Stinkender Dampf zog als eine Schwade schwarzen, mit dem Blick nicht zu durchdringenden Nebels aus dem mächtigen Kessel hervor. In sich überhastenden Stößen fauchte weiterer Qualm aus den zahlreichen Rohren. Lampen leuchteten in schmerzhaft grellen Farben, Sirenen heulten und ließen das Trommelfell brutal erbeben.
Ernst Mainhard stand, in seine blaue, von Fett und Farbe befleckten Arbeitshose, in den schweren schwarzen Stiefeln, in dem kurzärmeligem, vollkommen durchschwitztem Oberteil, welches seine haarigen Arme entblößte und in den gelben Schutzhelm auf dem Kopfe gekleidet, an einem Fließband und war damit beschäftigt, Kisten ineinanderzustapeln. Währenddessen sog er unfreiwillig die Dämpfe ein, musste das laute Heulen und Schreien der Maschinen ertragen und nahm im Augenwinkel gelegentliche, von den Schweißern hervorgerufene Lichtblitze wahr.
Am Fließband war er an diesem Tag alleine eingeteilt. Abgesehen von ihm, befanden sich nur drei Schweißer in der Halle, deren Namen er ohnehin nicht kannte. Die Produktion ging unaufhörlich weiter. Das Fließband war endlos. Immer weiter zog es sich und wenn ein Ende zu erwarten war, ging es wieder von vorne los. Mainhard sah unendlich viele Kisten hintereinander auf sich zukommen, unendlich viel Material, das es zu verpacken galt. Alles sah gleich aus. Wirklich alles.
Immer die gleiche Handbewegung, immer die selbe Reaktion. Kiste vom Fließband nehmen, auf den Wagen abstellen, die nächste Kiste vom Fließband nehmen, auf den Wagen abstellen, die Kisten stapeln, den neuen Wagen voll beladen. Immer so weiter. Und ein Ende nicht in Sicht!
Hin und wieder genehmigte sich Mainhard einen Blick auf die große Wanduhr. Sie schien immer die gleiche Zeit anzuzeigen, die Zeiger wollten sich nicht bewegen, als seien sie festgefroren, als stünde die Zeit still. Der Sekundenzeiger wurde zum Stundenzeiger. Mainhard begann, wie jeden Tag, bereits von Anfang an die Minuten zu zählen. Früher hatte er es bevorzugt, die Stunden zu zählen, doch dieses Unterfangen stellte sich für ihn als zu demotivierend heraus, was er in seiner zehnjährigen Erfahrung als Lagerist für sich festgestellt hatte.
Einen Vorteil hatte die Arbeit jedenfalls! Er hatte stets viel Zeit zum Nachdenken. Sehr, sehr viel Zeit. All seine Sorgen und Probleme konnte Mainhard mit zu der Arbeit nehmen, dann musste er sich wenigstens in seiner knappen und somit enorm kostbaren Freizeit nicht mit ihnen beschäftigen. An diesem verhassten Ort hatte er zumindest die Möglichkeit, sich über alles, was ihn belastete, Gedanken zu machen und nach Lösungen zu suchen.
Er hätte Künstler bleiben und sich mit Gelegenheitsarbeiten über Wasser halten sollen. Alles wäre besser, als den ganzen Tag am Fließband zu stehen, jeden einzelnen schmerzenden Nerv im Rücken wie den Stich einer Stecknadel zu spüren, sich die Lunge mit Feinstaub zu verpesten, die Kraft des Körpers und des Geistes verkommen zu lassen und emotional immer weiter abzustumpfen und zu verblöden. Er hatte einen Pakt mit dem Teufel geschlossen und jetzt war er in der Hölle. Kein Entrinnen. Jeden Tag aufs Neue die Qual, die Folter ertragen.
Wäre er alleine, hätte er sofort die Kündigung eingereicht. Aber es galt Frau und Kind zu versorgen. Aus diesem Grund ließ Meinhard die Demütigung, die Entwürdigung über sich ergehen, duldete den unverschämten Ton seines Arbeitgebers, ließ sich nirgends etwas anmerken. Manchmal ging es im Leben eben darum, einen Schein aufrecht zu erhalten, glücklicher zu wirken als man eigentlich ist, sich stärker und sicherer zu präsentieren als man eigentlich ist. Aus Gründen des Selbstschutzes, oder aber auch, um zu manipulieren...
"Mainhard! Die Kisten sofort in das Lager! Aber schnell!", bellte sein Chef von der oberen Plattform aus, gegen den unerträglichen Lärm ankämpfend. Mainhard blieb ausdruckslos, leistete der Anordnung jedoch ohne Widerrede Folge.
"Danach dürfen Sie gehen", rief der Arbeitgeber ihm nach.
Mainhard hatte erneut Überstunden gemacht. Es war die einzige Möglichkeit, um an genug Geld für seine kleine Familie zu kommen.
