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Die Welt und Elliot und Leonard

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24.07.25 14:22
16 Ab 16 Jahren
Homosexualität
In Arbeit

Das Gebrülle vor seiner Zimmertür wurde immer lauter. Leo ließ den Stift fallen und fuhr sich einmal mit beiden Händen durchs Gesicht. Er wollte eigentlich nicht aufstehen und hingehen, aber er wollte auch seine nervigen Hausaufgaben endlich erledigt bekommen und bei dem Geschreie konnte er sich absolut nicht konzentrieren. Also seufzte er einmal tief, ging zur Tür und riss sie auf.

„Hört endlich auf, hier rumzuschreien!“ rief er wütend. „Ich mach Hausaufgaben!“

„Aber Tim will mir nicht mein Auto geben,“ rief Henrik mit schwimmenden Augen und wies anklagend auf seinen Bruder, der das Objekt der Begierde an seine Brust drückte. „Das ist mein Auto! Ich hab das zu Weihnachten bekommen!“

„Nein, ich hab das gekriegt!“ Henrik versuchte, Tim das Auto zu entreißen, erfolglos, worauf das furchtbare Gebrülle wieder losging.

„Haltet endlich den Mund!“ versuchte Leo es noch einmal, diesmal noch lauter, aber inzwischen wurde er überhaupt nicht mehr beachtet. Er seufzte wieder. Ein Bruder wäre in Ordnung gewesen, aber es mussten dann ja gleich zwei auf einmal werden, die gefühlt den ganzen Tag nichts anderes machten, als zu streiten.

Und während er noch darüber nachdachte, ob er weiter versuchen sollte diesen Streit hier zu schlichten und ob es was bringen würde, wenn er ihnen einfach das Auto wegnahm, hörte er seine Mutter von unten seinen Namen rufen und als er die Treppe halb heruntergestiegen war, stand sie da mit einem Päckchen in der Hand und lächelte ihm entgegen. „Hättest du vielleicht Lust, mit mir für ein Stündchen zu Charlie zu gehen?“

„Ja!“ antwortete Leo sofort ohne, dass er auch nur eine Sekunde drüber nachdenken musste, während sich das Geschreie hinter ihm in immer neue Höhen hinaufschraubte. Aber auch, wenn das Geschreie nicht gewesen wäre, wäre er auf jeden Fall mitgekommen. Bei Charlie war es immer entspannt, kein Vergleich mit Zuhause. Er würde mit Mark Karten spielen, während seine Mutter und Charlie im Wohnzimmer quatschen und Kuchen essen würde, so, wie sie es immer machten.

Leo beeilte sich, seine Schuhe anzuziehen um schnell hier rauszukommen. Eine Jacke brauchte er nicht, es war immer noch sommerlich warm, auch, wenn man inzwischen schon merkte, dass es nicht mehr lange so bleiben würde.

Zu Charlie war es ein zehnminütiger Fußweg und nachdem sie losgegangen waren, hakte sich seine Mutter bei ihm ein. „Ich find dieses Geschreie übrigens auch furchtbar und bin immer froh, wenn ich mal für n Moment davon wegkomme.“

„Und wieso sagst du ihnen nicht einfach, dass sie damit aufhören sollen?“ wollte Leo wissen. Seiner Meinung nach mischten sich seine Eltern sowieso viel zu selten ein und am Ende blieb es dann oft an ihm hängen, die Streitereien zu beenden.

Seine Mutter lachte einmal. „Du bist dreizehn und die beiden sind zehn, da solltet ihr langsam lernen, sowas alleine hinzubekommen. Das müsst ihr später doch sowieso, ich kann doch wenn ihr zwanzig seid solche Sachen immer noch für euch regeln. Das wäre dann doch ziemlich peinlich, oder?“

„Hm,“ machte Leo nur. Wenn es nach ihm gegangen wäre, hätte seine Mutter sich ruhig noch einmischen können, aber er hatte ja jetzt grade gelernt, dass er damit nicht mehr rechnen musste. Und er wusste auch, dass er ihr zwar sagen konnte, dass er das absolut nicht gut fand, sich dadurch aber nichts ändern würde. Also versuchte er es auch gar nicht erst.

Charlie öffnete ihnen direkt die Tür, nachdem sie geklingelt hatten, begrüßte sie beide herzlich und während Leos Mutter und er in die Küche gingen, wo es schon nach Kaffee roch, suchte Leo nach Mark, fand ihn aber nirgendwo. Als er wieder in die Küche kam, war seine Mutter dabei, den Kuchen anzuschneiden, während Charlie Kaffee eingoss.

„Ist Mark gar nicht da?“ fragte Leo und da er die Antwort schon ahnte, konnte er seine Enttäuschung nicht verbergen.

