandte Quinn sich mit blutigem Mund an Jala. „Das ist der Mann, für den du arbeitest. Er brachte seinen 80-jährigen Großvater um und seine Cousine, nachdem er sie monatelang gefickt hatte.“
„Ist mir scheißegal.“
„Laura war ein geistiger Tiefflieger, aber nicht schlecht im Bett“, sagte Ton im Plauderton. „Esra war da schon feuriger. Hat sich mit Händen und Füßen gewehrt.“
Quinn wurde aschfahl und verstummte.
„Macht dich das besonders an?“, ächzte Yianni. „Wenn sie sich wehren?“
„Dich nicht?“
„Du bist ein krankes Schwein.“
„Und du tot, wenn du nicht deine dreckige griechische Klappe hältst.“
Yianni starrte Ton hasserfüllt an, bis dieser auflachte. „Was willst du jetzt machen, Pisser? Gegen mich kämpfen? Nur zu.“
„Mann gegen Mann. Oder hast du Schiss?“
„Junge“, sagte Ton kopfschüttelnd, „ich zertrete dich wie eine Laus. Aber das macht keinen Spaß.“ Er wedelte mit den Armen und Yiannis Bewacher erwachten aus ihrer Befehlsstarre. Sie prügelten auf ihn ein, ließen erst ab, als Quinn „Hör auf!“ brüllte und Ton einen Pfiff ausstieß. Yianni sackte zu Boden. Blut floss aus Nase und Mund über sein Kinn, tränkte den Rand seines Shirts.
„Hm.“ Ton legte den Zeigefinger an seine dünnen Lippen. „Eins hab ich noch nicht verstanden, Ella. Stehst du jetzt auf ihn oder sie? Oder schiebt ihr nette Dreier in deinem Refugium hier?“
„Nimm dir, was du willst und verschwinde.“
„Nicht so schnell. Deine Freundin ist sehr appetitlich. Blonde Schlampen sieht man nur noch selten.“
„Vergiss es“, presste Lina heraus. „Lieber lass ich mich von Naz abstechen.“ Sie äugte zu der Soldatin, von der keine Reaktion kam. In Tons Gegenwart schien sie weniger Schneid zu haben.
Zu ihrem grenzenlosen Entsetzen trat Ton auf sie zu wie ein Löwe, der zum Spielen mit der Beute kommt. Oder waren das Geparden gewesen? Ihr Verstand setzte beinahe aus, als er zwei Finger unter ihr Kinn legte und es anhob. „Du hast Feuer, Schätzchen. Ich kann es spüren. Ich mag Hitze.“ Er nahm ihre Hand und packte sie auf seinen Schritt. „Sogar sehr.“
Lina wurde speiübel, als sie die harte Beule spürte.
„Findest du dein Krüppelding überhaupt, Toni?“
Ton fuhr herum, holte noch in der Bewegung aus. Quinn schaffte es, sich ein Stück wegzuducken, deshalb erwischte die Faust sie nicht mit voller Wucht. Dennoch warf der Schlag sie um. Jala fing sie auf, stellte sie wieder hin. Aus Quinns Augen liefen Tränen und sie schwankte benommen. Wie Yiannis Gesicht schwoll ihres bereits an.
„Ihr könnt sie haben“, sagte Ton zu Jala. „Ich nehme die Blonde.“
„Danke, Boss.“
„Lass sie in Ruhe“, lallte Quinn, sich gegen Jala wehrend. Der hatte wenig Mühe, sie unter Kontrolle zu halten.
„Hör auf“, bat Jala beinahe mitleidig. „So erreichst du gar nichts.“
„Du bist ein Wurm. Ihr alle. Er ist Dreck. Abschaum. Hat seine eigene Mutter verdroschen.“
„Weil sie mich erschießen wollte!“, brüllte Ton unversehens auf, sodass alle im Raum zusammenzuckten. „Ihren Sohn!“
„Du bist ein Scheusal. Mama hat es immer gewusst und dich trotzdem in Schutz genommen. Ich hab ihr erzählt, was du mit Laura gemacht hast, was du mit mir versucht hast.“ Quinns Stimme brach.
„Mama?“, höhnte Ton. „Die alte Schlampe? Tolle Mutter. Zugedröhnt, ständig drauf auf Alk und Kleber. Hat sogar Sascha angemacht, damit er ihr was abgibt.“
„Das ist nicht wahr!“
„Ach ja? Auf und davon ist sie! Hurt in einem Bahnhof für Stoff.“
„Wegen dir und Manuel. Ihr habt ihr ...“
„Was denn? Das Herz gebrochen? Oh, wie süß.“ Ton baute sich vor ihr auf. Die Geschwister sahen sich an, Ton mit in die Hüften gestemmten Armen, Quinn mit glasigen Augen in Jalas Griff hängend. „Begreif’s endlich, du Nachgeburt. Sie hat dich sitzenlassen in dieser rattenverseuchten Burg, hat dich hiergelassen wie ihre bepissten Klamotten. Stoff war ihr wichtiger. Schnüffeln mit irgendwelchen Halbleichen.“
Lina erfassten Mitleid und Wut, als sie Quinn weinen sah. Selbst Naz und Jala standen stocksteif, gafften auf ihren Boss.
„Du hast sie dazu gebracht“, schluchzte Quinn. „Du bist schuld.“
„Du laberst Scheiße. Immer dieselbe Leier.“ Ton wandte sich ab. „Bring sie raus. Sie nervt.“
„Ich bring dich um, Anton“, schniefte Quinn, während Jala sie vor sich her schob. „Wenn du sie anfasst, bring ich dich um, verstehst du?“ Ihre Benommenheit schien abzuebben, denn sie wehrte sich stärker. „Halt ihn auf, verdammt“, krächzte sie den Hafenkommandanten an. „Naz! Halt ihn auf! Er ist ein beschissener Psycho, nichts weiter.“
Naz schien sich zu krümmen, sagte aber nichts. Das Messer an Linas Kehle zitterte.
„Dir ist es nicht scheißegal, stimmt’s, Nazrin?“, flüsterte Lina ihr zu. „Hat er dich auch gevögelt? Gegen deinen Willen?“
„Halt die Klappe.“ Naz‘ tadellos geschminktes Gesicht hatte sich verdunkelt. „Bring es einfach hinter dich. Ist für alle das Beste.“
„Niemals.“ Lina bäumte sich auf, schnippte Naz ihren Ellenbogen ins Gesicht und kickte das Messer fort. Dann trat sie ihr mit aller Kraft in den Bauch. Naz schnappte nach Luft und klappte zusammen. Lina tauchte nach dem Messer und drückte es der bengalischen Soldatin gegen die Kehle. „So.“
Noch nie hatte sie derart befriedigt ein Wort ausgestoßen. Leider blieb Ton absolut unbeeindruckt. Jala hingegen schaute bestürzt.
Yiannis Bewacher merkten auf.
„Stopp!“, rief Lina. „Oder sie stirbt.“ Um ihren Worten mehr Nachdruck zu verleihen, zog sie das Messer über Naz‘ Schwanenhals. Ein hässlicher Schnitt klaffte auf und Naz stöhnte.
Die Männer hielten inne. Nur Ton klatschte abfällig Beifall. „Nur zu. Stich sie ab. Wurde eh zu frech in letzter Zeit. Hat Sachen für sich abgezweigt. Dein Cousinchen, Jala“, wandte er sich an den erstarrten Kommandanten, „war zu gierig. Hättest du melden sollen, aber na ja. Ich bin sicher, das kommt nicht wieder vor. Na, mach schon, Kleine. Nazzie weiß, dass das Messer durch ihre Kehle geht wie durch Butter. Hat nicht das erste Mal die Klinge am Hals. Deshalb hält sie so schön still.“ Er grinste anzüglich.
„Boss?“, fragte Jala. Er wirkte verunsichert. Seine Augen huschten durch den Raum. „Hältst du das für eine gute Idee?“
Um Ton gefror die Luft. „Stellst du meine Befehle in Frage?“
Jala kam nicht mehr zum Antworten, denn Quinn drehte sich aus seiner Umklammerung, riss den Zweitrevolver aus seinem Gürtel und schoss. Eine Rose erblühte auf Tons Stirn, dann fiel er um.
Sofort richtete Quinn die Waffe auf Jala, der zu Stein erstarrte.
„Pfeif deine Leute zurück.“ Quinn sah aus, als würde sie jeden Moment zusammenklappen, legte beide Hände um den Revolver. „Los.“
Linas Ohren klingelten. Schmauch hing in der Luft. Sie begriff nicht ganz, was soeben passiert war, dass Quinn tatsächlich ihren Bruder erschossen hatte, aber sie behielt das Messer an Naz‘ Kehle. Allerdings schien von der erschlafften Kommandantin keine Gefahr mehr auszugehen.
„Quinn.“ Yianni richtete sich auf, zerschlagen wie ein Boxer nach 15 Runden Kampf.
„An die Wand. Alle. Hinlegen.“ Quinn klang undeutlich, schniefte sich durch Rotz und Blut.
„Quinn! Horch!“
Auf dem Gang vor dem schmauchverhangenen Zimmer trappelten Füße.
Sofort lenkte Quinn den Revolver auf die Tür.
„Warte“, warnte Yianni.
Im selben Moment sprang die Tür auf, aber niemand erschien. Quinns Schuss ging an die gegenüberliegende Wand, verstärkte die Geräusche in Linas Ohren.
„Cem?“, rief Yianni laut.
„Wer hat geschossen?“, kam es von draußen.
„Quinn. Kommt rein.“
Cem war schlau genug, einen Kundschafter vorzuschicken, einen gelenkigen Knaben, der wie ein Ninja ins Zimmer rollte und gleich darauf wieder hinaus. Erst dann betrat der stämmige Mann den Raum.
Quinn ließ den Revolver sinken, torkelte zurück an die Wand und beugte sich vornüber. „Kommst du, um uns zu retten? Zu spät.“
Cem hob die Arme. „Hey, hey. Immerhin musste ich erst Manus und Tons Leute einsammeln. Wollten nicht alle friedlich mitkommen.“ Er sah Jala an. „Von den Verlusten musst du dich erst mal erholen. 40 Tote bis jetzt. Habt ganz schön aufgeräumt“, sagte er zu Yianni, ging zu ihm und half ihm hoch. „Gute Arbeit, Bruder.“
Lina blickte fassungslos auf. „Ihr arbeitet wirklich zusammen.“
Cem strahlte. „Erfasst, Schwester. Also, Jala, verhandeln wir oder erschießen wir dich und Naz?“
„Haha.“ Jala sah zu den Bewachern. „Neue Zeiten brechen an, Jungs. Weiß nicht, ob wir den Hafen behalten oder umziehen. Was ist mit euch?“
„Wir bleiben bei dir, Boss“, sagte der eine. Der andere nickte zustimmend.
