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Kollision

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06.12.25 00:29
18 Ab 18 Jahren
Homosexualität
Fertiggestellt

Es regnete schon wieder und Leo hasste November in Berlin. Der Regen kam schräg von der Seite und traf ihn direkt ins Gesicht, während er durch die Straßen von Kreuzberg lief. Er war auf dem Weg zu diesem alten Lagerhaus, das er vor ein paar Monaten entdeckt hatte, als er sich mal wieder komplett verlaufen hatte. Seine Orientierung war beschissen, das musste er zugeben aber irgendwie war er immer wieder an diesem Ort gelandet. Das Gebäude stand zwischen einem türkischen Supermarkt und einer Autowerkstatt, deren Rolladen schon seit Jahren nicht mehr hochgegangen war.

Leo war fünfundzwanzig Jahre alt, 1,55 Meter groß (was seine Mitbewohnerin Sabine gerne als “die perfekte Höhe für Flugzeugsitze und nichts anderes” bezeichnete) und er arbeitete in einem Plattenladen namens “Vinyl Dreams”. Niemand kaufte mehr Platten, das war offensichtlich, aber sein Chef Herbert glaubte immer noch daran, dass das Geschäft irgendwann wieder laufen würde. Herbert war siebzig, sah aus wie Einstein und ein mürrischer Gartenzwerg und jeden Abend sagte er beim Abschließen: “Vielleicht morgen.” Leo antwortete meistens nicht mehr darauf, weil er nicht das Herz hatte, ihm zu sagen, dass morgen wahrscheinlich genauso aussehen würde wie heute. Das Lagerhaus war meistens leer. Nur manchmal war diese Katze da, eine dreifarbige, die ihn immer auf diese besondere Art ansah.

Leo hatte angefangen, sie Sensei zu nennen. Heute saß sie auf einem rostigen Metallregal und beobachtete ihn. “Du siehst heute besonders kritisch aus”, sagte Leo zu ihr. Die Katze blinzelte ihr Blick gleitete auf den Boden. Er folgte ihrem Blick. Dann sah er das Paket. Es lag einfach so da auf dem Boden, zwischen Glasscherben und einer alten Ausgabe der Bild-Zeitung von 1987. Klein, in Plastikfolie eingewickelt, und es sah aus, als hätte es schon ewig dort gelegen. Leo hob es auf. Die Katze miaute sofort, ein deutlicher Warnlaut ? “Ich weiß”, sagte Leo. “Aber mein Therapeut hat gesagt, ich soll mehr Risiken eingehen. Neue Erfahrungen machen.”

Die Katze sah ihn an, als würde sie sagen wollen : Dein Therapeut meinte wahrscheinlich einen Tanzkurs, nicht das Öffnen suspekter Pakete in verlassenen Lagerhäusern. “Du hast wahrscheinlich Recht”, sagte Leo und öffnete es trotzdem. Drinnen waren Fotos von Menschen, die er nicht kannte und die alle aussahen, als hätten sie gerade schlechte Nachrichten bekommen. Eine Zahlenreihe, die viel zu lang für eine Telefonnummer war und eine kleine schwarze Pistole, die im schwachen Licht glänzte.

Leo starrte die Waffe an und sagte laut: “Okay, das ist offiziell die seltsamste Woche meines Lebens, und letzte Woche bin ich in der U-Bahn in einen Mann gelaufen, der einen lebenden Hahn spazieren führte.” Die Katze sprang vom Regal und bewegte sich zur Tür. Dann verschwand sie durch ein Loch in der Wand. Leo stand allein da mit einem Paket, dass definitiv nicht ihm gehörten und das definitiv zu Problemen führen würden. Er tat das einzige, was ihm logisch erschien – er steckte es in seine Tasche und verließ das Lagerhaus. Draußen regnete es immer noch, natürlich.

Marcus Wolff saß seit zwei Stunden in einem schwarzen Mercedes und versuchte wach zu bleiben. Er war ca. fünfzig Jahre alt, 1,91 Meter groß und hatte in seinem Leben siebenunddreißig Menschen getötet. Zumindest dachte er dass es siebenunddreißig waren. Er hatte sich die Zahl vor drei Jahren aufgeschrieben als er betrunken gewesen war und sie in eine Schublade gelegt, aber seitdem weigerte er sich nachzuzählen. Es wäre peinlich gewesen, sich verzählt zu haben. Er saß da und wartete, obwohl er selbst nicht genau wusste worauf. Ein Zeichen vielleicht oder eine Eingebung oder vielleicht nur darauf, dass seine Thermoskanne mit Kaffee leer wurde. Er hatte zu viel Zucker reingemacht weil er vergessen hatte, dass er seit drei Jahren versuchte gesünder zu leben. Das funktionierte nicht besonders gut. Dann kam der Junge aus dem Lagerhaus. Klein, dunkle Kleidung, eine Tasche über der Schulter die zu groß für ihn aussah.

Er bewegte sich schnell, hektisch wie er versuchte unsichtbar zu sein. Marcus beobachtete wie der Junge herauskam, schneller als er reingegangen war und die Tasche sah definitiv schwerer aus. "Oh nein", murmelte Marcus. "Er hat es gefunden." Das war nicht Teil des Plans gewesen. Der Plan war gewesen: Paket verstecken, Kontaktperson abholen lassen, Beweise an die richtigen Leute geben und dann vielleicht ins Zeugenschutzprogramm gehen. Irgendwo in Bayern Bienen züchten. Bienen waren einfach, Bienen stellten keine Fragen. Aber natürlich war die Kontaktperson nie angekommen weil sie vor zwei Wochen tot in einem Hotelzimmer gefunden worden war und jetzt hatte ein zufälliger kleiner Typ mit schlechtem Timing das Paket.

Marcus startete den Motor und folgte ihm. Das war seine Spezialität gewesen. Leo spürte das Auto bevor er es sah. Das war eine Fähigkeit die er in Berlin entwickelt hatte, ein siebter Sinn für Dinge die ihm folgten und ihn wahrscheinlich umbringen wollten. Meistens waren es Straßenbahnen aber heute war es ein schwarzer Mercedes. Er drehte sich um und sah die Scheinwerfer durch den Regen. Sie sahen aus wie verschwommene Kreise aus Licht und blendeten ihn. Leo ging schneller, was bei seiner Größe eher wie aggressives Trippeln aussah aber er gab sein Bestes. Er bog in eine Gasse ein, die einfach nur nach Müll roch, ihm wurde schlecht von diesem Geruch. Das Auto hielt, eine Tür öffnete sich und Leo hörte Schritte. Er drehte sich um und dachte kurz daran zu rennen aber dann erinnerte er sich daran dass seine Kondition hauptsächlich aus "drei Treppen steigen und dann fünf Minuten schwer atmen" bestand. Der Mann war groß. Sehr groß.

"Du hast etwas gefunden", sagte der Mann und seine Stimme war tief aber ruhig. Leo überlegte kurz zu lügen aber er war ein schrecklicher Lügner. Einmal hatte er versucht Sabine zu sagen dass er ihre selbstgemachte Lasagne mochte und sie hatte sofort gewusst, dass er log weil seine linke Augenbraue angefangen hatte zu zucken. "Vielleicht", sagte Leo.

"Das Paket aus dem Lagerhaus."

"Okay, hypothetisch gesprochen – wenn ich zufällig über ein Paket gestolpert wäre und hypothetisch würde dieses Paket eine Waffe enthalten, würdest du mir dann erklären warum jemand Waffen in verlassenen Lagerhäusern versteckt ? Weil das erscheint mir als äußerst ineffiziente Lagermethode." Der Mann starrte ihn an und Leo starrte zurück während der Regen weiter fiel. "Wie heißt du ?", fragte der Mann schließlich.

"Leo. Und bevor du fragst: Ja wie das Sternzeichen. Nein ich identifiziere mich nicht damit, ich bin ein Skorpion."

"Ich hatte nicht vor nach deinem Sternzeichen zu fragen."

"Oh. Gut. Das wäre auch komisch gewesen." Der Mann rieb sich die Schläfen als hätte er plötzlich Kopfschmerzen. "Ich bin Marcus."

"Normalerweise treffe ich neue Leute in weniger bedrohlichen Kontexten zum Beispiel in Supermärkten oder Zahnarztwartezimmern."

"Ich habe das Paket vor drei Monaten dort versteckt", sagte Marcus mit dieser tiefen müden Stimme. "Jemand sollte es abholen aber diese Person ist tot."

"Oh." Leo schluckte. "Das tut mir leid."

"Mir auch. Sie schuldete mir noch zwanzig Euro."

War das ein Scherz ? Leo konnte es nicht sagen weil Marcus' Gesicht wie eine Steinmauer war.

"Was ist das alles in dem Paket ?", fragte Leo.

"Beweise gegen sehr böse Menschen."

"Wie böse ?"

"Menschenhandel."

"Ah. Das ist definitiv am oberen Ende der Skala." Marcus trat einen Schritt näher und Leo trat instinktiv einen Schritt zurück und stieß gegen die Wand. "Du bist klein", stellte Marcus fest. "Wow wirklich ? Ich hatte keine Ahnung. Danke dass du das erwähnst, mein ganzes Leben ist jetzt neu kontextualisiert."

Marcus blinzelte und dann – Leo hätte schwören können dass er es sich einbildete – zuckte sein Mundwinkel für nur eine Millisekunde. "Du hast Humor", sagte Marcus. "Es ist eine Abwehrstrategie. Wenn ich Witze mache kann ich nicht schreien."

"Funktioniert es ?"

"Nicht wirklich. Ich schreie innerlich die ganze Zeit."

Marcus seufzte, ein tiefes langes Seufzen. "Hör zu Leo. Ich brauche das Paket zurück aber wenn du es mir jetzt gibst werden die Leute die mich suchen dich trotzdem finden. Sie werden denken dass du mehr weißt als du tust."

"Und wenn ich es dir nicht gebe ?"

"Dann werden sie dich definitiv finden."

"Das sind beides schlechte Optionen."

"Willkommen in meinem Leben." Leo sah ihn an, wirklich an. Marcus hatte dunkle Augen mit goldenen Flecken drin wie kleine Funken in einem Feuer das fast ausgegangen war. Es gab Falten um seine Augen und Narben. "Was schlägst du vor ?", fragte Leo leise.

"Morgen früh zehn Uhr. Das Café mit den roten Stühlen in der Oranienstraße. Kennst du es ?"

"Ja und was machen wir dann ?"

"Dann entscheiden wir wie wir beide überleben."

Marcus drehte sich um und ging zurück zu seinem Auto aber dann rief Leo: "Marcus !" Marcus hielt inne und drehte sich um. "Die Katze im Lagerhaus die dreifarbige – kennst du sie ?" Marcus' Gesicht wurde weicher. "Sie war da als ich das Paket versteckt habe. Hat zugesehen, sehr kritisch als hätte sie bessere Verstecke vorschlagen können." Leo lachte, es kam überraschend. "Sie ist so."

"Hat sie einen Namen ?"

"Ich nenne sie Sensei weil sie aussieht als würde sie über die Geheimnisse des Universums nachdenken. Oder über Thunfisch, schwer zu sagen."

Marcus lächelte, wirklich lächelte und es verwandelte sein ganzes Gesicht. "Sensei", wiederholte er. "Das passt." Dann war er weg und Leo stand allein in der Gasse, durchnässt mit einem gestohlenen Paket und dem seltsamen Gefühl dass sein Leben gerade eine Richtung eingeschlagen hatte die definitiv nicht in seinem Fünfjahresplan stand. Sein Fünfjahresplan war hauptsächlich: "Nicht sterben, vielleicht eine Katze adoptieren." Das lief nicht gut.

Das Café hieß "Morgenrot" aber alle nannten es "das Café mit den roten Stühlen". Leo kam fünfzehn Minuten zu früh. Seine Nervosität hatte durch die morgendliche Stadt getrieben. Der Barista mit den Dreadlocks machte ihm einen schwarzen Kaffee.. Leo setzte sich ans Fenster und beobachtete den Regen. Berlin sah aus wie eine verschmierte Kohlezeichnung. Das Paket lag in seiner Tasche. Um Punkt zehn Uhr öffnete sich die Tür. Marcus trat ein und Leo spürte einen kalten Durchzug, als die Tür hinter Marcus zuschlug. Er setzte sich, bestellte einen doppelten Espresso und sagte nichts. Leo schob das Paket über den Tisch. Marcus berührte es nicht. Im Hintergrund spielte Jazz. "Vor drei Jahren", begann Marcus schließlich "habe ich für Leute gearbeitet die Probleme lösten. Dann entdeckte ich dass sie selbst das Problem waren." Er erzählte von Menschenhandel, von Kindern und von Beweisen, die er kopiert hatte bevor er verschwand. Seine Stimme hatte keine Farbe mehr als hätte er die Geschichte schon oft erzählt. "Die Fotos im Paket können ein ganzes Netzwerk zu Fall bringen", sagte er. "Aber ich kann das nicht allein tun. Sie kennen mein Gesicht, sie erwarten mich." Leo trank seinen Kaffee. Er war kalt geworden und schmeckte bitter. "Aber dich kennt niemand", fügte Marcus hinzu.

"Ich könnte sterben", sagte Leo schließlich.

"Ja."

"Das ist keine gute Verkaufsstrategie."

Marcus' Mundwinkel zuckte wieder. Fast ein Lächeln. "Ich lüge nicht. Das ist mehr als die meisten bieten können." Leo sah auf Marcus' Hände. Groß, vernarbt. Hände die siebenunddreißig Menschen getötet hatten. Die Frage kam bevor er sie zurückhalten konnte.

"Wie viele davon haben es verdient ?"

Marcus' Gesicht wurde blass. "Keiner. Nicht wirklich." Die Ehrlichkeit in seiner Stimme war schlimmer als jede Lüge. Leo atmete aus. "Ich brauche Zeit." Marcus nickte, stand auf, legte Geld auf den Tisch. An der Tür drehte er sich noch einmal um. "Die Katze weiß wo ich bin", sagte er. Dann war er verschwunden und Leo saß allein da mit kaltem Kaffee.

Am Abend ging Leo zurück zum Lagerhaus. Der Regen hatte aufgehört aber die Luft roch noch danach. Sensei saß auf ihrem Regal. Sie sah ihn an mit dieser alten wissenden Art die Katzen haben. Leo setzte sich auf den Boden. Die Kälte kroch durch seine Jeans. "Das ist verrückt oder ?", sagte er zur Katze. "Einem Mann zu vertrauen der... der das getan hat." Sensei sprang herunter. Sie ging zur Ecke wo das Paket gelegen hatte und setzte sich hin. Leo folgte ihr. Dort lag ein gefaltetes Papier. Es war vorher nicht da gewesen, Leo war sich sicher oder hatte er es doch übersehen ? Er hob es auf. Eine Adresse. Auf der Rückseite in präziser Handschrift: Wenn du dich entscheidest. Leo sah die Katze an. Sensei miaute einmal. Eigentlich weiß er bereits was zu tun ist.

"Okay", sagte Leo leise.

Die Adresse führte Leo in einen Teil von Berlin den er nicht kannte. Neukölln, tief drin. Es war ein Mittwochmorgen. Leo hatte Herbert eine SMS geschickt: Bin krank. Komme nicht. Herbert hatte geantwortet: Gute Besserung. Die Rettung kann auch ohne dich kommen. Leo fragte sich ob Herbert jemals realisieren würde dass die Rettung nie kommen würde. Das Gebäude war ein alter Backsteinbau, vier Stockwerke, mit Efeu das die Wände hochkletterte. Die Haustür war angelehnt. Leo stieg die Treppen hoch. Dritter Stock. Die Wohnung hatte keine Nummer nur einen kleinen Aufkleber: ein stilisiertes Bienenbild. Leo klopfte. Nichts. Er klopfte noch einmal. Die Tür öffnete sich. Marcus stand da in Jogginghose und einem verwaschenen T-Shirt. Er sah anders aus. Kleiner irgendwie, menschlicher. Er war nur ein müder Mann in einer kleinen Wohnung. "Du bist gekommen", sagte Marcus. "Die Katze hat mich geschickt." Marcus lächelte. "Natürlich hat sie das. Komm rein."

Die Wohnung war überraschend ordentlich. Minimalistisch. Ein Sofa, ein Tisch, ein Bücherregal mit genau achtzehn Büchern, Leo zählte sie automatisch. Die Wände waren weiß bis auf eine die mit einer großen Karte bedeckt war. Rote Fäden verbanden Fotos, Namen und Orte. Es sah aus wie in einem Kriminalfilm.

"Kaffee ?", fragte Marcus. "Immer." Er verschwand in der Küche. Leo trat näher an die Wand. Die Fotos zeigten Menschen, manche in Anzügen, manche in teuren Autos, manche vor Gebäuden. Unter jedem Foto standen Notizen.

"Das sind sie", sagte Marcus, kam zurück mit zwei Tassen. "Die Leute die das Netzwerk kontrollieren." Leo nahm den Kaffee. Er war heiß und stark, perfekt, denn er konnte die halbe Nacht kein Auge zu machen. "Wie viele ?" "Zwölf. Im Kern. Aber das System ist größer, viel größer." Marcus stellte seine Tasse ab. "Das Paket das du gefunden hast, das sind nur die Beweise für die oberen Fünf. Die gefährlichsten." "Und was passiert jetzt ?" Marcus setzte sich aufs Sofa. "Jetzt müssen wir die Beweise zu jemandem bringen der sie nutzen kann. Eine Journalistin. Sie arbeitet für eine große Zeitung und ist spezialisiert auf investigativen Journalismus."

Leo setzte sich in den Sessel gegenüber. Der Kaffee wärmte seine Hände. Draußen hupte ein Auto. Irgendwo im Haus lief Wasser. "Warum du nicht selbst ?", fragte Leo. Marcus starrte auf seine Hände. Diese großen vernarbten Hände. "Weil ich ein gesuchter Mann bin. Mein Gesicht ist in Datenbanken. Aber du..." Er sah auf. "Du bist niemand. Kein Strafregister, kein Profil. Du bist unsichtbar." "Unsichtbar", wiederholte Leo. Das Wort fühlte sich seltsam an. Wahr und falsch zugleich. Sie saßen schweigend da.

"Warum tust du das ?", fragte Leo schließlich. "Du könntest einfach verschwinden. Irgendwohin wo niemand dich findet." Marcus starrte in seinen Kaffee als könnte er dort eine Antwort finden. "Ich habe versucht damit zu leben. Mit dem was ich gesehen habe. Drei Jahre lang." Er machte eine Pause. "Aber es geht nicht weg. Diese Gesichter, die Kinder." "Das ist nicht deine Schuld." "Doch. Ist es." Marcus sah ihn an. "Ich habe für diese Leute gearbeitet. Ich war Teil der Maschine. Die siebenunddreißig kann ich nicht rückgängig machen aber vielleicht kann ich das hier richtigstellen."