Charlie sah ihn entschuldigend an. „Er muss heute länger arbeiten, tut mir Leid. Aber du kannst dich doch auch gerne zu uns setzen, wenn du möchtest.“

Leo dachte einen Moment drüber nach und wenn schon allein die Vorstellung, hier zu sitzen und zuzuhören, wie seine Mutter und Charlie über total uninteressante Dinge redeten, langweilig war, dann würde es in Wirklichkeit bestimmt noch langweiliger sein. „Nein,“ sagte er deswegen. „Ich geh nach draußen.“

„Hast du eine Uhr dabei?“ fragte seine Mutter und nachdem Leo seine Hand gehoben und sie ihr gezeigt hatte, „Gut, dann sei bitte in einer Stunde wieder da.“

Leo nickte als Antwort nur, ging in den Flur und zog sich seine Schuhe, die er vor ein paar Minuten erst ausgezogen hatte, wieder an, seufzte einmal, öffnete die Haustür und trat nach draußen. Glücklicherweise musste er jetzt nicht lange überlegen, was er machen sollte. Er kannte die Gegend, er war hier schon öfters herumgestreunt, wenn Mark entweder keine Zeit oder keine Lust zum Kartenspielen gehabt hatte.

Er war erst zwei- oder dreimal bei dem kleinen Bach gewesen und hatte niemals andere Menschen gesehen, noch nichtmals jemanden, der einfach nur vorbeigegangen war. Und da man vorher einige Zeit durch den Wald laufen musste, war Leo eigentlich davon ausgegangen, dass er der einzige Mensch auf der Welt war, der wusste, dass es diesen Bach gab.

Doch als er links an der großen Eiche abgebogen war sah er dann nicht nur den Bach vor sich, sondern auch eine Gestalt, die genau da am Ufer saß, wo er bis jetzt immer gesessen hatte, die einzige Stelle, an der die Sonnenstrahlen es durch die dichten Baumkronen schafften.

Leo hatte eigentlich geplant, sich dort in der Sonne auszustrecken und ein bisschen seinen Gedanken nachzuhängen und dem Rauschen des Wassers zuzuhören. Und nachher hätte er vielleicht wieder ein paar Fische beobachten können. Aber das würde ja jetzt nicht gehen und er fühlte sich für einen Moment von der Realität betrogen.

Und als das Gefühl verschwunden war, überlegte er, was er jetzt machen sollte. Hierbleiben würde er auf keinen Fall, er hatte grade keine Lust auf Gesellschaft, schon gar nicht von jemandem, den er nicht kannte. Er wollte einfach nur die Ruhe genießen, bevor er in einer Stunde wieder zurück nach Hause zu seinen schreienden Geschwistern und seinen nervigen Hausaufgaben musste. Aber leider hatte er zu lange nachgedacht und vielleicht auch unbewusst irgendwelche Geräusche gemacht, denn plötzlich drehte sich die Gestalt um, es war ein Junge in seinem Alter, der einen Stock in der Hand hielt, und ihre Blicke trafen sich.

Jetzt wäre die letzte Gelegenheit gewesen, zu verschwinden, die Leo aber einfach verschwendete, in dem er gar nichts machte, und nachdem der Junge „Hallo,“ gesagt hatte, wäre es dann absolut unhöflich gewesen, einfach zu gehen, ohne auch etwas zu sagen.

„Hallo,“ erwiderte Leo deswegen und steckte die Hände in die Taschen seiner Jeans. Er wusste nicht, wieso er sich auf einmal verlegen fühlte. Vielleicht, weil er nicht damit gerechnet hatte, dass der Junge ihn ansprechen würde. Und der war auch noch gar nicht fertig damit. „Wie heißt du?“ wollte er wissen und Leo, der einsah, dass er hier wohl erst mal nicht mehr wegkommen würde, ging auf ihn zu während er „Leonard und du?“ antwortete.

„Elliot,“ erwiderte der Junge und grinste schief.

Leo war inzwischen bei ihm angekommen und nachdem er kurz gezögert hatte, setzte er sich, mit einigem Abstand neben ihn, was sich zwar komisch anfühlte, aber es wäre noch komischer gewesen, einfach stehen zu bleiben. „Elliot ist irgendwie ein merkwürdiger Name,“ meinte er, ohne vorher darüber nachzudenken, dass das nicht sehr nett war.

Aber Elliots schiefes Grinsen wurde danach nur noch schiefer, vermutlich weil Leo genau so reagiert hatte, wie er es wartet hatte. „Es ist echt ein komischer Name,“ sagte er dann und seufzte einmal. „Meine Mutter hat damals irgendein Buch gelesen, das sie dann ganz toll gefunden hat und deswegen heiß ich jetzt Elliot.“ Er sah Leo von der Seite an. „Und wieso heißt du Leonard?“

Leo, der sich darüber noch nie Gedanken gemacht hatte, zuckte mit den Schultern. „Keine Ahnung, ich glaub, der Name hat meinen Eltern einfach gefallen.“

Danach schwiegen sie eine Weile und Leo sah zu, wie Elliot mit dem Stock im Bach herumstocherte, dabei ziemlich viel Zeug am Grund aufwirbelte und sehr wahrscheinlich sämtliche Fische verscheuchte.

