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Vater und Sohn

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22.04.19 19:45
12 Ab 12 Jahren
Fertiggestellt
Wie jeden Abend saßen wir alle zusammen in unserem Wohnzimmer. "Wir", das sind meine Mutter, mein Vater und ich. Natürlich ist auch der Hund, Mars, nicht zu vergessen. Doch wüsste man nichts von der Anwesenheit eines Tieres, so würde er nicht weiter auffallen. In Frieden und Einklang mit sich und anderen lag er zumeist auf dem Teppichboden unter einer grünen Wolldecke versteckt. Sein Dasein äußerte sich nur durch die gelegentlichen Hebungen und Senkungen der Decke, die rythmisch erfolgten und auf das tiefe Atmen des treuen Tieres schließen ließen.
Meine Mutter, eine alte, von Krankheiten gepeinigte Frau, die ich zutiefst bemitleidete, saß mir gegenüber in ihrem alten, von Motten und ähnlichem Ungeziefer bereits zerfressenen Sofa, ebenfalls in eine dicke Wolldecke eingehüllt, um sich vor der Kälte zu schützen. Auch im Sommer. Die Zeit vertrieb sie sich, indem sie strickte, wobei sie sich aufgrund ihrer Leiden und Gebrechen von Zeit zu Zeit dazu genötigt fühlte, die Arbeit zu unterbrechen und für einige Augenblicke die brennenden Augen zu schließen.
Manchmal legten wir eine Schallplatte auf, so auch an diesem Abend und lauschten andächtig der Stimme von Elvis Presley.
Der Vater saß am anderen Ende unseres kleinen, wenngleich gemütlich eingerichteten Wohnzimmers, von wo aus er zwar uns beide mühelos beobachten konnte, wir, um ihn zu sehen, jedoch den Kopf drehen mussten. Den starren Blick hatte er auf ein Foto gerichtet, das an der gegenüberliegenden Wandseite hing. Das Schwarz-Weiß-Foto zeigte ihn, noch wesentlich jünger, mit ernster Miene, uniformiert und ein kleines Kind, kaum älter als zwei Jahre, im Arm haltend. An ihn angelehnt stand meine Mutter, einen vollkommen ausdruckslosen Gesichtsausdruck aufgesetzt. Die restliche Wand war entweder mit Fotos eines wild herumtollenden Kindes und ein paar bunt bemalten Tellern verziert, die wir aufgehangen hatten.
Hinter dem Sessel des Vaters prangte das Herzstück unseres Wohnzimmers. Vor einem Jahr hatten wir das Gemälde auf einem Jahrmarkt erstanden. Wenngleich es sich hierbei zweifellos um eine Fälschung handelt, war das Ölgemälde, "Alter Mann in Sorge" von Vincent van Gogh, anno 1890, unser ganzer Stolz. Insbesondere ich liebte das Bild, da es aus mir unerklärlichen Gründen eine schier ungeheuerliche Faszination auf mich ausübte, wenngleich es mein Herz stets mit einem Anflug von Schwermut und Melancholie erfüllte.
An diesem Abend blätterte ich gelangweilt in einem Buche. Der Vater hatte es mir einmal von einem seiner zahlreichen Abenteuer mitgebracht, es interessierte mich jedoch nicht wirklich. Der Titel war mir überdies entfallen. Da der Einband ohnehin derart beschädigt war, dass der Name des Buches kaum noch entziffert werden konnte, belastete ich mich nicht weiter mit dieser Frage. Womit sich das Werk thematisch auseinandersetzte, vermochte ich ebenfalls nicht festzustellen. Ich las die Worte, doch sie hatten keine Bedeutung für mich. Ich verstand sie nicht. Mir mangelte es an Konzentration, mich mit dieser schwermütigen Kost auf einer intellektuellen Ebene auseinanderzusetzen. Warum ich es trotzdem las? Nun, um ehrlich zu sein, ist mir dies selbst ein Rätsel. Für gewöhnlich pflegte ich Bücher wie Lebewesen zu behandeln, da sie nichts anderes für mich darstellten. Aus diesem Grund gab ich jedem Buch die Möglichkeit, sich zu beweisen, indem ich es konsequenterweise bis zu Ende las, ganz gleich wie sehr es mich auch langweilte und enttäuschte. Vielleicht las ich jenes Buch auch nur, um vorzugeben, beschäftigt zu sein.