Leo nahm einen großen Schluck Kaffee. Er dachte an sein eigenes Leben. An die Jahre in denen er versucht hatte sich selbst zu finden, sich selbst zu werden. Wie viele falsche Entscheidungen, wie viele Umwege. Aber nichts davon vergleichbar mit dem Gewicht das Marcus trug. "Wann soll ich gehen ?", fragte er. "Morgen." Marcus stand auf und Leo wusste das Gespräch war vorbei.

Am nächsten Morgen regnete es wieder. Natürlich. Berlin schien beschlossen zu haben dass Leos neues Leben eine Hintergrundmusik aus fallendem Wasser brauchte. Marcus hatte ihm die Adresse der Journalistin gegeben. Ein Büro in Mitte nicht weit vom Alexanderplatz. Leo nahm die U-Bahn. Die Menschen um ihn herum sahen müde aus, verloren in ihren Handys, in ihren Gedanken, in ihren kleinen normalen Leben. Leo beneidete sie. Der Umschlag lag in seiner Tasche. Darin: das Paket, die Fotos, die Beweise. Und ein Brief von Marcus, handgeschrieben, der erklärte wer er war und warum man ihm glauben sollte. Das Gebäude war modern, Glas und Stahl. Leo ging durch die Eingangshalle vorbei an einem Sicherheitsmann der ihn nicht beachtete.

Fünfter Stock, Büro 512. Auf der Tür stand: Dr. Sabine Krause – Investigativer Journalismus. Leo klopfte. “Herein.” Die Frau am Schreibtisch war Anfang vierzig, kurze graue Haare, eine Brille. Sie trug eine schwarze Bluse und sah aus wie jemand der keine Zeit für Unsinn hatte. “Ja ?”, fragte sie ohne aufzusehen. “Ich… ich habe etwas für Sie. Beweise. Gegen ein Menschenhandelsnetzwerk.” Jetzt sah sie auf. Ihre Augen waren scharf, analytisch.
 

“Setzen Sie sich.” Leo setzte sich. Der Stuhl war unbequem. “Ihren Namen ?” “Leo.” “Nachnamen ?” “Nur Leo. Vorerst.” Sie lehnte sich zurück. “Wissen Sie wie viele Leute pro Woche hierher kommen und behaupten Beweise zu haben ? Die meisten sind Spinner, Verschwörungstheoretiker, Paranoide.” “Ich bin keiner davon.” “Das sagen alle.” Aber es klang nicht unfreundlich. “Zeigen Sie mir was Sie haben.” Leo zog den Umschlag heraus, legte ihn auf den Schreibtisch. Dr. Krause öffnete ihn. Sie sah sich die Fotos an, las Marcus’ Brief, studierte die Zahlen. Ihre Miene veränderte sich nicht aber etwas in ihrer Haltung wurde angespannter.
 

Nach zehn Minuten Stille sah sie auf. “Woher haben Sie das ?” “Von jemandem der dabei war. Der raus ist.” “Und wo ist diese Person jetzt ?” “Versteckt. Aus gutem Grund.” Dr. Krause legte die Fotos ab. “Diese Namen hier…” Sie deutete auf drei Fotos. “Ich habe von denen gehört. Gerüchte. Aber nie Beweise.” “Jetzt haben Sie welche.” Sie sah ihn lange an. “Warum Sie ? Warum kommt Ihre Quelle nicht selbst ?” “Weil er gesucht wird. Weil sein Gesicht bekannt ist.” Leo lehnte sich vor. “Aber das hier ist echt. Alles darin. Und wenn Sie es nicht veröffentlichen passiert nichts. Diese Leute machen weiter.”
 

Dr. Krause schwieg. Sie sah wieder auf die Fotos, auf Marcus’ Brief. “Ich muss das verifizieren”, sagte sie schließlich. “Das wird Zeit brauchen. Wochen vielleicht Monate. Ich muss Quellen überprüfen, Fakten checken. Das ist kein Blogpost, das ist investigativer Journalismus.” “Wie lange ?” “Geben Sie mir Ihre Nummer. Ich melde mich.” Leo schrieb sie auf einen Zettel. Seine Hand zitterte leicht. “Noch etwas”, sagte Dr. Krause. “Ihre Quelle, dieser Mann. Er sollte vorsichtig sein. Sehr vorsichtig. Wenn auch nur ein Hauch davon durchsickert dass ich an dieser Geschichte arbeite…” “Verstanden.” Leo stand auf. An der Tür drehte er sich noch einmal um.
 

“Sie glauben mir oder ?” Dr. Krause sah ihn an. Zum ersten Mal sah sie nicht müde aus sondern wach, lebendig und voller Eifer. “Ja”, sagte sie. “Ich glaube Ihnen.” Draußen hatte der Regen mittlerweile aufgehört. Leo ging durch die Straßen vorbei an Cafés und Geschäften und Menschen die alle irgendwohin mussten. Er hatte es getan. Das Paket abgegeben, die Mission erfüllt. Aber statt Erleichterung fühlte er nur Leere, irgendwie wollte er nicht, dass es schon vorbei ist. Er nahm sein Handy, schrieb Marcus eine SMS: Erledigt. Sie arbeitet daran. Die Antwort kam sofort: Gut. Komm vorbei. Wir müssen reden. Leo steckte das Handy weg und machte sich auf den Weg nach Neukölln. Zu der Wohnung mit dem Bienenaufkleber, zu Marcus.​​

Marcus öffnete die Tür bevor Leo klopfen konnte. Als hätte er am Fenster gewartet. “Wie ist es gelaufen ?”, fragte er. “Sie glaubt mir. Sagt sie braucht Zeit zum Verifizieren.” Leo trat ein. Die Wohnung roch nach Kaffee. “Wochen, vielleicht Monate.” Marcus schloss die Tür, lehnte sich dagegen. Er sah erschöpft aus. “Okay. Das ist… okay.”
“Du sagtest wir müssen reden.”

“Ja.” Marcus ging zum Sofa, setzte sich. “Setz dich.” Leo setzte sich in den Sessel. Die Wohnung fühlte sich anders an als gestern. Kleiner und irgendwie einsam. Draußen wurde es dunkel und Marcus hatte noch kein Licht angemacht.

“Es ist vorbei”, sagte Marcus. “Dein Teil. Du hast getan worum ich dich gebeten habe. Mehr kann ich nicht verlangen.” Leo verstand sofort. “Du willst dass ich gehe.” “Ich will dass du sicher bist.” Marcus lehnte sich vor. “Die nächsten Wochen werden gefährlich. Wenn die Journalistin anfängt zu recherchieren werden bestimmte Leute nervös. Sie werden nach Lecks suchen, nach mir und nach jedem der mir geholfen hat.” “Nach mir.” “Nach dir.” Sie saßen schweigend da.

“Und was machst du ?”, fragte Leo. “Ich verschwinde. Wieder. Irgendwohin wo sie mich nicht finden.” Marcus klang nicht überzeugt. “Ich habe Geld beiseitegelegt, falsche Papiere. Ich kenne Leute.” “Klingt einsam.”
 

“Ist es.” Marcus sah ihn an. Im dämmrigen Licht waren seine Augen schwer zu lesen. “Aber es ist sicherer. Für alle.” Leo dachte an sein Leben vor einer Woche. Der Plattenladen, Sabine und ihre schlechten Lasagnen, die leeren Abende in denen er sich fragte ob das alles war. Es war nicht viel gewesen aber es war seins. Jetzt saß er in einer fremden Wohnung, sprach mit einem Mann der siebenunddreißig Menschen getötet hatte über Dinge die zu hoch für ihn waren. Und trotzdem wollte er nicht gehen. “Was wenn ich bleibe ?”, sagte Leo. Marcus blinzelte. “Was ?” “Was wenn ich nicht verschwinde ? Was wenn ich… hier bleibe. Bis es vorbei ist.”
 

“Leo –” “Hör zu.” Leo unterbrach. “Ich habe kein Leben zu dem es sich zurückzukehren lohnt. Einen Job der stirbt, eine WG in der mich niemand wirklich kennt. Freunde die…” Er stockte. “Die nicht wirklich da sind.” “Das ist kein Grund dein Leben zu riskieren.” “Vielleicht nicht. Aber du hast gesagt ich bin unsichtbar. Niemand kennt mich.” Leo lächelte schwach. “Das macht mich nützlich oder ?” Marcus stand auf, ging zum Fenster. Draußen gingen Straßenlaternen an, warfen orange Lichter auf nasses Pflaster.
 

“Du weißt nicht worum du mich bittest”, sagte er leise. “Dann erklär es mir.” Marcus drehte sich um. “Die nächsten Wochen, vielleicht Monate, werden wir warten müssen. Versteckt. Ich kann diese Wohnung nicht verlassen, nicht öffentlich. Keine Supermärkte, keine Spaziergänge, nichts. Nur diese vier Wände.” Er machte eine Pause. “Das ist keine Freiheit Leo, das ist ein Gefängnis.” “Dann sind wir eben zu zweit im Gefängnis.”
 

“Warum ?”

Leo wusste nicht wie er antworten sollte. Weil Marcus das erste war das sich in Jahren real angefühlt hatte ? Weil etwas in ihm Marcus verstehen wollte, die Last die er trug ? Weil Leo sein ganzes Leben lang unsichtbar gewesen war und zum ersten Mal von jemandem gesehen wurde ? “Weil”, sagte er schließlich “du es nicht allein tun solltest.” Marcus starrte ihn an. Lange. Dann lachte er, ein kurzes überraschtes Geräusch.
 

“Du bist verrückt.”

“Wahrscheinlich.”

“Das wird nicht einfach.” “Nichts Gutes ist einfach.” Marcus rieb sich das Gesicht. “Okay. Okay. Aber Regeln. Wenn du bleibst gibt es Regeln.”
Marcus machte Licht an. Die Wohnung wurde plötzlich weniger wie ein Versteck. „Die Regeln”, sagte Marcus und setzte sich wieder.
“Erstens: Du gehst nur raus wenn nötig. Einkaufen ja, aber immer verschiedene Geschäfte, verschiedene Zeiten. Keine Muster.” “Verstanden.” “Zweitens: Kein Kontakt zu alten Freunden, Familie. Niemand darf wissen wo du bist.” Leo dachte an sein Handy, an die wenigen Kontakte darin. Sabine würde sich vielleicht fragen wo er war. Herbert würde wahrscheinlich nicht einmal merken dass er weg war. “Okay.” “Drittens…” Marcus zögerte. “Wenn etwas passiert, wenn sie uns finden, rennst du. Nicht zurück, nicht zu mir. Einfach nur weg. Verstanden ?”
“Nein.” “Leo –” “Ich verstehe die Worte. Aber ich werde nicht weglaufen und dich zurücklassen.” Marcus schüttelte nur mit dem Kopf. “Viertens und das ist nicht verhandelbar: Du sagst du zu mir. Nicht Sie.” Leo blinzelte. “Was ?” “Wenn wir hier zusammen warten wochenlang vielleicht monatelang in diesen vier Wänden…” Marcus sah ihn direkt an. “Dann können wir nicht so förmlich bleiben. Es wird seltsam, zu distanziert.” “Aber du bist fünfzig –” “Du”, korrigierte Marcus. “Du bist fünfzig. Ich bin fünfundzwanzig. Das ist –” “Ein Altersunterschied. Ja. Aber wir sind keine Geschäftspartner.” Marcus lehnte sich zurück. “Wir sind zwei Menschen die beschlossen haben gemeinsam zu überleben. Das erfordert…” Er suchte nach dem richtigen Wort. “Nähe.”
 

Leo spürte wie sein Herz schneller schlug. Das Wort Nähe klang anders als Marcus es aussprach. “Okay”, sagte Leo leise. “Du. Nicht Sie.” Marcus stand auf. “Und noch eine Regel. Du bist unglaublich stur und das akzeptiere ich jetzt.” Leo lachte. “Das war schon immer so.” Marcus nickte. Etwas in seinem Gesicht war weicher geworden. “Okay. Dann sind wir uns einig.” “Dann sind wir uns einig.” Die Stille die folgte war nicht unangenehm.
 

“Hast du Hunger ?”, fragte Marcus schließlich. “Immer.” “Ich kann Nudeln machen. Oder… Nudeln. Das ist alles was ich kann.” Leo lachte. “Nudeln sind perfekt.” In der Küche machte er Wasser heiß. Leo saß am Tisch und beobachtete ihn. Es war seltsam diese Normalität. Nach allem, dem Paket, den Beweisen, der Gefahr, zwei Menschen in einer Küche die auf Nudelwasser warteten. “Danke”, sagte Marcus plötzlich ohne sich umzudrehen. “Wofür ?” “Dafür dass du bleibst. Dafür dass du nicht weggelaufen bist als du es hättest tun können.” Er drehte sich um. Seine Hände hielten einen Holzlöffel als wüsste er nicht was er damit tun sollte. “Dafür dass du mich nicht wie ein Monster behandelst.” Leo sah ihn an, diesen großen müden Mann mit den Narben und den goldenen Flecken in den Augen. Jemand der zu viel getan hatte und jetzt versuchte einen winzigen Teil davon wiedergutzumachen.
 

“Du bist kein Monster”, sagte er. “Du bist nur jemand der versucht das Richtige zu tun.” “Das macht die siebenunddreißig nicht ungeschehen.” “Nein. Aber es bedeutet etwas.” Die Nudeln kochten über. Marcus fluchte, drehte die Hitze runter, lachte dann, kurz, überrascht von sich selbst. “Ich bin wirklich schlecht darin”, sagte er. “In was ? Nudeln kochen ?” “In… allem.” Marcus rührte im Topf. “In normalem Leben, in Gesprächen die nicht mit dem Tod enden, in…” Er stockte. “In Menschen.” “Du machst das gerade ganz gut.” “Das liegt an dir. Du machst es leicht.” Leo wusste nicht was er darauf sagen sollte. Also sagte er nichts. Manchmal waren Worte weniger wert als die Stille zwischen ihnen. Sie aßen am Tisch, die Nudeln zu weich gekocht, ohne richtige Soße, nur etwas Olivenöl und Salz. Es war das schlechteste Essen das Leo seit Monaten gegessen hatte. Es fühlte sich trotzdem richtig an.

“Morgen”, sagte Marcus “bringe ich dir bei wie man verschwindet.” “Wie man verschwindet ?” “Wie man sich bewegt ohne aufzufallen. Wie man Gesichter liest, wie man merkt wenn man verfolgt wird.” Marcus stellte seine Gabel ab. “Wenn du hierbleibst musst du lernen wie man überlebt.” Leo nickte. “Okay.” “Es wird langweilig sein. Die meiste Zeit. Warten, nur warten.”
 

„Dann warten wir eben.” Marcus sah ihn an und zum ersten Mal seit Leo ihn kannte sah er nicht müde aus. Nur da, gegenwärtig, real. “Zum ersten Mal seit drei Jahren”, sagte Marcus leise “habe ich das Gefühl dass ich nicht allein bin.” Leo fühlte wie sich etwas in seiner Brust zusammenzog. „Du bist nicht allein”, sagte er.

Am nächsten Morgen wachte Leo auf einem Sofa auf das zu kurz für ihn war. Was bei 1,55 Meter selten vorkam aber Marcus’ Sofa hatte es irgendwie geschafft. Er roch wieder den leckeren Kaffee. In der Küche stand Marcus schon angezogen, zwei Tassen auf dem Tisch. Er sah aus als wäre er seit Stunden wach. “Guten Morgen”, sagte Leo und rieb sich den Nacken. “Morgen. Schlecht geschlafen ?” “Das Sofa hasst mich.” “Das Sofa hasst alle.” Marcus schob ihm eine Tasse rüber. “Heute fangen wir an.” “Mit dem Verschwinden ?” “Mit dem Überleben.”

Sie tranken ihren Kaffee schweigend. Draußen war es grau, der Himmel hing tief über Berlin wie eine schmutzige Decke. Es sah aus als würde es gleich regnen, es sah immer so aus. Marcus holte eine Jacke aus dem Schrank. Eine unscheinbare graue Jacke die aussah wie tausend andere.

“Erste Lektion”, sagte er. “Kleidung. Nichts Auffälliges, keine Logos, keine grellen Farben. Du willst aussehen wie jemand an den man sich nicht erinnert.” “Ich bin 1,55 Meter groß. Die Leute erinnern sich automatisch.” “Dann nutzen wir das.” Marcus reichte ihm die Jacke. “Wenn die Leute nur deine Größe sehen sehen sie nichts anderes. Keine Details, kein Gesicht. Du wirst zur Größe nicht zur Person.”

Leo zog die Jacke an. Sie war zu groß, verschluckte ihn fast. “Perfekt”, sagte Marcus. “Genau so. Jetzt die Kapuze auf.” Leo zog die Kapuze hoch. “Gut. Wenn du rausgehst Kapuze auf, Hände in den Taschen, Blick nach unten. Nicht direkt aber… abwesend. Als würdest du über etwas nachdenken. Menschen meiden Augenkontakt mit Leuten die beschäftigt aussehen.” “Das klingt einsam.” “Ist es.” Marcus lehnte sich gegen den Tisch. “Aber es hält dich am Leben.”

Sie übten stundenlang. Marcus zeigte Leo wie man durch einen Raum ging ohne Aufmerksamkeit zu erregen, wie man seine Gangart änderte, mal schneller mal langsamer niemals gleichmäßig. Wie man Spiegelungen in Schaufenstern nutzte um zu sehen wer hinter einem war. “Menschen haben Muster”, erklärte Marcus. “Die meisten merken es nicht aber sie gehen immer denselben Weg, kaufen zur selben Zeit ein, setzen sich an dieselben Orte. Das macht sie vorhersehbar, das macht sie verletzlich.” “Und du ?” “Ich habe keine Muster mehr. Seit drei Jahren nicht.” „Es ist anstrengend aber notwendig.”

​Am Nachmittag schickte Marcus Leo raus. “Nur ein Spaziergang”, sagte er. “Dreißig Minuten. Durch verschiedene Straßen. Beobachte die Menschen, merk dir Gesichter. Und wenn dir jemand auffällt, jemand der dich ansieht, der seine Richtung ändert wenn du es tust, kommst du sofort zurück.” Leo nickte. Er wurde nervös. “Du schaffst das”, sagte Marcus. “Vertrau deinem Instinkt.”

Draußen war die Welt zu laut, zu voll. Leo ging durch die Straßen von Neukölln, die Kapuze tief im Gesicht, die Hände in den Taschen. Er versuchte sich Marcus’ Worte zu merken. Keine Muster, Blick nach unten, Spiegelungen beobachten. Ein Mann mit Anzug überholte ihn schnell, das Handy am Ohr. Eine Frau mit Kinderwagen wartete an der Ampel, müde, abwesend. Zwei Jugendliche rauchten vor einem Späti, lachten über etwas auf ihren Handys. Niemand sah ihn an. Er war unsichtbar. Es fühlte sich seltsam an, nicht gut, nicht schlecht, nur einsam.