Die Leo vermutlich eh nicht hätte beobachten können, denn er fühlte sich grade alles andere als entspannt, hier schweigend mit Elliot zu sitzen und inzwischen bereute er es, sich überhaupt hingesetzt zu haben, was die Angelegenheit zu gehen noch etwas komplizierter machte.

Er warf einen Blick auf seine Armbanduhr, er hatte noch eine halbe Stunde und musste sich jetzt entscheiden, ob er die lieber hier oder mit Charlie und seiner Mutter auf der Couch verbringen wollte. Natürlich hätte er auch nach Hause zu seinen schreienden Geschwistern und seinem anstrengenden Vater gehen können, aber das schied schon mal direkt aus. Also musste er sich zwischen den ersten beiden entscheiden und eigentlich wäre er ja lieber hier geblieben.

„Bist du auch hier weil deine Eltern doof sind?“ fragte Elliot auf einmal unvermittelt und riss Leo damit nicht nur mitten aus seinen Überlegungen, er war über diese Frage gleichzeitig auch noch so überrascht, dass er einen Moment brauchte, bis er antworten konnte.

„Nein,“ antwortete er dann nur. Er fand seine Eltern zwar ziemlich oft ziemlich doof, vorallem seinen Vater, aber deswegen war er ja nicht hier und selbst, wenn er es gewesen wäre, würde er nicht mit jemandem, den er gar nicht kannte, darüber sprechen.

Elliot hatte da weniger Skrupel. „Sie wollen nicht, dass ich einfach von zuhause weggehe und jetzt bin ich eine Stunde gelaufen bis hierher. Mal sehen, was sie sagen, wenn sie mich suchen und mich nicht finden...“

Er redete noch weiter aber was er sagte, rauschte ungehört an Leo vorbei, der versuchte, sich einen Plan zurecht zu legen, mit dem er vielleicht doch noch für ein paar Minuten die Ruhe genießen konnte, wegen der er hergekommen war.

Aber dann wurde ihm klar, dass er hier gar nicht versuchen musste, irgendwie diplomatisch zu sein. Er würde einfach sagen, wie es war und entweder Elliot war dann wütend und würde abhauen oder er war wütend und würde ihn in Ruhe lassen, so oder so, Leo würde bekommen, was er wollte. Er wartete deswegen auch nicht, bis Elliot fertig geredet hatte, sondern nur, bis er eine Pause zwischen zwei Sätzen machte.

„Ich hab zwei zehn Jahre alte Brüder, die die ganze Zeit nur rumbrüllen und ich bin eigentlich nur hier, um endlich mal ein bisschen Ruhe zu haben,“ sagte er dann und war danach ein bisschen gespannt, was jetzt passieren würde.

Zuerst einmal sah Elliot ihn für ein paar Sekunden überrascht an und runzelte die Stirn und Leo machte sich innerlich darauf gefasst, dass es gleich unschön werden würde. Aber dann lächelte er plötzlich und zog den Stock aus dem Wasser. „Wusstest du, dass es hier Fische gibt? Ich hab vorhin welche gesehen und ich wette, wenn wir jetzt ganz ruhig sind, dann kommen sie bestimmt wieder.“

Leo schaffte es, rechtzeitig aufzuwachen, um die Taste des Weckers zu drücken, bevor dieser mit seinem furchtbaren Gepiepe loslegen konnte.

Dann drehte er sich wieder auf den Rücken, fuhr sich einmal mit beiden Händen durchs Gesicht und seufzte. Die Herbstferien waren jetzt offiziell vorbei und er war unglaublich froh darüber, weil sie nämlich eine echte Katastrophe gewesen waren.

Leo war immer gerne zur Schule gegangen und Lernen und gute Noten zu bekommen war nie ein Problem gewesen. Aber jetzt, wo die Hälfte der neunten Klasse fast um war, hatte er offensichtlich irgend eine unsichtbare Grenze überschritten, denn ab jetzt ging es nicht mehr nur um gute Noten, die aber natürlich trotzdem immer noch eingefordert worden.

Sondern ab jetzt ging es seinen Eltern  auch darum, wie sein Leben später mal aussehen sollte. Etwas, wovon Leo noch überhaupt keine Ahnung hatte, weil er darüber auch noch nie wirklich nachgedacht hatte. Und was er dann, als die Frage das erste Mal aufgekommen war, seinem Vater genau so geantwortet hatte. Was natürlich absolut falsch gewesen war. Vorwurfsvoll wurde ihm gesagt, dass er gefälligst anfangen sollte, darüber nachzudenken und dass die Schule schneller vorbei sein würde, als er gucken konnte.

