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Misfit

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16.02.25 03:36
12 Ab 12 Jahren
Fertiggestellt

Ich lag in meinem Bett. Wach. Ein leises Vibrieren, ausgehend von meinem Handy, hatte mich geweckt und an Schlaf war jetzt echt nicht mehr zu denken. Doch wer oder was immer das war – es konnte warten. So begann ich meine bewohnte Morgenroutine. Ich saß gerade in der Küche und löffelte genüsslich mein Müsli, als mir dieses sanfte Vibrieren wieder in den Kopf sprang, das mich so unsanft aus dem Schlaf gerissen hatte. Und als ich schließlich auf mein Handy starrte, traf mich der Schlag: es war mein Freund Dan, der schrieb: "Bro ... JUICE WRLD IST TOT!!!"

Ich konnte nicht glauben, was ich da las. Ich wollte es einfach nicht glauben. Sofort öffnete ich Twitter, in hoffnungsvoller Erwartung auf Normalität auf meiner foryou-page. Ich wünschte mir nicht mehr, als dass das alles nur ein böser Scherz von Dan war, aber nein. Twitter explodierte förmlich vor News. "RIP Juice Wrld" oder "Gone too soon" hieß es da.

An Schule war heute echt nicht mehr zu denken. Ich zitterte am ganzen Leib. Ein dicker Kloß der Trauer machte sich in meinem Hals breit, bis ich zu ersticken glaubte. Doch meine Augen blieben trocken.

Augenblicklich stieg ich ins Bett zurück und startete meine Playlist. "All Girls are the Same" – der Song, den ich wochenlang in Dauerschleife gehört hatte, nachdem mich meine Freundin verlassen hatte. "Lucid Dreams" – mein absoluter Lieblingssongs. Jede Zeile davon bricht mir das Herz. Doch ich liebe ihn. Und dann war da noch "Legends": seine Zeilen "What's the 27 Club? We ain't make it past 21" wirkten nun wie eine düstere Prophezeiung. Vor erst sechs Tagen feierte Juice Wrld nämlich seinen 21. Geburtstag in Chicago. Und nun ist er tot.

Es dauerte einige Tage, bis ich wieder zur Schule ging. Ich konnte ja nicht ewig Zuhause bleiben. Doch ich war nicht wirklich da. Die Worte prallten an mir ab wie Regentropfen an einer Fensterscheibe. Dan versuchte vergebens, mich ein wenig aufzumuntern. Das versuchten alle. Meine Liebe zu Juice wrld und seiner Musik war hinlänglich bekannt. Genauso wie sein Tod, nachdem mittlerweile sogar die BILD davon berichtet hatte; natürlich nur in dem Kontext, dass schon wieder der nächste Prominente Junkie an einer Überdosis gestorben sein.

Als ich mich nach einem viel zu langem Schultag endlich auf den Heimweg begab, mit meinen lauten JBL-Basskopfhörern über den Ohren, in die nun kraftvoll die Töne von "Robbery" drangen, bemerkte ich zu meiner Rechten eine Person in dem Kofferraum eines SUVs herumkramen. Ich kannte diese Person. Jedoch nur beim Nachnamen. Bonavure. Zwei Klassen über mir. Er trug Hawaiihemden und Bermudashorts, und das im Winter. Es handelte sich hierbei um den Schuldealer. Alle, die es bräuchten, holten ihren Stoff bei ihm. Egal was, er hat es. Aber nicht ich. Ich hatte zuvor nicht einmal eine Zigarette angerührt, ganz zu schweigen von Drogen. Aber heute war alles anders. Noch eh ich es realisierte, lief ich direkt auf ihn zu. Ich musste es tun. Ich musste wissen, wie es sich anfühlt, um zu verstehen, wie er sich gefühlt haben muss. Juice Wrld. Ich muss einfach nachvollziehen können, wieso es so kommen musste, wie es schließlich kam. Und plötzlich stand ich vor ihm. Er schaute auf und starrte mich ohne ein Worte an. Ich wusste nicht, wie ich danach fragen sollte. Sollte ich lieber ganz direkt fragen oder doch eher eine dieser charmanten Synonyme verwenden. Eh ich weiter darüber nachdenken konnte, platzte es einfach heraus: "Hast du vielleicht bisschen Gras?" Er starrte mich weiterhin unentwegt an. Dann lachte er, als ob ich Scherzen würde. Es brauchte einige Sekunden, in denen ich ihn nur, ohne eine Miene zu verziehen, fragend anschaute, bis er zu begreifen schien, dass ich es wohl ernst meinte "Wie viel willst denn?", fragte er. Genau das wollte ich hören. Oder?

Ich habe erstmal zwei Gramm gekauft. Sorgfältig vorgebaut in vier 0,5er Joints. In der Hoffnung, dass ich es hassen und folglich nicht mehr benötigen würde. Daheim angekommen, warf ich mich auf mein Bett, startete die Playlist und zündete den ersten Joint an.