Nach dreißig Minuten kam er zurück. Marcus öffnete die Tür, sah ihn prüfend an. “Und ?” “Niemand hat mich beachtet.” “Gut.” Marcus trat zur Seite, ließ ihn rein. “Das ist das Ziel.” Sie setzten sich ins Wohnzimmer. Marcus mit einem Notizbuch, Leo mit kalten Händen. “Erzähl mir was du gesehen hast”, sagte er neugierig. “Menschen. Viele Menschen. Niemand Besonderes.” “Beschreib sie mir.”

Leo versuchte es aber die Gesichter verschwammen in seiner Erinnerung. “Das ist normal”, sagte Marcus. “Am Anfang sieht man nichts. Aber mit der Zeit… mit der Zeit siehst du Muster. Du erkennst wer gefährlich ist und wer nur existiert.” “Und wie lange hat es bei dir gedauert ?” Marcus schwieg lange. “Zu lange. Ich habe zu viel übersehen, zu viel vertraut.” Er schloss das Notizbuch. “Deshalb lebe ich jetzt so.”

Leo sah ihn an, diesen Mann der alles verloren hatte um das Richtige zu tun. Der allein war seit drei Jahren weil er etwas gesehen hatte das er nicht ignorieren konnte. “Du musst nicht mehr allein sein”, sagte Leo leise. Marcus sah auf. Seine Augen, diese dunklen Augen mit den goldenen Flecken, hielten Leos Blick fest. “Ich weiß”, sagte er und zum ersten Mal klang er als würde er es wirklich glauben. Am Abend kochte Leo oder versuchte es. Marcus hatte ihm die Küche überlassen, saß am Tisch und las etwas auf seinem Laptop, verschlüsselte Nachrichten vermutlich oder Neuigkeiten über das Netzwerk. Leo machte Nudeln, wieder, aber diesmal mit Tomatensoße aus der Dose und etwas Knoblauch den er im Schrank gefunden hatte. “Riecht gut”, sagte Marcus ohne aufzusehen. “Lüg nicht.” “Okay. Es riecht… essbar.” Leo lachte. Sie aßen zusammen am kleinen Tisch, die Nudeln besser als gestern aber immer noch weit von gut entfernt. Es fühlte sich trotzdem richtig an, dieses kleine normale Ritual inmitten des Chaos.

“Danke”, sagte Marcus. “Für die schlechten Nudeln ?” “Für…” Marcus zögerte. “Dafür dass du hier bist. Dafür dass ich nicht verrückt werde in diesen vier Wänden.” Leo stellte seine Gabel ab. “Du würdest nicht verrückt werden. Du bist zu stur dafür.” “Das ist nicht wahr. Ich war kurz davor, mehrmals.” Marcus sah auf seinen Teller. “Drei Jahre allein… das tut etwas mit dir. Du fängst an mit dir selbst zu reden, du vergisst wie sich normale Gespräche anfühlen, du…” Er brach ab.

„Du bist nicht mehr allein”, sagte Leo. Marcus sah ihn an, lange, etwas in seinem Blick war weich, verletzlich. “Nein”, sagte er leise. “Das bin ich nicht.” Draußen begann es zu regnen, wieder, immer wieder. Aber drinnen in dieser kleinen Wohnung mit den vier Wänden und dem zu kurzen Sofa war es warm. Und zum ersten Mal seit langer Zeit fühlten sich beide nicht mehr allein.​​

Die Tage begannen zu verschwimmen. Leo verlor das Gefühl für Zeit. Montag fühlte sich an wie Donnerstag, Donnerstag wie Sonntag. Die Wohnung hatte keine Uhr und Marcus hatte ihm geraten sein Handy nur einmal am Tag einzuschalten, zu wechselnden Zeiten, niemals am selben Ort.

Morgens: Kaffee. Marcus war immer zuerst wach als würde sein Körper Schlaf als Luxus betrachten den er sich nicht leisten konnte.

Vormittags: Training. Nicht körperlich, obwohl Marcus ihm ein paar Selbstverteidigungsgriffe beibrachte, hauptsächlich um zu entkommen nicht um zu kämpfen. Mentales Training. Wie man sich Gesichter merkt, wie man Lügen erkennt, wie man einen Raum betritt und sofort alle Ausgänge kennt. “Du denkst zu viel nach”, sagte Marcus an einem dieser namenlosen Vormittage. “Das ist dein Problem.” “Ich dachte nachdenken wäre gut.” “Nachdenken ist gut. Überdenken ist tödlich.” Marcus lehnte sich gegen die Wand. “Wenn etwas passiert hast du keine Zeit zu überlegen. Du musst reagieren, instinktiv.” “Und wie trainiert man Instinkte ?” “Indem man sie benutzt. Immer wieder. Bis sie zu Reflexen werden. ” Leo verstand aber verstehen war nicht dasselbe wie können.

Mittags: Essen. Meistens etwas Einfaches. Brot, Käse, manchmal Suppe aus der Dose. Marcus aß mechanisch als wäre Essen eine Pflicht keine Freude. Leo versuchte Gespräche anzufangen über Bücher, Filme, Dinge aus seinem alten Leben. Marcus hörte zu, antwortete manchmal aber immer kurz als hätte er verlernt wie man Smalltalk machte.

Nachmittags: Warten. Das war das Schwerste. Die Stunden in denen nichts passierte. Marcus am Laptop, Leo mit einem Buch aus dem Regal. Achtzehn Bücher. Leo hatte sie alle durchgezählt, manche angefangen, wenige beendet. Philosophie, Krimis, ein Roman über einen Mann der in einem Brunnen verschwand. “Magst du Murakami ?”, fragte Leo eines Nachmittags und hielt das Buch hoch. Marcus sah auf. “Ich mag die Idee dass Menschen verschwinden können. Einfach so, ohne Erklärung.” “Das ist traurig.” “Oder befreiend.” Marcus schloss den Laptop. “Kommt drauf an wovor man verschwindet.”

Abends: Kochen. Das war Leos Aufgabe geworden. Er wurde besser darin, nichts Spektakuläres aber essbar. Nudeln mit verschiedenen Soßen, Reis mit Gemüse, einmal sogar Pfannkuchen die Marcus mit einem überraschten Lächeln gegessen hatte. “Du wirst gut darin”, hatte Marcus gesagt.

Nachts: Reden. Das war wenn Marcus sich öffnete, wenn die Dunkelheit es leichter machte Dinge zu sagen. Sie saßen dann im Wohnzimmer, Marcus auf dem Sofa, Leo im Sessel und sprachen über Dinge die keine Rolle spielten und alles bedeuteten. “Hattest du jemals einen Plan ?”, fragte Leo eines Abends. “Für dein Leben meine ich. Bevor alles… kompliziert wurde.” Marcus dachte lange nach. “Ja. Einen sehr einfachen Plan. Einen Job machen der mich nicht umbringt, eine Familie haben, alt werden.” Er lachte bitter. “Keiner dieser Punkte hat funktioniert.” “Du bist nicht tot.” “Noch nicht.” “Und alt werden kannst du immer noch.” “Vielleicht.” Marcus sah ihn an. “Und du ? Hattest du einen Plan ?” ​​​​​​

Leo zuckte mit den Schultern. “Überleben. Mich selbst finden, irgendwann glücklich sein.” Er machte eine Pause. “Auch nicht besonders erfolgreich.” “Du bist fünfundzwanzig. Du hast Zeit.” “Du bist fünfzig. Du auch.” Marcus lächelte. Es war das erste echte Lächeln das Leo an diesem Tag gesehen hatte.

In der zweiten Woche, oder war es die dritte, bekam Leo eine SMS von Dr. Krause. Fortschritte. Brauche mehr Zeit. Bleibt versteckt. Er zeigte sie Marcus. “Gut”, sagte Marcus. “Das bedeutet sie nimmt es ernst.” “Wie lange noch ?” “Wochen, vielleicht Monate.” Marcus sah müde aus. “Investigativer Journalismus ist langsam, gründlich. Sie muss alles überprüfen, jede Quelle bestätigen. Sonst ist es nur eine Geschichte ohne Beweise.” “Und wir warten einfach ?” “Wir warten einfach.”

Leo hasste das Warten. Es fühlte sich an wie Stillstand, wie Leben auf Pause. Aber gleichzeitig… gleichzeitig begann er sich an den Rhythmus zu gewöhnen. An die Stille der Wohnung, an Marcus’ Gegenwart die von fremd zu vertraut geworden war. Sie fingen an sich zu kennen. Die kleinen Dinge. Dass Marcus immer mit dem rechten Fuß zuerst aufstand, dass Leo beim Nachdenken auf seiner Unterlippe kaute, dass Marcus nachts manchmal aufstand und ans Fenster trat ohne Licht zu machen, einfach nur da stand und in die raus sah.

“Kannst du nicht schlafen ?”, fragte Leo eines Nachts als er ihn wieder am Fenster fand. Marcus drehte sich um. “Selten. Seit Jahren.” “Alpträume ?” “Erinnerungen. Das ist schlimmer.” Marcus lehnte sich gegen die Fensterbank. “Alpträume enden wenn man aufwacht. Erinnerungen bleiben.” Leo stand auf, kam zum Fenster. Draußen war Berlin eine Ansammlung von Lichtern, gelb und orange und manchmal rot.

„Welche Erinnerung ?”, fragte Leo leise. Marcus schwieg lange. Dann: “Die Gesichter. Alle siebenunddreißig. Ich erinnere mich an jedes einzelne.” “Das tut mir leid.” “Das muss es nicht.” Marcus sah ihn an. Im Dunkeln waren seine Augen nur Schatten. “Es sollte so sein. Ich sollte mich erinnern, das bin ich ihnen schuldig.” Leo verstand, nicht ganz, nicht wirklich, er hatte nie jemanden getötet, hatte nie diese Last getragen. Aber er verstand die Idee davon, dass manche Dinge nicht vergessen werden sollten selbst wenn das Erinnern wehtut.

„Komm”, sagte Leo. “Ich mache uns Tee.” “Tee ?” “Ja. Kamille. Hilft beim Schlafen, angeblich.” Marcus folgte ihm in die Küche. Leo machte Wasser heiß, fand zwei Teebeutel in einem Schrank den er noch nicht erkundet hatte. Der Tee schmeckte nach nichts aber er war warm und das war genug. “Danke”, sagte Marcus.

Leo stellte seine Tasse ab. “Ich würde dich nie aufgeben.” Die Worte kamen ehrlicher als er beabsichtigt hatte. Marcus sah ihn an, etwas in seinem Blick veränderte sich. “Das bedeutet mir mehr als du weißt”, sagte er leise. Sie standen in der kleinen Küche, die Tassen zwischen ihnen, der Tee kalt werdend.

Es war ein Donnerstag oder ein Dienstag, Leo war sich nicht mehr sicher. Marcus saß am Laptop, die Stirn in Falten gelegt, die Schultern angespannt. Er hatte die ganze Nacht nicht geschlafen, Leo wusste das weil er ihn gehört hatte wie er durch die Wohnung ging. “Was ist los ?”, fragte Leo vom Sessel aus. “Nichts.” “Du lügst.” Marcus sah auf. “Ich lüge nicht. Es ist nur…” Er rieb sich die Schläfen. “Kopfschmerzen. Seit Stunden.” “Wann hast du das letzte Mal richtig geschlafen ?” “Definiere richtig.” “Mehr als drei Stunden. Am Stück.” Marcus schwieg. “Genau.” Leo stand auf, ging zu ihm. “Du musst dich entspannen. Sonst kollabierst du noch.” “Ich bin gut im Nicht-Kollabieren.” “Das ist keine Fähigkeit auf die man stolz sein sollte.”

Leo zögerte. Dann bevor er zu viel nachdenken konnte legte er seine Hände auf Marcus’ Schultern. Marcus erstarrte. “Entspann dich”, sagte Leo leise. “Ich will nur… die Verspannung lösen.” Langsam sehr langsam begann er Marcus’ Schultern zu massieren. Vorsichtig und auch etwas unsicher. Er hatte das noch nie gemacht nicht wirklich aber seine Hände schienen zu wissen was zu tun war. Marcus’ Schultern waren Stein, hart, fest. Jahre von Anspannung in Muskeln gespeichert.

„Du musst loslassen”, sagte Leo. “Ich weiß nicht wie.” “Dann lerne es.” Leo drückte fester, suchte die Knoten die sich unter seiner Haut versteckten. Seine Hände waren klein im Vergleich zu Marcus’ Körper aber sie waren genug. Langsam sehr langsam fühlte er wie Marcus sich entspannte, wie die Spannung nachließ, wie sein Atem tiefer wurde. “Besser ?”, fragte Leo nach einigen Minuten. “Ja”, sagte er. “Viel besser.”

Leo hörte auf, nahm seine Hände weg aber er blieb stehen, direkt hinter Marcus, zu nah und nicht nah genug. Marcus drehte sich um, sah zu ihm hoch. Ihre Gesichter waren plötzlich sehr nah. Leo spürte wie sein Herz schneller schlug, sein Kopf glühte. “Danke”, sagte Marcus leise. “Kein Problem.” Sie starrten sich an. Dann stand Marcus auf, plötzlich und schnell. Er war wieder groß, überwältigend, füllte den Raum aus. “Ich… ich mache Kaffee”, sagte er und ging in die Küche.

Leo blieb stehen. Sein Herz hämmerte, seine Hände zitterten leicht. Was war das gerade gewesen ? Den Rest des Tages waren sie vorsichtig miteinander, höflich, distanziert, als hätten sie beide eine Grenze gespürt und waren erschrocken wie nah sie ihr gekommen waren. Leo kochte Abendessen, Marcus aß schweigend. “Gut”, sagte Marcus schließlich. “Danke.” Stille. “Leo”, begann er dann brach er ab. “Ja ?” “Nichts. Vergiss es.”

Aber Leo konnte nicht vergessen. Er konnte nicht vergessen wie es sich angefühlt hatte Marcus zu berühren, wie warm seine Haut gewesen war, wie verletzlich er in diesem Moment ausgesehen hatte. In der Nacht lag er auf dem zu kurzen Sofa und starrte an die Decke. Er hörte Marcus nebenan, im Schlafzimmer, wach wahrscheinlich, immer wach. Leo stand auf, ging zur Tür des Schlafzimmers, klopfte leise. “Ja ?” Leo öffnete die Tür. Marcus saß auf dem Bett angezogen, ein Buch in der Hand das er nicht las. “Kannst du nicht schlafen ?”, fragte Leo. “Nie.” “Darf ich… darf ich reinkommen ?” Er zögerte, dann nickte er.
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Leo setzte sich ans Fußende des Betts. Der Abstand zwischen ihnen fühlte sich riesig an und gleichzeitig viel zu klein. “Tut mir leid”, sagte Marcus. “Wegen heute. Ich bin… ich bin nicht gut darin.” “In was ?” “In… Nähe. In Berührung.” Schließlich legte er das Buch weg. “Ich habe drei Jahre niemanden berührt, niemand hat mich berührt. Und dann…” Er sah Leo an. “Und dann tust du es und ich weiß nicht wie ich damit umgehen soll.”

Leo verstand. Er verstand mehr als Marcus vielleicht wollte. “Es ist okay”, sagte Leo. “Du musst nichts damit tun. Es war nur… eine Massage. Nichts weiter.” “War es das ?” Die Frage hing zwischen ihnen. Leo wusste nicht wie er antworten sollte, also antwortete er nicht. Stattdessen rutschte er näher, langsam, vorsichtig, bis er neben Marcus saß, Schulter an Schulter.

„Du musst nicht immer stark sein.” “Doch. Muss ich.” “Nein.” Leo drehte sich zu ihm. “Nicht hier, nicht mit mir.” Marcus sah ihn an. Seine Augen waren dunkel aber in ihnen waren wieder diese goldenen Flecken, kleine Sterne in der Nacht. “Ich weiß nicht wie man schwach ist”, sagte er vorsichtig. “Dann lerne ich es dir.”

Marcus lachte kurz. „Du bist fünfundzwanzig. Was kannst du mir schon beibringen ?” “Wie man lebt”, sagte Leo einfach. “Nicht nur überlebt. Lebt.” Etwas in seinem Gesicht brach, nur für einen Moment. Er lehnte sich vor, seine Stirn berührte Leos Schulter. Eine kleine Geste von Verletzlichkeit. Der Junge bewegte sich nicht, atmete kaum, ließ Marcus einfach da sein in diesem Moment, in dieser Schwäche die eigentlich Stärke war.

„Danke”, flüsterte Marcus in Leos Schulter. “Wofür ?” “Dafür dass du hier bist, dafür dass du bleibst, dafür dass du…” Er brach ab. Leo hob langsam seine Hand, legte sie auf Marcus’ Rücken, vorsichtig. Er entspannte sich, legte sein Gewicht gegen Leo, nicht viel aber genug. Sie saßen so da, Minuten vielleicht länger.

“Bleib hier”, sagte Marcus schließlich. “Heute Nacht. Das Sofa ist zu kurz für dich.” “Das Bett ist groß genug für uns beide ?” “Ja.” Es war keine Frage. Leo nickte. Sie legten sich hin, jeder auf seiner Seite, ein Abstand zwischen ihnen. Aber ihre Hände lagen nah, so nah dass Leo Marcus’ Wärme spüren konnte. Zum ersten Mal seit Wochen schlief Marcus tief und fest. Und Leo lag wach, sah ihn an und wusste dass sich etwas verändert.

Leo wachte auf bevor Marcus es tat. Das war neu. Normalerweise war der Ältere immer zuerst wach. Aber heute lag er noch da auf der Seite, das Gesicht entspannt, die Atmung war tief und gleichmäßig. Er sah jünger aus im Schlaf, weniger wie ein Mann der siebenunddreißig Menschen getötet hatte und mehr wie jemand der einfach nur sehr kaputt war.

Leo beobachtete ihn, zu lange wahrscheinlich aber er konnte nicht wegsehen. Das Morgenlicht fiel durch die Vorhänge, malte Streifen auf das Gesicht neben ihm. Die Haare waren zerzaust, eine Hand lag zwischen ihnen auf dem Bett. Er hatte den Impuls sie zu berühren, tat es aber nicht. Stattdessen stand er leise auf, ging in die Küche und machte Kaffee.

Als Marcus zwanzig Minuten später herauskam sah er verwirrt aus. “Wie spät ist es ?” “Halb zehn.” “Was ?” Ich habe… ich habe acht Stunden geschlafen.” “Sieht so aus.” “Das ist…” Er setzte sich an den Tisch. “Das ist seit Jahren nicht passiert.” Leo schob ihm eine Tasse Kaffee rüber. “Vielleicht brauchtest du nur jemanden neben dir.” Er erstarrte. “Vielleicht.”

“Danke”, sagte Marcus schließlich. “Für letzte Nacht.” “Du musst dich nicht immer bedanken.” “Doch. Muss ich.” Die Tasse wurde abgestellt. “Ich… ich bin nicht gut darin um Hilfe zu bitten oder sie anzunehmen. Aber du…” Er suchte nach Worten. “Du machst es leicht.” Leo fühlte wie sein Herz wieder schneller schlug. “Gut.”

