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Das Outing

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11.04.20 22:15
Fertiggestellt

Valentins Hände begannen jetzt auch noch zu schwitzen. Reichte es nicht, dass sie schon zitterten?

Es klingelte zum Schulschluss und die Schüler packte ihre Taschen ein, ohne auf den alternden Geschichtslehrer zu achten, der die Schüler mit dem üblichen Spruch dazu bringen wollte, still sitzen zu bleiben, bis er den Unterricht beendete, doch niemand achtete auf den alten Knacker, der sie anmotzte und sich nichtmal ihre Namen merken konnte.

Doch diesmal hielt Valentin sich dran, er wartete und wartete, versuchte Zeit zu schinden. Seine Mitschüler warfen ihm freundliche Blicke zu. Sie wussten, was er heute vorhatte. Und sie wussten auch, dass es nicht einfach für ihn würde. Langsam packte Valentin seine Sachen ein und schulterte den karierten Rucksack.

"Wird das heute noch was, Marius!", motzte ihn der Lehrer an, der bereits ungeduldig an der Klassenzimmertür wartete, um die Tür abzuschließen.

"Ich heiße Valentin. Merken Sie sich das gefälligst", sagte Valentin aka Marius gehässig und rauschte an ihm vorbei, in den Flur hinaus und lief zur Bushaltestelle. Den Bus, den er nehmen musste, stand bereits an der Haltestelle.

Valentin zögerte einen Moment und fragte sich, ob er das wirklich tun sollte, oder ob er besser warten solle. Doch schließlich gab er sich einen Ruck und bestieg den Bus. Er war so gut wie leer, nicht viele mussten in das Industrieviertel, schließlich gab es dort so gut wie keine Privathäuser, nur Firmen, Lagerplätze, Baumärkte oder Produktionsstandorte.

Er spürte ein Stechen, dessen Ursache nichts mit Anatomie zu tun hatte, als der Bus sich in Bewegung setzte. Die Fahrt dauerte höchstens 5 Minuten, es blieb also kaum Zeit für Valentin, sich darauf vorzubereiten, was jetzt kam.

Als der Bus hielt, zwang sich Valentin aufzustehen. Er musste von der Bushaltestelle nur noch einige Meter laufen, dann stand er bereits vor dem düsteren Gebäude, das als Pflegeheim ausgeschildert war, aber aussah wie eine Sterbe-Stätte.

Valentin schluckte, auch wenn in seinem Mund nicht mehr als Trockenheit war und betrat das Gebäude.

"Hallo Valentin, wieder deine Großmutter besuchen?", fragte die Frau am Empfangstresen, die er mittlerweile als Sara kannte.

"Ja, Standard", sagte er und lächelte ihr zu. Sie gab das Lächeln zurück und widmete sich wieder den Dokumenten, die sie am Computer vor sich aufgerufen hatte.

Valentin lief den Korridor entgang, an den die ganzen Versammlungsräume grenzten: Bingoraum, Kantine, Bibliothek, Fitnessraum und natürlich die Krankenstation, für die akuten Notfälle bei den Einwohnern.

Er stieg die Treppen hoch und ging in Etage zwei, in der seine Oma ihr Zimmer hatte. Vorsichtig klopfte er an, manchmal schlief sie nämlich und er weckte sie nur ungern.

Doch jetzt kam ein fröhliches "Herein!" mit der warmen Stimme seiner Oma.

Valentin betrat das in dezentem Blau gehaltene Zimmer und umarmte seine Großmutter zur Begrüßung. Wie immer betrachtete er das wuchtige Kreuz aus Silber über dem Bett seiner Oma, das im Licht der Sonne glänzte und spiegelte.

Seine Oma war nämlich strenggläubige Katholikin.

Das machte die Sache heute nämlich auch so schwierig.

Valentin löste sich aus ihrer Umarmung und nahm auf einem der beiden Stühle platz, die links und rechts neben einem kleinen Tisch standen, den seine Oma eigens aus ihrer alten Wohnung mitgebracht hatte.

Valentin setzte sich hin, versuchte durch regelmäßiges Atmen herunterzukommen.

"Hast du was, Prinzchen?", fragte sie besorgt und legte ihm eine Hand auf die Schulter.

Valentin hätte am liebsten losweinen wollen, doch er riss sich mühsam zusammen und wollte es einfach hinter sich bringen, doch die Kraft war schwerer, als alle Laster dieser Welt.

"Hast du Kopfschmerzen oder ist dir übel? Ich kann eine Krankenschwester rufen lassen, die haben hier wirklich Pillen für alles!", sagte seine Großmutter und wollte schon nach der neben dem Bett hängenden Fernbedienung greifen, als Valentin endlich seinen Mut fasste und sagte: "Nein, Oma, alles gut. Ich habe keine Kopfschmerzen oder sowas"

Seine Oma betrachtete ihn besorgt und zog ihn zu sich rüber auf's Bett. "Komm her, mein Junge, was ist denn los, erzähl mal", sagte sie beruhigend mit ihrer ruhigen Großmütterchen-Stimme.