„Und du?“, wandte er sich an seine Cousine.
Lina nahm das Messer von Naz‘ Kehle. Die Soldatin rieb sich über den Schnitt, betrachtete ihre blutigen Fingerspitzen. „Mir scheißegal, solange du nicht mein Boss wirst.“
„Werd ich aber. Es sei denn, Cem weist dir ein eigenes Gebiet zu. Kommt auf dein Verhandlungsgeschick an.“
Cem grinste. „Nazrin und ich werden uns bestimmt einig.“
Naz‘ Augen verengten sich. „Liegt das Perverse bei euch in der Familie?“
„Vorsicht“, warnte Cem. Weg war der Plauderton. Eiseskälte war an seine Stelle getreten.
„Cem ist in Ordnung“, sagte Quinn matt.
Naz musterte sie lange, bevor sie nickte. „Wir verhandeln.“
„Du hast Ronja ziehen lassen?“, fragte Lina, als sie und Naz sich gegenseitig auf die Beine halfen.
„Hat sie was extra gekostet. Was hast du jetzt vor?“
„Ich gehe nach Hause, gleich morgen früh. Wehe, einer hält mich auf.“ Lina war überrascht, wie fest ihre Stimme klang. Wann hatte sie sich dazu entschlossen?
„Wirklich?“ Yianni sah sie an.
„Ich habe die Schnauze voll.“ Sie drehte sich zu Quinn. „Kommst du mit?“
Die Frage traf die dunkelhaarige Frau unvorbereitet. Hilflos sah von einem zum anderen.
„Wenn wir dich halbwegs zusammengeflickt haben, natürlich. So kannst du ja nicht vor die Tür. Also vielleicht eher übermorgen.“
„Du solltest gehen“, sagte Yianni leise zu Quinn.
„Damit du meine Burg kriegst?“
Yianni drückte vorsichtig auf seiner Nase herum, befühlte den Riss auf seiner Braue. „Ich sag dir was. Meine Leute und ich überwintern hier, passen auf die Burg auf, bringen alles in Ordnung. Du schaffst Lina nach Hause, schnupperst Kolonieluft, schaust, wie’s läuft. Läuft’s scheiße, kommst du zurück.“
„Und dann beschießt du mich?“
Der Grieche atmete tief aus und wendete sich ab. „Ich geh frische Luft schnappen.“
Cem trat zu Quinn und nahm ihr den Revolver ab. „Das ist eine Chance.“
„Wieso?“
„Du hast deinen Bruder gekillt. Erstens. Draußen liegt der andere. Zweitens. Du brauchst normale Menschen um dich. Drittens. Neue Revieraufteilung bedeutet immer Krach. Viertens.“
„Normale Menschen?“
„Unbeschädigte.“
Die nächsten Worte flüsterte Quinn so leise, dass Lina sie kaum hörte. „Mama ist noch hier. Ton hat gesagt, sie sei im Bahnhof.“
„In welchem?“
Sie wischte sich eine Träne aus dem Auge, hob die Achseln.
Cem beugte sich zu ihr. „Du weißt, was das Zeug anrichtet. Geh einfach fort, Ellie. Ist ja nicht für ewig.“
„Die Burg ...“
„Scheiß auf Quinnsland. Ist schon lange keine Zuflucht mehr für uns. Für Yianni und seine Leute vielleicht schon. Bring Lina nach Hause. Du schuldest ihr was.“
„Du schuldest mir gar nichts“, widersprach Lina. „Aber mit allem anderen haben sie recht. Also? Übermorgen?“
Quinn holte tief Luft. „Ich will sehen, wer in meine Burg zieht.“
Zwei Kinder und ihre Mutter hielten sich weinend an den Händen. Eine runzlige Greisin murmelte unhörbare Worte, wankte vor und zurück. Entweder war sie verrückt oder betete. Zwei Teenager erkundeten neugierig die versteckten Winkel, zwei Frauen zerrieben Pflanzenblätter zwischen den Fingern und befühlten fachsimpelnd die Erde. Sieben Männer und eine weitere Frau standen staunend im Kreis um sie herum.
„Frauen und Kinder“, erwiderte Quinn, undeutlich wegen der aufgeschlagenen Lippe. „Warum hast du nichts erzählt?“
„Hättest du mir geglaubt?“ Yiannis Gesicht war so verquollen, dass er kaum die Augen aufbekam.
Lina hoffte, dass keine Spuren zurückblieben. Auch wenn sie bei dem Kerl nicht den Hauch einer Chance hatte, genoss sie dennoch den Anblick. „Du hättest es für einen Trick gehalten.“
„Kann es immer noch sein“, murmelte Quinn.
„Sie sind alle Vertriebene. Theio und Gregoire kenne ich schon Ewigkeiten, Patric und Shannon waren die Ersten, die in Berlin zu uns stießen.“
„Zu euch und Aliki?“, fragte Lina.
„Und anderen. Jahrelang haben wir einen Unterschlupf nach dem anderen besetzt. Immer passierte dasselbe: Krieg, Kämpfe, Konflikte. Unfälle auf Besorgungstouren, Händler, die beschissen, das Wetter.“
„Warum seid ihr nicht woanders hin?“
Grimmig sah Yianni Lina an. „Weil es überall so ist. Kaputtes Land, misstrauische Communities. Und reiche Kolonien wie Spandau lassen niemanden rein. Die schießen, sobald sie uns sehen.“
„Ganz so ist es nicht“, protestierte Lina.
„Flüchtlinge sind wertlos.“ Yiannis Erwiderung erstickte weitere Argumente im Keim.
„Und die Burg war dein Gelobtes Land?“, fragte Quinn.
„Ihr schient aufgeschlossener als andere. Amerikaner, Deutsche, Türken, Russen - alle unter einem sicheren, festen Dach. Eine Familie.“
„Logan hasste seinen Schwiegersohn. Wollte amerikanische Namen für Cem und Esra. Und Ileana verkörperte die Sowjets. Wenn er besoffen war, nannte er sie Kommunistin. Kevin hätte ihn dafür beinahe mal erwürgt.“
„Trotzdem. Ihr hattet alles.“
„Geklaut, ergaunert, erobert, erpresst.“
„So tickt die Welt, Quinn. Jon war ein vorausschauender, alter Fuchs.“
Lina widersprach nicht, obwohl Yiannis Worte sie aufwühlten. Sie seufzte. „Ich bin so was von fertig. Hauen wir uns auf’s Ohr.“
Sie parkten auf einem Friedhof hinter einem überwucherten, ausgebrannten Gebäude. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite erstreckte sich das Klinikgelände, zu dem sie Abstand hielten, da sie annahmen, dass es besetzt war.
„Also“, sagte Cem vom Fahrersitz aus. „Hier ist Ende Gelände.“
Lina sprang aus dem Wagen. „Wo geht’s nach Spandau?“
Quinn reichte ihr ein mit Nägeln gespicktes Tischbein. Sie selbst trug eine Machete, die die alte Frau aus Yiannis Truppe ihr aus Dankbarkeit geschenkt hatte. In ihrem Rucksack steckten ein auseinandernehmbarer Bogen und Carbonpfeile. Außerdem besaßen sie je ein Messer und ihren Revolver.
„Immer die Straße entlang.“ Quinn legte ihre Hand vor die Augen und starrte in die tief stehende Sonne. „Zehn Kilometer bis zur Zitadelle.“
„Kinderspiel.“ Lina wirkte aufgekratzt. Bestimmt konnte sie es kaum erwarten, nach Hause zu kommen.
Sie hingegen fühlte sich zerschlagen, im wahrsten Sinne des Wortes. Auch wenn sie, eingelullt von Schmerzmitteln und Beruhigungspillen, den ganzen Tag verschlafen hatte. Ihr Kopf hämmerte, Kiefer und Ohr sendeten dumpfe Schmerzwellen. Der Gedanke, zehn Kilometer durch die Nacht zu marschieren, verursachte ihr Übelkeit.
Aber nun waren sie hier. Cem, Yianni und Lina hatten sich um Fahrzeuge gekümmert, die Rucksäcke überprüft und ein Abschiedsmahl gekocht. Essen für 20 Leute. Wahnsinn. Die Hälfte des Jahres bekam sie kaum sich selbst satt.
In der Kolonie würde es Nahrung geben, trotz Engpässen, Notzeiten und Dürrejahren. Harmlos im Vergleich zu den Sturmwintern in der Burg. Einmal war sie so hungrig gewesen, dass sie die Erde aus den Kräutertöpfen gegessen hatte. Laura hatte auf Papier gekaut und Ton Asseln gesammelt.
Sie schüttelte die Gedanken ab.
„Hey.“ Yianni war kaum zu erkennen unter den Schwellungen. Sie selbst sah nicht ganz so schlimm aus. Hätte Tons Faust sie voll getroffen, wäre ihr Kiefer jetzt vermutlich hin. Und zumindest ein Teil ihrer Zähne.
„Hey.“ Sie wusste nicht, wie sie mit ihm umgehen sollte. Früher war es leichter gewesen. Wenig Worte, Sex, Beleidigungen und Drohungen, gegenseitiges Misstrauen. Doch nun?
Er zog sie von den Leuten weg unter einen Türrahmen. „Komm zurück, ja?“
Sie blinzelte ihn an. „Wieso?“
„You stupid girl“, sagte er, dann küsste er sie. Küssen gehörte nicht zu ihrem Programm. Der Kuss war unbeholfen und dauerte nicht lang. Danach lächelte Yianni ein grauenhaft verquollenes Lächeln und strich ihr über die Wange. „Bye, Quinn.“
Cem umarmte sie vom Fahrersitz aus. Er wirkte unruhig, hatte es eilig.
„Mach’s gut, Boss. Wehe, du wirst so ein Arsch wie Ton oder Manu. Dann klatscht es, aber keinen Beifall.“
„Esras Spruch.“ Er grinste, tippte sich an sein Cap und rief die Männer heran, die den Mini-Konvoi bewachten. Yianni schwang sich auf den Beifahrersitz.
Jala, der die Nachhut bildete, trat zu Quinn. „Sorry wegen der Backpfeifen.“
Anstelle einer Antwort verpasste sie ihm eine Ohrfeige.
Jalas Hand zuckte, aber Cems Räuspern ließ ihn innehalten und nicken. „Fair enough.“
Lina kam zu ihr, nachdem Motorrad, Jeep und Touran Richtung Wedding verschwunden waren. „Alles klar?“
„Suchen wir uns ein Versteck. Aufbruch, sobald die Sonne weg ist. Wir nehmen die Autobahn.“
„Wir hätten den Jeep behalten sollen.“
„Nein. Wir schleichen uns durch.“
Nachts über eine leere Autobahn zu gehen, hatte etwas Surreales. Sie liefen bedächtig und bemühten sich, leise zu sein. Wegen des Westhafens hatten sie die rechte Seite gewählt, hielten jedoch Abstand zu den Baumreihen. Man wusste nie, wer oder was aus dunklem Unterholz hervorschießen konnte.