Und wenn er danach dann ohne irgendetwas da stehen würde, würden sie ihn sicher nicht Zuhause weiter mit durchfüttern. Er brauchte eine ganze Weile bis er diesen ziemlich krassen Satz, den er grade zum ersten Mal gehört hatte, verdaut hatte und der natürlich keineswegs dazu beitrug, dass ihm plötzlich einfiel, was er später mal machen wollte.

Aber mit diesem einen Gespräch war das Thema selbstverständlich nicht aus der Welt. Im Gegenteil, es zog sich durch die ganzen Herbstferien und irgendwann weigerte Leo sich schon aus reinem Trotz, sich auch nur eine Sekunde damit zu beschäftigen.

Woraus dann aus diesen Gesprächen ziemlich hitzige Diskussionen wurden. Die sich dann immer weiter aufheizte, als sein Vater schließlich damit rausrückte, dass er sehr wohl einen Plan für Leos weiteres Leben hatte: Als Sohn eines Uni-Dozenten würde er natürlich sein Abitur machen und dann studieren. Was, das durfte sich Leo sogar gnädigerweise selbst aussuchen, aber ein Studium musste sein.

Auch, wenn Leo sonst noch keine Ahnung hatte, aber dass er sein Abi machen und dann studieren würde, das kam absolut nicht in Frage. Was er dann wieder genau so sagte und bei jedem Mal auch wiederholte.

Noch gestern Abend hatten sein Vater und er sich deswegen wieder heftig gestritten und irgendwann hatte Leo darauf absolut keine Lust mehr gehabt und war einfach aufgestanden und in sein Zimmer gegangen, hatte die Tür hinter sich zugeknallt und den Schlüssel im Schloß umgedreht.

Danach hatte er eigentlich die ganze Zeit drauf gewartet, dass sein Vater wütend ankam und ihn einfach weiter durch die Tür anschrie, aber er tat es nicht.

Was aber bestimmt nur die Ruhe vor dem Sturm gewesen war. Vermutlich würde es direkt weitergehen, wenn Leo, nachdem er sich die Zähne geputzt und angezogen hatten, gleich in die Küche kommen würde. Was er eigentlich gar nicht wollte, allerdings wollte er auch nicht ohne was Warmes im Bauch aus dem Haus gehen, also hatte er ja gar keine andere Wahl.

Aber schon als er sich der Schwingtür zur Küche näherte, hörte er die lauten Stimmen, was ein sicheres Zeichen dafür war, dass Tim und Henrik wieder irgendetwas zu diskutieren hatten. Noch etwas, mit dem Leo sich eigentlich nicht auseinandersetzen wollte.

Er blieb vor der Tür stehen, hatte schon die Hand dagegen gelegt, sah vor seinem inneren Auge seinen Vater, der seine Zeitung weglegte, um nahtlos auf die gestrige Diskussion zurückzukommen, während im Hintergrund entweder Tim oder Henrik oder beide gleichzeitig herumschrieen und entschied dann, dass das der erste Schultag werden würde, an dem er ohne den üblichen Becher Tee das Haus verlassen würde. Er ließ seine Hand wieder sinken, ging in den Flur, nahm seine Jacke vom Haken und seinen Rucksack aus der Ecke und verließ das Haus, wobei er die Haustür so leise wie möglich hinter sich in Schloß zog.

Dann beeilte er sich, vom Haus wegzukommen, sodass er von da aus nicht mehr gesehen werden konnte und als er sich sicher war, dass er weit genug weg war, hatte er auf einmal das Gefühl, aus einem Bannkreis herausgetreten zu sein.

Er seufzte erleichtert und griff dann in seine Hosentasche um seine Kopfhörer herauszuholen. Die Musik begleitete ihn das kurze Stück durch den Park und dann über die Straße, wo Jasper an ihrer übliche Ecke auf ihn wartete.

Sie hatten sich die ganzen Ferien lang nicht gesehen, aber als Leo bei ihm angekommen war und er ihm einmal zur Begrüßung zunickte und „Hallo,“ sagte, da war es, als hätten sie sich erst gestern verabschiedet.

Leo erwiderte Jaspers Nicken und sein Hallo auf die gleiche Weise und dann gingen sie schweigend los und wenn es nach Leo gegangen wäre, dann hätten sie das auch den ganzen restlichen Weg so beibehalten können. Nach diesem ätzenden Morgen hatte er grade absolut keine Lust, über irgendetwas zu reden, die Auswahl der Themen wäre sowieso nicht groß gewesen, was sie bei Leo ja eh immer der Fall war, aber diesmal waren es auch alles Themen die er nicht mit Jasper besprechen wollte.