"Oma, es gibt da etwas, dass ich dir sagen muss...", sagte Valentin schließlich und er spürte, wie alles in seinem Körper pochte und pochte, wie in einem grausamen Rythmus einer Melodie.

Valentin schaltete einfach ab und konzentrierte sich nur darauf, die nächsten Worte aus dem Mund zu bringen, ohne, dass er dabei nachdachte.

"Oma... ich bin schwul", sagte er.

Stille.

Jetzt kam es drauf an. Seine Oma, die wichtigste Person in seinem Leben wusste, dass er bei so etwas unmöglich einen Witz machen würde.

"Du machst ja keine Scherze mit sowas!", sagte sie ernst und er spürte, wie sich der Arm, den sie um seine Schultern geschlungen hatte, verspannte.

"Nein, Oma...", sagte er und dann spürte er, wie seine Oma den Arm von seinen Schultern wegnahm.

"Du warst schon immer extrovertiert und... und... hast schon immer sehr auf dein Äußeres geachtet. Aber ich hätte nie gedacht, dass du einer... einer von denen werden würdest!"

Seine Großmutter spuckte die Worte förmlich aus und stand auf, um sich auf einen der Stühle zu setzen.

Valentin spürte, wie die Kälte sich in seinem Inneren in Eis verwandelte.

"Und du bist wirklich sicher, dass das keine Phase ist? Es gibt Methoden und Ferienlager, um das auszutreiben, Valentin. Dir kann man helfen. Und ich bitte dich inständig: Lass dir auch helfen!"

Valentin spürte, wie die Trauer und Nervosität wie eine Welle zurückschwabte und den Strand entblößte, der blanke Wut zeigte.

"Das denkst du also? Du denkst, ich wäre Teufelswerk, eine Missgeburt oder ein Dämon? Ich bin angewidert, Oma. Wieso akzeptierst du das nicht, wie ich bin, wie ich leben möchte?"

Seine Großmutter blickte vom Boden auf und sah ihn an.

"Das ist nicht gesund, Valentin. Sieh das doch ein! Ich weiß, wie du dich fühlst, aber ich versichere dir, dass das vorbeigehen kann. Ich werde sofort Pater Claudius anrufen, er wird dir helfen können!"

"Nein!", schrie Valentin. Er spuckte beim Reden und der Speichel flog auf die Brille seiner Großmutter.

"Ich bin normal, Oma! Das ist nichts Schlimmes, und außerdem muss man deswegen nicht behandelt werden! Ich fasse es nicht! Ich habe damit gerechnet, dass du nicht so reagieren würdest, wie ich es mir gewünscht hätte, aber ich hätte niemals gedacht, dass du es noch nicht einmal schaffst, mich zu akzeptieren."

Wut funkelte in seinen Augen und er emfpand einen tiefen Hass auf die Frau, die ihn als zweite Mutter mit aufgezogen hatte, ihm beigebracht hatte, zu Putzen und zu Kochen. Er konnte es einfach nicht glauben, dass ausgerechnet diese Frau nicht einmal Akzeptanz zeigen könnte.

"Valentin. Ich verstehe, dich du kennst es ja nicht anders. Aber du musst verstehen, es ist nicht normal! Lass mich dir helfen!" Sie versuchte ihm eine Hand auf die Schulter zu legen, doch Valentin schlug sie zur Seite weg. Wie konnte sie es wagen!

"Ich verschwinde, Oma. Wenn du es dir anders überlegst, ruf doch einfach an. Ansonsten will ich nie wieder etwas von dir hören oder sehen!"

Valentin stürmte wütend aus dem Zimmer. Hätte er gewusst, dass seine Großmutter in dieser Nacht einem Schlaganfall erliegen würde, hätte er es sich vielleicht anders überlegt.

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RhodaSchwarzhaars Profilbild
RhodaSchwarzhaar Am 20.02.2021 um 11:37 Uhr
Für mich klang das, was die Oma sagte, als kenne sie den Schmerz selbst. Man weiß ja nie, was dahintersteckt.
Meiner Meinung nach ist Homosexualität keine Krankheit. Man müsste ja dann jeden, der einen Partner gefunden hat verdonnern weil man selbst die Person nicht mag oder verabscheut oder sonst was. Ist das verwirrend?
Jedenfalls finde ich, dass du es gut beschrieben hast und gut das der Charakter die Stärke besäßen hat, zu sich zu stehen.

Autor

LaseySs Profilbild LaseyS

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Kurzbeschreibung

Valentin entschließt sich dazu, sich vor einer wichtigen Person zu outen, doch es läuft anders, als er gehofft hatte.

Kategorisierung

Diese Story wird neben Schmerz & Trost auch in den Genres Drama, Tragödie gelistet.