In besonders schweren Momenten rief sich der Lagerist das Bild des Gesichts seiner fünfjährigen Tochter, Selina vor Augen. Dies verlieh ihm die notwendige Kraft, deren er zum Durchhalten bedurfte. Bald würde er sie wieder sehen, bald hatte das Elend ein Ende. Zumindest für diesen Tag!
Selina lag bereits im Bett als Mainhard nach Hause zurückkehrte. Dies hielt ihn jedoch nicht davor ab, ihr Kinderzimmer aufzusuchen, sich neben ihr Bett niederzulassen und dem schlafenden Engel einen Kuss auf die Wange zu geben.
Im Wohnzimmer ließ sich der Lagerist erschöpft auf dem Sofa nieder und widmete sich seiner aktuellen Lektüre: Gerhart Hauptmanns "Bahnwärter Thiel".
Hätte er doch auch nur so schreiben, sich so ausdrücken können. Zu vielem wäre es dann nicht gekommen, vieles hätte er verhindern können. Das Leben war ungerecht zu ihm.
Schlagartig wurde die Tür aufgerissen und kurz darauf hart ins Schloss fallen lassen. Mainhard erschrak und sah auf. Seine Frau, Elisabeth, betrat den Raum.
Sie warf ihm einen abfälligen Blick zu, welchen zu verbergen sie sich nicht die geringste Mühe machte.
"Du bist da", stellte sie mürrisch fest und schlich an ihm vorbei.
"So spät noch draußen gewesen?", gab Mainhard ebenso mürrisch zurück und musterte seine Frau genauer. Er stellte fest, dass sie ein überaus knappes Kleid trug, eines der besten, welches sie besaß, wenngleich die rote Farbe bereits verwaschen war.
"So scheint es wohl", meinte Elisabeth nur und verschwand in der Küche.
"In dem Kleid?", hakte Mainhard weiter nach. "Elisabeth, es ist Winter!"
"Was geht dich das an?"
"Schon gut."
Der Schein musste schließlich gewahrt werden, Mainhard gab nach. Im Grunde wusste er genau, was dies zu bedeuten hatte und Elisabeth wusste auch genau, dass er es wusste. Doch auch sie verstand sich gut darin, den Schein aufrecht zu erhalten.
"Ich könnte nochmal ein neues Kleid gebrauchen. Das hier ist schon ganz verwaschen", ertönte es aus der Küche. Mainhard konnte seine Frau nicht sehen. Sein Magen drehte sich um, im Herzen spürte er einen schmerzhaften Stich. Er konnte sich nur zu gut denken, wofür sie eines neuen Kleides bedurfte. Die Arbeit am Fließband mochte seinen Einfallsreichtum geschwächt haben, doch sein Verstand war nach wie vor funktionstüchtig.
Leise seufzend griff er in die Tasche und nahm seinen leichten Geldbeutel hervor. Auf den Tisch legte er ein paar bunte Scheine.
"Es ist nicht viel aber mehr kann ich momentan nicht aufbringen. Nimm es!"
Mit diesen Worten erhob er sich und suchte das Schlafzimmer auf.
"Wenn es nicht reicht, musst du eben mehr Überstunden machen", rief Elisabeth ihm nach.
Später als die beiden gemeinsam im Bett lagen, wanderte Mainhards Hand unter die Decke und tastete sich vorsichtig an Elisabeths Brüste heran. Diese schlug ihn daraufhin, drehte sich von ihm weg und zischte zwischen den Zähnen wie eine Schlange:
"Fass mich nicht an!"
"Was ist los, mein Liebling?"
"Deine Hände sind grob! Fasst doch sonst nur hölzerne Kisten an!"
"Ja, aber jetzt möchte ich etwas weiches berühren! Etwas, das mir mehr bedeutet als all diese verdammten Kisten!"
Mainhards Hand arbeitete sich weiter vor und er unternahm einen weiteren Versuch, sich seiner Frau zu nähern, doch diese blockte erneut ab.
"Ich sagte, du sollst mich in Ruhe lassen!"
Der Lagerist zog seine Hand endgültig zurück und rutschte ein Stück zur Seite.
"Elisabeth, wird es nicht noch einmal Zeit? Ich meine, es ist lange her, als wir das letzte Mal..."
"Wir haben eine Tochter", unterbrach Elisabeth ihn.
"Schon gut. Schlaf schön!"
Darauf erfolgte keine weitere Antwort.
Die Hitze war unerträglich. Keine Kühlanlage, kein Fenster, keine frische Luft, keine Pause, keine Abwechslung. Mainhard stand wieder am Fließband. Er konnte kaum atmen. Seine Lunge protestierte. Er musste husten. Ständig husten. Die Kisten nahmen darauf keine Rücksicht. Unaufhörlich stürmten sie beängstigend auf ihn zu. Die Sirenen schrien ihn an. Er war wieder alleine am Fließband. Nur er und die Monster von Kisten, die gigantischen Maschinen, die ihm ins Gesicht peitschende Hitze. Die Luft, so dünn, so stickig, so von giftigen Dämpfen, von industriellen Abgasen, von heimtückischen Dünsten erfüllt, das er es nicht länger zu ertragen vermochte.