Die Tage danach veränderten sich oder doch ? Sie berührten sich öfter, kleine zufällige Berührungen. Eine Hand auf der Schulter beim Vorbeigehen, ein kurzes Antippen des Arms wenn einer dem anderen etwas reichte. Nichts Großes aber alles bedeutend. Marcus lächelte mehr, nicht viel aber genug, dass Leo es bemerkte.

Er schlief jetzt im Bett, nicht jede Nacht aber oft genug dass es zur Routine wurde. Sie lagen auf ihren jeweiligen Seiten, immer noch mit ein respektvoller Abstand. Aber manchmal morgens fand er befand er sich näher, als er eingeschlafen war und der andere schien es nicht zu stören. Sie redeten mehr über belanglose Dinge und wichtige. Geschichten aus der Vergangenheit, von einer Kindheit in Süddeutschland, von einem Vater der Schreiner war, von einer Mutter die zu früh gestorben war.

„Ich war siebzehn”, sagte Marcus eines Abends. Sie saßen auf dem Sofa, näher als sonst, eine Flasche Wein zwischen ihnen die Leo beim Einkaufen mitgebracht hatte. “Als sie starb. Krebs. Es ging schnell am Ende.” Er starrte ins Glas. “Mein Vater hat danach nie wieder richtig gesprochen. Er hat gearbeitet, gegessen, geschlafen aber er war nicht mehr da. Nicht wirklich.”

“Tut mir leid.” “Mir auch.” Er nahm ein Schluck. “Ein Jahr später bin ich gegangen. Zur Armee. Ich dachte… ich weiß nicht was ich dachte. Dass ich dort etwas finden würde vielleicht, einen Sinn.” “Hast du ?” “Nein. Ich habe nur gelernt wie man tötet.” Die Stimme war flach. “Und dann nach der Armee die Jobs. Immer dieselbe Art Job. Sicherheit, Personenschutz und dann… und dann die anderen Dinge.” Leo sah ihn an.

„Wann war das erste Mal ?” Das Gesicht wurde hart. “Das erste Mal was ?” “Das erste Mal dass du…” Er brach ab. “Ich war siebenundzwanzig. Der Mann hieß Dimitri, er hatte Geld unterschlagen von den falschen Leuten. Mein Auftraggeber sagte es wäre einfach, sauber. Es war nicht sauber.” Die Stimme zitterte kaum merklich. “Ich habe danach drei Tage nicht geschlafen, eine Woche nicht gegessen. Ich dachte ich würde es nicht noch einmal tun können.” “Aber du hast.” Es war kein Urteil in den Worten. “Aber ich habe.” Seine Augen öffneten sich. “Weil das Geld gut war, weil ich nicht wusste was ich sonst tun sollte, weil es mit jedem Mal leichter wurde. Bis es nicht mehr schwer war, bis es nur noch ein Job war.” Ein Blick zu Leo. “Das ist das Schlimmste. Nicht dass ich es getan habe sondern dass es irgendwann normal wurde.” Leo wusste mal wieder nicht was er sagen sollte also sagte er nichts. Manchmal war Stille die einzige richtige Antwort.

“Und du ?”, fragte der andere nach einer Weile. “Erzähl mir von dir, von vorher.” Er trank, dachte nach. “Was willst du wissen ?” “Alles. Irgendwas. Wann hast du gewusst dass du…” Er suchte nach den richtigen Worten. “Dass du trans bist ?” “Ich wusste es schon immer irgendwie. Aber ich habe es lange nicht verstanden, hatte keine Worte dafür.” Er lehnte sich zurück. “Ich war vielleicht vierzehn als ich das erste Mal das Wort trans gehört habe. Im Internet in einem Forum. Und plötzlich ergab alles Sinn.”

Vierzehn Jahre alt in einem zu rosa gestrichenen Zimmer in Hamburg. Er saß vor seinem Laptop, das Licht ausgemacht, damit seine Eltern nicht sahen dass er noch wach war. Seine Finger zitterten über der Tastatur. Er hatte gerade einen Artikel gelesen über einen trans Mann, einen Schauspieler der seine Geschichte erzählt hatte. Und er hatte geweint, so still damit niemand es hörte. Das bin ich, hatte er gedacht. Das bin ich. Aber er hatte es niemandem gesagt, nicht damals. Nicht für weitere drei Jahre. Drei Jahre in denen er versuchte in eine Form zu passen die nicht seine war, drei Jahre in denen er sich falsch fühlte in seinem eigenen Körper, falsch in seinem eigenen Namen. Mit achtzehn nach dem Abi hatte er es seinen Eltern gesagt. Am Küchentisch an einem Sonntagmorgen, die Hände in den Schoß gepresst. “Ich bin ein Mann”, hatte er gesagt und seine Stimme hatte gezittert. “Ich war schon immer ein Mann.” Seine Mutter hatte geweint. Sein Vater war aufgestanden und gegangen, einfach gegangen, hatte die Tür hinter sich zugeschlagen. Seine Mutter hatte gesagt: “Wir brauchen Zeit.” Aber Zeit hatte nichts geändert. Sie hatten nie wirklich akzeptiert, hatten gehofft es wäre eine Phase, hatten seinen neuen Namen nicht benutzt, hatten “sie” gesagt wenn sie über ihn sprachen. Mit neunzehn war er nach Berlin gezogen, hatte den Kontakt abgebrochen. Es hatte wehgetan aber nicht so sehr wie das Gefühl nicht gesehen zu werden.

„Sie reden nicht mehr mit mir”, sagte er jetzt im Hier und Jetzt auf dem Sofa. “Meine Eltern. Seit sechs Jahren nicht.” “Das tut mir leid.” “Mir auch, manchmal.” Er nahm ein Schluck. “Aber ich bin lieber allein und ich selbst als mit ihnen und jemand anderes.” “Das verstehe ich.” “Hattest du jemals jemanden ?”, fragte Leo. “Eine Beziehung meine ich.” Marcus lachte kurz. “Ein paarmal. Nichts das hielt. Wer will schon mit jemandem zusammen sein der verschwindet, der lügt, der…” Ein Abbruch. “Der das tut was ich getan habe.” “Aber du wolltest jemanden ?” Er sah ihn an. “Ja. Ich wollte immer jemanden. Aber ich habe nie gelernt wie man bleibt.” Seibe Stimme war leise. “Ich habe nur gelernt wie man geht.” “Das kannst du lernen. Wie man bleibt.” “Wie ?” “Indem du es tust. Jetzt, hier.” Leo rutschte näher. “Du bleibst, ich bleibe. Wir bleiben beide.” Der Blick den er bekam und etwas darin öffnete sich und er wurde verwundbar. “Ich will bleiben”, seine Stimme zitterte. “Dann tu es.”

Eine Hand hob sich zögernd und legte sich auf seine Wange. Die Berührung war warm und vorsichtig. Leo lehnte sich in die Berührung hinein und schloss die Augen. "Leo", flüsterte Marcus. Leo öffnete die Augen. "Ja ?" "Ich... ich weiß nicht was das hier ist zwischen uns aber ich möchte nicht dass es aufhört." Leos Atem stockte. "Ich auch nicht." Sie saßen so da, Marcus' Hand auf Leos Wange, während Leos eigene Hand sich langsam hob und die andere berührte. Es war kein Kuss, noch nicht. "Egal was morgen passiert", sagte Marcus leise "danke für alles."

"Wir überleben das", sagte Leo. "Wir beide." "Versprochen ?"

"Versprochen."

Ein Lächeln erschien auf Marcus' Gesicht, dieses seltene echte Lächeln das sein ganzes Gesicht veränderte. Dann nahm er seine Hand zurück und stand auf. "Komm. Wir sollten schlafen. Morgen ist ein neuer Tag." Sie gingen ins Schlafzimmer, legten sich hin, diesmal näher als sonst, nicht berührend aber fast. Leo hörte Marcus' Atmung, gleichmäßig und ruhig. "Marcus ?", fragte Leo leise. "Ja ?" "Ich bin froh dass ich dich getroffen habe." Eine lange Pause folgte. "Ich auch", sagte Marcus leise.

Draußen regnete es nicht, zum ersten Mal seit Wochen. Der Himmel war klar, voller Sterne die Leo nicht sehen konnte aber er wusste dass sie da waren. Genau wie die Gefühle zwischen ihnen. Da, real, wartend.

Die Wochen liefen ineinander. Leo hatte aufgehört zu zählen. Vielleicht war es die vierte Woche, vielleicht die fünfte. Die Zeit in der Wohnung hatte ihre eigene Logik. Morgens Kaffee, vormittags Training, nachmittags Warten, abends Kochen, nachts Reden. Und dazwischen die Momente in denen ihre Hände sich berührten, in denen ihre Blicke sich trafen.

Leo hatte gelernt wie Marcus sich bewegte, wie er atmete, welche Geräusche er machte wenn er nachts nicht schlafen konnte. Er hatte gelernt dass Marcus seinen Kaffee ohne Zucker trank aber mit zu viel Milch, dass er beim Lesen die Stirn runzelte, dass er manchmal mitten in einem Satz innehielt als hätte er vergessen was er sagen wollte. Und Marcus hatte gelernt dass Leo morgens grummelig war bis er Kaffee hatte, dass er beim Kochen summte ohne es zu merken, dass er nachts manchmal im Schlaf sprach, unverständliche Worte in einer Sprache die nur er kannte.

Es war ein Samstag oder vielleicht ein Mittwoch als die SMS kam. Leo saß am Fenster und las, Marcus war am Laptop. Leos Handy vibrierte. Eine Nachricht von Dr. Krause: Durchbruch. Habe zusätzliche Quellen gefunden. Artikel wird größer als gedacht. Brauche noch drei Wochen vielleicht vier. Haltet durch. Leo zeigte Marcus die Nachricht. Er las sie zweimal, dreimal. "Gut", sagte er schließlich aber seine Stimme klang angespannt. "Das ist gut." "Du klingst nicht so als wäre es gut."

Marcus rieb sich die Augen. "Es ist gut. Es bedeutet die Geschichte wird echt, wird groß. Aber es bedeutet auch..." Er sah Leo an. "Es bedeutet noch mehr Warten." "Wir haben bis jetzt gewartet. Wir können noch ein bisschen länger warten." "Ja." Marcus stand auf, ging zum Fenster und sah hinaus auf die Straße. "Aber je länger wir warten desto größer die Chance dass sie uns finden." "Haben sie uns bis jetzt gefunden ?" "Nein. Aber..." Er drehte sich um. "Ich habe ein schlechtes Gefühl. Seit ein paar Tagen. Als würde sich etwas ändern."

Leo stand auf und kam zu ihm. "Was für ein Gefühl ?" "Ich weiß nicht. Instinkt vielleicht oder Paranoia." Marcus lachte kurz. "Nach drei Jahren allein weiß ich manchmal nicht mehr was wovon ist." "Du bist nicht paranoid. Wenn du sagst du hast ein schlechtes Gefühl dann glaube ich dir." Er sah ihn an, etwas Dankbares war in seinem Blick zu erkennen. "Wir sollten vorsichtiger sein. Noch vorsichtiger." "Okay. Was soll ich tun ?" "Wenn du rausgehst achte noch mehr auf deine Umgebung. Wenn dir irgendwas komisch vorkommt, irgendwas, kommst du sofort zurück. Kein Handy einschalten wenn du draußen bist, keine Ausnahmen."

Leo nickte. "Okay." "Und..." Marcus zögerte. "Vielleicht solltest du ein paar Tage gar nicht rausgehen. Ich habe noch genug Vorräte." "Wie lange ?" "Eine Woche vielleicht. Bis ich sicher bin, dass nichts ist." Eine Woche in vier Wänden ohne rauszugehen. Leo spürte wie sich etwas in seiner Brust zusammenzog, nicht Angst genau aber etwas Ähnliches. "Okay. Wenn du denkst es ist besser so." Marcus sah erleichtert aus. "Danke." Sie standen am Fenster nah beieinander und sahen hinaus auf Berlin. Die Stadt sah normal aus, gleichgültig so wie immer.

Die nächsten Tage waren seltsam. Leo ging nicht mehr raus, nicht einmal zum Einkaufen. Marcus war angespannter, nervöser, stand öfter am Fenster und beobachtete die Straße. Er schlief noch schlechter als sonst, Leo hörte ihn nachts durch die Wohnung gehen. Am dritten Tag sagte Leo: "Du musst dich ausruhen." Marcus sah ihn an, die Augen rot, die Schultern angespannt. "Ich kann nicht." "Doch kannst du." Leo ging zu ihm, nahm seine Hand, führte ihn zum Sofa. "Setz dich." Marcus setzte sich, zu müde um zu widersprechen. Leo setzte sich hinter ihn wie damals vor Wochen. "Was machst du ?", fragte Marcus. "Dasselbe wie letztes Mal. Versuch dich zu entspannen."

Leo legte seine Hände auf Marcus' Schultern, begann zu massieren. Diesmal war es leichter, seine Hände wussten wo die Verspannungen waren, wie fest er drücken musste. Marcus seufzte, ein tiefer erschöpfter Laut und ließ seinen Kopf nach vorne fallen. Leo arbeitete sich durch die Knoten in seinem Nacken, seinen Schultern, seinem oberen Rücken. Marcus' Atmung wurde tiefer. "Das fühlt sich gut an", murmelte er. "Gut." erwiederte Leo.

Nach einer Weile drehte Marcus sich um und sah zu Leo hoch. "Danke", sagte er leise. Ihre Gesichter waren nah, zu nah. Sie konnten ihren Atem spüren. "Gern geschehen", flüsterte Leo. Marcus hob seine Hand, berührte Leos Gesicht, seine Finger zart auf Leos Wange. "Ich weiß nicht wie ich das sagen soll." "Dann sag es nicht", sagte Leo. "Zeig es mir."

Marcus war nervös. Er zog Leo näher, langsam, gab ihm Zeit wegzugehen wenn er wollte. Aber Leo ging nicht weg. Er kam näher bis ihre Lippen sich fast berührten. "Bist du sicher ?", flüsterte Marcus. "Ja", sagte Leo. "Ich bin sicher." Marcus küsste ihn. Sanft zuerst, vorsichtig, als hätte er Angst Leo könnte zerbrechen. Er erwiederte, seine Hände in Marcus' Haar, zog ihn näher. Der Kuss vertiefte sich, wurde intensiver.

Als sie sich trennten waren beide atemlos. Marcus lehnte seine Stirn gegen Leos, seine Augen geschlossen. "Ich sollte das nicht wollen", sagte Marcus leise. "Du bist fünfundzwanzig, ich bin fünfzig. Du verdienst jemanden der..." "Halt", unterbrach Leo. "Sag mir nicht was ich verdiene. Ich will dich. Genau dich, genau so wie du bist."

Marcus öffnete die Augen, sah Leo an. "Warum ?" "Weil du echt bist. Weil du nicht so tust als wärst du etwas anderes. Weil du..." Leo suchte nach Worten. "Weil du mich siehst. Den echten mich." "Ich sehe dich", sagte Marcus. "Ich habe dich vom ersten Moment an gesehen." Er küsste Leo wieder. Und vielleicht hatten sie das, vielleicht hatten sie diese Nacht, vielleicht hatten sie mehr. Sie würden es herausfinden.

"Komm", sagte Marcus schließlich und stand auf, zog Leo mit sich. "Wohin ?" "Ins Bett. Zum Schlafen", fügte er schnell hinzu als er Leos Blick sah. "Nur zum Schlafen. Ich will... ich will dich einfach nur halten." Sie gingen ins Schlafzimmer, legten sich hin und diesmal war kein Abstand zwischen ihnen. Marcus zog Leo an sich, hielt ihn fest, sein Gesicht in Leos Haar. "Ist das okay ?", fragte er. "Mehr als okay", murmelte Leo in Marcus' Brust. Er konnte Marcus' Herzschlag hören, gleichmäßig. Sie lagen so da während draußen die Nacht hereinbrach, während Berlin um sie herum weiterlebte, ahnungslos, gleichgültig.

"Marcus ?", flüsterte Leo nach einer Weile. "Ja ?" "Ich habe Angst." Marcus' Arme zogen sich fester um ihn. "Ich auch." "Was wenn sie uns finden ?" "Dann laufen wir. Zusammen. Ich lasse dich nicht zurück, das verspreche ich dir." "Und was wenn die Geschichte nicht funktioniert ? Was wenn Dr. Krause nicht genug Beweise findet ?" "Dann haben wir es versucht. Dann haben wir wenigstens versucht das Richtige zu tun." Marcus küsste Leos Kopf. "Aber ich glaube es wird funktionieren. Ich muss es glauben, sonst..." Er brach ab. "Sonst wozu das alles ?"

Leo drehte sich um in Marcus' Armen, sah ihn an im Dunkeln. "Es ist nicht umsonst. Selbst wenn es nicht funktioniert... das hier ist nicht umsonst." Er berührte Marcus' Gesicht. "Du und ich, das ist nicht umsonst." Marcus schloss die Augen und Leo sah wie eine Träne über seine Wange lief. Er wischte sie weg, zart. "Hey", sagte er leise. "Es ist okay." "Ich habe seit zehn Jahren nicht geweint", sagte Marcus.. "Ich dachte ich hätte vergessen wie." "Dann ist es Zeit. Zeit zu erinnern dass du auch nur ein Mensch bist."

Marcus zog ihn näher, hielt ihn fest als wäre Leo das Einzige was ihn am Boden hielt, als wäre er das Einzige was ihn davon abhielt wegzutreiben. Und vielleicht war er das, vielleicht waren sie beide das füreinander, Anker in einem Sturm der noch nicht zu Ende war. Sie schliefen ein so, ineinander verschlungen, zwei gebrochene Menschen die versuchten einander ganz zu machen. Draußen begann es zu regnen wieder, leise, stetig. Aber drinnen war es warm und still und zum ersten Mal seit langer Zeit fühlten sich beide sicher.

Leo wachte auf und Marcus war nicht da. Das Bett neben ihm war leer, die Decke zurückgeschlagen. Er setzte sich auf, rieb sich die Augen. Draußen war es noch dunkel, nur ein schwacher grauer Schimmer am Horizont kündigte den Morgen an. Er fand Marcus in der Küche. Er stand am Fenster mit einer Tasse Kaffee in der Hand und starrte hinaus auf die leere Straße. Er hatte sich nicht umgezogen, trug noch dieselben Sachen wie gestern Abend und Leo wusste dass er nicht geschlafen hatte. Wieder.

"Hey", sagte Leo leise um ihn nicht zu erschrecken. Marcus drehte sich um. Seine Augen sahen müde aus aber in ihnen war etwas anderes, etwas das Leo nicht ganz einordnen konnte. "Hey. Hab dich geweckt ?" "Nein, ich bin von selbst aufgewacht. Was machst du hier ?" "Konnte nicht schlafen." Marcus stellte die Tasse ab. "Zu viele Gedanken." Leo kam näher, lehnte sich gegen die Theke. "Über was ?" "Über alles. Die Geschichte, Dr. Krause, was passiert wenn es vorbei ist." Er rieb sich das Gesicht. "Über uns."