Sie kannten sich zwar schon seit der Grundschule, aber trotzdem hatte ihre Freundschaft eine gewisse Oberflächlichkeit nie verloren. Was aber auch völlig in Ordnung war, denn diese Oberflächlichkeit machte es irgendwie einfach, mit Jasper befreundet zu sein.

Der jetzt grade allerdings Redebedarf hatte. „Wie waren die Ferien?“ wollte er wissen und Leo seufzte. „Ätzend, anstrengend, frag einfach nicht,“ erwiderte er. „Und deine?“

„Ach geht so,“ antwortete Jasper. „Ist ja ganz schön, Verwandte in der Schweiz zu haben, aber müssen wir sie deswegen auch jede Ferien besuchen fahren? Ich sag dir, ich kenn da jetzt sämtliche Berge und Wiesen weil was anderes kann man da ja nicht machen, außer auf Berge zu steigen und über Wiesen zu laufen.“  

Jasper erzählte noch weiter: von seinen Cousinen, mit denen er sich wenigstens ganz gut verstand und dass das Wetter da oben auf dem Berg die meiste Zeit ziemlich schön gewesen war und er irgendwann sogar einen ziemlichen Sonnenbrand im Gesicht gehabt hatte. Er war tatsächlich ziemlich braun geworden und sah aus, als hätte er eher auf einer Insel in der Südsee Urlaub gemacht anstatt auf einem Berg in der Schweiz.

Seine Feriengeschichten füllten den ganzen Schulweg aus, denn natürlich hatte er dann doch noch andere Sachen gemacht, als auf Berge zu steigen und über Wiesen zu laufen und Leo fand es schön, ihm einfach nur zuzuhören. Jasper hatte eine angenehme Art zu erzählen und was auch noch sehr angenehm war, war, dass er, wenn Leo ihn darum bat, nicht nachzufragen, auch einfach nicht nachfragte.

Der Schulhof war schon ziemlich voll, als sie schließlich ankamen und Leo sah auf den ersten Blick, dass sich unter dem großen Baum schon ein paar von den Leuten aus ihrer Klasse eingefunden hatten, mit denen sie in der Pause immer zusammenstanden. Ober besser gesagt, mit denen Jasper zusammenstand. Leo stand eher bei Jasper als bei den anderen.

Jasper hatte sie bestimmt auch gesehen, aber trotzdem blieb er am Tor stehen und auf Leos fragenden Blick hin erklärte er: „Stefan schuldet mir immer noch die fünfzehn Euro von letztem Monat und er hat mir versprochen, dass er sie mir heute mitbringt. Und ich hab keinen Bock, nachher nach ihm zu suchen, also werd ich ihn jetzt direkt hier abfangen, bevor der Drecksack wieder mal abhauen kann!“

Leo kannte die Geschichte mit den 15 Euro natürlich und selbstverständlich wartete er mit Jasper. In erster Linie natürlich wegen Jasper, aber auch, weil er sonst nichts hatte, wo er hätte hingehen könnte.

Stefan würde natürlich zu spät kommen, wenn er überhaupt kam. Er war zwar nicht in ihrer Klasse, aber berühmt berüchtigt dafür, zu kommen und zu gehen, wann er wollte, patzig zu den Lehrern zu sein und sich Geld zu schnorren, ohne es jemals zurückzuzahlen. Deswegen war Leo sich ziemlich sicher, dass auch Jasper seine 15 Euro niemals wiedersehen würde, sagte aber nichts, sondern beobachtete das Treiben um ihn herum, ohne an irgendetwas Bestimmtes zu denken.

Bis er plötzlich eine Stimme „Hey“, sagen hörte und natürlich wusste er, auch ohne hinzusehen, wer das war. Und eigentlich wollte er auch gar nicht hinsehen, aber wie unter Zwang drehte sich sein Kopf in die Richtung, aus der die Stimme gekommen war und sein Herz machte diesen heftigen Satz, von dem er eigentlich gedacht hatte, dass er ihn über die Herbstferien losgeworden war.

Und da er gleichzeitig auch noch merkte, wie er rot wurde, streifte er Alex, der kurz die Hand in Richtung Jasper gehoben hatten und dann direkt weiterging, nur mit einem flüchtigen Blick. Aber auch dieser flüchtige Blick reichte aus, dass er wieder dieses komische Gefühl im Bauch bekam.

Das damals zusammen mit dem heftigen Satz gekommen war, als er auf einer Party, auf die ihn Jasper mitgenommen hatte und die im Keller von irgendjemandem stattgefunden hatte, Alex begegnet war, als er die Treppe hochgestiegen war.

