"Erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral."
Bertolt Brecht
Wer ich bin? Nun, ist das wirklich von Belang? Ich nehme an, dass es ohnehin niemanden interessiert. Aber wenn ihr es unbedingt wissen wollt. Mein Name lautet jedenfalls Aaron. Im Grunde genommen bin ich aber ein Niemand. Jedenfalls muss ich mir notwendigerweise so vorkommen, in Anbetracht der Behandlung, die ich erfahre.
Meine größte Errungenschaft? Vor zwei Jahre habe ich verhindert, dass eine junge Frau vergewaltigt wird. Es war spät am Abend, wie spät genau, kann ich nicht sagen. Auf der Straße verliert man irgendwann vollkommen das Zeitgefühl. Jedenfalls hat es sich am Bonner Hauptbahnhof ereignet. Die Frau, sehr gut gekleidet, stieg nichtsahnend aus einem Zug und wurde von einem Mann in die Enge gedrängt. Der Bonner Hauptbahnhof war allerdings schon immer mein Revier, wenn man das so sagen kann. Zusammen mit Werner, meinem guten Kollegen und Schlafpartner (nicht falsch verstehen bitte) haben wir den Mann jedoch überwältigt, als er gerade dabei war, die schreiende Frau zu entkleiden. Wir haben festgestellt, dass es sich bei dem Mann um Anton handelte, einem Rowdy, den wir auch von der Straße kannten. Die Polizei hat ihn dann mitgenommen, war wahrscheinlich genau das, was er eigentlich wollte. Um die Frau schien es ihm wohl nur in zweiter Linie zu gehen. Jedenfalls haben Werner und ich Anton bereits drei Wochen später wieder getroffen, als er dabei war, Pfandflaschen aus dem Mülleimer zu fischen. Er unterhielt sich vollkommen normal mit uns, als seien wir langjährige Freunde. Dass er unseretwegen in Untersuchungshaft geriet, störte ihn nicht. Im Gegenteil sogar, er war uns zutiefst dankbar. Die Zeit in Haft sei die schönste seines Lebens gewesen, meinte er. Endlich hatte er wieder ein Dach über dem Kopf und geregelte Mahlzeiten. Nach diesem Treffen habe ich Anton jedoch nie mehr gesehen. Vielleicht hat er sein Ziel mittlerweile erreicht und befindet sich dauerhaft im Gefängnis.
Was aus der Frau wurde? Nun, ein halbherziges Danke entfuhr ihren Lippen und war wohl Werner und mir gewidmet, wenngleich sie uns dabei nicht in die Augen blickte. Sie vermittelte uns eher das Gefühl, dass wir uns bei ihr zu entschuldigen hatten dafür, dass wir sie kurzzeitig nackt gesehen haben. Seitdem sehe ich die junge Frau ausnahmslos jeden Tag an mir vorbeigehen. Wahrscheinlich fährt sie mit dem Zug immer zur Arbeit. Eigentlich geht mich das auch nichts an. Eines Blickes gewürdigt hat sie mich allerdings nie.
"Haste nen Euro?", frage ich sie hin und wieder, nur um dann festzustellen, dass sie ihr Schritttempo drastisch erhöht und in ihrer Gucci-Handtasche kramt, als sei sie schwer beschäftigt, irgendetwas Wichtiges zu suchen.
Werner war deutlich älter als ich. Er hatte schwarze, zottelige Haare, die viele graue Strähnen aufwiesen. Er war mein einziger Freund auf der Straße. Zugegebenermaßen ist der Begriff "Freund" ziemlich gewagt. Man könnte es treffender als "Zweckgemeinschaft" bezeichnen. Auf der Straße gibt es so etwas wie Freunde nicht, das habe ich früh feststellen müssen, auch wenn diese Erkenntnis mich damals zutiefst schmerzte. Jeder will nur sein eigenes Überleben sichern. Ich habe gelernt, dass wenn des Menschen Grundbedürfnisse nicht gestillt sind, er in einen Kampf tritt, welcher tiefgehende emotionale Bindungen vollkommen ausschließt.