Um den Vater nicht zu enttäuschen, tat ich, als verfolgte ich die Worte mit äußerster Neugierde. Ich nickte hin und wieder oder stieß ein lautes "Aha" hervor.
"Gefällt es dir?", fragte meine Mutter daraufhin. Mit ihrer rechten Hand massierte sie ihre linke, die sie krumm hielt und vor Schmerz kaum noch bewegen konnte.
"Oh ja", meinte ich anschließend, mich bemühend, möglichst fasziniert zu wirken. "Sehr erkenntnisreich, sehr erkenntnisreich!"
Sowohl meine Mutter als auch ich warfen infolgedessen einen verstohlenen Blick in Richtung Vater. Dieser schien uns, völlig in Gedanken vertieft, die braunen, melancholischen Augen ausdruckslos in die meinen blickend, kaum wahrgenommen zu haben.
"Hörst du Vater", rief ich ihm halblaut zu. "Ich liebe dieses Buch! Nie zuvor habe ich etwas derartiges gelesen! Es ist so voller Leben, voller Hoffnung und Liebe, dass ich vermeine, es spräche wirklich zu mir und nehme jeden Augenblick hier in diesem Wohnzimmer eine körperliche Gestalt an. Hörst du Vater? Dieses Buch ist die Erkenntnis selbst! Ein wesentlicher Teil der göttlichen Offenbarung! Oh, ich danke dir, ich danke dir für dieses Buch, Vater!"
Für einen kurzen Augenblick, gewahrte ich ein ungewöhnliches Glänzen in des Vaters Augen, das so schnell wieder erlosch, wie es gekommen war. Seine Mundwinkel blieben indes dagegen starr, leblos, tot.
"Sehr gut, Sohn! Ich möchte, dass du viel liest, sehr schlau wirst und viel lernst. Du wirst einmal ein großer Mann!"
"Wie du", gab ich lächelnd zurück, um den Vater aufzumuntern, erreichte mit meinen Worten jedoch wider Erwarten das Gegenteil. Der Vater zuckte unwillkürlich zusammen, lief zu Boden blickend rot an und brachte kein Wort mehr hervor. Erst jetzt fiel mir auf, wie schwach und monoton seine Stimme zuvor geklungen hatte, als er sprach.
Wir drei verfielen wieder in das übliche Schweigen, ich widmete mich wieder äußerst halbherzig der verhassten Lektüre, die Mutter unternahm einen weiteren Versuch, zu stricken, den sie allerdings aufgrund der Schwäche ihrer Hände, alsbald aufgab.
Zu hören war nur noch Elvis. "You ain´t nothin´ but a hound dog, cryin´ all the time."
Schließlich vermochte ich die erdrückende Langeweile dieses mysthischen Buches, dessen Inhalt ich nicht mit meiner Ratio zu erfassen in der Lage war, nicht länger zu ertragen. Ich legte das Buch beiseite. Auf der Suche nach Ablenkung ließ ich den ungeduldigen Blick im Wohnzimmer umherschweifen. Kurze Zeit zog mich erneut van Gogh in seinen Bann, doch an jenem Abend war mir der Anblick des abgebildeten, auf seinem Stuhl verzweifelt zusammengekauerten Mannes derart unerträglich, dass ich den Blick alsbald wieder abwandte.
Stattdessen widmete ich mich der Fotografie, welche seit jeher die Aufmerksamkeit des Vaters für sich beanspruchte. Um ehrlich zu sein, wäre es mir ohne die entsprechende Kenntnis kaum möglich gewesen, den Mann auf dem Bild als den Vater zu identifizieren. Ein junger, strammer Bursche, in der Blüte seines Lebens stehend, hoch gewachsen, das Haupt stolz erhoben, die feinen Gesichtszüge makellos, glattrasiert. Nicht zu vergleichen mit dem Mann, der eine gekrümmte Haltung einzunehmen pflegte, dessen Augen jedweder Freude und Energie beraubt waren, der Falten auf der blassen Stirn aufwies und einen ungepflegten Mehrtagebart trug. Einzig die finsteren Gesichtszüge des Mannes auf dem Bild verdeutlichten eindeutig, dass es sich hierbei um ein jüngeres Abbild des Vaters handelte und ließen jedweden, wenngleich auf den ersten Blick berechtigten Zweifel bereits im Kern ersticken.
Just in diesem Augenblick fragte ich mich, ob auch mir diese düsteren Gesichtszüge zu eigen waren, verwarf den Gedanken jedoch schnell wieder.