Der Schweiß rann ihm von der Stirn in Strömen herab. Seine Kleidung klebte an seinem Körper, als wäre er in Wasser gesprungen. Der ohrenbetäubende Lärm bereitete ihm Schwindel, ekelhafter Gestank drang ihm in die Nase und betäubte seine Sinne.
"Beeilung, Beeilung, Mainhard! Diese Kisten müssen noch heute verschickt werden! Sonst verlieren wir den Auftrag und glauben Sie mir, dies würde ich Sie spüren lassen!"
Von oben brüllte der Chef. Mainhard hatte kaum Notiz von ihm genommen, seine Worte konnte er aufgrund der enormen Geräuschkulisse ohnehin nicht vernehmen. Das einzige, was er noch realisierte war, dass sich vor seinen Augen alles drehte, bevor eine ungeheuerliche Schwärze seinen Verstand umhüllte und den Blick trübte.
Mainhard versuchte sich noch, an einer Kiste festzuhalten, was ihm jedoch nicht mehr gelang. Er taumelte.
"Mainhard, was machen Sie denn da! Hören Sie auf damit! Sie müssen fertig werden! Mainhard! Mainhard?"
Der Lagerist erwachte im Büro seines Arbeitgebers, nachdem dieser ihm einen Eimer Wasser über den Kopf geschüttet hat.
"Wachen Sie auf!"
Langsam kam er wieder zu sich. Die Schatten und undeutlichen Umrisse vor seinen Augen nahmen wieder konkrete Konturen und Strukturen an. Er gewahrte den Chef, wie er sich über ihn beugte, ihn dabei grimmig anblickend und den leeren Eimer in der Hand haltend.
"Um Gottes Willen", stammelte Mainhard. "Ich bin ohnmächtig geworden!"
"Wissen Sie, woran das liegt, Mainhard? Soll ich Ihnen das sagen?", fauchte der Chef und in seinen Augen blitzte das Feuer.
"Sie sind das Arbeiten nicht gewohnt! Sie sind zu schwach, haben keine Ausdauer! Sie müssen mehr arbeiten, Mainhard! Dann passiert Ihnen so etwas nicht wieder! Sie sind ein faules Schwein, wissen Sie das? Ja, das sind Sie, ein faules, untätiges Stück Scheiße!"
Der Chef verpasste Mainhard einen Schlag.
"Sofort aufstehen! Zurück an die Arbeit! Sie müssen noch heute fertig werden, oder ich ziehe Ihnen das vom Gehalt ab!"
In der Nacht nach weiteren Überstunden trottete Mainhard ausgelaugt nach Hause. Vollkommen übermüdet schleppte er sich die Straße hinunter. Der Kopf dröhnte als befände sich ein kleiner Gnom unterhalb seiner Stirn und hämmere mit einem Amboß unaufhörlich gegen die Innenseite seines Kopfes. Der Zusammenbruch auf der Arbeit hatte Spuren hinterlassen. Eigentlich musste er sich ausruhen, doch wer gab ihm schon die Gelegenheit dazu?
Kurz bevor er seine kleine Unterkunft erreichte, gewahrte er voller Entsetzen, dass ein fremder Mann aus seinem Haus herauskam. Mainhard erhöhte sein Schritttempo und fing den Unbekannten, einen breit gebauten Mann mit braunen Augen und braunem Schnurrbart, ihm selbst körperlich weit überlegen, ab.
"Stehenbleiben", brüllte Mainhard ihn an. Der Mann warf Mainhard einen abfälligen Blick zu.
"Wer sind Sie denn?", brummte er wie ein Bär.
"Was haben Sie in meinem Haus gemacht?"
"Ihr Haus?". Der Mann lachte, nun offenbar wissend, wer ihm gegenüberstand. "Lassen Sie mich eines sagen: Selina ist ein sehr liebes Mädchen!"
"Lassen Sie meine Tochter aus dem Spiel!"
"Sollen wir dann über Ihre Frau sprechen?"
"Wie können Sie es wagen?!"
Mainhard holte mit der Faust aus, doch sein Gegenüber reagierte schneller, wehrte den Schlag ab und ließ seinerseits heftige Schläge folgen. Seine Fäuste prasselten in Mainhards Gesicht und Magengrube, ließen ihn sich vor Schmerzen winden und aufschreien.
"Versager", brüllte der Unbekannte ihn an. "Kann nicht einmal für seine Familie sorgen!"
Mit diesen Worten entschwand er in der Dunkelheit und beachtete Mainhard keines weiteren Blickes.
Der Lagerist dagegen träumte von roten Kleidern, seiner imaginären Tochter, von Sex mit seiner verstorbenen Frau und wurde erst durch die Worte seines Chef aus seinen Gedanken gerissen.
"Nicht träumen, Mainhard! Die Wahrheit liegt vor ihren Augen!"
Somit machte sich der Lagerist wieder an die Arbeit und hob die nächste Kiste vom Fließband, sie auf dem Wagen zu stapeln.
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