Quinn hielt sich ganz gut. Vorhin hatte sie noch eine Tablette genommen und ein Stündchen geschlafen. In ihrem Inneren vibrierten ihre Nervenenden, aber der Schmerz drang nicht an die Oberfläche.
„Kannst du dir vorstellen, was vor 30 Jahren hier los war?“
Linas Geplapper lenkte sie von ihren Gedanken ab. Ton geisterte durch ihren Kopf, Manu, die Burg, Yianni. Nach der Schlacht hatte sie im Schlaf weitergekämpft. Geschossen. Geschrien. Geheult. Als ihre Mutter in den Träumen aufgetaucht war, von Klebstoff durchlöchert wie Manu von den Kugeln, war sie aufgewacht. Frierend, obwohl in der Burg Backofentemperaturen geherrscht hatten.
„Autos, Sattelschlepper, Busse. Auf sechs Spuren. Der Krach allein! Und Licht!“ Lina wies auf die Lampen alle paar Meter. Sinnlos gewordene Relikte, genau wie Leitplanken, Ampeln und Strommasten.
Quinn zeigte auf eingedrückte Maschendrahtgatter. „Was sind das für Zäune?“
„Wegen der Tiere und Fußgänger. In der Kolonie haben wir noch Verkehr; du musst immer schauen, bevor du eine Straße betrittst.“
„Sagt die Richtige.“
„Haha.“ Mitten auf der Straße blieb Lina stehen und drehte sich im Kreis. „Als ich klein war, gab es auf den Straßen jede Menge Leben. Und jetzt guck dir das an. Alles weg. Wie ist das passiert?“
„Das geisterte schon Jahrzehnte durch die Medien. Wollte nur keiner hören. Hitzewellen in Indien, Staubstürme, Schlägereien um Trinkwasser, tausende Tote. Platzende Methangasblasen in Sibirien, abtauende Gletscher. 2005 die ersten Klimaflüchtlinge in Papua Neuguinea, 2007 die eisfreie Nordwestpassage.“
„Du bist ein verdammtes wandelndes Lexikon, weißt du das?“
„Bevölkerungsexplosion, Globalisierung, Pandemien, Überfischung, Entwaldung, Süßwassermangel, Welthunger, Flüchtlingskrisen. Alles hausgemacht, alles vorhersehbar. 2021 Flutkatastrophe in Deutschland. Marmarameer tot. Multitornados. Klimamodelle sagten das alles voraus.“
„Meine Mutter meint, die Modelle seien falsch gewesen.“
„Die Reaktionen darauf waren es. Viel zu spät, viel zu lasch.“
„Die Atombombe 26 war nicht lasch.“
Quinn schnaubte. „Geo-Engineering. Schwachsinn. Zwei minimal kältere Sommer, dafür ist Island verstrahlt.“
„Im Nachhinein ist man immer schlauer.“
„Im Gegenteil. Um 2020 herum fanden Forscher heraus, dass der durchschnittliche IQ der Menschen sinke. In der Antike waren sie intelligenter.“
„Na prima.“
Lina verstummte und Quinn fiel zurück in ihren Gedankensturm. Lange Zeit trabten sie nebeneinander her, jede in ihrer eigenen Welt. Auf dem Kanal tauchte ein rostzerfressener Ponton mit umgekippten Baggern auf. Rechts kamen Gartenhäuschen zum Vorschein. Irgendwo jaulte ein Hund.
Zehn Kilometer Fußmarsch waren nicht allzu viel, aber sie hatte unterschätzt, wie endlos sich eine gerade Straße dehnen konnte. Als sie an der Abfahrt ankamen, hatte sie das Gefühl, seit Tagen unterwegs zu sein.
Hoffentlich stimmten die Straßenverläufe noch. Sie hatte die Karte im Kopf, doch das nützte nichts, wenn Blockaden sie aufhielten, Straßenschilder fehlten, Wege und Gebäude sich verändert hatten.
„Ich glaube, hier war ich schon mal“, sagte Lina. „Ich erinnere mich an den Platz. Zum Geburtstag hat Pessa mir eine Fahrstunde geschenkt. Hat eine Genehmigung gekauft. Ich durfte von der Zitadelle bis hierher fahren.“
„Ihr braucht eine Genehmigung, um rauszugehen?“
„Nur damit die Wachen wissen, wo du bist. Falls du dich verläufst oder so.“
Quinn runzelte die Stirn. „Hm. Das heißt, die Straße bis zur Zitadelle ist frei?“
„Im Großen und Ganzen.“
„Also Siemensdamm.“
„Nicht so schnell.“
Quinn schnellte herum, sobald sie die Worte hörte, riss den Revolver aus ihrem Gürtel. Lina hob das Tischbein, sprang hinter sie. Rücken an Rücken drehten sie sich, suchten den Besitzer der Stimme.
„Wo ist er?“, flüsterte Lina.
Oder sie. Ihrer Erfahrung nach waren Menschen selten allein unterwegs.
„Packt eure Spielzeuge weg. Stellt die Rucksäcke ab, legt die Waffen dazu, und wir gehen alle wieder friedlich unserer Wege.“
Dieselbe Stimme.
Sie blieb misstrauisch, musterte die kreisrunde Mittelinsel, die Brücke, die vielen Abfahrten.
„Erschieß uns doch einfach“, rief Lina.
Quinn fuhr herum. „Spinnst du?“
Schweigen, dann Gelächter. „Okay. Letzte Chance. Bin Pazifist.“
„Und ich Katharina die Große.“
Erneut Stille. Quinn spitzte die Ohren, meinte, Gemurmel zu hören. Verdammt! Wenn der Kerl nicht mit sich selber redete, hatten sie noch mehr Gesellschaft.
„Also?“, forderte der Sprecher sie auf. „Wird’s bald? Eure Zeit läuft ab, Täubchen.“
Täubchen? Wer sagte denn so was?
„Ich zähl bis drei. Dann schießen wir.“
„Schieß doch gleich.“ Lina schien sich ihrer Sache völlig sicher.
Und plötzlich sah Quinn ihn. Einen Jungen, klein und wendig. Er hockte mitten auf der Verkehrsinsel unter einem Bäumchen, verbarg sich im hüfthohen Gras. Noch bevor sie einen Warnruf ausstoßen konnte, sprang er auf sie zu. Gleichzeitig sprinteten zwei Gestalten unter der Brücke hervor.
Sie feuerte in Richtung des Jungen, dann auf die Gestalten, die geduckt auseinanderstoben. „Sie kesseln uns ein!“, rief sie Lina zu.
Lina nickte und schwang ihr Tischbein.
Der Junge hatte sich ins Gras geworfen, hechtete nun erneut auf sie zu. Sie konzentrierte sich und ballerte ein weiteres Mal. Die Kugel riss ihn im Lauf von den Füßen, schleuderte ihn nach hinten.
Indes war ein schmächtiger Mann heran. Sie zog die Machete. Logan hatte sie alle an Waffen unterrichtet, und so bekam sie einen einigermaßen sauberen Schwung hin, streifte den Mann jedoch nur. Doch Linas Tischbein klatschte mit einem ekligen Schmatzen auf seine Schulter. Er heulte auf wie ein Wolf bei Vollmond, blieb auf den Fersen hocken.
Die dritte Gestalt, eine flachbrüstige Frau, stoppte, versuchte, die Richtung zu ändern, und rutschte aus. Kurzerhand hieb Quinn ihr die Machete in den Hals.
Aufjaulend stürzte der Mann sich auf Lina. Sie stöhnte, als sie auf den Boden prallte und der Mann auf sie plumpste. Wildes Gerangel setzte ein. Der Mann schrie, Lina japste, zappelte, wand sich wie eine Schlange. Der Mann begrub sie unter sich, drosch auf sie ein.
Quinn bohrte die Machete in seine Rippen. Einmal, zweimal. Dann versteifte er.
Zu zweit rollten sie ihn von Lina herunter. Diese blieb, um Atem ringend, liegen. Quinn rannte zu dem Angeschossenen, fand zu ihrer Erleichterung einen weiteren Mann vor. Er stierte sie wütend an und spuckte Schimpfwörter aus. Täubchen war nicht dabei. Auch die Stimme klang anders, quäkend, wie die vieler Kleinwüchsiger. Quinn hörte dem Gegeifer eine Minute lang zu, spießte den Kerl auf und kehrte zu Lina zurück.
Die hatte sich auf die Seite gedreht und kotzte. Als sie fertig war, schluchzte sie zittrig und setzte sich auf. Quinn filzte indes die drei Toten. Sie hatten nichts bei sich, nur die Kleidung auf ihren Leibern.
„Keine Schusswaffen“, piepste Lina. „Ich wusste es.“
„Entweder haben sie ein Lager in der Nähe oder sie waren völlig am Ende. Ich tippe auf Letzteres. Sie stinken wie ein Klo.“ Quinn drehte sich zu Lina. „Kein Gequatsche mehr unterwegs. Wir müssen vorsichtiger sein.“
„Bist du verletzt?“
„Nein. Du?“
Lina stand auf, betastete ihren Körper, dehnte sich. „Nein.“
Quinn nestelte ein Fernglas aus ihrer Hosentasche, ein kleineres, handlicheres Modell als das in der Burg, kontrollierte die Umgebung. „Lass uns abhauen.“
Nach einer Stunde gaben sie auf. Linas Beine begannen zu zittern, nachdem das Adrenalin aus ihrem Körper geschwemmt war. Quinn nickte dankbar, als sie einen Unterschlupf vorschlug. Der Angriff hatte den Medikamentenrausch aufgelöst und Schmerzen hämmerten auf sie ein. Hinzu kam die Furcht vor weiteren Attacken. Außerdem dämmerte das Begreifen herauf, drei Menschen getötet zu haben.
In der Nähe einer U-Bahn-Station schlichen sie sich in eins der unzähligen Wohnhäuser, kauerten minutenlang atemlos unter einer Treppe und lauschten auf verdächtige Geräusche. Dann huschten sie in ein mittleres Stockwerk, fanden eine offen stehende Tür. Rasch checkten sie die Wohnung. Zentimeterdicker Staub, löchrige Gardinen. Nichts Essbares, nichts von Wert.
Quinn schloss die Tür, hörte erleichtert, wie der Riegel einrastete. Sie schob einen Stuhl unter die Klinke und öffnete ein Fenster, um die stickige Luft hinauszulassen.