Das letzte Wort kam leiser, unsicherer. "Was ist mit uns ?", fragte Leo vorsichtig. Marcus sah ihn an und für einen Moment schien er zu überlegen ob er antworten sollte. Dann: "Ich weiß nicht was das hier ist. Zwischen uns meine ich. Ich weiß nicht ob es nur... nur weil wir hier zusammen festsitzen oder ob es echt ist." "Fühlt es sich echt an ?", fragte Leo. Marcus zögerte, dann nickte er langsam. "Ja. Zu echt vielleicht. Und das macht mir Angst." "Warum ?" "Weil ich nicht gut bin in echten Dingen. Ich bin gut im Verstecken, im Lügen, im Verschwinden. Aber das hier..." Er machte eine Geste zwischen ihnen. "Das kann ich nicht verstecken, nicht vor mir selbst."

Leo kam noch näher bis er direkt vor ihm stand. "Dann versteck es nicht. Lass es einfach sein was es ist." "Und was ist es ?" Leo nahm Marcus' Hand, hielt sie fest. "Ich weiß es nicht genau. Aber ich weiß dass ich nicht will dass es aufhört." Marcus sah auf ihre verschränkten Hände. "Ich auch nicht. Aber was passiert wenn das hier vorbei ist ? Wenn die Geschichte rauskommt, wenn ich... wenn wir nicht mehr hier zusammen sein müssen ?" "Denkst du dann hört es auf ?", fragte Leo leise.

"Ich weiß es nicht. Vielleicht merkst du dann dass es nur die Umstände waren, die Nähe, das Warten." "Das glaube ich nicht." Leo zog ihn näher. "Ich glaube das hier ist echt, egal wo wir sind." Marcus schloss die Augen, lehnte seine Stirn gegen Leos. "Ich will dir glauben." "Dann tu es." Sie standen so da in der dunklen Küche während draußen langsam der Morgen anbrach. Die Stadt erwachte um sie herum, Menschen gingen zur Arbeit, das normale Leben lief weiter, ahnungslos davon dass hier oben in dieser kleinen Wohnung zwei Menschen versuchten herauszufinden was sie füreinander bedeuteten.

"Komm", sagte Leo schließlich. "Wir gehen zurück ins Bett. Du brauchst Schlaf." "Ich kann nicht schlafen." "Dann liegst du wenigstens. Ich bleibe bei dir." Marcus nickte. Sie gingen zurück ins Schlafzimmer, legten sich hin. Leo zog ihn an sich, hielt ihn fest und nach einer Weile spürte er wie die Anspannung aus Marcus' Körper wich, wie seine Atmung langsamer und tiefer wurde. Er schlief nicht ein aber er ruhte wenigstens und das war mehr als nichts.

Drei Tage später kam die nächste Nachricht von Dr. Krause. Müssen reden. Wichtig. Morgen 14 Uhr, der Park am Landwehrkanal. Kommt beide. Leo zeigte Marcus die Nachricht. Er las sie zweimal, sein Gesicht wurde ernst. "Sie will uns beide sehen." "Ist das gut oder schlecht ?" "Ich weiß es nicht. Aber wenn sie uns beide treffen will..." Er brach ab. "Was ?" "Dann ist es entweder sehr gut oder sehr schlecht. Dazwischen gibt es nichts."

Sie verbrachten den Rest des Tages damit sich vorzubereiten. Marcus zeigte Leo noch einmal wie er sich bewegen sollte, wie er unauffällig blieb, was er tun sollte wenn etwas schiefging. "Wenn irgendetwas komisch ist", sagte er zum dritten Mal "rennst du. Nicht zu mir, nicht zurück, einfach nur weg. Verstanden ?" "Ich werde dich nicht zurücklassen." "Leo –" "Nein." Er sah ihn fest an. "Wir haben das schon besprochen. Entweder wir gehen beide oder keiner." Marcus seufzte, gab auf. "Du bist unmöglich." "Das sagst du jetzt schon zum vierten Mal diese Woche." "Weil es wahr ist." Aber er lächelte dabei.

Am Abend kochte Leo und versuchte sich abzulenken aber die Nervosität kroch ihm unter die Haut. Was wenn Dr. Krause schlechte Nachrichten hatte ? Was wenn die Geschichte nicht funktionierte ? Was wenn sie aufgeflogen waren ? "Du denkst zu laut", sagte Marcus vom Sofa aus. "Kann nicht anders." "Komm her." Leo stellte den Kochlöffel ab, ging zu ihm. Marcus zog ihn aufs Sofa, hielt ihn fest. "Was auch immer morgen passiert", sagte er leise "wir schaffen das. Zusammen."

Sie gingen früh ins Bett obwohl keiner von ihnen schlafen konnte. Sie lagen nebeneinander im Dunkeln, Hände verschränkt und hörten den Geräuschen auf der Straße zu. "Ich habe nachgedacht", sagte Marcus nach einer Weile. "Über nachher, wenn das hier vorbei ist." "Und ?" "Ich will nicht mehr verschwinden. Ich will... ich will irgendwo bleiben. Irgendwo wo ich nicht jeden Tag Angst haben muss." "Wo ?", fragte Leo. "Ich weiß nicht. Irgendwo ruhig vielleicht, am Rand von Berlin oder ganz woanders. Ein kleines Haus, nichts Großes. Vielleicht ein Garten." Er lachte leise. "Ich wollte immer Bienen haben, das klingt verrückt oder ?"

"Nein", sagte Leo. "Das klingt schön." "Und du ?", fragte Marcus. "Was willst du wenn das hier vorbei ist ?" Leo dachte nach. "Ich weiß es nicht genau. Vielleicht einen Job der mir wirklich gefällt, nicht nur irgendwas um Geld zu verdienen. Vielleicht endlich diese Katze adoptieren über die ich immer rede." Er drehte sich zu Marcus. "Und vielleicht... vielleicht jemanden haben der bleibt." Marcus zog ihn näher. "Ich bleibe", flüsterte er. "Ich verspreche dir ich bleibe."

Sie küssten sich langsam, ohne Hast, als hätten sie alle Zeit der Welt obwohl morgen alles anders sein könnte. Als sie sich trennten blieb Marcus' Hand auf Leos Gesicht liegen, der Daumen strich sanft über seine Wange. "Was auch immer morgen passiert", sagte er wieder "das hier war es wert. Du warst es wert." "Wir sind noch nicht fertig", sagte Leo. "Das ist kein Abschied." "Nein", stimmte Marcus zu. "Das ist kein Abschied." Aber als Leo später einschlief in Marcus' Armen, als er dessen gleichmäßigen Atem hörte und die Wärme seines Körpers spürte, konnte er die Angst nicht ganz loswerden. Die Angst dass morgen alles auseinanderfallen könnte, dass sie sich verlieren könnten bevor sie überhaupt die Chance hatten herauszufinden was sie wirklich waren.

Er hielt sich fester an Marcus als könnte er dadurch die Zeit anhalten, als könnte er dadurch sicherstellen dass dieser Moment, diese Nähe, diese Sicherheit für immer blieben. Draußen fing es wieder an zu regnen, leise Tropfen gegen das Fenster. Aber drinnen war es warm und still und für diese eine Nacht war das genug.

Leo wachte auf mit Marcus’ Arm um ihn gelegt, und für einen Moment tat er so, als wäre heute ein normaler Tag. Als müssten sie nicht in ein paar Stunden aus dieser Wohnung gehen, zum ersten Mal seit Wochen zusammen nach draußen, sich einem Treffen stellen. Marcus war schon wach. Natürlich war er das. Seine Augen waren offen, starrten an die Decke, und Leo konnte die Anspannung in seinem Körper spüren, die Art wie seine Muskeln sich straff anfühlten, als wäre er bereit, jeden Moment aufzuspringen.

“Wie lange bist du schon wach ?”, fragte Leo leise. “Eine Weile.” Sie lagen noch ein paar Minuten so da, keiner von ihnen wollte sich als Erstes bewegen. Dann setzte sich Marcus auf, rieb sich das Gesicht. “Wir sollten uns fertig machen.”

Er hatte sich umgezogen, trug dunkle Jeans und eine graue Jacke, sah aus wie tausend andere Menschen in Berlin. Aber Leo konnte die Vorsicht in jeder seiner Bewegungen sehen, die Art wie seine Augen nie aufhörten zu scannen, zu suchen, zu analysieren. “Wir gehen früh los”, sagte Marcus, ohne sich umzudrehen. “Ich will den Ort vorher sehen, checken, ob alles normal aussieht.” Leo nickte, obwohl Marcus es nicht sah. Seine eigenen Hände zitterten leicht, und er stellte die Tasse ab, bevor es jemandem auffiel.

Die Nervosität saß ihm im Magen und kroch ihm die Kehle hoch. Sie verließen die Wohnung um halb eins. Die Treppe runter, durch die Haustür, und dann waren sie draußen. Die Luft fühlte sich kalt an auf Leos Haut nach so vielen Wochen drinnen. Berlin roch nach Abgasen und nassem Asphalt, nach gebratenem Essen aus einem türkischen Restaurant in der Nähe. Menschen liefen an ihnen vorbei, in ihre Handys vertieft, mit Kopfhörern, in Gespräche verwickelt.

Niemand sah sie an. Marcus ging voran, nicht zu schnell, nicht zu langsam. Leo folgte ihm, hielt Abstand, wie sie es geübt hatten, aber nicht zu viel. Sie nahmen die U-Bahn, stiegen am Mehringdamm um, fuhren weiter bis Möckernbrücke. Die ganze Zeit sagte Marcus nichts, seine Augen bewegten sich ständig, beobachteten Gesichter, Bewegungen, Muster. Der Park am Landwehrkanal war nicht groß. Bäume ohne Blätter, kahle Äste, die sich gegen den grauen Himmel abzeichneten.

Ein paar Bänke entlang des Weges, der Kanal selbst dunkel und träge, die Oberfläche gekräuselt vom Wind. Es waren Menschen da, Jogger, ein älterer Mann mit einem Hund, eine Frau mit einem Kinderwagen. Normal. Alltäglich. Marcus blieb stehen bei einer Bank mit Blick auf den Kanal. “Wir warten hier”, sagte er leise. “Ich will sehen, wer kommt und geht.” Sie setzten sich. Leo spürte die Kälte der Bank durch seine Jeans, schob die Hände in die Jackentaschen. Neben ihm saß Marcus regungslos, nur seine Augen bewegten sich, scannten die Umgebung immer wieder. Die Minuten krochen vorbei.

Leos Bein fing an zu wippen, nervöse Energie, die raus musste, und Marcus legte eine Hand darauf. “Ruhig”, murmelte er. Um zwei Uhr kam Dr. Krause. Leo sah sie zuerst, erkannte sie an den kurzen grauen Haaren, der Brille. Sie trug einen dunklen Mantel und ging allein, die Hände in den Taschen. Sie sah sich nicht um, kam direkt auf ihre Bank zu, als hätte sie sie schon die ganze Zeit gesehen. Sie setzte sich neben Leo, ohne ein Wort.

Für einen Moment saßen sie alle drei schweigend da, starrten auf den Kanal, als wären sie Fremde, die zufällig denselben Platz gewählt hatten. “Danke, dass Sie gekommen sind”, sagte Dr. Krause. Marcus antwortete nicht sofort. Seine Augen scannten weiter die Umgebung, suchten nach irgendetwas, das nicht stimmte. “Sie sagten, es wäre wichtig.” “Ist es.”

Dr. Krause zog einen Umschlag aus ihrer Manteltasche. Sie hielt ihn so, dass nur Leo und Marcus ihn sehen konnten. “Die Geschichte ist bereit. Fast. Ich brauche noch eine Sache von Ihnen.” Marcus’ Körper wurde noch angespannter. “Was ?” “Ein Interview. Auf Video. Ihr Gesicht muss nicht zu sehen sein, aber ich brauche Ihre Stimme, Ihre Aussage. Die Beweise allein sind stark, aber mit Ihrer Aussage…” Sie machte eine Pause. “Mit Ihrer Aussage wird es unbestreitbar.”

Leo sah, wie Marcus’ Kiefer sich anspannte, wie seine Hände zu Fäusten wurden. “Das war nie Teil der Abmachung.” “Ich weiß. Aber die Leute, gegen die wir hier vorgehen, die haben Anwälte, die haben Geld, die haben Einfluss. Ohne eine Zeugenaussage können sie alles anzweifeln, alles verlangsamen, bis die Geschichte zu alt ist, um noch jemanden zu interessieren.” Dr. Krause sah ihn direkt an. “Ich brauche Sie. Ihre Stimme. Ihre Geschichte.”

Die Stille, die folgte, fühlte sich dick an, schwer. Ein Jogger lief vorbei, Kopfhörer in den Ohren, völlig ahnungslos. “Wenn ich das tue”, sagte Marcus langsam, “dann wissen sie, dass ich noch lebe. Dann fangen sie an zu suchen, richtig zu suchen.” “Ja”, sagte Dr. Krause. Keine Lüge, keine Beschönigung. “Aber wenn Sie es nicht tun, dann war alles umsonst. Das Verstecken, die Angst, die Monate in dieser Wohnung. Alles.” Leo spürte, wie sich etwas in seiner Brust zusammenzog. Er sah zu Marcus, sah das Profil seines Gesichts, die Spannung darin, den inneren Kampf. Das war es, die Entscheidung. Sicherheit oder Gerechtigkeit.

Verstecken oder kämpfen. Marcus schloss die Augen, atmete tief ein und aus. Als er sie wieder öffnete, sah er nicht Dr. Krause an, sondern Leo. Und in seinem Blick lag eine Frage, ein stilles Bitten um… was ? Erlaubnis ? Verständnis ? Leo nickte, so klein, dass es fast nicht sichtbar war. Marcus wandte sich wieder zu Dr. Krause. “Wann ?” “Morgen. Ich habe einen Ort. Sie geben mir die Aussage, ich schneide sie so, dass niemand Sie identifizieren kann, und in einer Woche geht die Geschichte live.”

Sie stand auf, steckte den Umschlag weg. “Die Adresse ist drin. Zehn Uhr morgens. Kommen Sie allein.” “Er kommt mit”, sagte Marcus und deutete auf Leo. Dr. Krause zögerte, dann nickte sie. “In Ordnung.” Sie sah beide an, zum ersten Mal etwas wie Mitgefühl in ihrem Gesicht. “Was Sie tun, ist mutig. Denken Sie daran, wenn es hart wird.” Dann ging sie, verschwand zwischen den Bäumen, und Leo und Marcus saßen allein auf der kalten Bank. Der Wind wurde stärker, trug die ersten Tropfen von Regen mit sich.

Marcus stand auf, streckte seine Hand aus zu Leo. “Komm. Gehen wir nach Hause.” Nach Hause. Das Wort klang seltsam, zu vertraut, zu warm für eine Wohnung, in der sie sich versteckten. Aber Leo nahm die Hand, ließ sich hochziehen, und zusammen gingen sie zurück durch den Park, zurück zur U-Bahn, zurück in die Wohnung.

Erst als sie wieder drinnen waren, die Tür geschlossen und verriegelt, erst da ließ Marcus sich aufs Sofa fallen und vergrub sein Gesicht in den Händen. Leo setzte sich neben ihn, sagte nichts, legte nur eine Hand auf seinen Rücken. Sie saßen so da, während draußen der Regen begann und Berlin weiterlebte, ahnungslos davon, dass morgen vielleicht alles anfangen würde zu enden oder vielleicht auch erst richtig zu beginnen.​​

Leo lag wach, hörte Marcus’ Atmung neben sich, unregelmäßig, flach. Er wusste, dass der andere auch nicht schlief, nur so tat, als würde er. Irgendwann gegen vier Uhr morgens stand Marcus auf, ging in die Küche. Leo folgte ihm nach ein paar Minuten. Sie saßen am Tisch, tranken Wasser, weil Kaffee jetzt ihre Nerven nur noch schlimmer machen würde. Das schwache Licht der Straßenlaterne draußen fiel durch das Fenster, malte orange Streifen auf den Boden.

Marcus starrte auf seine Hände, drehte das Glas zwischen seinen Fingern. “Ich habe in drei Jahren nicht über diese Dinge gesprochen”, sagte er schließlich. Seine Stimme war rau. “Ich weiß nicht, ob ich das kann.” Leo streckte seine Hand aus, legte sie auf Marcus’ Arm. “Du musst nicht alles erzählen. Nur genug.” “Genug, um sie zu Fall zu bringen.” Marcus lachte bitter. “Das ist mehr, als ich jemals sagen wollte.” Sie saßen schweigend da, bis das erste graue Licht des Morgens durch die Vorhänge kroch. Dann duschten sie nacheinander, zogen sich an, aßen nichts, weil keiner von ihnen Hunger hatte. Um neun Uhr verließen sie die Wohnung.

Die Adresse führte sie nach Wedding, in ein altes Bürogebäude, das halb leer stand. Dr. Krause wartete im dritten Stock, in einem Raum, der aussah, als wäre er mal ein Konferenzraum gewesen. Jetzt stand nur noch ein Stuhl drin, eine Kamera auf einem Stativ, und schwere Vorhänge, die die Fenster verdunkelten. “Danke, dass Sie gekommen sind”, sagte Dr. Krause. Sie sah müde aus, Schatten unter den Augen, aber ihre Haltung war angespannt, konzentriert. “Wir machen es schnell. „Ihr Gesicht wird nicht zu sehen sein, ich verschwimme es komplett.

Die Stimme verändere ich auch leicht, nur zur Sicherheit.” Marcus nickte, sagte nichts. Er ging zum Stuhl, setzte sich, seine Hände lagen flach auf seinen Oberschenkeln, als müsste er sie kontrollieren, damit sie nicht zitterten. Leo blieb an der Wand stehen, wollte nicht im Weg sein aber nah genug sein, dass Marcus ihn sehen konnte. Dr. Krause schaltete die Kamera ein, checkte die Einstellungen. “Bereit ?” “Nein”, sagte Marcus.

​​​​​​“Aber fangen wir an.” Die ersten Fragen waren einfach. Wie lange er für die Organisation gearbeitet hatte, welche Rolle er gespielt hatte, wie die Struktur funktionierte. Marcus antwortete mechanisch, seine Stimme flach, als würde er über jemand anderen sprechen. Aber dann kamen die anderen Fragen. Die über die Kinder, die Routen, die Methoden. Und Marcus’ Stimme begann zu brechen. Leo sah, wie seine Hände sich zur Faust ballten, wie sein Kiefer sich anspannte, wie er versuchte, die Kontrolle zu behalten.

​​​​​Dr. Krause fragte weiter, sanft aber beharrlich, und Marcus antwortete, jedes Wort schien ihm wehzutun, als würde er sie aus sich herausreißen. “Wie viele ?”, fragte Dr. Krause irgendwann. Marcus schwieg lange. “Ich weiß es nicht genau. Hunderte. Vielleicht mehr.” Seine Stimme war nur noch ein Flüstern. “Ich habe nicht gezählt. Ich wollte nicht zählen.” “Aber Sie haben die Beweise gesammelt.” “Ja.” “Warum ?”