Ein lauter, tiefer Seufzer, der nur einer von unerträglichem Ballast gepeinigten Seele entspringen konnte und einem unbarmherzig kalten Windstoß, wie er nur an einem verregneten, melancholischen Herbsttag erfolgen konnte, glich, brachte mich zurück in die Realität.
Meiner Mutter war diese Unmutsbekundung seitens des Vaters offensichtlich zuwider, was ihrer Reaktion zu entnehmen war. Sie warf dem Vater einen bösen Blick zu. Ich sah den Vater dagegen vielmehr besorgt an, wusste jedoch nicht, was ich sagen sollte. Mitleidig sah ich am Körper des Leidenden herab und bemerkte zahlreiche Narben an Hals und Armen.
Draußen hatte sich der Himmel, der späten Stunde entsprechend, zunehmend verdunkelt. Schwere, schwarze Wolken hingen erdrückend von oben herab und tauchten die Landschaft in endlose Dunkelheit, die kein menschliches Auge zu durchdringen vermochte. Sterne waren, sehr zu meinem Unmut, nicht zu sehen. Kein einziger Stern weit und breit. Nicht einmal das schwächste Flackern, das verzweifeltste Aufblitzen. Nichts!
Erst jetzt gewahrte ich, dass die Musik aufgehört hatte, zu spielen. Wie lange dies schon der Fall war, konnte ich nicht mit Bestimmtheit feststellen. Doch wen interessierte das schon?
Mars war plötzlich aus seinem ruhigen Schlaf erwacht. Er hatte sich der Decke entledigt und knurrte leise, was sehr ungewöhnlich für diesen altersschwachen und sonst so gelassenen Hund war. Die Unruhe war dem Tier regelrecht anzusehen. Auf dieses ungewöhnliche Verhalten des Hundes reagierte ich mit Verwunderung und Unverständnis, meine Mutter und der Vater störten sich jedoch nicht weiter daran.
In meinem tranceähnlichen Zustand, versunken in düsteren Fantasien und melancholischen Träumen, gewahrte ich zunächst gar nicht, wie der Vater das Zimmer verlassen hatte.
Ich bemerkte ihn erst wieder, als er wenige Minuten später auf einmal im Türrahmen stand, in seine alte Uniform gekleidet. Ich konnte mich nicht entsinnen, dass er jene jemals in meiner Gegenwart getragen hatte, mit Ausnahme der Szene, in der das an der Wand hängende Bild entstand.
Verwundert blickte ich in das von Furcht zutiefst entstellte, ausgemergelte Gesicht des Vaters, dessen Hautfarbe eine unnatürliche Blässe angenommen hatte.
"Ich gehe Holz hacken", sagte er in Richtung meiner Mutter. Diese nickte nur kurz, den Mann keines Blickes würdigend.
"Um die Uhrzeit?", fuhr ich dazwischen. Wahrlich, eigentlich war es viel zu spät dafür!
"Sohn", sagte der Vater mit leiser aber dennoch fester Stimme und beugte sich zu mir hinab, seine großen Hände auf meine Schulter legend. Mit einer starken Stimme, die auf große Entschlossenheit schließen ließ, eine Entschlossenheit, von der ich meinte, dass sie ihm abhanden gekommen wäre, sprach er: "Lies das Buch bitte fertig!"
"Ich verspreche es", flüsterte ich mit nunmehr meinerseits schwachen Stimme zurück und zum ersten Mal seit langem sah ich, wie ein unverkennbares, wenngleich schwaches Lächeln das Gesicht des Vaters zierte. Tränen benetzten meine Augen, da ich wusste, dass ich dieses Versprechen niemals einhalten würde. Aufmunternd klopfte der Vater mir auf die Schultern.
"Bleib stark, Sohn!"
Mit diesen Worten  verabschiedete er sich und verließ uns. Ich salutierte zum Abschied, so wie er es mir früher immer gezeigt hatte und er tat es mir gleich.
Wenig später stellte ich mit einem Blick aus dem Fenster fest, dass der Vater in den nahe gelegenen Wald ging. Eine Axt hatte er aber nicht dabei. Meine Mutter begann bei diesem Anblick leise zu weinen und hielt sich die geschundenen Hände vor das Gesicht. Ich sprang auf, eilte zum Fenster und beobachtete von dort aus, wie der Vater langsam zwischen den Bäumen und der Dunkelheit entschwand und der Schlund des Waldes ihn verschlang. Der Vater kehrte nie zurück.

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