Sie zerrten versifftes Bettzeug von einer Schlafcouch, suchten im Schrank nach halbwegs sauberen Laken. Dann fielen sie wie Steine auf das Lager und starrten an die Decke.
„Hunger?“, fragte Quinn nach einer Weile.
„Kein Appetit.“
„Ich habe Kekse. Friedensangebot von Naz.“
„Vergiftete?“
Beide brachen in Kichern aus, vergruben die Gesichter in den Laken.
„Scheiße“, stöhnte Lina schließlich. „Ich weiß nicht, was zur Hölle um mich passiert. Als wäre die Welt verrückt geworden.“
„Schock. War alles ein bisschen viel.“
Lina setzte sich kerzengerade auf. „Wenn wir zu Hause sind, müssen wir zu Pessa. Er muss uns behandeln.“
„Ist er Arzt?“
„Psychologe.“
„Crap.“
„Ernsthaft. Bestimmt haben wir PTSD oder so. Du murkst ohne Ende Menschen ab und dann dieser Typ und das alles ... “
Quinns Gesichtsmuskeln verkrampften, als Linas Worte sich durch ihre Trommelfelle brannten. Sie saß da wie eingefroren, blickte gegen den nutzlosen Fernseher.
„Hey“, hörte sie Linas Stimme. Eine Hand legte sich auf ihre Schulter. „Rück den Keks raus. Ich riskier ihn.“
Die Kekse waren ein Traum. Nüsse, Rosinen und Sirup.
Lina schmatzte. „Woher hat sie die? Kann mir nicht vorstellen, dass sie backt.“ Sie reckte sich und stöhnte auf.
Quinn sah auf. „Was ist?“
„Ach, von dem Typen tut mir alles weh. Hinten vor allem.“
Quinn schob sich das letzte Keksstück in den Mund. „Zeig her.“
Zögerlich knöpfte Lina das Hemd auf, fauchte, als es den Rücken hinunterrutschte. Quinn nahm die Taschenlampe und sog die Luft ein.
Lina äugte über ihre Schulter. „Was Ernstes?“
Quinn zögerte kurz, dann wanderten ihre Fingerspitzen über Linas Rücken und die Rückseite ihrer Arme, hinterließen kribbelnde Spuren.
„Abschürfungen.“ Quinn kam um sie herum gekrochen, blendete auf ihre Arme. „Und Prellungen.“
„Gib mal her.“ Lina leuchtete auf ihren Bauch und erschrak. Rote und bläuliche Flecken überall. „Das hab ich gar nicht gemerkt.“
„Adrenalin. Wird morgen noch mehr weh tun. Hier.“ Quinn presste eine Tablette aus dem Blister, teilte sie in der Mitte. „Hälfte, Hälfte.“
Dann lagen sie nebeneinander im Dunkeln, doch Schlaf wollte sich nicht einstellen. In Linas Kopf rotierten die vergangenen Tage in Endlosschleife und auch Quinn schien mit Dämonen zu kämpfen. Sie war immer einsilbiger geworden in der letzten Stunde, immer in sich gekehrter.
„Willst du lieber umkehren?“, fragte Lina.
Quinn ließ sich Zeit mit der Antwort. „Weiß nicht.“
Lina wälzte sich auf die Seite. „Bereust du es?“
„Hör auf, okay? Hör einfach auf!“ Quinn zog das Laken über sich.
Lina drehte sich zur anderen Wand, einen dicken Kloß in der Kehle.
„Tut mir leid“, sagte Quinn Augenblicke später.
„Fein.“
„Ich will nur nicht reden.“
„Okay.“
Das Lager wackelte, als Quinn sich herumwälzte. Plötzlich spürte Lina ihre Finger an ihrem Hals und zuckte weg. „Was machst du?“
„Den Scheiß vergessen.“ Quinns Fingerspitzen tanzten unter ihrem Ohr, hinterließen das kribbelnde Gefühl von vorhin.
Linas Mund wurde trocken. „Verführst du mich gerade?“
„Keine Ahnung.“ Die Finger glitten ihren Nacken hinunter und urplötzlich wurde ihr heiß. Das Kribbeln wanderte in ihren Bauch.
„Scheiße, Quinn. Was wird das?“
„Soll ich aufhören?“ Quinns Stimme klang heiser.
„Ich weiß nicht.“
„Sag, wenn ich aufhören soll.“
Irgendetwas geschah mit Quinn. Inmitten von Gefühlsstrudel und Gedankenchaos erfasste Lina, dass es mit Angst, Schuld und überstandener Gefahr zu tun hatte. Dass dieselben Regungen auch in ihr etwas freisetzten. Mit galoppierendem Herzen und pochendem Unterleib lag sie stocksteif da, während Quinn ihr die Hose herunterzog. Geschockt, beschämt und doch erregt ließ sie es zu, merkte, wie sie feucht wurde, als Quinns Hand sich zwischen ihre Beine schob.
Sin City’s cold and empty. No one’s around to judge me.
Sie stand nicht auf Frauen. Hatte sie nie, aber darum ging es hier nicht. Kein einziges Mal sah Quinn ihr in die Augen. Sie küsste sie nicht, liebkoste sie nicht, streichelte sie nicht einmal, sondern berührte sie forsch und zielstrebig, hemmungslos beinahe. Lina blieb von ihr abgewandt liegen. Als ihr Finger zwischen ihre Schenkel glitt, verlagerte Lina das obere Bein nach vorn. Quinn schnippte ihren Slip beiseite und lochte ein.
Punktlandung.
Schnaufend krallte sie sich in das verknüllte Laken, während Quinn einen zweiten Finger zu Hilfe nahm, der sie aufstöhnen ließ. Nach wenigen Minuten kam sie mit einem unterdrückten, lang gezogenen Stöhnen.
„Scheiße“, japste sie, als ihr Unterleib sich beruhigt hatte.
Quinn drehte sich auf den Rücken.
Linas Herz dröhnte. Sie suchte nach Quinns Hand. „Verdammt. Quinn.“
„Lass es.“
Lina drehte den Kopf. „Ella.“
„Hör auf.“
„Du bist echt der Hammer, weißt du das?“
Quinn starrte an die Decke.
„Was war das gerade? Ablenkung? Zerstreuung?“
„Vergessen“, murmelte Quinn.
Lina betrachtete Quinns Profil, das kurze Haar, das nach allen Seiten vom Kopf wegstand. Plötzlich verspürte sie Lust, es zu berühren, aber Quinn schien weggedriftet, wirkte abwesend und abweisend.
Sie legte ihre Hand auf Quinns Bauch. Diese sog hörbar die Luft ein und versteifte, also nahm Lina die Hand wieder weg. „Erst vernascht du mich und jetzt kriechst du zurück in dein Schneckenhaus? Was ist los?“
„Ich murkse ohne Ende Menschen ab.“
Daher wehte der Wind.
„Tut mir leid. So hab ich’s nicht gemeint.“
Quinn legte ihren Arm über ihre Augen. „Was ist, wenn ich wie sie bin?“
Lina stutzte. „Wie deine Brüder? Keine Sorge. Ganz sicher nicht.“
„Woher willst du das wissen?“
„Fangen wir damit an, dass sie deshalb nicht geweint hätten. Sie hätten mich nicht von der Straße aufgelesen und zurück nach Hause gebracht. Die Burg geöffnet. Mir angeboten, Nein zu sagen. Klar bist du abgedreht mit deinem Autismus-Ding, dem Supergedächtnis und der Zahlenobsession, aber böse bist du nicht.“
„Ich bin kein Autist.“
„Du hast deine Pfeile sieben Mal sortiert. Deine Decke muss millimetergenau richtig liegen und deine Bücher sind nach Größe und Farbe geordnet. Aber weißt du was? Das ist mir scheißegal. Wichtig ist, dass du ein gutes Herz hast. Du bist nicht wie Ton. Kein Stück.“
„Sie sind wieder da.“
Pessa trat zu seiner Frau. „Das ist der Rothaarige. Der war neulich schon hier, zusammen mit der Frau. Marie und Jogga hab ich auch schon ums Haus schleichen sehen.“
„Als ich vorgestern von der Arbeit kam, lehnte einer bei Pjotr an der Hauswand. Glaubst du, das hat was mit unserem Ausflug zu tun?“
Pessa spielte in seinem Bart. „Finden wir es heraus.“
Bevor sie ihn davon abbringen konnte, war er ins Sonnenlicht getreten. Sie blieb auf der Schwelle stehen, sah, wie er auf den Mann im Strickpullover zuging. Der Fremde erstarrte und sah sich nach allen Seiten um, als suche er einen Fluchtweg. Pessa sprach ihn an und der Mann schien sich zu entspannen. Sie plauderten miteinander, bis Roman Adenauer mit eiligen Schritten und Unmut im Blick um die Ecke ihrer niedrigen Häuserzeile bog, eine kräftige Frau im Schlepptau.
Roman lächelte Pessa an, legte jedoch eine Hand auf die Schulter seines Freundes, der daraufhin versteinerte. Die Frau baute sich neben ihnen auf.
Nebenan knarrte die Tür und Nadia sah ihren Nachbarn herauslugen.
„Nadjescha“, brummte er. „Gibt es ein Problem?“
Pjotr redete wie die Onkel aus russischen Märchen, aber Nadia wusste, dass er perfekt Deutsch sprach. Ihr schrulliger Nachbar besaß die Statur eines Bären, doch das Gemüt eines Stubenkaters.
„Njet“, antwortete sie.
„Nachrichten von Jelena?“
Die Frage erwärmte ihr Herz. Pjotr und seine Frau schienen sich mit Linas Verschwinden ebenso wenig abgefunden zu haben wie sie. „Nein.“
„Gebt die Hoffnung nicht auf. Erst recht nicht jetzt.“
„Was meinst du?“
Er wies auf Roman, der auf Pessa einredete. „Sie bedrohen euch. Ich erinnere mich an ihn. Unangenehmer Junge, wie der Vater.“
Nadia fiel ein, dass Pjotr in der Schule nebenan unterrichtet hatte, bevor sie zu baufällig wurde.
„Kennst du die anderen beiden auch?“
„Nein, aber den Mann, der neulich hier herumlungerte, Kyrill Wernow.“
Die kräftige Frau hatte mitbekommen, dass Pjotr und andere Nachbarn sie beobachteten, machte sich breit. „Na, Opa, genug gesehen?“
Roman fuhr herum, starrte erst sie, dann Pjotr an, nickte dem ehemaligen Lehrer zu, hob sogar eine Hand. Aber sein Gesicht wirkte verärgert.
Pjotr schloss die Tür und Roman und seine Freunde zogen ab.
„Und?“, fragte Nadia, sobald sie wieder in der Küche waren.