Alex war der beste Sportler der Klasse, der, der am besten aussah, am besten bei den Mädchen ankam, eigentlich der Beste in allem. Und so jemand würde sich natürlich nie mit Leo, der definitiv irgendwo ganz weit hinten auf jeglicher Liste stand, abgeben.

Aber diesmal hatte er keine Chance, weil Leo ihm ja auf der ziemlich schmalen Treppe entgegenkam. Natürlich wollte der ihm direkt ausweichen und wechselte von die linke auf die rechte Seite. Was Alex in dieser Sekunde auch tat. Und als Leo dann wieder zurückwechselte, tat Alex das auch. Leo, der mit dieser Situation ziemlich überfordert war, und nicht wusste, was er jetzt machen sollte, erstarrte dann einfach.

Und in dieser Sekunde grinste Alex dann auf einmal. Er grinste natürlich nicht Leo an, er hatte ihn eigentlich keinen einzigen Blick zugeworfen, aber Leo sah das Lächeln natürlich und in diesem Moment entschied sich sein Herz dazu, diesen heftigen Satz zu machen, während gleichzeitig das komische Gefühl auftauchte.

Dann zwängte sich Alex elegant an ihm vorbei und ging die Treppe hinunter und Leo konnte nicht anders, als ihm nachzugucken, bis er verschwunden war.

Auch, als er zurückgekommen und sich wieder neben Jasper gesetzt hatte, sah er ständig zu Alex rüber, auch, wenn er das eigentlich gar nicht wollte.

Alex stand, umringt von einigen anderen, hauptsächlich Mädchen, in einer Ecke und führte natürlich das große Wort. Er grinste auch wieder und diesmal hatte sein Grinsen auch ein Ziel und das war Larissa und Larissa war jemand, der auch auf sämtlichen Listen ganz oben stand.

Leo seufzte einmal tief und wusste dann nicht so wirklich, wieso er das getan hatte. Aber was ihm in diesem Moment einfiel war, dass er jetzt eine ganze Zeit zu Alex rübergestarrt hatte und auch, wenn es den Anderen um ihn herum vermutlich nicht aufgefallen war, weil er ihnen eh ziemlich egal und nur Jaspers Anhängsel war, Jasper hatte es eventuell mitbekommen und Leo hatte absolut keine Lust darauf, dass er ihn nachher nach dem Grund fragte.

Er hatte nämlich beschlossen, sich einfach dumm zu stellen obwohl das am Ende nichts bringen würde, schließlich kannte er Charlie schon sein ganzes und Mark mindestens sein halbes Leben.

Aber Leo wollte einfach nicht so über sich nachdenken, es fühlte sich viel zu seltsam an. Dass Jasper nachher auch nicht gefragt hatte und nach dieser Party dann sowieso Herbstferien waren und er Alex jetzt zwei Wochen nicht sehen würde, wodurch sich das alles dann sicher von selbst erledigen würde, machten es dann für ihn auch noch einfacher, erst einmal alles weit von sich zu schieben.

Aber die Begegnung mit Alex grade hatte ihm gezeigt, dass er gar nichts losgeworden war, weder die Gefühle noch die Unwilligkeit, darüber nachzudenken. Er seufzte einmal innerlich und hatte gar nicht gemerkt, wie tief er in seine Gedanken versunken gewesen war. Es fiel ihm erst auf, als Jasper ihm die Hand auf die Schulter legte,  „Komm, wir gehen, ich wette, der Scheißkerl kommt überhaupt nicht!“ sagte und ihn damit fast zu Tode erschreckte.

Diesen Schultag verbrachte Leo zu 50% damit, dem Unterricht zu folgen, 20% damit, Gefühle und Gedanken von sich wegzuschieben und 30% damit, Alex zu beobachten, der an dem Tisch schräg links vor ihm saß, was wieder absolut gegen seinen Willen geschah, aber wieder konnte er sich nicht dagegen wehren.

Zwischendurch sah er auch noch aus dem Fenster dabei zu, wie sich am vorher blauen Himmel immer mehr dunkle Wolken zusammenballten.

Als sie schließlich nach der letzten Stunden aus dem Gebäude traten, hatte es angefangen zu regnen, weswegen sie erst noch unterm Dach stehen blieben, während Jasper einen Blick auf sein Handy warf. „Tut mir Leid,“ sagte er, als er den Kopf wieder hob. „Aber meine Mama hat mir grad geschrieben, dass ich jetzt zu meinem Vater gehen soll.“

Was hieß, dass er jetzt in die entgegensetzte Richtung musste, sodass sie nicht zusammen zurückgehen würde. Was Leo in diesem Moment absolut nicht schlimm fand. Der Tag hatte ihn mehr angestrengt, als es ein normaler Schultag eigentlich getan hätte weswegen er jetzt absolut kein Problem damit hatte, alleine zu sein.