Marcus sah auf, direkt in die Kamera, auch wenn sein Gesicht verschwommen sein würde. “Weil ich aufgehört habe zu schlafen. Weil ich ihre Gesichter gesehen habe, jede Nacht, wenn ich die Augen schloss. Weil…” Er brach ab, atmete schwer. “Weil ich dachte, wenn ich nichts tue, dann bin ich genauso schuldig wie die, die es angeordnet haben.” Leo spürte, wie ihm die Tränen in die Augen stiegen, wie sich sein Hals zusammenzog. Er wollte zu Marcus gehen, ihn halten, ihm sagen, dass es genug war. Aber er blieb stehen, weil das hier wichtig war, weil Marcus das durchziehen musste. Dr. Krause stellte noch ein paar Fragen, dann schaltete sie die Kamera aus.

“Das war’s. Das reicht.” Er stand auf, schwankte leicht, als wären seine Beine nicht ganz stabil. Leo war sofort bei ihm, hielt ihn fest, und Marcus lehnte sich gegen ihn. “Ich brauche eine Woche, um alles fertig zu machen”, sagte Dr. Krause. “Dann geht es online. Überall gleichzeitig. Sie sollten…” Sie zögerte. “Sie sollten vorbereitet sein. Es wird Reaktionen geben. Große Reaktionen.” Marcus nickte nur, sagte nichts.

Sie verließen das Gebäude, gingen zurück zur U-Bahn. Marcus schwieg die ganze Fahrt über, starrte auf den Boden, und Leo saß neben ihm, hielt seine Hand fest. Erst als sie wieder in der Wohnung waren, die Tür hinter ihnen geschlossen, erst da brach er zusammen. Er sank auf den Boden, den Rücken gegen die Wand, und zog seine Knie an die Brust. Sein Atem kam in kurzen, harten Stößen, und Leo erkannte es sofort. Panik. Er kniete sich vor ihn, nahm sein Gesicht in beide Hände. “Hey, schau mich an. Marcus, schau mich an.”

Marcus’ Augen waren weit, leer, irgendwo anders. Leo sprach weiter, sagte seinen Namen immer wieder, bis endlich etwas in seinem Blick sich änderte, bis er wirklich da war. “Es ist vorbei”, sagte Leo leise. “Du hast es geschafft. Es ist vorbei.” Marcus schloss die Augen, lehnte seinen Kopf zurück gegen die Wand. “Ich habe es laut gesagt. Alles. Ich habe…” “Ich weiß.” “Sie werden es hören. Die ganze Welt wird es hören.” “Ja. Und sie werden verstehen, warum du es getan hast.”

Leo rutschte näher, setzte sich neben ihn, zog ihn an sich. “Du bist so verdammt mutig.” Marcus lachte. Ich fühle mich nicht mutig. Ich fühle mich… leer.” Sie saßen so da auf dem Boden, während die Stunden vergingen, während draußen der Tag in Abend überging. Irgendwann stand Leo auf, machte Essen, etwas Einfaches, Nudeln mit Butter. Danach gingen sie ins Bett, legten sich hin, und Leo hielt ihn fest, bis er endlich einschlief.

Leo selbst lag wach, streichelte Marcus’ Haar, und dachte an die nächste Woche. An das, was kommen würde. An die Geschichte, die die Welt verändern würde. An die Gefahr, die dann kommen würde. Aber auch an die Möglichkeit, dass danach vielleicht, endlich, Frieden sein könnte. Er schloss die Augen und versuchte, daran zu glauben.​​

Eine Woche verging. Marcus schlief schlecht, aß wenig, checkte ständig die Nachrichten. Leo versuchte, die Tage zu füllen, aber die Spannung war da, immer präsent. Dann, Donnerstagmorgen um acht Uhr, die Nachricht von Dr. Krause: *Es ist draußen. Marcus reichte Leo das Handy. Die Überschrift: „Das Netzwerk: Wie eine kriminelle Organisation jahrelang Kinder verkaufte – und wer dahinter steckt” Fotos, Namen, Firmen, Verbindungen. Das Video mit Marcus’ Aussage, sei. Gesicht verschwommen, seine Stimme verändert. Leo las. Marcus lief herum und konnte nicht stillsitzen.

“Es ist überall”, sagte Leo. Twitter, Nachrichtenseiten, überall dieselbe Story. Marcus sagte nichts. Mittags die nächsten guten Nachrichten: Staatsanwaltschaft ermittelt. Gut gemacht.

“Jetzt wissen sie, dass ich lebe”, sagte Marcus. “Dann passen wir auf.”

Marcus sah ihn lange an, dann küsste er ihn. Leo erwiderte es, spürte die Verzweiflung darin, die Erleichterung, alles gleichzeitig. Sie gingen ins Schlafzimmer. Begannen sich auszuziehen, und Leo zögerte wie immer. Seine Hände gingen automatisch zu seiner Brust, versuchten die Narben zu verdecken. Zwei Linien, verheilt seit Jahren aber immer noch sichtbar. Marcus nahm seine Hände weg, sanft. “Hey. Nicht verstecken.” “Ich weiß, ich weiß. Gewohnheit.” Marcus küsste die Narben, wie er es schon ein paar Mal getan hatte, und Leo entspannte sich. Der Rest passierte ohne viele Worte.

Marcus war vorsichtig, aufmerksam, und Leo fühlte sich zum ersten Mal seit langem nicht falsch in seinem Körper. Er fühlte sich richtig. Danach lagen sie da. Marcus zog Leo an sich. “Gut?”, fragte Marcus. “Ja. Sehr gut.” Sie blieben noch eine Weile liegen, dann duschten sie, zogen sich an. Die Nachrichten liefen. Es ging völlig durch die Decke!

Es funktionierte. “Sie werden kommen”, sagte Marcus abends. “Die vom Netzwerk.” “Dann sind wir vorsichtig.” Marcus nickte, aber Leo sah die Sorge in seinem Gesicht. Sie gingen ins Bett. Marcus hielt ihn fest, und Leo schlief ein mit dem Gefühl, dass heute etwas Gutes passiert war. Keiner ahnte, dass es nicht von langer Dauer war.

Drei Tage nach der Veröffentlichung fühlte sich die Welt fast normal an. Die Geschichte lief, die Staatsanwaltschaft hatte offiziell Ermittlungen aufgenommen, erste Verhaftungen waren gemacht worden. Nicht die großen Fische, noch nicht, aber ein Anfang.

Marcus war immer noch angespannt, stand oft am Fenster, aber er lächelte öfter. Berührte Leo öfter. Sie hatten angefangen, über danach zu sprechen. Über was sie tun würden, wenn es vorbei war. Wohin sie gehen könnten.

"Wir brauchen Milch", sagte Leo an einem Dienstagmorgen. Er stand in der Küche, sah in den leeren Kühlschrank. "Und Brot. Ich geh schnell zum Späti."

Marcus sah von seinem Laptop auf. "Ich komme mit."

"Musst du nicht. Ist nur um die Ecke." Leo zog seine Jacke an. "Zehn Minuten, höchstens."

Marcus zögerte, dann nickte er. "Okay. Aber Kapuze auf, Hände in den Taschen."

"Ich weiß." Leo küsste ihn schnell. "Bin gleich zurück."

Draußen war es kalt, aber trocken. Leo ging die Straße runter, die Kapuze hochgezogen, die Hände in den Jackentaschen. Der Späti war zwei Straßen weiter, ein kleiner Laden, den er schon oft besucht hatte. Der Besitzer, ein älterer türkischer Mann, nickte ihm zu aber sagte nichts. Leo nahm Milch, Brot und ein paar Äpfel. Er Bezahlte bar, wie immer.

Auf dem Rückweg dachte er an nichts Besonderes. An das Abendessen vielleicht, an die letzte Nacht, an Marcus. Er bog um die Ecke in ihre Straße.

Dann hörte er die Schritte hinter sich. Schnell. Zu schnell.

Leo drehte sich um, er sah zwei Männer in dunkler Kleidung. Bevor er reagieren konnte, zog einer von ihnen eine Pistole. Der Knall schallte der Straße. Etwas traf Leo in die Schulter. Er schrie auf, stolperte, die Plastiktüte fiel zu Boden.

"Hilfe!", schrie eine Frau irgendwo. "Jemand ruft die Polizei!"

Der zweite Mann packte Leo von hinten, presste etwas gegen sein Gesicht. Ein Tuch, feucht, süßlich riechend. Leo versuchte zu kämpfen, hörte mehr Schreie, Rufe, aber der Schmerz in seiner Schulter und das Chloroform machten ihn schwach.

"Schneller!", zischte einer der Männer.

Ein Auto hielt quietschend. Leo spürte, wie er hochgehoben wurde, wie er in den Wagen geworfen wurde. Türen schlugen zu und der Motor heulte auf.

"Die Polizei ist unterwegs!", schrie jemand.

Aber es war zu spät. Das Auto raste davon, und Leo wurde Ohnmächtig.

Marcus merkte, dass etwas nicht stimmte, als zwanzig Minuten vergangen waren. Leo brauchte nie so lange. Er schrieb eine SMS: Alles okay ? Keine Antwort. Er wartete fünf Minuten, schrieb noch eine: Leo ?

Nichts.

Sein Bauchgefühl wurde schlimmer. Marcus stand auf, zog seine Jacke an und verließ die Wohnung. Er ging schnell die Straße runter, Richtung Späti.

Und dann sah er es. Polizeiautos, drei Stück, Blaulichter. Absperrband quer über die Straße. Menschen standen herum, starrten, redeten aufgeregt. Ein Polizist sprach mit einer älteren Frau, die wild gestikulierte.

Marcus' Herz setzte aus. Er ging näher, versuchte normal auszusehen, als wäre er nur ein neugieriger Nachbar. Er sah den Boden hinter dem Absperrband. Eine umgefallene Plastiktüte, Milch lief in die Ritzen. Brot, zertreten. Äpfel über die Straße verteilt.

Und Blut. Ein dunkler Fleck auf dem Asphalt.

"Was ist passiert?", fragte Marcus einen Mann, der daneben stand.

"Schießerei. Vor zwanzig Minuten. Sie haben wohl jemanden mitgenommen, einen jungen Mann. Einfach so, am helllichten Tag." Der Mann schüttelte den Kopf. "Berlin wird immer schlimmer."

Marcus konnte kaum atmen. Er ging näher zum Absperrband, suchte nach irgendetwas. Da, am Rand, fast übersehen. Leos Schlüsselanhänger. Die kleine Katze.

Er bückte sich, tat so als würde er seinen Schuh zubinden und nahm den Anhänger unauffällig.

"Sie!", rief ein Polizist. "Treten Sie zurück bitte."

Marcus tat es, langsam. Der Polizist kam näher, musterte ihn. "Wohnen Sie hier in der Gegend?"

"Ja. Zwei Straßen weiter." Marcus zwang sich zur Ruhe. "Was ist passiert?"

"Ein Überfall. Haben Sie etwas gesehen? Waren Sie in der letzten halben Stunde draußen?"

"Nein, ich war zuhause. Hab nur die Sirenen gehört."

Der Polizist notierte sich etwas. "Falls Sie doch noch etwas erinnern, melden Sie sich bitte." Er reichte Marcus eine Karte.

Marcus nickte und er ging langsam weg. Nicht rennen. Nicht auffallen. Erst als er um die Ecke war, beschleunigte er. Rannte zurück zur Wohnung, die Treppen hoch.

Drinnen schloss er die Tür. Sie hatten Leo. Hatten ihn angeschossen, vor Zeugen, vor der ganzen Straße. Sie waren wohl verzweifelt, rücksichtslos und sehr wütend.

Marcus zog sein Handy raus und wählte Dr. Krauses Nummer.

"Hallo?"

"Sie haben ihn. Sie haben Leo. Vor zwanzig Minuten, auf offener Straße. Haben ihn angeschossen und mitgenommen."

"Was? Die Polizei –"

"Ist schon da. Aber die können nichts tun, sie wissen nicht mal, wer er ist. Ich kann nicht zur Polizei gehen, das weißt du." Er lief auf und ab. "Sie wollen mich. Sie haben ihn genommen, um mich rauszulocken."

"Marcus, wenn die Polizei schon ermittelt –"

"Die finden ihn nicht rechtzeitig. Er ist verletzt, er braucht Hilfe." Marcus ging zum Schrank, holte die Kiste raus. "Ich werde ihn holen."

"Wie? Sie wissen nicht mal, wo er ist."

"Ich finde es raus."

Er beendete das Gespräch, öffnete die Kiste. Waffe, Magazine, Messer, Wegwerfhandy. Er schaltete das Handy ein und wählte die Nummer aus dem Gedächtnis.

"Wolff. Dachte, du wärst tot."

"Nicht ganz. Ich brauche Informationen."

"Nach drei Jahren? Das wird teuer."

"Nenne deinen Preis."

Eine Pause. "Was brauchst du?"

"Jemand hat eine Person verschleppt. Heute Morgen in Neukölln. Angeschossen, vor Zeugen. Ich muss wissen, wo sie ihn hingebracht haben."

"Wer ist sie?"

"Das Netzwerk, jedenfalls Die Reste davon."

Ein leises Pfeifen. "Du hast sie richtig wütend gemacht. Hör mal, wenn sie jemanden angeschossen haben, brauchen sie einen Arzt. Einen von ihren Ärzten."

"Du kennst welche?"

"Dr. Petrov, arbeitet unter der Hand. Er Hat ein paar Orte in der Stadt. Lass mich ein paar Anrufe machen."

"Ich habe keine Zeit."

"Gib mir eine Stunde."

Die Leitung wurde tot.

Marcus setzte sich aufs Bett, die Waffe in der Hand. Eine Stunde. Sechzig Minuten, in denen Leo irgendwo festgehalten wurde, verletzt, vielleicht gefoltert.

Er würde sie alle töten. Jeden Einzelnen.

 

Leo wachte mit hämmernden Kopfschmerzen auf. Sein Mund schmeckte nach Chemie und die Schulter brannte. Als er versuchte sich zu bewegen merkte er, dass seine Hände hinter dem Rücken an einen Stuhl gefesselt waren.

Panik schoss durch ihn. Er öffnete die Augen und sah einen kleinen Raum mit Betonwänden und ohne Fenster. Eine einzelne Glühbirne hing von der Decke und warf schwaches gelbes Licht.

"Ah, du bist wach."

Eine männliche Stimme, älter. Ein Mann in einem schmutzigen weißen Kittel stand neben ihm und hielt eine blutige Kompresse. "Die Kugel ist durch. Ich habe die Wunde versorgt aber du hast viel Blut verloren."

"Wo bin ich?"

"Irgendwo wo dich niemand findet." Der Mann trat zurück. "Jedenfalls nicht rechtzeitig."

Ein anderer Mann trat ins Licht. Groß und kräftig mit Glatze und einem Gesicht voller Narben. Er lächelte aber es erreichte seine Augen nicht. "Guten Morgen Leo. Ich bin Viktor."

Leo sagte nichts und presste die Zähne zusammen.

"Marcus Wolff hat uns viel Ärger gemacht. Diese Geschichte, diese Enthüllung." Viktor kam näher und kniete sich vor Leo. "Drei meiner Kollegen sind verhaftet worden. Geschäfte zerstört. Jahre von Arbeit." Er nahm Leos Kinn und zwang ihn aufzusehen. "Das müssen wir korrigieren."

"Er wird nicht kommen", presste Leo hervor.

Viktor lachte. "Doch wird er. Für dich wird er kommen." Er ließ Leos Kinn los und stand auf. "Aber erst müssen wir sichergehen dass er auch wirklich kommt. Dass er versteht wie ernst wir es meinen."

Er holte etwas aus seiner Tasche. Eine Zigarette. Zündete sie an und nahm einen tiefen Zug. "Weißt du Leo, Schmerz ist eine wunderbare Sprache. Jeder versteht sie."

Leos Augen weiteten sich. "Nein bitte –"

Viktor drückte die glühende Zigarette gegen Leos Brust. Der Schmerz war unerträglich und brennend und Leo schrie. Er konnte nicht anders, der Schrei riss sich aus seiner Kehle. Viktor lachte und hielt die Zigarette noch fünf Sekunden dort bevor er sie wegnahm.

"Das war nur der Anfang", sagte er. "Wir haben Zeit. Viel Zeit."

Die nächsten Stunden waren die Hölle. Viktor arbeitete systematisch und methodisch. Verbrennungen an Leos Brust und an seinen Armen. Schläge ins Gesicht und gegen die Rippen. Ein Messer das flache Schnitte auf seiner Haut hinterließ, nicht tief genug um zu töten aber tief genug um zu schmerzen.

Leo versuchte nicht zu schreien und versuchte stark zu sein. Aber der Schmerz war zu viel. Er schrie und weinte und bettelte dass es aufhören sollte. Aber Viktor hörte nicht auf. Er genoss es, Leo konnte es in seinen Augen sehen.

"Wo ist Wolff?", fragte Viktor immer wieder. "Wo versteckt er sich?"

"Ich weiß es nicht", keuchte Leo zwischen Tränen. "Ich schwöre ich weiß es nicht."

"Lügner." Ein Schlag ins Gesicht. Leos Lippe platzte auf und Blut füllte seinen Mund.

Der Arzt kam zwischendurch und versorgte die Schusswunde neu damit Leo nicht zu viel Blut verlor und bei Bewusstsein blieb. Er arbeitete ruhig und effizient als wäre das alles normal für ihn.

Irgendwann hörte Viktor auf. Leo wusste nicht wie lange es schon ging. Viktor trat zurück und wischte sich die Hände an seiner Hose ab. "Genug für jetzt. Wir machen eine Pause." Er sah auf sein Handy. "Und wir schicken Wolff eine kleine Nachricht."

Er richtete sein Handy auf Leo und machte ein Foto. Leo versuchte den Kopf wegzudrehen aber Viktor packte ihn an den Haaren und zwang ihn in die Kamera zu sehen. Das Foto wurde geschickt.

"Jetzt warten wir", sagte Viktor. "Und wenn er nicht kommt..." Er zog sein Messer wieder raus. "Dann machen wir weiter. Bis es nichts mehr zu brechen gibt."

Er verließ den Raum. Der Arzt folgte ihm. Die Tür ging zu und ein Schloss klickte.

Leo war allein. Jeder Atemzug tat weh. Tränen liefen über sein Gesicht und mischten sich mit dem Blut. Er versuchte die Fesseln zu lösen aber seine Hände waren taub und die Handgelenke roh und blutig vom Kämpfen. Er kann sich nur schwer bei Bewusstsein halten.

"Marcus", flüsterte er. "Bitte komm."

Aber ein Teil von ihm hoffte auch dass Marcus nicht kam. Dass er wegblieb. Weil wenn Marcus kam würden sie ihn töten. Und Leo konnte den Gedanken nicht ertragen dass er wegen ihm sterben würde.

Er schloss die Augen und versuchte sich auf etwas anderes zu konzentrieren. Auf Marcus' Lächeln. Auf die Art wie er Leo ansah. Auf die Nächte die sie zusammen verbracht hatten.

Er klammerte sich an diese Erinnerungen während sein Körper schmerzte und seine Hoffnung langsam schwand.