Ein Beispiel? Nun, wenn ich genug Geld gesammelt hatte, um damit für den Tag über die Runden zu kommen, gab ich Werner das Geld, was übrig blieb. Es waren meistens so drei bis vier Euro. Viel Geld, das kann ich aus Erfahrungen bestätigen! Hatte ich dann allerdings mal kein Geld für ihn übrig, wurde er ausfallend, beleidigte mich als Hurensohn oder, wenn er guter Laune war, wenigstens nur als Arschloch. Den restlichen Tag sprach er dann kein Wort mehr mit mir und setzte einen betrübten Gesichtsausdruck auf. Niemals habe ich ihm dies jedoch übel genommen, dafür war er mir in all den Jahren zu sehr ans Herz gewachsen.
Werner hörte bereits seit seinem zehnten Lebensjahr Stimmen, wie er mir berichtete, als wir uns kennenlernten (er wollte mir Geld klauen, doch ich habe ihn dabei erwischt und wir sind uns daraufhin nähergekommen, so haben wir uns kennengelernt).
Er sagte immer: "Der Teufel spricht zu mir!"
Ich daraufhin immer: "Der Teufel? Ich sehe jeden Tag hunderte Teufel, davon spricht aber keiner mit mir!"
Im Winter gab ich dem verwirrten Mann, wenn ihn besonders fror, sogar meine zerzauste Jacke.
In der Weihnachtszeit waren unsere Einnahmen stets am höchsten. Die Menschen eilten dann mit ihren Geschenken und Tüten in den Armen zu ihren Zügen und warfen uns hie und da mal einen Euro in unsere Dose. Von besonders herzlichen Exemplaren hörte man sogar mal ein "Fröhliche Weihnachten", ohne uns dabei jedoch genauer anzusehen. Zu dieser Zeit, so meine Vermutung, wollen die Menschen im Allgemeinen wohl ihr Gewissen befriedigen. Anders kann ich es mir nicht erklären, dass die gleichen Menschen bereits eine Woche nach Weihnachten wieder tatenlos an mir vorbeigehen.
Hatten wir genug Geld übrig, kaufte sich Werner Alkohol. Betrunken erzählte er mir immer die gleichen Dinge. Eine Konversation sah dann ungefähr so aus:
Er: "Aaron, ich bemitleide dich."
Ich: "Mir ist es genauso wie dir. Dann muss ich dich wohl auch bemitleiden."
Er: "Nein, da gibt es einen Unterschied. Einen gewaltigen sogar."
Ich: "Und der wäre?"
Er: "Du bist noch jung. Zu jung zum Sterben. Dich holt der Teufel noch nicht. Er wird sich Zeit lassen bei dir und das ist bedauerlich. Wer will schon so ein Leben?"
Ich: "Auch wenn ich noch jung bin, ich habe doch diesen Zustand (hierbei spiele ich auf mein verletztes Bein an, was mir das Laufen erschwert, als Folge meines mittlerweile beendeten Drogenkonsums). Daran kann ich doch auch sterben."
Er: "Möglich aber unwahrscheinlich. Die, die am meisten leiden, leben am längsten. Du tust mir Leid, Aaron. Wirklich, wirklich Leid."
Diese Art von Gesprächen wiederholten sich stets in leicht abgewandelter Form. Irgendwann begann ich mich für mein Alter zu schämen und dafür, dass ich überhaupt noch am Leben war. Werner selbst hielt sich für alt genug, um zu sterben und auf dieser Erkenntnis baute er sein Leben auf. Den Sinn seiner erbärmlichen Existenz sah er in seinem Tod. Legitimiert wurde dieser durch sein Alter. Mit dieser Weltsicht konnte ich mich nie anfreunden, ich akzeptierte sie jedoch.