Sie verabschiedeten sich und als Leo sich alleine auf den Weg zum Tor machte, atmete er einmal tief ein und das fühlte sich absolut befreiend an. Wie, als hätte er den ganzen Schultag über die Luft angehalten.

Er war grade vom Schulhof auf den Bürgersteig getreten und nach rechts abgebogen, als sein Handy heftig in seiner Hosentasche vibrierte, also keine Nachricht, sondern ein Anruf und eigentlich hatte er jetzt absolut keine Lust auf ein Telefonat, weil das bestimmt einer von seinen Eltern war.

Eigentlich hatte er schon längst eine Nachricht oder einen Anruf in der Pause erwartet, entweder von einem oder beiden, weil sie wütend darüber waren, dass er heute morgen einfach gegangen war.

Oder es war Elliot, was aber eher unwahrscheinlich war. Schließlich hatten sie erst gestern über eine Stunde telefoniert weil er Leo unbedingt von seinen zwei Wochen im Tennis-Camp irgendwo in Spanien erzählen musste.

Sein Vater hatte zwar gewollt, dass er in dieses Camp fuhr und Elliot hatte es zuerst ziemlich scheiße gefunden. Aber dann hatte es ihm, abseits vom ständigen Tennisspielen ziemlich gut gefallen und er hatte Leo ausführlich von den vielen coolen Leuten erzählt, die er da kennengelernt hatte.

Natürlich hatte er Leo auch nach seinen Ferien gefragt, aber Leo hatte ihm genau das geantwortet, was er Jasper auch gesagt hatte. Irgendwann würde er Elliot bestimmt mehr davon erzählen, aber manchmal war es schöner, einfach nur zuzuhören, anstatt selber zu reden. Oder, in Leos Fall, eigentlich ständig.

Und eben weil sie gestern diese Stunde telefoniert hatten, war Leo überrascht, dass er ihn jetzt schon wieder anrief, denn nachdem er das Handy aus der Hosentasche geholt und drauf geguckt hatte, war es tatsächlich Elliot.

Er ließ Leo dann auch grade Zeit ,Hallo' zu sagen, bevor er auch schon wie aus der Pistole geschossen losredete: „Ich hab sie heute nochmal gefragt und sie will sich mit mir treffen! Am Samstag und Billard spielen gehen, aber nicht alleine, sie will auch noch ne Freundin mitbringen und vielleicht könntest du dann auch mitkommen? Damit die Freundin nicht ständig an ihr dran hängt und ich auch mal mit ihr alleine reden kann.“

„Ja klar komm ich mit,“ erwiderte Leo sofort. Obwohl er sich bessere Beschäftigungen für einen Samstag vorstellen konnte als ihn mit zwei Mädchen, von der er die eine gar nicht und Lara bisher nur aus Elliots Erzählungen kannte, zu verbringen und dabei Billard zu spielen, einem Spiel, von über das er absolut gar nicht wusste.

Aber hier ging es grade nicht um ihn sondern um Elliot, der schon ziemlich lange in Lara verknallt war und bei der er erst seit der Woche vor den Herbstferien langsam Fortschritte machte.

Leo hatte ziemlich mit ihm mitgelitten, als Elliot sie damals zum ersten Mal gefragt hatte, ob sie mal mit ihm ausgehen wollte und sie direkt nein gesagt hatte und er am Boden zerstört gewesen war. Elliot hatte ihm gestern gesagt, dass er versuchen würde, sie heute noch mal zu fragen und dass er es dann auch wirklich gemacht hatte, beeindruckte Leo ziemlich. Er selber hätte das nicht gekonnt.

„Was machst du jetzt noch?“ fragte Elliot in diesem Moment und Leo der jetzt eigentlich nicht mit seinen Gedanken allein sein wollte, wollte grade antworten, dass er nichts mehr machte und sie sich gerne noch irgendwo treffen konnte, aber dann hörte er bei Elliot im Hintergrund jemanden etwas sagen und Elliot erwiderte „Ja, ich komm ja gleich, beruhig dich!“ und da war klar, dass sich Leo nicht nur mit Elliot sondern auch mit seinen Freunden treffen würde. Worauf er absolut keine Lust hatte.

Denn Elliot war dann immer ganz anders, er war laut, musste ständig beweisen, dass er besser war, als die anderen und teilweise fand Leo ihn auch ziemlich arrogant. Dieser Elliot hatte mit dem, der manchmal einfach nur stundenlang neben Leo auf dem Bett lag, während sie über alles Mögliche redeten oder der ganz versunken Klavier spielte, während Leo neben ihm saß und ihm zusah, gar nichts gemeinsam und auf diesen Elliot hatte Leo grade absolut gar keine Lust.