Marcus' Handy vibrierte. Eine unbekannte Nummer. Er öffnete die Nachricht und erstarrte.

Ein Foto. Leo gefesselt an einen Stuhl. Sein Gesicht voller Blut, die Lippe aufgeplatzt, ein Auge zugeschwollen. Sein Shirt war zerrissen und auf seiner Brust waren Brandspuren. Kleine runde Kreise. Zigaretten.

Darunter eine Nachricht: Er hält noch durch. Aber nicht mehr lange. Wenn du ihn lebend wiedersehen willst komm allein. Wir schicken dir die Adresse in einer Stunde.

Marcus starrte auf das Foto. Seine Hände zitterten so sehr dass er das Handy fast fallen ließ. Leos Gesicht voller Schmerz und voller Angst. Sie hatten ihn gefoltert. Sie folterten ihn während Marcus hier saß und nichts tat.

Wut überschwemmte ihn so heiß und vernichtend dass er kaum atmen konnte. Er warf das Handy gegen die Wand und schrie und schlug gegen den Tisch bis seine Knöchel bluteten.

Dann zwang er sich zur Ruhe. Atmete tief ein und aus. Wut würde Leo nicht helfen.

Das Wegwerfhandy klingelte. "Ich hab was. Petrov ist heute Morgen zu einem Lagerhaus in Spandau gerufen worden. Notfall. Schusswunde. Passt zu deinem Zeitrahmen."

"Adresse."

"Industriegebiet, alte Lagerhallen beim Hafen. Nummer siebenundzwanzig. Aber Wolff wenn das wirklich die sind... die werden bewacht sein."

"Schick mir die Adresse."

"Du bist verrückt."

"Schick mir die verdammte Adresse."

Marcus bekam die SMS und prägte sich die Adresse ein. Er lud die Waffe durch und steckte das Messer ein und zusätzliche Magazine. Im Badezimmerspiegel sah er sich selbst an. Der Mann der zurückstarrte war nicht der Marcus der letzten Wochen. Das war der alte Marcus. Der Killer. Kalt und ohne Emotionen.

Er verließ die Wohnung.

Es war Zeit Leo nach Hause zu holen.

Egal was es kostete.

Das Lagerhaus Nummer siebenundzwanzig stand dunkel da. Spandau war nachts leer, nur das Geräusch von Wasser gegen die Kaimauer und gelegentlich eine Ratte die über den Asphalt huschte. Marcus parkte drei Straßen weiter und ging den Rest zu Fuß.

Er bewegte sich wie früher. Leise und präzise. Jeder Schritt bedacht. Die Waffe lag schwer in seiner Hand, geladen und entsichert. Er hatte in drei Jahren nicht geschossen aber der Körper erinnerte sich.

Das Lagerhaus hatte zwei Eingänge. Haupttor vorne, Seitentür hinten. Marcus umrundete das Gebäude und blieb im Schatten. Durch ein schmutziges Fenster sah er Licht im Inneren und bewegte Schatten. Mindestens vier Männer vielleicht mehr.

Er fand die Seitentür und probierte die Klinke. Verschlossen. Marcus holte sein Messer raus und arbeitete am Schloss. Dreißig Sekunden dann klickte es. Die Tür ging auf lautlos. Er schlüpfte hinein.

Der Innenraum war groß und voller alter Kisten und Regale und Schrott. Geruch nach Öl und Rost. Stimmen kamen von vorne und dann hörte er es. Ein unterdrücktes Stöhnen. Leo.

Marcus bewegte sich durch die Schatten und nutzte die Deckung der Kisten. Zwei Männer saßen draußen vor einer Tür, rauchten und lachten über etwas. Durch die geschlossene Tür hörte Marcus Stimmen.

"Wie lange macht Viktor das noch?", fragte einer der Männer.

"Bis Wolff auftaucht. Oder bis der Kleine bricht." Der andere lachte. "Was auch immer zuerst kommt."

Marcus wartete und beobachtete. Einer der Männer stand auf und ging zur Toilette. Nur noch einer draußen.

Marcus bewegte sich lautlos und kam von hinten. Der Arm um den Hals des Mannes, zudrückend bis der Körper erschlaffte. Er legte ihn leise auf den Boden. Der andere Mann kam zurück von der Toilette und sah seinen Partner am Boden liegen. Er griff nach seiner Waffe.

Marcus war schneller. Ein Schlag gegen die Schläfe hart und präzise. Der Mann sackte zusammen.

Die Tür. Marcus öffnete sie langsam einen Spalt. Blickte hinein.

Der Raum war klein und schmutzig. Eine Glühbirne hing von der Decke. In der Mitte an einen Stuhl gefesselt saß Leo. Sein Gesicht war voller Blut, die Lippe aufgeplatzt, ein Auge zugeschwollen. Sein Shirt war zerrissen und auf seiner Brust waren frische Brandspuren. Seine Schulter blutete durch einen schmutzigen Verband.

Und vor ihm stand Viktor mit einer brennenden Zigarette in der Hand. Er wandte sich zu einem anderen Mann im Raum. "Geh raus, hol die anderen. Ich will dass sie alle dabei sind wenn Wolff kommt."

Der Mann nickte und ging zur Tür. Marcus trat zurück in die Schatten. Der Mann kam raus und Marcus schlug zu. Das Messer zwischen den Rippen schnell und effizient. Der Mann keuchte und sank zu Boden. Marcus fing ihn auf und legte ihn leise hin.

Jetzt waren nur noch Viktor und Leo im Raum.

Marcus öffnete die Tür ganz und trat ein. Die Waffe voraus.

Viktor drehte sich um und sah ihn. Er grinste. "Wolff. Endlich. Wir dachten schon du kommst nicht."

"Lass ihn los."

"Oder was?" Viktor zog eine Waffe aus seinem Gürtel aber richtete sie nicht auf Marcus. Auf Leo. Er drückte die Mündung gegen Leos Schläfe. "Du schießt mich, ich schieße ihn. Willst du das riskieren?"

Leo hob den Kopf. Seine Augen trafen Marcus'. Sie waren voller Schmerz und voller Angst aber auch etwas anderes. Entschlossenheit. Er schüttelte leicht den Kopf. Nicht schießen.

Marcus' Finger lag am Abzug. Ein sauberer Schuss Kopf zwischen den Augen. Aber wenn Viktor noch Zeit hatte zu reagieren...

"Was willst du?", fragte Marcus kalt.

"Gerechtigkeit. Du hast unser Netzwerk zerstört." Viktor zog Leo am Haar nach hinten und zwang ihn Marcus anzusehen. "Jetzt wirst du zusehen wie ich ihn auseinandernehme. Stück für Stück."

"Marcus geh", krächzte Leo. "Bitte..."

Viktor schlug ihm ins Gesicht. Leos Kopf schnappte zur Seite und mehr Blut spritzte. "Halt die Fresse."

Marcus sah rot. Alle Kontrolle verschwand. Er zielte nicht auf Viktors Kopf. Er zielte auf dessen Hand die die Waffe hielt. Der Schuss war perfekt. Viktor schrie auf und die Waffe fiel zu Boden.

Marcus stürmte vor und riss Viktor von Leo weg und warf ihn gegen die Wand. Viktor griff nach einem Messer aber Marcus war schneller und schlug es aus seiner Hand und trat ihm ins Knie. Knochen knackten. Viktor brüllte und ging zu Boden.

Marcus warf sich auf ihn und schlug ihm ins Gesicht. Einmal, zweimal, dreimal. Knochen knackten unter seinen Knöcheln. Er hörte nicht auf konnte nicht aufhören. Die Wut und die Angst, alles kam raus. Jeder Schlag war für jede Wunde auf Leos Körper.

"Marcus", eine schwache Stimme. "Marcus bitte hör auf..."

Leo. Marcus hielt inne. Seine Hände waren blutig und zitternd. Unter ihm lag Viktor bewusstlos, sein Gesicht eine blutige Masse. Atmete noch aber kaum.

Marcus stand auf und ging zu Leo und kniete vor ihm. "Ich bin hier. Ich hab dich." Seine Hände zitterten als er die Fesseln löste. Leos Handgelenke waren roh, die Haut aufgescheuert bis aufs Fleisch.

Leo kippte nach vorne und Marcus fing ihn auf. Hielt ihn fest und vorsichtig wegen der vielen Verletzungen. "Es tut mir leid", flüsterte Marcus und seine Stimme brach. "Es tut mir so leid..."

"Nicht deine Schuld." Leos Stimme war kaum zu hören. "Bring mich einfach hier weg."

Schritte. Von draußen. Stimmen.

"Scheiße", murmelte Marcus. Er hob Leo hoch so vorsichtig wie möglich. Leo keuchte und verkrampfte sich vor Schmerz. "Halt durch. Nur noch ein bisschen."

Marcus trug ihn zur Tür und spähte hinaus. Drei Männer kamen auf den Raum zu mit gezogenen Waffen. Sie sahen ihre bewusstlosen Kollegen am Boden und wurden vorsichtiger.

Marcus hatte keine Wahl. Er legte Leo vorsichtig hinter eine Kiste. "Bleib hier. Beweg dich nicht."

Dann trat er in den offenen Raum. Die drei Männer sahen ihn und reagierten sofort. Schüsse hallten durch das Lagerhaus. Marcus warf sich in Deckung und rollte sich ab und schoss zurück. Ein Mann ging zu Boden und schrie. Die anderen zwei suchten Deckung.

Es war ein Feuergefecht kurz und brutal. Marcus bewegte sich und nutzte die Kisten und die Schatten. Er war schneller und besser trainiert. Einer nach dem anderen fiel. Der letzte Mann versuchte zu fliehen aber Marcus holte ihn ein und schlug ihm die Waffe aus der Hand und warf ihn zu Boden.

"Wie viele seid ihr noch?", fragte Marcus mit der Waffe an den Kopf des Mannes gedrückt.

"Nur wir", keuchte der Mann. "Alle anderen sind verhaftet oder weg..."

Marcus schlug ihn bewusstlos.

Stille. Nur noch sein eigener Atem schwer und schnell. Marcus ging zurück zu Leo und hob ihn wieder hoch. Leo war kaum bei Bewusstsein, sein Kopf fiel gegen Marcus' Schulter.

"Ich hab dich", murmelte Marcus. "Ich lass dich nicht los."

Er trug Leo durch das Lagerhaus über die Leichen durch die Tür. Draußen war die Luft kalt und frisch. Marcus atmete tief ein und trug Leo zum Auto drei Straßen weit. Jeder Schritt eine Ewigkeit. Leo verlor das Bewusstsein auf halbem Weg und sein Körper wurde schwerer.

Das Auto. Marcus legte Leo vorsichtig auf den Rücksitz und schnallte ihn an. Dann fuhr er los und raste durch die Stadt zu Petrovs Praxis.

Er hämmerte an die Tür bis sie aufging. Petrov sah ihn an und sah Leo im Auto und fluchte auf Russisch. "Was hast du getan?"

"Rette ihn", sagte Marcus. "Egal was es kostet. Rette ihn."

Petrov half ihm Leo reinzutragen und legte ihn auf eine Liege. "Raus", sagte er zu Marcus.

"Nein."

"Ich kann nicht arbeiten wenn du –"

"Dann arbeite um mich herum." Marcus' Stimme ließ keinen Widerspruch zu.

Die nächsten Stunden waren ein Albtraum. Petrov versorgte die Schusswunde neu und nähte und verband. Reinigte die Brandwunden und die Schnittwunden und das ganze Blut. Gab Leo Infusionen und Antibiotika und starke Schmerzmittel. Und die ganze Zeit stand Marcus daneben unfähig wegzusehen und unfähig zu helfen.

Leo wachte zwischendurch auf und schrie und kämpfte gegen die Hände die ihn berührten. "Nein bitte nicht mehr bitte..."

"Leo ich bin es, Marcus, du bist sicher", versuchte Marcus ihn zu beruhigen und hielt seine Hand. Aber Leo sah ihn nicht wirklich, war irgendwo anders gefangen in dem was ihm angetan worden war.

Petrov gab ihm mehr Schmerzmittel bis Leo wieder wegdriftete.

Als Petrov endlich fertig war sah er erschöpft aus. "Er wird überleben. Aber er braucht Ruhe. Viel Ruhe. Und eigentlich sollte er in einem Krankenhaus sein wegen der Verbrennungen und wegen möglicher innerer Verletzungen..."

"Geht nicht."

"Dann ist er auf eigene Gefahr." Petrov wusch sich die Hände. "Die physischen Wunden werden heilen. Aber das andere..." Er sah Marcus an. "Folter hinterlässt Spuren die tiefer gehen als Haut. Er wird Hilfe brauchen. Professionelle Hilfe."

Marcus nickte unfähig zu sprechen.

Er trug Leo zurück zum Auto und fuhr nach Hause. Die Wohnung in Neukölln. Trug ihn die Treppen hoch und legte ihn ins Bett. Deckte ihn zu und setzte sich daneben.

Leo schlief betäubt von Medikamenten. Sein Gesicht war voller Prellungen, die Lippe geschwollen, Verbände überall. Er sah so klein aus.

Marcus sank zusammen und lehnte seinen Kopf gegen die Matratze. Tränen liefen über sein Gesicht still und unkontrolliert. Er hatte Leo fast verloren. Sie hatten ihn gefoltert stundenlang wegen Marcus. Wegen dieser verdammten Geschichte.

Das war seine Schuld. Alles.

Wenn er Leo nie getroffen hätte, wenn er das Paket woanders versteckt hätte, wenn er nicht so egoistisch gewesen wäre... Leo wäre jetzt sicher. Unverletzt. Ohne Narben und ohne Trauma.

Aber Marcus hatte ihn gehalten und hatte ihn in seiner Nähe behalten und jetzt hatte Leo fast mit seinem Leben dafür bezahlt.

Marcus stand auf und ging zum Fenster. Draußen ging die Sonne auf und malte den Himmel orange und rosa.

Er wusste was er tun musste. Zum Schutz von Leo.

Er hatte Leo gerettet.

Jetzt musste er ihn gehen lassen.

Auch wenn es ihn umbrachte.

Leo wachte auf und wusste nicht wo er war. Dann kam der Schmerz, eine Welle die über ihn hinwegrollte und ihm den Atem raubte. Schulter, Brust, Rippen, Handgelenke. Alles tat weh.

"Hey, ruhig." Marcus' Stimme. Marcus' Hand auf seiner Stirn. "Du bist zuhause. Du bist sicher."

Leo öffnete die Augen. Marcus saß neben dem Bett und sah aus als hätte er seit Tagen nicht geschlafen. Seine Augen waren rot und sein Gesicht grau vor Erschöpfung.

"Wie lange?", krächzte Leo.

"Zwei Tage. Du hast viel geschlafen, die Schmerzmittel."

Leo versuchte sich aufzusetzen aber der Schmerz war zu viel. Er keuchte und sank zurück.

"Nicht bewegen", sagte Marcus. "Du musst dich ausruhen."

"Wasser."

Marcus half ihm zu trinken und hielt das Glas an seine Lippen. Leo trank gierig und merkte erst jetzt wie ausgetrocknet er war.

"Danke", flüsterte er.

Marcus stellte das Glas ab und sah ihn lange an. "Es tut mir leid."

"Nicht deine Schuld."

"Doch. Ist es." Marcus stand auf und ging zum Fenster. "Das ist alles meine Schuld. Wenn ich dich nie getroffen hätte, wenn du nie in das verdammte Lagerhaus gegangen wärst..."

"Hör auf."

"Sie haben dich gefoltert Leo. Wegen mir. Sie haben dich fast umgebracht."

"Aber du hast mich gerettet."

"Ich hätte dich nie in Gefahr bringen dürfen!" Marcus' Stimme wurde lauter. "Ich wusste wie gefährlich das ist. Ich wusste es und ich habe dich trotzdem in meiner Nähe behalten weil ich egoistisch war."

Leo versuchte wieder sich aufzusetzen und schaffte es diesmal mit viel Mühe. "Marcus was redest du da?"

Marcus drehte sich um. Sein Gesicht war hart und verschlossen. "Du musst gehen."

"Was?"

"Du musst hier weg. Weg von mir. Das ist nicht sicher, das war es nie."

"Die Haupttypen sind verhaftet", sagte Leo. "Dr. Krause hat geschrieben, die Polizei hat fast alle –"

"Fast alle ist nicht alle. Es gibt immer noch Leute da draußen die mich suchen wollen. Und solange du bei mir bist bist du in Gefahr."

"Das ist meine Entscheidung."

"Nein. Ist es nicht." Marcus' Stimme war kalt jetzt. "Ich hätte dich nie hier behalten dürfen. Das war

"Ein Fehler? Das zwischen uns war ein Fehler?"

"Ja."

Leo starrte Marcus an und suchte nach einem Zeichen dass er log. Aber Marcus' Gesicht war eine kalt und leer.

"Du lügst", sagte Leo leise. "Du willst mich beschützen also schiebst du mich weg."

"Glaub was du willst. Aber du gehst." Marcus wandte sich ab. "Sobald du stark genug bist packst du deine Sachen und gehst."

"Nein."

"Das ist nicht verhandelbar."

"Fick dich Marcus!" Leo schrie jetzt obwohl es wehtat. "Du kannst mich nicht einfach rauswerfen weil du Angst hast! Wir entscheiden das zusammen, verstehst du? Zusammen!"

"Es gibt kein Zusammen", sagte Marcus und seine Stimme war so kalt dass Leo fror. "Das war... das war nur weil wir hier zusammen festsaßen. Nähe aus Notwendigkeit. Aber jetzt ist es vorbei."

"Du lügst." Leos Stimme brach. "Ich weiß dass du lügst."

Marcus sah ihn nicht an. "Glaub was du willst. Aber in drei Tagen bist du hier weg."

Er verließ das Zimmer und schloss die Tür hinter sich.

Leo saß da im Bett, sein Körper voller Schmerzen und sein Herz zerrissen. Tränen liefen über sein Gesicht und er wischte sie wütend weg. Marcus wollte ihn beschützen, das war klar. Aber die Art wie er es tat, die Worte die er benutzt hatte... die taten mehr weh als alle Verbrennungen und alle Schnitte zusammen.

Die nächsten drei Tage waren die Hölle. Marcus vermied Leo so gut es ging. Brachte ihm Essen, half ihm beim Duschen weil Leo es allein nicht schaffte, aber sprach kaum ein Wort. Seine Berührungen waren unpersönlich als wäre Leo ein Fremder.

Leo versuchte mit ihm zu reden aber Marcus hörte nicht zu. Baute eine Mauer auf die Leo nicht durchdringen konnte.

Am dritten Tag stand Leo auf. Die Schmerzen waren immer noch da aber erträglicher. Er packte seine Sachen, die wenigen Klamotten die er hier hatte, seine Sachen aus dem Badezimmer. Steckte alles in eine Tasche.

Marcus stand in der Tür und beobachtete ihn.

"Zufrieden?", fragte Leo bitter.

Marcus sagte nichts.