In meinem Alter sollte ein Mann ein Haus bauen, eventuell ein Kind zeugen, welches er gut zu versorgen in der Lage ist, da sein Chef ihn gut bezahlt. Und wo befinde ich mich stattdessen? Allein darüber nachzudenken, treibt mir die Tränen in die Augen. Obwohl ich nur selten weine. Wahrscheinlich sind keine mehr da, die ich noch vergießen könnte. Leid härtet ab, man gewöhnt sich daran. Dann ist auch alles nicht mehr so schlimm. Das richtige Leben findet nunmal auf der Straße statt, nicht in wohlbehüteten und gut beheizten Wohnungen und warmen Betten.
In meiner Anfangszeit hatte ich oft geweint. Zu frisch waren die Erinnerungen an meine Familie, die mich vertrieben hatte. Ich konnte es einfach nicht länger dort aushalten, so schwer habe ich sie gehasst. Doch ich möchte die Schuld nicht allein bei anderen suchen. Auch ich habe Fehler gemacht, verdammt schwere sogar. Es liegt niemals nur an anderen, wo man sich befindet, sondern auch an einem selbst. Doch was nützen mich Reue und Zweifel jetzt? Mein Brot bezahlen sie jedenfalls nicht. Man muss sehen wo man bleibt, versuchen nach vorne zu blicken, alles andere zu vergessen.
Manchmal fragen mich Männer und Frauen, die sich nicht zu Schade sind für ein Gespräch mit mir, warum ich denn nicht arbeiten würde. Schließlich sei dies meine eigene Schuld. Das System sieht allerdings folgendermaßen aus: Ohne festen Wohnsitz, kein Arbeitsplatz. Ohne Arbeitsplatz keinen festen Wohnsitz. Mein Argument versteht jedoch keiner.
Dennoch bin ich immer froh, wenn jemand mit mir spricht. Zwischenmenschliche Interaktion betrachte ich ebenso als Grundbedürfnis wie Nahrung. Bedauerlich nur, dass mich die meisten Menschen nicht als einen der ihren anerkennen. Sie sehen keinen Menschen in mir. Dabei bin ich mehr als mein Zustand, meine Fehler, mein Leben. Das sieht aber keiner.
In Strömen eilen die gehetzten Leute an mir vorbei, werfen mir verachtende Blicke zu oder nehmen mich gar nicht erst wahr, weil sie nur auf digitale Bildschirme starren oder mit fetten Kopfhörern gänzlich von der Außenwelt abgeschottet in ihrer eigenen rosaroten Welt leben.
Wenngleich ich hunderte, tausende Gesichter jeden Tag erblicke, so vergesse ich doch keines davon. Zu sehr brennen sich ihre Züge in mein Gedächtnis ein und verfolgen mich in dem spärlichen Schlaf, den ich finde. Meistens halten mich seelische und körperliche Pein wach.
Früher machte mich diese Ignoranz sehr traurig, heute ist es mir zur Normalität geworden, dass ein Wahlplakat mit einer in rot geschriebenen Aufschrift, damit man es auch bloß nicht übersieht, die da lautet: "FÜR MEHR GERECHTIGKEIT" mehr Aufmerksamkeit erhält als ich. Die Menschen in ihren teuren Mänteln und der High-Tech-Uhr am Handgelenk nicken dann zustimmend in Richtung des Plakats, bevor sie in ihren Zug einsteigen und für immer in der endlosen Weite verschwinden, Schatten gleich.
Früher wurde ich hin und wieder in der Nacht verprügelt. Ich kann euch sagen, nachts am Bahnhof begegnen einem die sonderbarsten Gestalten, der ganze Abschaum der Menschheit. Was ist schon der Teufel dagegen? Die Hölle brauche ich nicht zu sehen. Ich lebe bereits in ihr!