„Er hat uns zu unserer Hochzeit gratuliert und gefragt, wie der Spreewald war.“
Nadias Hand wanderte zu ihrem Herzen. „Haben sie uns beobachtet?“
„Er ist zu schlau, irgendwas zuzugeben, aber er will auch, dass wir merken, dass er die Kontrolle hat. Er behauptet, er überlege, hierher zu ziehen, und checke deswegen die Lage; außerdem gäbe es Berichte über Eindringlinge. Die Wache hätte sie hierher beordert.“
„Blödsinn!“
Pessa umarmte sie. „Hoffnung“, wisperte er in ihr Ohr.
Dasselbe hatte Pjotr gesagt.
„Sie würden uns nicht beobachten, wenn sie keine Angst hätten.“
„Was ist mit Lina? Sie werden sie abfangen.“
„Ihr fällt was ein. Wir müssen die Augen aufhalten.“
Als sie den Damm betraten, flogen ihnen Steine und winzige Geschosse um die Ohren und wütendes Gebrüll donnerte auf sie herab. Ohne sich umzusehen, hetzten sie quer über die Straße, bogen in eine Nebenstraße ein, stürmten blindlings davon, rohes Gelächter und wilde Schreie im Nacken.
Nach unzähligen Hakenschlägen in Seitenstraßen hinein verlor Lina die Orientierung, rannte Quinn nur noch hinterher.
Nach einem Slalomlauf um etliche Häuserblocks blieb Quinn plötzlich schwer atmend stehen und beugte sich vornüber. Lina zog sie zu einem Werksgelände, quetschte sich durch eine Hecke, huschte an dieser entlang, bis sie ein Kellerfenster fand, durch welches sie kriechen konnten. Danach schlängelten sie sich bis in einen Lagerraum, der mit Fahrzeugen vollgestellt war, ansonsten aber verlassen schien.
„Da hoch.“ Lina schob Quinn ins Führerhaus eines Lieferwagens, wo sie in Deckung gingen.
Nach einer Viertelstunde wagten sie es, sich wieder aufzurichten, und glitten auf die porösen Kunstledersitze.
Lina musterte Quinn. „Bist du verletzt?“
Quinn zeigte ihr zwei blutige Kerben auf dem Arm. „’Ne Ahnung, was das war?“
„Krampen. Schießt man mit Katapulten.“
„Hört sich nach einer armseligen Bande an.“
„Jugendliche vielleicht.“ Lina strich sich über ihr Bein. „Einer hat mich mit dem Stein erwischt. Arschgeigen. Geht’s dir gut?“
„Nur außer Puste.“
„Was macht die Wunde?“
„Alles okay.“
„Denkst du, wir haben sie abgehängt?“
„Ja, aber ich brauche Straßenschilder, um mich neu zu orientieren.“
Unschlüssig starrten sie durch die trübe Scheibe.
„Bau den Bogen zusammen“, sagte Lina schließlich.
Ein müder Schäferhund war alles, was ihnen auf dem weitläufigen Werksgelände in die Quere kam. Hechelnd zuckelte er ihnen einige Schritte hinterher, dann legte er sich auf den dampfenden Asphalt.
Stray cat in a mad dog city. Nine ways to sorrow.
Sie ließen ihn hinter sich, passierten unzählige rote Gebäude, schlichen durch Lagerhallen und Bürokomplexe.
„Scheint nicht besetzt zu sein“, meinte Quinn und fächelte sich Luft zu. Mittlerweile stand die Sonne im Zenit und briet sie.
„Könnte sein, dass die Kolonie das Gelände hier geräumt hat“, sagte Lina. „Manchmal gibt es solche Aktionen. Da ist der Zaun.“
Vor dem Werksgelände dachte Quinn kurz nach und wandte sich nach links.
Angenehmer Schatten empfing sie. Die Straße war eingerahmt von Grünstreifen und breiten Fußwegen. Baumkronen verdeckten die wenigen Gebäude.
„Schön hier“, sagte Quinn.
Lina stimmte ihr zu. Abgesehen von Autos lag kein Schrott herum, die Bäume schimmerten grün und schienen gesund, die Gegend friedlich. Vögel zwitscherten und Insekten summten.
„Motardstraße.“ Mühsam entzifferte Quinn das Straßenschild, als sie an einem verwaisten Platz ankamen. Eine Rasenfläche erstreckte sich vor ihnen, dahinter ragten hohe Gebäude mit vielen Fenstern auf.
Lina beschlich eine unangenehme Empfindung. „Hier fühle ich mich beobachtet.“
Quinn brummte etwas Undeutliches und wandte sich nach rechts.
Als sie sich einer Brücke näherten, qualmten Linas Socken. Ihre Turnschuhe hatte sie längst eingetauscht gegen Armeestiefel. Wie Quinn hatte sie ihre Hosen hochgekrempelt. Ihre Schienbeine glänzten vor Schweiß.
„Ein Königreich für eine Dusche“, murmelte sie und dachte daran, dass sie heute Morgen zum Waschen keine Gelegenheit gehabt hatte. Sie hatte die Toilette benutzt; Quinn eins der anderen Zimmer. Notdürftig hatte sie sich mit einem angefeuchteten Lappen gesäubert, die Spuren der verrückten Nacht beseitigt und sich dabei geschämt. Hatte Quinn kaum in die Augen blicken können. Diese hatte anscheinend beschlossen, das Erlebnis totzuschweigen.
Quinn wies auf den Fluss. „Kannst du haben.“
Lina hob den Feldstecher vor die Augen. „Sieht verlassen aus. Wir sollten trotzdem vorsichtig sein.“
In der Nähe befand sich ein niedriges Tor mit einem verrosteten Vorhängeschloss. Sie kletterten darüber und schlichen an efeuüberwucherten Zäunen entlang bis an die Uferböschung. Quinn hielt den Bogen schussbereit in der Hand, Lina packte ihre Keule und lugte rasch um einen Brückenpfeiler. Nichts. Wasser plätscherte gegen Beton; es roch nach fauligem Schlamm, sonst schien alles ruhig.
Ein Bad zu nehmen wagten sie nicht, aber sie zogen Stiefel und Socken aus, hängten sie sich um den Hals und wateten unter der Brücke entlang durch das kniehohe Wasser. An der gegenüberliegenden Seite rasteten sie, tranken, teilten sich einen Apfel und ein paar Walnüsse.
„Wenn wir die Straße weitergehen, kommen wir wieder an der großen Hauptstraße heraus“, erklärte Quinn. „Ich schätze drei, vier Kilometer bis zur Zitadelle.“
„Es gibt Patrouillen rund um das Fort. Die bringen uns bestimmt nach Hause.“
„Oder erschießen uns, bevor du deinen Ausweis zücken kannst, weil sie uns für Streuner halten.“
Lina kratzte sich an der Nase. „Also?“
„Am Fluss näher heran und die Lage checken.“
Gestrüpp zerkratzte ihnen Arme und Gesichter, doch sie gelangten ungesehen bis an ein Heizkraftwerk. An mehreren Stellen wucherte der Fluss zur Seite aus. Der morastige Untergrund saugte sich schmatzend an den Stiefeln fest und erschwerte das Gehen. Die Sonne buk ihre nassen Hosen zu steifen Hülsen. Es war unglaublich anstrengend.
Nahe des Kraftwerks verpestete fauliger Gestank die Luft. Fliegenschwärme surrten über ölig schimmernden Tümpeln.
„Klärwerk“, erklärte Lina mit angehaltenem Atem. Es lag auf der anderen Flussseite, ein gigantischer Komplex aus schiefen Gebäuden, schrägen Schornsteinen und zerknickten Rohren.
„Abgesoffen?“
„Vor Ewigkeiten. Ich glaube, da drüben ist alles verseucht.“
„Hier auch“, knurrte Quinn und hob ihren rechten Stiefel. Zäher Schlamm tropfte herunter. „Wir waten durch verdünnte Kacke.“
Sie entfernten sich ein wenig vom Fluss, dessen ohnehin ungesunde Farbe sich änderte, je weiter sie stapften. Er wurde braun, dann schwarz. Das Gestrüpp und die Baumreihen schwanden zusehends. Bald ragten kohlefarbene Stümpfe und weiße Äste aus dem Uferschlamm. Abgesehen von Insektenwolken schien alles Leben ausgestorben.
Und plötzlich erstreckte sich vor ihnen ein stinkender See, dessen Konsistenz und Farbe an verdorbene Fleischbrühe erinnerte. Es stank so abscheulich, dass Lina Angst hatte, der Geruch oder die Faulgase würden sie umbringen.
„Ruhlebener Altarm“, sagte Quinn, ein Würgen unterdrückend. „Alles überflutet und vergiftet.“
„Hinter dem Klärwerk waren früher mal Wiesen, ein Krematorium und ein Friedhof. Als Kind habe ich mir immer schwimmende Mumien vorgestellt.“
Quinn starrte auf die Wasserfläche, als erwarte sie vorbeiziehende Gebeine. „Wir sollten zurück zur Straße.“
„Ist nicht mehr weit. Man sieht das Fort schon.“ Lina zeigte auf eine Turmansammlung in der Ferne und händigte Quinn den Feldstecher aus.
„Da sind überall Wachen. Auf der Brücke stehen gepanzerte Autos. Die Straße ist komplett zugebaut.“ Langsam ließ Quinn das Glas sinken. „Ihr habt wirklich eine Mauer rund um Spandau gezogen.“
„Um den Kern. Früher war Spandau viel größer. An vielen Stellen steht meterhoch Wasser, selbst im Sommer.“
Quinn überlegte, während Schweiß ihr zerschlagenes Gesicht hinunterlief. „Also ist die Mauer unterbrochen?“
„Wo zu viel Wasser ist, ja. Wieso?“
Quinn gab Lina das Fernglas zurück. „Lass uns noch ein Stück näher heran.“
In der Nähe eines Fitnessstudios stolperten sie beinahe in eine Patrouille. Im letzten Augenblick zerrte Quinn sie hinter eine Hauswand.
Drei Männer und eine Frau schlenderten vorbei. Die Frau unterhielt sich mit einem der Kerle über einen Film, die anderen beiden rauchten Süßgraszigaretten. Besonders wachsam wirkten sie nicht. Offenbar passierte nicht allzu viel an Spandaus Ostgrenze.
Die vier liefen die überspülte Straße hinunter und bogen nach links ab. Lina und Quinn wagten sich aus ihrem Versteck, schlichen zu einem Geschäft, auf dessen Fassade sich die Flutlinien vergangener Jahre abzeichneten.
„Näher heran kommen wir nicht“, flüsterte Lina. Von ihrer Häuserecke aus konnten sie die Brückenposten bereits mit bloßem Auge erkennen.