Es war eine total neue Erfahrung. Das THC drang in meine Pohren ein und ließ mich Dinge fühlen, von denen ich nie gedacht hätte, dass es überhauptmöglich wäre. Die Leere, die ich seit Juice' Tot empfand, fühlt sich nun vollkommen an. Seine Zeilen drangen durch die Kopfhörer tief in meinen Kopf. Ich fühlte mich beinahe schwerelos, wie ich da lag und zum ersten Mal dachte ich nicht mehr daran, was ich durch sein Ableben verloren, sondern daran, was ich mit seinem Leben gewonnen hatte. Ich kannte Juice wrld zwar nicht persönlich, ich war ihm noch nie begegnet, aber es ist einfach unbeschreiblich, welch eine innige Beziehung man dennoch als Fan zu ihm hatte. Ein Außenstehender konnte das unmöglich verstehen, während ein Juice-Wrld-Fan wahrscheinlich genau wusste, wovon ich sprach.

Doch die Gefühle, die ich empfand, als ich diesen Joint rauchte, hielten nicht an. Und sie machten garantiert nichts besser. Im Gegenteil. In den kommenden Wochen vernachlässigte ich alles andere. Schule, Familie, Freunde. Ich war mir sicher, ich allein würde mittlerweile Bonavures Miete finanzieren. Das fiel Dan natürlich auch auf. Er ist ein wirklich guter und aufmerksamer Freund, doch auch er lässt sich nicht alles gefallen. "Seit Juice' Tot reden wir kaum noch!", warf er mir eines Tages an den Kopf. "Damals haben wir uns regelmäßig bei dir auf ne Pizza getroffen ... oder zwei ... und mal über Gott, die Welt und alles dazwischen gequatscht. Vielleicht bring ich beim nächsten Mal lieber das Acid mit, vielleicht redest du ja dann mit mir." Das war nicht fair. Ich war doch kein Junkie, dem nur noch seine Drogen wichtig waren – oder? Mittlerweile wusste ich das selbst nicht mehr so recht. Und worüber sollten wir bitteschön reden? Gott und die Welt? Gott liegt selbst mit einem Joint in seinem Bett und hört "Afterlife" und meine Welt lag in Scherben. Also was gab es da noch zu bereden?

Ohne ein Wort machte ich auf dem Absatz kehrt und ließ Dan einfach da stehen, was meiner mir-egal-Haltung noch etwas Nachdruck verlieh. Als ob das nötig wäre.

Zuhause angekommen, dachte ich erstmals wieder über seine Worte nach und es tat mir ehrlich leid. Ich habe unsere Freundschaft so leichtsinnig auf's Spiel gesetzt. Beinahe routinemäßig zündete ich mir einen Joint an, legte mich diesmal jedoch nicht auf mein Bett und ließ die Musik laufen, sondern setzte mich an meinen Schreibtisch, noch unwissend, was ich da eigentlich sollte.

Damals, als ich noch etwas jünger war, so mit 12, habe ich meinen Gefühlen immer Ausdruck verliehen, indem ich sie in kleinen Kurzgeschichten niedergeschrieben habe. Diese Tage waren zwar längst vorbei, aber es würde mir vielleicht helfen. Mehr als ein Joint nach dem Anderen.

Ich nahm also einen Block Papier und einen Stift zur Hand und dachte nach. Was sollte ich schon schreiben? Und wie? Doch noch eh ich mich versah, schrieb ich die Überschrift "Misfit" auf das Blatt. Wieso? Schwer zu sagen. Ich denke, weil das das Wort ist, das mich am besten beschreibt. Ich bin ein Misfit, und genauso fühle ich mich im Moment. Ich passen nunmal nirgends rein.

Und ich begann zu schreiben. Ich schrieb einfach drauf los, ohne groß darüber nachzudenken ...

 

Autorennotiz

Ich schreibe von einem Fan des legendären Rappers Juice wrld, kurz nach dessen Tod am 08.12.2019.
Ich würde diese Kurzgeschichte keineswegs eine Autobiografie nennen, doch sie enthält sehr viele autobiografische Aspekte, im Bezug darauf, wie es mir ging, nachdem ich erfahren hatte, dass der Musiker, dessen Musik mir immer durch jede Krise helfen konnte und mit der ich mehr Zeit verbrachte als mit den meisten Menschen, gestorben ist.

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Autor

Dexordin999s Profilbild Dexordin999

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Sätze: 104
Wörter: 1.245
Zeichen: 7.195

Kurzbeschreibung

Ich war schon immer ein riesiger Fan des amerikanischen Rappers Juice wrld. Seine Musik war die einzige, die mir gleichzeitig das Herh brechen konnte, während sie mich wieder aufbaut. Hierbei geht es darum, wie ich von seinem Tod erfahren habe und wie ich damit umging. Es war keineswegs eine cleane Form der Verarbeitung. Es gab Drogenkonsum, mein ganzes Leben wurde auf den Kopf gestellt. Ich verlor Freunde, meine schulischen Leistungen wurden immer schlechter. Und doch habe ich es geschafft, weiter zu machen, indem ich nicht darüber nachdenken, was für ein Verlust sein Tod für mich ist, sondern eher was für ein Gewinn mir mit seinem Leben zugute kam.

Kategorisierung

Diese Story wird neben Schmerz & Trost auch im Genre Nachdenkliches gelistet.