Werner ließ die leeren Vodka-Flaschen immer unter der Bank liegen, bevor er auf der Bank einschlief. Ich hob sie immer auf und warf sie vorschriftsgemäß in den Mülleimer. Im Anschluss sah ich in selbigem nach Pfandflaschen, zumeist ohne Erfolg. Wenn man so lange auf der Straße lebt, kennt man alle Tricks.
Warum ich in Bezug auf Werner stets in der Vergangenheitsform rede? Nun, lasst es mich erzählen:
Eines Abends, ich weiß nicht mehr wie lange es her ist, als er besonders betrunken war, meinte er nur zu mir, der Teufel würde ihn nun endlich holen, da er alt genug sei. Gleichzeitig bedauerte er mich meines vergleichsweise jungen Alters aufs Neue.
"Zu jung zum Sterben. Sehr bedauerlich. Wirklich sehr bedauerlich." Diese Worte haben sich wie ein Tattoo in meinen Kopf eingestochen.
Ich hielt seine Äußerungen nur für einen erneuten Anfall seiner Krankheit und wollte mich schlafen legen, als er plötzlich seine kalte Hand auf meine Schulter legte und mit ernstem Ton sprach: "Aaron. Bleib wie du bist!"
"Ich soll also ein Versager bleiben und mich nicht weiterentwickeln?", hatte ich höhnisch geantwortet.
"Du bist ein guter Mensch, glaub mir! Du kommst in den Himmel, wenn du alt genug bist. Als Belohnung für das hier, weißt du?"
"Kommst du nicht in den Himmel?"
"Nein, was soll ich auch dort? Die Menschen in der Hölle sind viel interessanter!"
"Hölle habe ich genug!"
"Denk nicht daran, Aaron. Bist noch zu jung. Viel zu jung! Armer Mann. Halt durch!"
Aufmunternd klopfte er mir auf die Schultern, seine schwachen Mundwinkel verformten sich zu etwas, was man als Lächeln bezeichnen kann, wobei er seine verfaulten Zähne entblößte. "Meine Zeit ist gekommen", meinte er nur noch. So erbärmlich sein Versuch, aufrichtig zu lächeln auch war, so sehr erwärmte es mir dennoch das Herz. Der Anblick eines Lächelns bot sich mir schließlich nicht oft in dieser kalten Welt.
Bald darauf wurde es mir schwarz vor Augen und die Anstrengung des Tages manövrierte mich in einen tiefen Schlaf.
Geweckt wurde ich unbestimmte Zeit später von Sirenen. Irgendetwas musste vorgefallen sein. Ich sah Polizisten die Eisenbahnschienen absperren, Durchsagen wurden erlassen, Sanitäter eilten herbei, ohne von mir, der sich den Schlaf aus den Augen rieb und sich langsam auf der Bank aufrichtete, Notiz zu nehmen.
"Werner?", fragte ich ins Leere, gewohnheitsgemäß. Ich sah mich nach meinem Kollegen um, doch es fehlte jede Spur von ihm. Just in diesem Augenblick entsann ich mich unseres gestrigen Gespräches und mir wurde schlagartig bewusst, dass unser letztes war. Für immer. Bedauerlicherweise hatte ich seine Abschiedsworte nicht als solche verstanden. Vielleicht standen wir uns dafür einfach nicht nahe genug. Sofort wusste ich jedoch, was es mit den gesperrten Schienen und den Krankenwagen auf sich hatte.
"Möge der Teufel gut zu dir sein", sprach ich leise vor mich hin und lächelte zum Abschied in Richtung Himmel. "Er wird definitiv besser zu dir sein, als die unzähligen Teufel auf Erden."
Der Bonner Hauptbahnhof ist seit diesem Tag an mein alleiniges Revier und ich sein einsamer, stiller Wächter. Schließlich ist es für mich noch nicht an der Zeit zu gehen, denn ich bin ja zu jung zum Sterben und muss das Ganze Wohl oder Übel noch einige Zeit lang aushalten. Das bin ich dem guten Werner schuldig!
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