„Check die Lage. Ich behalte die Straßen im Blick.“
Die vergrößerten Ausschnitte zitterten vor Linas Pupillen vorbei. Langsam schwenkte sie über die beiden Zugangsbrücken, die trutzigen Mauern und Türme, die Geschütze, antiken Kanonen und Maschinengewehre. Dies hier war eine richtige Burg. Roter Stein, mittelalterlich wirkende Zinnen, spitze Dächer, unter denen Gewehre aus Fenstern ragten. Eine uneinnehmbare Festungsinsel. Der Gedanke, hinüberzuspazieren und mit ihrem Passport zu wedeln, erschien ihr mit einem Mal unglaublich naiv.
Plötzlich stockte sie und riss das Fernglas herunter. „Russki!“
Quinn blickte sie verständnislos an.
„Der Brückenposten! Er war auf dem Schiff.“
„Einer von Romans Typen?“, hakte Quinn nach.
Lina nickte. Unvermittelt wurde ihr schlecht und sie lehnte sich gegen die Wand. War es Zufall oder befürchtete Roman tatsächlich, sie würde es zurückschaffen? Dann musste ihm der Arsch auf Grundeis gehen.
„Plan B.“ Quinn zerrte sie zurück zu der Kloake, die einst die Spree gewesen war.
„Vielleicht arbeitet er da immer. Hätte mich nicht mal erkannt, so wie ich aussehe. Uns passieren lassen. Vielleicht wäre ich längst zu Hause.“
Quinn stöhnte. „Oder er hätte Roman gewarnt und der hätte bei euch gewartet.“
„Was machen wir denn jetzt?“
Lina sah total erledigt aus. Dreckig, verheult, verzweifelt, verbrannt von der Sonne. Die blonden Haare klebrig vor Schweiß und Schmutz, die Klamotten schlammig, die Stiefel verkrustet. Niemand würde sie so hereinlassen.
Sie waren dem Spreeverlauf gefolgt, so gut es ging, dann der Havel. Ihr Kopf hatte unentwegt Wege ausgespuckt, Straßennamen und markante Punkte. Ihr Gehirn funktionierte reibungslos, doch ihr Körper hatte aufgegeben. Nach endlosen Stunden Wassertreten und Rutschpartien im Matsch war sie unter einer Bahnbrücke zusammengesackt. Farbpunkte tanzten vor ihren Augen und ihre Beine waren steif. Lina war neben ihr umgefallen, hatte sich seither nicht mehr bewegt. Nur ihr Mund stand nicht still.
Mühsam richtete Quinn sich auf, tastete nach den Tabletten, brach sie entzwei. „Wir schwimmen rüber.“
„Spinnst du?“
„Ist nicht mehr das Wasser, das stinkt.“
„Da drüben sind wir mitten in Spandau. Altstadt. Rathaus.“
„Sind das Checkpoints?“
„Nein. Die Brücke links von uns ist einer.“
„In einer Stunde ist es halbwegs dunkel. Mit ein bisschen Glück fallen wir nicht auf.“
„Du willst offen rumlaufen?“
„Ist weniger verdächtig.“
„Und wenn uns wer anhält?“
„Müssen wir hoffen, dass es kein Bekannter ist. Wie weit ist es bis zu dir?“
„Eine Stunde. Ein bisschen länger, wenn wir die Hauptstraßen meiden.“
Der Brei aus Kürbis, Kartoffeln und Kräutern gab neue Energie, die Tablette vertrieb die gröbsten Schmerzen, dennoch forderte die kurze Schwimmstrecke ihr das Letzte ab. Trockenübungen und drei Ausflüge in ein halb leeres Hallenbad lehrten einen nicht viel. Mehr schlecht als recht hielt sie den Kopf oben, versuchte sich an die Froschbewegungen zu erinnern und die Panik zu verdrängen. Trotzdem schluckte sie eine Menge säuerliches Wasser, das sie hoch würgte, sobald sie die Ufermauer erklommen hatte.
Danach war sie so fertig, dass sie am liebsten geheult hätte.
„Siehst wieder ganz passabel aus“, lenkten Linas Worte sie vom Selbstmitleid ab. „Engere Sachen stehen dir übrigens viel besser.“
Linas Körper zeichnete sich unter der tropfenden Kleidung deutlich ab. Wie ein Blitzlicht zuckte die letzte Nacht auf. Sofort verdrängte sie die Erinnerung, fuhr sich verlegen durch die triefenden Haare.
Lina rieb sich ihr Gesicht sauber und zupfte ihre Klamotten zurecht. „Wir sollten noch ein bisschen warten. Klitschnass fallen wir zu sehr auf.“
Quinn baute den Recurve auseinander und verstaute ihn mit den Pfeilen in ihrem Rucksack. Dann kletterte sie die Anhöhe hinauf, lugte über die Kante. Sandiger Boden, ein verlassen wirkendes Gebäude, dahinter eine Straße und ein Betonklotz, der die Aussicht versperrte. Im Geiste durchforstete sie die Straßenkarte, fand den Klotz jedoch nicht.
„Einkaufszentrum“, erklärte Lina auf ihre stumme Frage hin. „Außerdem Kaserne, Shelter, Schule, Fahrzeugpark.“
„Viele Leute“, fasste Quinn zusammen.
„Genau wie auf den Hauptstraßen. Die sollten wir meiden. Zu viele Wachen, einige davon in Fahrzeugen. Auch wenn wir wieder halbwegs menschlich aussehen, fallen wir auf.“
„Wohin dann?“
„Bullengraben.“
„Der ist nicht auf meiner Karte.“
Lina feixte. „Ist ein Weg durch die Felder. Als Kind bin ich darauf Fahrrad gefahren, jetzt ist er zu durchlöchert. Die Arbeiter benutzen ihn als Versorgungsweg. Keine Patrouillen. Es gibt einen Uferpfad zu ihm. Welcher Tag ist heute?“
„Freitag. Warum?“
„Weil Leute gern am Freitagabend abhängen.“
Der Uferpfad entpuppte sich als gepflasterter Weg, der stellenweise vom Wasser weggenagt worden war. Eine Baumreihe, gelichtet wie ein schadhaftes Gebiss, grenzte ihn gegen ein Wohnviertel ab.
Menschengruppen lagerten am Ufer oder im Gras vor den Häusern. Mittlerweile hatte die Dämmerung eingesetzt und Kleidung und Haare waren so weit getrocknet, dass sie nicht auffielen. Lina hatte ihr Cap auf Schwarz gedreht und Quinn auf den Kopf gestülpt, trug nun die Feldmütze, unter die sie ihr Haar gestopft hatte. Die Hemden hatten sie am Bauch zusammengeknotet; die oberen Knöpfe standen offen. Die Ärmel waren hochgerollt, dafür bedeckten die Hosen nun ihre Beine bis zu den nassen Stiefeln. Wenige Handgriffe, die sie völlig anders aussehen ließen, angepasst an Spandaus Nachtleben, zumindest auf einen ersten, schnellen Blick. Ein zweiter hätte ihr zerschundenes Gesicht enthüllt.
Quinn erschrak, als Lina sich bei ihr einhängte und sich an sie schmiegte, doch sie begriff, dass es Show war. Wie ein Pärchen flanierten sie an den schwatzenden, lachenden Menschen vorbei. Quinns Nerven flatterten. Linas Hand war feucht, als sie ihre ergriff, aber nach außen hin wirkte sie entspannt und locker, trällerte leise ein Lied.
„I don’t need another friend when most of them I can barely keep up with.“
Was zur Hölle war mit ihr los gewesen letzte Nacht? Bei der Erinnerung wurde ihr abwechselnd heiß und kalt. Jetzt ertrug sie die Nähe kaum, dabei hatte sie vor einigen Stunden ... Ihr wurde flau und sie hatte das Bedürfnis, sich die Finger abzuwischen. Mit Yianni war es ähnlich. Danach hatte sie ihn nie ansehen können, ihm bittere Worte an den Kopf geschmissen und zum Teufel geschickt. Erstaunlich, dass er das seit Jahren ertrug.
Lina hängte sich wieder bei ihr ein. „Du bist steif wie ein Brett.“
War Lina gestern auch gewesen. Ängstlich und angespannt. „Tut mir leid.“
Linas Blicke glitten über sie. Manchmal hatte Quinn das Gefühl, dass sie in Menschen hineinschauen konnte. Wie bei Yianni oder Naz oder dem Angreifer heute Nacht. Woher hatte sie gewusst, dass der Mann keine Waffen trug?
Als wolle sie sie beruhigen, drückte Lina ihren Arm, bevor sie losließ. Sie hatten einen Abzweig erreicht.
Von hinten johlten Leute.
„Hier ist eine beliebte Knutschecke“, sagte Lina.
Tatsächlich machten sie Pärchen aus, die eng umschlungen an Baumgrüppchen standen oder sich im Gras wälzten. Niemand nahm Notiz von ihnen.
An einer Straße duckten sie sich hinter Autos, bevor sie auf die andere Seite sprinteten und zwischen Häuserreihen verschwanden. Aus den Fenstern fiel Licht.
„Strom“, murmelte Quinn.
„Gibt’s nur zwei, drei Stunden am Abend. Irgendwas ist immer kaputt.“
Nach einer weiteren Straße wurde es schlagartig dunkel und Quinn hörte, wie Lina aufatmete. Kurz darauf öffnete sich der Weg, gab den Blick frei auf eine Landschaft aus Feldern, Äckern, Wiesen und niedrigen Feldsteinmauern.
„Da hinten standen früher viele Häuschen“, erklärte Lina. „Hat man platt gemacht für Anbauflächen.“
„Was baut ihr an?“
„Alles Mögliche. Auf den flachen Gebäuden - Autohäusern, Schulen, Supermärkten und so - bepflanzen wir die Dächer, ähnlich wie du.“
Nur in größerem Maßstab. Das, was die Burg abwarf, war ein Fliegenschiss im Vergleich zu dem hier.
Sie wollte weitere Fragen stellen, merkte jedoch, dass sie dazu zu müde war. Lieber konzentrierte sie sich darauf, einen Fuß vor den anderen zu setzen.
Auf der Hälfte der Strecke sprinteten sie vor einem Tier davon, das sie aus der Dunkelheit ankläffte. Ein Hund, vermutete Quinn. Lina tippte auf einen Fuchs.
Danach verfielen sie endgültig in Schweigen. Auch Lina schien zum Umfallen schlapp, taumelte gegen sie. Aus der Ferne mussten sie wirken wie Betrunkene.
Auf den letzten Metern tapsten sie über Metallgitter, die man über einen morastigen Abschnitt montiert hatte. Dann endete der Weg abrupt an einer dörflich wirkenden Straße. Die Silhouette einer Kirche blitzte auf. Neben ihr lag eine Brachfläche, die im Sternenlicht glitzerte.
Sie mussten am Meer sein. Die Luft war anders. Frischer, belebender, salziger. Quinn hörte das Plätschern von Wellen. Gegenüber endeten die Straßen übergangslos im Wasser.