„Ich kann nicht,“ sagte er deswegen und sparte sich die Erklärung. Nicht nur, weil er nicht sagen wollte, dass er keine Lust auf den Elliot mit seinen Freunden hatte, sondern auch, weil er inzwischen wusste, dass er keine brauchte. Wenn er sagte, er konnte nicht, dann war das für Elliot schon völlig ausreichend. Deswegen meinte er dann auch nur ,Schade, bis dann' und hatte aufgelegt, bevor Leo sich ebenfalls verabschieden konnte.

Der Regen begleitete Leo den ganzen Weg nach Hause und trotz Kapuze war er ziemlich durchnässt, als er schließlich vor der Haustür stand. Er hatte schon die Hand in die Tasche gesteckt, um seinen Schlüssel rauszuholen, aber dann wurde ihm klar, dass er grade noch weniger Lust auf seine Familie hatte, als heute morgen.

Deswegen drehte er sich wieder um, bog nach rechts ab und ging zum Gartentor. Er drückte die Klinke runter und es war natürlich mal wieder nicht abgeschlossen. Wenn sein Vater das wüsste, würde er definitiv einen mittleren Tobsuchtsanfall bekommen. Nicht, dass Leo es ihm sagen würde...

Er ging durch den Garten, stieg die drei Stufen zur Terrasse hoch und setzte sich dann in den alten Schaukelstuhl und während er langsam vor und zurückschaukelte und in den Regen hinaussah, machte er nahtlos weiter mit dem, was er sowieso schon fast den ganzen Tag lang gemacht hatte: die unliebsamen Gedanken, die immer hartnäckiger darauf drängten, gedacht zu werden, von sich weg zu schieben und stattdessen nach einer fadenscheinigen Erklärung zu suchen, wieso ihn Alex heute wieder so aus der Bahn geworfen hatte.

Und als er sie schließlich gefunden hatte, Alex hatte ihn deswegen so aus der Bahn geworfen, weil er ihn jetzt eben zwei Wochen nicht gesehen hatte und morgen hätte sich dann alles auf jeden Fall erledigt, ertönte plötzlich die Stimme seines Vaters direkt neben ihm die vorwurfsvoll sagte: „Hast du nichts Besseres zu tun, als dumm hier herumzusitzen und Löcher in die Luft zu starren?! Wie wäre es denn zum Beispiel mit Hausaufgaben oder Lernen?! Oder über deine Zukunft nachzudenken?!“

Leo fuhr hoch und brauchte einen Moment, bis er wieder zurück in die Realität gefunden hatte. Er öffnete den Mund, entschied dann aber, dass er grade definitiv keine Lust hatte, sich mal wieder mit seinem Vater herumzustreiten und nahm stattdessen seinen Rucksack und ging an ihm vorbei ins Wohnzimmer. Er spürte, wie sich sein Blick die ganze Zeit, die er brauchte, um durch das Wohnzimmer in den Flur zu gehen, wo er seine Schuhe auszog und seine Jacke aufhängte, in ihn bohrte und wartete nur darauf, dass sein Vater es ansprechen würde, dass er heute morgen einfach gegangen war

Aber er sagte nichts weiter, sondern sah ihm nur dabei zu, wie er aus dem Flur zurückkam und die Treppe hochstieg und dabei krampfhaft versuchte, es sich nicht anmerken zu lassen, wie unangenehm ihm das Angestarre war. So unangenehm, dass er, obwohl er Hunger hatte, jetzt definitiv nichts runterkriegen würde.

Er atmete einmal tief ein, als er es endlich aus diesem Bannkreis herausgeschafft hatte, beeilte sich, in sein Zimmer zu komme, wo er leise die Tür schloss, noch leiser den Schlüssel umdrehte und dann den Rucksack einfach fallen ließ.

Eigentlich hatte er zwar absolut keine Lust auf Hausaufgaben, aber er brauchte jetzt dringend etwas, um sich abzulenken.

 

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Autor

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Kapitel: 2
Sätze: 220
Wörter: 5.494
Zeichen: 31.437

Kurzbeschreibung

Leo und Elliot lernen sich durch Zufall kennen aber aus dem Zufall wird schnell eine enge Freundschaft, in der sie füreinander da sind; sei es, wenn Elliots Eltern seine Beziehungen sabotieren oder Leo auf einmal feststellt, dass er auf Jungs steht. Das ändert sich auch nicht, als sie älter werden. Was sich aber ändert, ist, dass sie auf einmal erkennen, dass da eigentlich mehr als Freundschaft zwischen ihnen ist und beide haben keine Ahnung, wie sie damit umgehen sollen. Ganz besonders Elliot nicht, der es nie geschafft hat, sich von seinen Eltern zu lösen - langsames Erzähltempo

Kategorisierung

Diese Story wird neben Freundschaft auch in den Genres Liebe, Entwicklung, Schmerz & Trost gelistet.