"Ich hasse dich dafür weißt du das?", sagte Leo und seine Stimme zitterte. "Nicht dafür dass du mich gehen lässt. Sondern dafür dass du mir nicht die Wahl lässt. Dass du entscheidest was gut für mich ist, als könnte ich nicht selber denken."

"Es ist besser so."

"Für wen? Für mich? Oder für dich damit du dich nicht schuldig fühlen musst?"

Marcus zuckte zusammen aber sein Gesicht blieb hart.

Leo nahm seine Tasche und ging zur Tür. Dort hielt er inne. "Wenn du deine Meinung änderst... wenn du aufhörst ein Feigling zu sein... du weißt wo du mich findest."

Marcus sagte nichts.

Leo verließ die Wohnung und schloss die Tür hinter sich. Er ging die Treppen runter und jeder Schritt tat weh. Nicht nur körperlich. Sein ganzes Herz fühlte sich gebrochen an.

Draußen war es kalt und grau. Leo zog seine Jacke enger und ging los. Wohin wusste er nicht genau. Zurück zu seiner alten WG vielleicht, wenn Sabine ihn noch aufnahm. Irgendwohin.

Nur nicht hier. Nicht bei Marcus der ihn wegstieß weil er zu sehr Angst hatte ihn zu lieben.

Leo wischte sich die Tränen ab und ging weiter. Und mit jedem Schritt fühlte er wie etwas in ihm zerbrach.

Marcus stand am Fenster und sah zu wie Leo die Straße runterlief. Jeder Instinkt in ihm schrie dass er runterrennen sollte, dass er ihn zurückholen sollte, dass er ihm sagen sollte wie sehr er ihn liebte.

Aber er tat es nicht.

Weil Leo sicher sein musste. Weil Leo ein Leben verdiente ohne ständige Gefahr, ohne Verstecken, ohne Angst.

Auch wenn es Marcus umbrachte.

Er sah zu wie Leo um die Ecke verschwand und dann war er weg.

Marcus sank auf den Boden und lehnte sich gegen die Wand. Die Wohnung fühlte sich leer an, tot.

Er hatte das Richtige getan. Er wusste dass er das Richtige getan hatte.

Warum fühlte es sich dann an als hätte er gerade den größten Fehler seines Lebens gemacht?

Leo ging zurück zu Sabine. Sie öffnete die Tür und sah sein Gesicht und die Verbände und fragte nichts. Ließ ihn einfach rein und machte ihm das Sofa fertig.

"Wie lange?", fragte sie.

"Weiß nicht. Paar Wochen vielleicht."

Sabine nickte. "Du kannst bleiben solange du willst."

Die ersten Tage verbrachte Leo hauptsächlich schlafend. Die Schmerzen waren schlimmer geworden seit er die Wohnung verlassen hatte, als hätte sein Körper gewartet bis er in Sicherheit war um zusammenzubrechen. Petrov hatte ihm Schmerzmittel mitgegeben aber die halfen nur bedingt. Sabine fragte nicht was passiert war. Sah die Narben, die Verbände, die Art wie Leo zusammenzuckte wenn jemand zu schnell eine Bewegung machte. Sie stellte keine Fragen und Leo war dankbar dafür. Nach einer Woche ging er wieder arbeiten. Herbert sah ihn an und nickte nur. "Schön dass du zurück bist. Hab gedacht du wärst tot."

"Fast", sagte Leo.

Die Arbeit half. Gab ihm etwas zu tun, ließ ihn nicht zu viel denken. Aber abends wenn er zurück in der WG war und allein in seinem alten Zimmer saß, dann kamen die Gedanken. Und die Erinnerungen. Marcus. Die Wohnung. Die Wochen zusammen. Die Art wie Marcus ihn angesehen hatte. Die letzte Nacht vor der Verschleppung. Und dann die kalten Worte, die Ablehnung. Leo versuchte wütend zu sein aber meistens war er nur traurig. Nach drei Wochen bekam er eine Nachricht von Dr. Krause: Weitere Verhaftungen. Fast das ganze Netzwerk ist zerschlagen. Sie haben gewonnen.

Leo starrte auf die Nachricht. Sie hatten gewonnen. Aber es fühlte sich nicht wie ein Sieg an.

Marcus blieb in der Wohnung. Ging nur raus um Essen zu kaufen und kam schnell wieder zurück. Die Wohnung war zu groß jetzt, zu leer. Überall Erinnerungen an Leo. Die Küche wo sie gekocht hatten. Das Sofa wo sie gesessen und geredet hatten. Das Bett.

Er versuchte sich zu sagen dass er das Richtige getan hatte. Dass Leo jetzt sicher war. Dass das alles war was zählte.

Aber nachts wenn er nicht schlafen konnte, und das war oft, dann fragte er sich ob er nicht einfach nur ein Feigling war. Ob Leo recht hatte. Ob er ihn weggestoßen hatte nicht um Leo zu schützen sondern um sich selbst zu schützen.

Dr. Krause schrieb ihm auch: Weitere Verhaftungen. Es ist vorbei Marcus. Sie können aufhören sich zu verstecken.

Aber Marcus ging nicht raus. Blieb in der Wohnung. Was sollte er auch da draußen? Wohin sollte er gehen?

Nach einem Monat rief ihn sein alter Kontakt an, der ihm geholfen hatte Leo zu finden. "Wolff. Hör mal, ich hab gehört die Sache ist durch. Die meisten sind verhaftet. Du bist sicher."

"Danke", sagte Marcus.

"Was wirst du jetzt machen?"

"Weiß nicht."

"Der Junge. Leo. Wie geht es ihm?"

Marcus schwieg lange. "Er ist weg."

"Weg? Tot?"

"Nein. Nur... weg."

Eine Pause. "Du hast ihn weggeschickt."

"Ja."

"Du bist ein Idiot Wolff."

"Ich weiß."

Der Mann lachte kurz. "Dann hol ihn zurück."

"Kann nicht."

"Natürlich kannst du. Die Frage ist ob du willst." Die Leitung wurde tot.

Marcus saß da und starrte auf das Handy. Natürlich wollte er. Jede Faser seines Körpers wollte zu Leo gehen, ihn um Verzeihung bitten, ihn zurückholen. Aber er hatte Leo wehgetan. Hatte ihm gesagt dass alles zwischen ihnen ein Fehler war. Warum sollte Leo ihm verzeihen? Sechs Wochen nach der Trennung ging Leo nach der Arbeit durch Neukölln nach Hause. Er nahm einen Umweg, ohne wirklich zu wissen warum. Vielleicht Nostalgie, vielleicht Selbstbestrafung. Und dann stand er vor dem Haus. Marcus' Haus. Er sah hoch zu den Fenstern der Wohnung. Licht brannte. Marcus war da.

Leo stand da und starrte hoch. Ein Teil von ihm wollte reingehen, die Treppen hochlaufen, an die Tür klopfen. Aber ein anderer Teil, der verletzte Teil, wollte einfach nur weitergehen und vergessen.

Während er noch überlegte ging die Haustür auf. Und Marcus kam raus.

Sie starrten sich an. Zwei Meter Abstand, aber es fühlte sich an wie Kilometer.

Marcus sah schlechter aus als Leo ihn je gesehen hatte. Dünner, blasser, die Augen eingesunken. Als hätte er seit Wochen nicht richtig geschlafen oder gegessen.

"Leo", sagte Marcus und seine Stimme war rau.

"Marcus."

Stille. Auf der Straße fuhr ein Auto vorbei. Irgendwo bellte ein Hund.

"Wie geht es dir?", fragte Marcus.

"Gut. Dir?"

"Auch gut."

Beide logen.

"Ich sollte gehen", sagte Leo und wandte sich ab.

"Warte." Marcus' Stimme war leise aber dringend. "Bitte."

Leo drehte sich wieder um.

"Ich...", Marcus brach ab, suchte nach Worten. "Ich habe einen Fehler gemacht."

"Welchen? Den wo du mich weggeschickt hast oder den wo du mir gesagt hast dass alles zwischen uns bedeutungslos war?"

Marcus zuckte zusammen. "Beides. Alles. Ich..." Er atmete tief durch. "Ich hatte Angst. Ich habe dich fast verloren und ich konnte den Gedanken nicht ertragen dass dir wieder etwas passiert. Also habe ich dich weggestoßen."

"Das weiß ich", sagte Leo. "Das wusste ich schon damals. Aber das macht es nicht besser Marcus. Du hast mir nicht die Wahl gelassen. Du hast entschieden was gut für mich ist ohne mich zu fragen."

"Ich weiß. Und das tut mir leid." Marcus kam einen Schritt näher. "Ich hätte mit dir reden sollen. Hätte ehrlich sein sollen. Stattdessen habe ich dich verletzt und das ist unverzeihlich."

Leo sagte nichts. Sein Herz hämmerte in seiner Brust.

"Die letzten sechs Wochen waren die Hölle", sagte Marcus leise. "Jeden Tag bereue ich was ich getan habe. Jeden Tag will ich dich anrufen aber ich denke du hasst mich wahrscheinlich und das wäre verdient."

"Ich hasse dich nicht", sagte Leo. "Ich wünschte ich könnte aber ich kann nicht."

Marcus sah ihn an. "Was fühlst du dann?"

"Ich weiß es nicht. Ich bin immer noch verletzt. Immer noch wütend. Aber ich..." Leo brach ab. "Ich vermisse dich."

"Ich vermisse dich auch." Marcus' Stimme zitterte. "So sehr dass ich kaum atmen kann."

Sie standen da und sahen sich an. Sechs Wochen Trennung, sechs Wochen Schmerz zwischen ihnen.

"Was jetzt?", fragte Leo leise.

"Ich weiß es nicht. Aber ich will... ich will versuchen es richtig zu machen. Wenn du mir eine Chance gibst." Marcus sah verzweifelt aus. "Ich weiß dass ich es nicht verdiene aber bitte. Eine Chance."

Leo schwieg lange. Ein Teil von ihm wollte nein sagen, wollte Marcus genauso wehtun wie Marcus ihm wehgetan hatte. Aber ein größerer Teil, der Teil der Marcus liebte trotz allem, wollte ja sagen.

"Eine Chance", sagte Leo schließlich. "Aber wenn du mich nochmal wegstößt, wenn du wieder Entscheidungen für mich triffst ohne mich zu fragen, dann sind wir fertig. Endgültig."

"Verstanden."

"Und wir fangen langsam an. Kein Zusammenziehen, keine großen Versprechen. Erstmal nur... reden. Sehen ob das überhaupt noch funktioniert."

Marcus nickte. "Alles was du willst."

"Gut." Leo holte tief Luft. "Dann... Kaffee? Morgen?"

"Ja. Gerne. Das Café in der Oranienstraße?"

"Das Morgenrot. Wo alles angefangen hat."

"Zehn Uhr?"

"Zehn Uhr."

Sie standen da noch einen Moment. Dann drehte Leo sich um und ging. Aber diesmal fühlte es sich anders an. Nicht wie ein Ende.

Vielleicht wie ein Anfang.

 

Das Café Morgenrot sah genauso aus wie vor Monaten. Rote Stühle, schlechter Kaffee, der Geruch von gebratenem Speck. Leo kam fünf Minuten zu spät, absichtlich. Er wollte nicht als Erster da sein, wollte nicht zu eifrig wirken. Aber Marcus war schon da. Saß am selben Tisch wie damals, zwei Kaffees vor sich. Er sah auf als Leo reinkam und versuchte zu lächeln aber es erreichte seine Augen nicht ganz. Leo setzte sich.Sie tranken schweigend.
 

“Danke dass du gekommen bist”, sagte Marcus schließlich. “Hab gesagt ich komme.” “Ich weiß. Aber… danke trotzdem.” Mehr Stille. Es fühlte sich seltsam an, fremd fast. Als wären sie Fremde die sich gerade erst kennenlernten und nicht zwei Menschen die Wochen zusammen verbracht hatten, die sich geliebt hatten.

“Wie geht es dir wirklich?”, fragte Marcus. “Die Wunden heilen. Die Narben bleiben aber das ist okay.” Leo sah auf seine Hände. “Die anderen Sachen… das dauert länger.” “Hast du Hilfe? Einen Therapeuten?” “Noch nicht. Sabine drängt mich aber ich…” Leo zuckte mit den Schultern. “Ich weiß nicht.” “Du solltest”, sagte Marcus leise. “Was sie dir angetan haben… das ist nichts was man einfach so wegsteckt.” “Sprichst du aus Erfahrung?” Marcus nickte. “Ich habe drei Jahre gebraucht um überhaupt schlafen zu können. Und richtig verarbeitet habe ich es nie.” Sie schwiegen wieder. Tranken ihren Kaffee. “Was machst du jetzt?”, fragte Leo. “Jetzt wo es vorbei ist. Jetzt wo du nicht mehr verstecken musst.” “Nichts. Sitze in der Wohnung. Warte.” “Worauf?” Marcus sah ihn an. “Weiß nicht. Auf etwas das Sinn macht vielleicht.”

Leo verstand. Er fühlte das Gleiche. Als hätte die Gefahr sie zusammengehalten und jetzt wo sie weg war wussten sie nicht mehr wer sie waren oder was sie wollten. “Dr. Krause hat geschrieben”, sagte Leo. “Fast alle sind verhaftet. Die Hauptleute kriegen Jahre.” “Gut.” “Ist es das wert gewesen? All das?” Marcus dachte lange nach. “Ja. Auch wenn es… auch wenn es uns fast zerstört hat. Die Kinder die jetzt sicher sind, die Familien… ja. Es war es wert.” “Auch wenn du mich dabei fast verloren hast?” “Nein”, sagte Marcus ehrlich. “Das war es nicht wert. Das werde ich mir nie verzeihen.” Leo sah ihn an. Die Ehrlichkeit in Marcus’ Augen, der Schmerz. “Du hast mich nicht verloren. Ich bin hier.” “Aber ich habe dich fast verloren. Und dann habe ich dich weggestoßen weil ich ein Feigling bin.” “Ja. Warst du.” Leo lehnte sich zurück. “Aber ich verstehe warum. Heißt nicht dass es okay war aber ich verstehe es.”

Marcus nickte langsam. Sie blieben noch eine Stunde. Redeten über belanglose Dinge, über die Nachrichten, über Leos Job, über das Wetter. Vermieden die großen Themen, die wichtigen Fragen. Aber es war ein Anfang. Als sie gingen sagte Marcus: “Können wir das nochmal machen? Kaffee?” “Ja”, sagte Leo. “Nächste Woche?” “Gerne.” Sie trafen sich wieder. Und wieder. Jede Woche einmal, manchmal zweimal. Im Café, im Park, einmal im Kino obwohl keiner von ihnen den Film wirklich sah. Langsam kamen sie sich näher. Nicht körperlich, nicht am Anfang. Aber emotional. Redeten über Dinge die sie vorher nicht geredet hatten. Über Marcus’ Vergangenheit, über die Menschen die er getötet hatte und wie das an ihm nagte.

Über Leos Transition, über seine Eltern die ihn verstoßen hatten, über die Einsamkeit die er sein ganzes Leben gespürt hatte bis er Marcus getroffen hatte. Nach vier Wochen berührten sich ihre Hände beim Kaffee. Kurz, wie zufällig. Aber beide zogen nicht zurück. Nach sechs Wochen küssten sie sich. Vor Leos WG, spät abends, nach einem langen Spaziergang durch die Stadt.

“Komm hoch”, sagte Leo leise. “Bist du sicher?” “Ja.” Sie gingen hoch. Leos Zimmer war klein und vollgestopft aber es fühlte sich sicher an. Sie setzten sich aufs Bett, nebeneinander. “Ich habe Angst”, sagte Marcus leise. “Wovor?” “Dass ich wieder alles kaputt mache. Dass ich dich wieder verletze.” “Wirst du wahrscheinlich”, sagte Leo ehrlich. “Und ich werde dich wahrscheinlich auch verletzen. Das passiert. Aber solange wir darüber reden, solange wir ehrlich sind… dann schaffen wir das.” Marcus sah ihn an. “Du bist weiser als ich.” “Bin nur jünger. Hab noch Hoffnung.” Sie lachten beide kurz. “Ich will das”, sagte Marcus. “Uns. Richtig diesmal. Nicht nur weil wir zusammen festsitzen oder weil die Umstände uns zusammenzwingen. Sondern weil ich dich will. Weil ich dich liebe.” Leo atmete scharf ein. Das war das erste Mal dass Marcus das Wort benutzte. Liebe.

“Ich liebe dich auch”, sagte Leo. “Auch wenn du ein Idiot bist.” “Ich weiß.” Sie küssten sich wieder, länger diesmal. Und es fühlte sich anders an als vorher. Nicht verzweifelt, nicht getrieben von Angst oder Gefahr. Einfach nur… richtig. “Bleib heute Nacht”, sagte Leo. Marcus blieb. Sie schliefen zusammen, eng umschlungen, und zum ersten Mal seit der Trennung fühlte sich alles wieder vollständig an. Am nächsten Morgen beim Frühstück sagte Marcus: “Ich will hier weg. Aus Berlin.” Leo sah auf. “Wohin?” “Weiß nicht. Irgendwo ruhiger. Wo wir neu anfangen können.” Marcus zögerte. “Zusammen. Wenn du willst.” Leo dachte nach. Berlin war alles was er kannte. Seine WG, sein Job, seine Freunde. Aber es war auch die Stadt wo er verschleppt und gefoltert worden war. Wo überall Erinnerungen lauerten.

“Ja”, sagte er. “Lass uns gehen.” “Wirklich?” “Wirklich. Aber nicht in eine Wohnung. Ich will… ich will mobil sein. Können gehen wann wir wollen.” Marcus lächelte langsam. “Erinnerst du dich an das was ich mal gesagt habe? Über einen Wohnwagen?” “Die Bienen.” “Die Bienen.” Leo lachte. “Das klingt verrückt.” “Ist es. Aber ist uns das nicht egal?” “Ja”, sagte Leo. “Ist es.” Sie saßen da und planten. Einen Wohnwagen kaufen, irgendwohin fahren wo es ruhig war. Marcus würde seine Bienen haben, Leo würde endlich die Katze adoptieren über die er immer geredet hatte. Sie würden arbeiten wenn sie mussten, reisen wenn sie wollten. Einfach leben ohne Angst, ohne Verstecken. Es klang wie ein Märchen. Aber nach allem was sie durchgemacht hatten, nach all dem Schmerz und der Angst, hatten sie ein Märchen verdient.

“Wann?”, fragte Leo. “Bald. Ein paar Monate vielleicht. Zeit genug um alles zu regeln.” “Und bis dahin?” Marcus nahm Leos Hand. “Bis dahin leben wir. Zusammen. Richtig diesmal.” Leo lächelte. “Zusammen.” Draußen ging die Sonne auf über Berlin. Die Stadt lebte weiter, ahnungslos von zwei Menschen die beschlossen hatten dass sie mehr vom Leben wollten als nur zu überleben. Sie wollten leben. Wirklich leben. Und genau das würden sie tun.​​

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Diese Story wird neben Katastrophe auch in den Genres Abenteuer, Liebe, Krimi, Angst gelistet.