Normalerweise war ich ja überhaupt kein Fan vom Sommer. Es ist einfach zu heiß, man hat ständig das Gefühl, die Kopfhaut stehe in Flamen und das Einkuscheln unter der Decke kann man vergessen. Ich hätte auch nie gedacht, dass ich meine Meinung einmal ändern würde. Und auch nicht in dem Moment, in dem ich kurz davor war, jemanden umzubringen. Ich stand fest an die Wand gepresst, hörte nur meinen eigenen Atem, spürte meinen Herzschlag in meinen Ohren widerhallen und aus irgendeinem Grund zögerte ich. Jetzt könnte ich einfach die Wohnung stürmen und das tun, was ich geplant hatte. Aber ich konnte nicht. Ich. Konnte. Es. Nicht. Ich, die Person, die alles geplante immer in die Tat umsetzte. Ohne zu zögern. Ohne mit der Wimper zu zucken. Aber jetzt… weshalb? „Sommer“, sagte die Stimme in meinem Kopf. Wir hatten gerade Sommer. Aber es war schon spät. Für mich also erträglich. Die warme Nachtluft schmiegte sich an mich, wie eine zweite Haut und ließ mich für einen Bruchteil einer Sekunde vergessen, weshalb ich eigentlich hier war, bis das Messer in meiner Tasche gegen meinen Oberschenkel drückte. Ich konnte nicht. Auch, wenn die Person in der Wohnung mir alles genommen hatte, was ich liebte. Sommer war einmal Jessicas Lieblingsjahreszeit gewesen. Jedenfalls bis man sie tot auf der Straße aufgefunden hatte. Mord durch mehrere Stiche in den Rücken. Wie sehr musste sie gelitten haben. Ich wollte es mir nicht vorstellen, und der bloße Gedanke daran versetzte mir einen fetten Kloß in den Hals. In dem Moment spürte ich die Tränen aufsteigen. Nein, herrschte ich mir ein. Nicht jetzt. Aber ich konnte es nicht zurückhalten. Jessica war meine allerbeste Freundin gewesen. Sie war der Mensch gewesen, der auf mich zugegangen war, als niemand mein Freund sein wollte. Sie war für mich da gewesen, als meine Eltern bei einem Autounfall starben. Sie bewahrte mich davor, Selbstmord zu begehen. Sie war mein immer währender Sommer gewesen. Meine Sonne, die warme Nachtluft, die sich an mich schmiegte. Und dann kam diese Frau und ermordete sie einfach kaltherzig, als Jessica auf dem Weg nach Hause war. Es war Sommeranfang und wir hatten einen Film bei mir gesehen. Wir hatten gelacht. Wir waren frei gewesen. Hätte ich gewusst, dass dies unser letzter gemeinsamer Moment gewesen war, hätte ich sie dazu überredet, bei mir zu bleiben, oder ihr wenigstens gesagt, wie viel sie mir bedeutete. Wie immer hatte ich sie gebeten, mich anzurufen, wenn sie zu Hause war. Doch eine halbe Stunde: Nichts. Keine Nachricht. Kein Anruf. Ich hatte weitere fünfzehn Minuten gewartete. Nichts. Langsam hatte ich die Verunsicherung und Angst gespürt. Die naive und dumme Stimme in mir, hatte versucht, mich vergeblich zu beruhigen. Jessica hatte vergessen mich anzurufen… Aber nein. Ich hatte gespürt, dass etwas nicht stimmte. Also war ich losgerannt. Ich sprintete die Strecke zu ihr nach Hause, bis ich sie dort liegen sah. Leblos, blutig, und es war, als hätte mir jemand den Boden unter der Füßen weggerissen. Bei der Erinnerung begann ich unkontrolliert zu zittern und verbot mir das Bild ihres leblosen Körpers erneut in mein inneres Auge zu rufen. Das würde ich nicht durchhalten. Jetzt erst nahm ich wahr, dass ich immer noch an die Wand gepresst stand. Meine Augen waren ganz nass. Langsam ließ ich mich auf die kalte Erde sinken. Die Polizei hatte nie glauben wollen, dass es die Frau gewesen war. Aber ich wusste es besser. Jessica hatte mir alles über sie erzählt. Also wäre es nur fair, würde sie auch sterben. Aber ich konnte sie nicht umbringen. Es war Sommer. Jessicas Lieblingsjahreszeit. In dem Moment öffnete sich die Haustür und sie kam raus. Die Frau. Zuerst begann ich unkontrolliert zu zittern. Sie sah so normal aus und trotzdem hatte sie etwas Unverzeihliches getan. Zuerst sah sie mich verwirrt an und wollte mich vermutlich anschnauzen. Aber dann wurde ihr Blick ganz weich und mitleidig. Rasch stand ich auf. „Tut mir leid“, murmelte ich nur. Dann rannte ich weg. Ich würde ihr nichts tun. Jessica hätte es nicht gewollt. Es war Sommer. Sommer war etwas Schönes. Sommer war Jessicas Lieblingsjahreszeit.
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Hallo Mira, die Qualen und Selbstzweifel des "Rächers" hast Du mitreißend beschrieben. Ich habe die Kurzgeschichte mit gern und mit Freude gelesen. Gruß Bernd