„Hier wohnt niemand mehr“, sagte Lina. „Die Ostsee - manche nennen sie hier das Mecklenburger Meer - stoppte buchstäblich vor unserer Haustür. Nur im Herbst flutet sie alle paar Jahre noch weiter Richtung Spandau. Die Leute zogen lieber in die anderen Bezirke.“
„Wie lange noch?“ Quinn merkte, dass sie Mühe hatte, die Worte zu artikulieren. Gleich würde sie im Stehen einschlafen.
„Viertelstunde.“
Quinn schob die Daumen unter die Rucksackriemen und überließ Lina die Führung.
„Vor 70 Jahren war hier noch der Todesstreifen“, erzählte Lina weiter, während sie in eine Gartenkolonie einbogen. „Ziemlich genau am Grenzstreifen verläuft jetzt die Küste.“
Sie liefen mehrere Schleifen, bis sie vor einem Bahnübergang standen. Die Stufen zu erklimmen war ein Kraftakt, den Quinn nur meisterte, weil Lina sie von oben zog. Dann durfte sie sich hinsetzen und gegen die Balustrade lehnen, während Lina die Schienen und Häuschen unter ihnen absuchte. Sinnlos bei der Dunkelheit, befand Quinn und schloss die Augen.
Sie schreckte hoch, als Lina ihr eine Flasche Essigwasser hinhielt. „Trink was“, befahl sie leise. „Du siehst aus wie eine Leiche. Hast du heute Nacht nicht geschlafen?“
„Kaum.“ Zu viele Gedanken und unschöne Träume, wann immer sie weggenickt war. Im Morgengrauen war sie aufgestanden und hatte aus dem Fenster gestarrt.
„Etwas ist faul.“ Lina wies nach unten. „Hab Gestalten vorm Haus gesehen.“
Quinn runzelte die Stirn. „Kennst du sie?“
„Zu dunkel. Ich tippe auf Romans Freunde.“ Lina rutschte neben sie, mit einem Mal entmutigt.
„Shit. Lass uns bis morgen in den Gärten unterkriechen.“
Lina drückte die Handflächen gegen ihre Augen, brach zu Quinns Erleichterung aber nicht in Tränen aus. Leise traten sie den Rückzug an, schlugen sich in die Laubenkolonie, stießen auf ein Häuschen, dessen Tür sie eindrücken konnten, schoben einen Sessel davor.
Innen herrschte der Muff von Jahren. Im Licht einer Kerze streiften sie die feuchten Socken ab, stellten die Stiefel aufs Fensterbrett. Quinn bekam noch mit, dass Lina sich in der winzigen Küche ein Eckchen zum Pinkeln suchte, schlief jedoch ein, bevor diese zurückkehrte.
Der Schuppen maß zwei mal zwei Meter. Seine Eigentümer hatten ihn an eine gekalkte Mauer gebaut, ein Regenrohr an der Seite befestigt und ein Fass darunter gestellt. Wuchernder Efeu hüllte alles ein.
„Wahrscheinlich hat ihn deswegen niemand entdeckt“, vermutete Lina, die dicken Stränge mit der Machete zersäbelnd.
Quinn rüttelte an der Plastikklinke. „Verschlossen.“
„Gib mir das Brecheisen.“
Sie hatten es unter der Spüle gefunden, zusammen mit einer Zange und einem Schraubenzieher.
„Früher nannte man das Ding Kuhfuß“, sagte Quinn.
„Hast du mir schon erzählt.“ Lina klemmte das Eisen in den Türrahmen und stemmte sich gegen es, bis die Tür splitternd nachgab.
Beide sprangen zurück, als eine Armee verschreckter Käfer und Kellerasseln sowie ein Schwall verbrauchter Luft heraus strömte.
Lina zerrte einen Rasenmäher ins Licht. Es folgten ein Sonnenschirm, ein Liegestuhl, Pinsel mit steinharten Borsten, Farbdosen, ein Verlängerungskabel, mehrere Meter Schlauch, eine Menge Krimskrams.
Lina musterte den Berg nutzloser Dinge. „Scheiße.“
„Irgendwas zu essen?“
„Hustenbonbons.“
„Helfen gegen den Durst.“ Quinn klopfte auf ihre leere Flasche, verstaute die Brechstange im Rucksack und fuhr sich durch die verschwitzten Haarstoppeln, die sich aufrichteten wie die Stacheln eines Igels. „Gehen wir’s an.“
„Jetzt? Am helllichten Tag?“
„Wir haben keine Vorräte mehr und hier werden wir nichts finden.“
„Warte.“ Lina hob einen Spiegel auf und betrachtete ihn nachdenklich. Ein Schminkspiegel, der geradeso in ihre Hand passte.
Quinn verstand sofort. „Signale.“
„Da.“ Lina reichte Quinn den Feldstecher. „Vor der Turnhalle.“
„Wer ist sie?“
„Kelli. Die braune Schnepfe. Der da unten im Graben hockt, ist Jumper.“
„Nur zwei.“
„Hinter dem Haus hocken vielleicht auch welche.“ Lina rieb sich den Nacken. „Wir können nicht mitten am Tag angreifen. Die Nachbarn werden denken, wir sind die Bösen.“
„Schick noch eine Nachricht.“
Lina zog den Spiegel hervor, richtete ihn auf die Fenster und ließ ihn aufblitzen. Danach hockte sie sich wieder hinter die Balustrade. Mit angehaltenem Atem warteten sie auf eine Reaktion.
„Sicher, dass sie deine Signale verstehen?“, wisperte Quinn.
„Als ich zwölf war, hab ich Pessa wahnsinnig gemacht mit diesen Spiegeln.“
„Warum?“
„Rebellische Phase. Er war der neue Kerl meiner Mutter.“ Lina verlagerte ihr Gewicht. Das Knien auf Beton war unbequem. „Die Nachbarn machen mir Sorgen.“
„Die Vorhänge sind zu. Sie schlafen alle.“
„Trotzdem.“
Quinn sah sie eindringlich an. „Wir haben keine Wahl.“
„Ich weiß. Ich hab nur noch keinen Plan.“
„Ich schon.“ Quinn wies auf den Bogen neben sich.
„Wir können nicht einfach Leute erschießen. Früher haben wir uns verteidigt, da galten andere Gesetze.“
„Ich muss ihn ja nicht töten.“
„Da sind wir aber froh.“
Linas Blut gefror in ihren Adern, als sie Romans Stimme hinter sich hörte.
Er war nicht allein. Jogga stand schräg hinter ihm. Sie mussten unter der Treppe gesessen und sie gehört haben.
Roman grinste und setzte zu sprechen an, doch Quinn schnellte hoch und drosch ihm den Ellenbogen gegen die Kehle. Roman keuchte und ging in die Knie, rappelte sich jedoch rasch wieder auf und verpasste ihr einen Faustschlag in den Magen. Bevor er einen Kinnhaken landen konnte, klebte Lina auf seinem Rücken und drückte ihm die Luft ab.
In Jogga kam Leben, als er seinen Colonel in Gefahr sah, und er packte Lina. Gleichzeitig drehte Roman sich im Kreis, um sie abzuschütteln, stieß sie gegen die niedrige Balustrade. Lina wurde schwindlig, sowohl von der Dreherei als auch von dem Blick auf die Gleise.
Quinn, die nach dem Hieb keuchend nach vorn geklappt war, griff nach der Brechstange, donnerte sie gegen Joggas Rücken und Schulterblätter, sodass dieser schreiend zu Boden fiel. Quinn trat ihm in den Bauch, dann holte sie gegen Roman aus, doch der drehte sich so, dass sie stattdessen Lina traf.
Schmerz rauschte Linas Arm bis zur Schulter hoch. Sie schrie auf und verlor den Halt. Roman stieß sie vor die Brust. Sie stolperte rückwärts, landete auf Jogga, der sich erneut krümmte.
Indes hatte Roman Quinns rechten Arm ergriffen und verdrehte ihn nun nach hinten, bis er hörbar knackte. Quinn stöhnte. Der Kuhfuß polterte zu Boden und sie fiel auf die Knie.
„Arschloch!“, brüllte Lina, trat von unten nach Roman, erwischte seine Schienbeine und Kniekehlen. Er knickte ein, fing sich jedoch im letzten Moment und schlug nach ihr.
Und dann passierte etwas in Linas Kopf. Arams Lektionen schwammen aus ihrem Unterbewusstsein herbei. Irgendwie gelang es ihr, zwischen Tritten und Beinschlingen vom Boden hochzukommen und eine Kampfposition einzunehmen. Ausweichen, blocken. Ausweichen, kontern. Roman traf, hart und entsetzlich schmerzhaft. Doch er traf nur ihre Arme. Zweimal, dreimal keuchte er selbst auf, wenn seine Knöchel ihren Ellenbogen streiften oder auf ihre Ellen prallten. Die abgeblockten Schläge machten ihn sauer. Sein Gesicht verwandelte sich in eine Fratze. Speichel tropfte von seinem Kinn. Er begann zu treten, aber Fußtritte zu parieren, lernte man bereits als Anfänger. Sie hob ihr Bein schräg, sodass sein Schienbein auf ihr Knie donnerte. Das warf sie beinahe um, aber er schrie auf und zuckte zurück. Zeit für einen eigenen gezielten Tritt. Sie hieb ihre Fußspitze zwischen seine Beine und er klappte zusammen wie ein Taschenmesser. Danach verschränkte sie ihre Hände zu einer großen Faust und wuchtete sie auf seinen Nacken. Hinterher gab RoAdie Adenauer keinen Mucks mehr von sich.
Jogga heulte, doch Lina ignorierte ihn, hockte sich neben Quinn, aus deren Gesicht alle Farbe gefallen zu sein schien.
„Ist er gebrochen?“, fragte sie, ihren eigenen lädierten Arm massierend.
Quinn schüttelte den Kopf, hielt sich die Seite.
Lina warf einen Blick auf die Straße, sah Bewegung hinter Gardinen und drei Personen Richtung Treppe rennen.
„Mist.“ Rasch griff sie sich Machete und Tischbein, drückte Quinn den Bogen in die Hand. „Kannst du schießen?“
Quinn nickte, doch als sie den Bogen spannte, verzog sich ihr Gesicht. Lina betete, dass sie durchhielt. Aber Quinn wirkte entschlossen, zielte bedächtig. Offenbar schätzte sie KaWe als den gefährlichsten Gegner ein, obwohl Kelli bereits näher war.
Der Pfeil schnappte von der Sehne, holte den bulligen Mann im Lauf von den Füßen. Kelli schrie wütend auf und Jumper knurrte. KaWe selbst betrachtete verwundert die gezackte Wunde an seinem Hals.
„Nicht töten!“, brüllte Lina Quinn zu.
„Hab auf die Schulter gezielt.“ Quinn lehnte sich gegen die Balustrade, legte den nächsten Pfeil ein.
Unten sprang eine Tür auf. Pessa und ihre Mutter kamen aus dem Haus gelaufen; ihre Mutter mit einem Küchenmesser in der Hand. Von hinten warf sie sich auf Jumper, der sie nach der ersten Überraschung abschüttelte wie eine Fliege.
Pessa zögerte, aber dann ging eine weitere Tür auf.
„Jelena! Schto proisloschlo?“
„Sie versuchen, uns umzubringen!“, brüllte Lina Pjotr zu. „Pomogitje mamje!“
Der rundliche Mann eilte zu Jumper, der mit ihrer Mutter rang. Lina hörte das Klatschen, mit dem die Bärenfaust auf die Wange des Unteroffiziers traf. Sie sah, wie ihre Mutter Pessa hinterherlief und Pjotr kurzerhand seinen Fuß auf Jumpers Brust stellte, dann schnellte Quinns Pfeil davon. Kelli kreischte, als die Spitze in ihren Oberschenkel eindrang und sie auf der zweiten Stufe den Halt verlor. Pessa fing sie auf, ließ sie zu Boden gleiten, wehrte ihre rudernden Arme ab, drehte sich gerade noch rechtzeitig zu KaWe und wich dessen Schlag aus.
Lina rannte die Treppen hinunter, verpasste Kelli im Vorbeigehen einen Stoß mit dem Tischbein, schmiss die Waffen beiseite und warf sich gemeinsam mit ihrer Mutter und Pessa auf KaWe. Zu dritt rangen sie ihn schnell nieder.
„Kyrill“, dröhnte Pjotrs Stimme zu ihnen herüber. „Besser, du hältst jetzt still.“
Schockiert blinzelte KaWe den Lehrer an, sah plötzlich viel jünger aus.
Lina preschte die Stufen wieder hinauf, gefolgt von ihrer Mutter. Sie fanden Quinn zwischen Roman und Jogga stehend, Revolver und Kuhfuß in den Händen. Beide Männer starrten sie an, Jogga eher ängstlich, Roman eindeutig hasserfüllt.
„Blöde Schlampe“, sagte er zu Lina.
„Arschloch.“ Sie nahm ihrer Mutter die Machete aus der Hand.
In Romans Augen blitzte Angst auf. Mit jedem Schritt, den sie näher kam, kroch er ein Stückchen rückwärts. Gleichzeitig versuchte er, seine Würde zu bewahren, indem er ein arrogantes Grinsen aufsetzte. „Bringst du mich jetzt um? Vor aller Augen?“
Lina legte den Kopf schief. „Klingt verlockend.“ Dann streckte sie die Machete aus, spießte die Spitze in Romans hüpfenden Adamsapfel.
Er reckte das Kinn. „Das wäre Mord.“
„Du wolltest mich vergewaltigen, zusammen mit deinen Freunden, hast gedroht, mich umzubringen. Hast mir hier aufgelauert, mich angegriffen. Ich bin traumatisiert, hab mich nur verteidigt. Dazu PTSD. Hab viel erlebt in der City. Pessa kann das schön formulieren. Wird sehr überzeugend.“
Er schluckte sichtbar. „Das bringst du nicht.“
„Ich aber.“ Der Smith and Wesson knackte, als Quinn den Hahn spannte.
„Schießt die Möhre überhaupt noch?“ In Romans Augen stand unübersehbar Furcht, aber er brachte es fertig, abschätzend zu lachen.
Quinn schoss. Die Kugel pfiff Millimeter an Romans Schläfe vorbei. Alle keuchten auf, duckten sich.
„Beschissene Fotze!“, schrie Roman.
„Fick dich.“ Erneut richtete Quinn die Waffe auf Romans Kopf.
Pessa schob sich neben sie. „Hey. Ich glaube, das reicht.“
Quinn schien ihn nicht zu hören. „Ich hatte einen Bruder. Der war genau wie du. Ich habe ihn erschossen.“
Roman glotzte sie an.
Auch Pessa schaute verunsichert um sich. Lina erwiderte den Blick kalt, zuckte erst zusammen, als ihre Mutter sie am Arm zupfte. „Elina. Wir haben geheiratet.“
Die Bemerkung wirkte so deplatziert, dass alle erstarrten. Im selben Augenblick kam unten Bewegung in die Straße. Nachbarn liefen hin und her, kümmerten sich um Kelli und KaWe. „Jegor hat die Wachen verständigt“, schrie Pjotr zu ihnen hinauf.
Lina lächelte ihre Mutter an. „Wurde ja Zeit.“ Dann drückte sie Quinns Arm behutsam herunter.
Quinn runzelte die Stirn und blickte Pessa an. „Bist du der Psychologe?“
Pessa nickte. „Kommen Sie. Sie sehen aus, als könnten Sie etwas Ruhe vertragen. Eine Dusche, was Sauberes zum Anziehen. Ein Bier und Gulasch. Bis die Wachen hier alles geklärt haben, dauert es ein Weilchen.“
Quinns Augen füllten sich mit Tränen. Pessa legte einen Arm um sie und gab Lina den Revolver. „Der Spiegel war eine gute Idee.“
„Pass gut auf sie auf.“
Ihre Mutter weinte, stammelte von einer Frau in Neustrelitz, von Chantal und Julien. Lina hielt sie im linken Arm, mit dem rechten zielte sie auf Roman.
„Wünschst du dir nicht auch, dieser verdammte Wal wäre nie gestrandet?“
Linas Gehirn spulte die letzten Wochen rückwärts. Sie fühlte die Dattel in ihrer Hosentasche, betrachtete Roman, der vor ihr kauerte, schaute zu Quinn, die eben ihr Haus betrat.
Who am I, what and why?
„Nein.“
... eine Playlist.
Songs spielen eine gewisse Rolle in diesem Roman. Beinahe alle Kapitelüberschriften sind Namen von Liedern oder eine Liedtextzeile, mindestens aber ein Bruchstück.
Lina denkt oft in Songs oder flüchtet sich in diese, wenn alles zu viel wird. Auch Quinn und Yianni zitieren Lieder. Alle Songs, auf die angespielt wird, habe ich in der Reihenfolge ihres Erscheinens im Roman aufgelistet. Ich hoffe, ich habe alle erwischt. Viel Spaß beim Nachhören!
1 Something just like this
How much you wanna risk? I’m not looking for somebody with some superhuman gifts.
The Chainsmokers and Coldplay
Something Just Like This (2017)
Album: Memories ... Do Not Open
3 Finally
Finally I can see you crystal clear.
Adele
Rolling In The Deep (2011)
Album: 21
5 Suspicious minds
We can’t go on together with suspicious minds.
Elvis Presley
Suspicious Minds (1969)
Album: From Elvis in Memphis
7 Too late
Too late, too late, to live any other way.
Lena Fayre
This World (2015)
Album: This World
9 Come as you are
And I swear that I don’t have a gun.
Nirvana
Come As You Are (1992)
Album: Nevermind
Lina hört lieber die Version von Civil Twilight (2011).
11 I think I found hell
We’re going to die, die, down.
The Neighbourhood
Female Robbery (2012)
Album: I Love You
13 Welcome to the new age
I feel it in my bones enough to make my system blow.
Imagine Dragons
Radioactive (2012)
Album: Night Visions
15 Scared about the future
In the future, where will I be?
Coldplay
Talk (2005)
Album: X&Y
17 Beast of a burden
Lay me down. Let the only sound be the overflow.
Florence and the Machine
What The Water Gave Me (2011)
Album: Ceremonials
19 Ain’t life unkind
Lose your dreams and you will lose your mind. Ain’t life unkind.
The Rolling Stones
Ruby Tuesday (1967)
Album: Between The Buttons / Flowers
21 Past 100.000 miles
Am I floating round my tin can far above the moon?
David Bowie
Space Oddity (1969)
Album: Space Oddity
23 Where is my mind?
Your head will collapse but there’s nothing in it.
Pixies
Where is My Mind? (1987)
Album: Surfer Rosa
24 Elle l’a
Ella, elle l’a, elle l’a.
France Gall
Ella, elle l’a (1987)
Album: Babacar
25 Scare your daughter
People say that you’ll die faster without water.
Arcade Fire
Rebellion (Lies) (2005)
Album: Funeral
26 Hot town
Hot town, summer in the city. Back of my neck getting dirty and gritty.
The Lovin‘ Spoonful
Summer In The City (1966)
Album: Hums of the Lovin‘ Spoonful
27 I’m afraid there’s no aid
Sand. We cannot fight getting tanned.
Bananafishbones
Come To Sin (1999)
Album: Viva Conputa
28 No man’s land
Spend an hour in no man’s land. You’ll be leaving soon.
Bob Seger & The Silver Bullet Band
No Man’s Land (1980)
Album: Against The Wind
29 Keep your head up
Hold your head up, keep your head up, movin‘ on.
Eurythmics
Sweet Dreams (1983)
Album: Sweet Dreams (Are Made of This)
Besonders liebt Lina das Mashup mit Seven Nation Army von Pomplamoose (2019).
30 In my average home
I always feel like somebody’s watching me.
Rockwell
Somebody’s Watching Me (1984)
Album: Somebody’s Watching Me
Lina hört viel, viel lieber die Version von Madelyn Darling (2017).
32 Not an ordinary girl
But it’s not an ordinary world and you’re not an ordinary girl.
Anteros
Ordinary Girl (2018)
Album: When We Land
33 Devil inside
Here come the man with the look in his eye. Fed on nothing but full of pride.
INXS
Devil Inside (1987)
Album: Kick
34 I’m prepared to look you in the eye
Courageous, stumbling. Fearless was my middle name.
R.E.M.
Walk Unafraid (1998)
Album: Up
Lina mag die Version von First Aid Kit (2014) genauso gern.
35 Don’t believe in fear
You stupid girl.
Garbage
Stupid Girl (1996)
Album: Garbage
36 No one’s around to judge me
Sin City’s cold and empty. No one’s around to judge me.
The Weeknd
Blinding Lights (2019)
Album: After Hours
38 Roads to follow
Stray cat in a mad dog city. Nine ways to sorrow.
Zucchero
My Love (1995)
Album: Spirito Divino
39 I am nothing
I don’t need another friend when most of them I can barely keep up with.
Wye Oak
Civilian (2011)
Album: Civilian
40 Sour times
Who am I, what and why?
Portishead
Sour Times (1994)
Album: Dummy
Lina hört die Version von Christopher Bryn (2009) ein kleines bisschen lieber.
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Kapitel: | 41 | |
Sätze: | 8.162 | |
Wörter: | 67.398 | |
Zeichen: | 403.030 |
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