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Vom Schiffsbrüchigen, der sich weigerte, Meerwasser zu trinken

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22.09.18 13:26
12 Ab 12 Jahren
Fertiggestellt

Für unsinkbar hatte man es gehalten, nicht einmal Gott selbst sei in der Lage, es zu versenken. Dass dem offensichtlich nicht so war, ist überflüssig zu erwähnen. Vor meinem geistigen Auge sehe ich noch die Bilder des Untergangs und wie sich alle Passagiere in ihrer Verzweiflung noch zu retten versuchten, natürlich mitsamt ihres Hab und Guts. Wahrscheinlich stellte dies den wahren Grund dar, warum sie sich eben nicht zu retten in der Lage waren. Wie arrogant die Menschen doch seit jeher waren, glaubten doch tatsächlich noch ihren Besitz in Sicherheit bringen zu müssen, anstatt sich selbst. Allein schon die Annahme etwas vom Menschen geschaffenes könnte die Ewigkeit überdauern und wäre nicht der materiellen Vergänglichkeit unterworfen, zeugte von ihrer unsäglichen Unwissenheit.
Dergleichen unternahm ich nicht. Wer über keinerlei materiellen Besitz verfügt, der braucht sich auch keine Gedanken um die Erhaltung desselben zu machen. Aus diesem Grund lebe ich noch. Seit vielen Tagen, ich habe mittlerweile aufgehört zu zählen, treibe ich nun schon auf diesem Holzbrett, das gerade so breit genug ist, dass ein ausgewachsener Mensch darauf Platz findet, in den scheinbar endlosen Weiten des Ozeans umher. Von anderen Überlebenden habe ich nichts gehört. Ich bin alleine. Nun, nicht völlig alleine. Schließlich teile ich mir das Meer mit den Fischen, denen selbiges gehört.
Wie töricht die Menschen doch sind, anzunehmen, etwas von ihnen geschaffenes könnte der Macht der Natur trotzen. Wie dankbar ich doch bin, mich derartigen Illusionen niemals hingegeben zu haben. Ich selbst stand unserem Schiff von Anfang an skeptisch gegenüber. Wie froh ich doch bin, noch am Leben zu sein, auf diesem Brett Rettung gefunden zu haben. Meine Situation könnte zweifelsohne besser sein. Ich befinde mich mitten auf hoher See, weit und breit kein Land, keine Menschenseele in Sicht. Darüber hinaus schon lange nichts mehr getrunken. Der Hunger hält sich in Grenzen, lässt sich ignorieren, nicht jedoch der schier unerträgliche Durst, das verzweifelte Verlangen nach Wasser. Welch Ironie, dass ich von eben jenem umgeben bin, ja gar so weit das Auge reicht und es trotzdem das darstellt, was mir fehlt, dessen ich derart dringend bedarf. Doch niemals würde ich das Meerwasser trinken. Der hohe Salzgehalt würde meine Zellen nur noch schneller austrocknen und somit den gegenteiligen Effekt bewirken. Das Meerwasser macht nur noch durstiger. Selbiges zu mir zu nehmen, würde bedeuten, dass die Verzweiflung die Oberhand über mein Handeln gewänne. So weit will ich es nicht kommen lassen, da dies dem Aufgeben gleichkäme. Doch aufgeben werde ich nicht. Nicht so lange ich noch glauben, hoffen, leben darf.
Meine innere Stimme sagt mir, dass ich gar nicht so schlecht dran bin. Immerhin hätte ich schon längst tot sein können. Dass ich überhaupt noch lebe, gleicht einem Wunder. Bin ich dem Schicksal, das es mit mir gnädig gemeint hat, daher nicht zu tiefstem Dank verbunden? Das einzige Problem ist doch nur der Mangel an Flüssigkeit in meinem Körper. Bald würde es regnen und ich könnte das Regenwasser zu mir nehmen und mich somit vor dem Verdursten bewahren. Dann wäre doch alles gut. Mehr bedarf ich doch gar nicht.
Der Glaube verleiht mir Kraft. Es würde regnen, ganz sicher und schon bald. Land immer noch nicht in Sicht. Ich muss eben mehr Geduld aufbringen. Entspannt lehne ich mich ein bisschen zurück, natürlich aufpassend, das Gleichgewicht nicht zu verlieren. Ich habe keinen Einfluss auf die Situation, schließlich sind wir alle dem Schicksal unterworfen. Es liegt nicht in meiner Macht, sich den Himmel über mir ergießen zu lassen, oder aber Land herbeizuzaubern. Und mit dieser Erkenntnis habe ich mich bereits angefreundet. Um ehrlich zu sein, bin ich glücklich darüber, nichts ändern zu können. Ich weiß, dass alles aus einem ganz bestimmten Grund geschieht. Wenn es sein soll, wird es auch so sein, wenn etwas nicht sein soll, wird es auch nicht eintreten. Der Grund warum die Menschen so unglücklich sind, ist, weil sie annehmen, das Leben unter Kontrolle zu haben, es frei gestalten zu können. Die Extremsituation, der ich momentan ausgesetzt bin, lehrt mich, dass dem nicht so ist. Letztendlich sind wir doch alle dem Schicksal ausgeliefert und haben selber keinerlei Kontrolle über das Leben. Ich bin in den Händen des Lebens, es hat mich unter Kontrolle und nicht andersherum. Und mir geht es gut. Ich weiß, dass das Leben weiß, was es tut. Dass ich selber noch lebe, bedeutet, dass es für mich noch Hoffnung gibt, dass die Zeit für meinen Tod noch nicht gekommen ist, dass ich noch eine bestimmte Aufgabe in meinem Leben zu erfüllen habe. Wäre für mich schon alles verloren, würde ich nicht mehr leben. Wie all die anderen wäre ich ertrunken. Das Leben stellt mein Durchhaltevermögen auf die Probe, indem es mich dem Tod durch Verdursten nahe bringt. Doch ich erliege nicht der Versuchung, mich des Meerwassers zu bedienen. Ich werde nicht aufgeben, ich werde durchhalten und mir den Glauben an das Gute und Besserung bewahren. Ich weiß, dass das Richtige geschehen wird, das, was vorherbestimmt ist, was einfach geschehen soll und was ich ohnehin nicht zu ändern vermag. Entweder würde ich wirklich verdursten, und dann wäre es eben so, dann soll es so sein, oder ich bekomme vom Leben eine weitere Möglichkeit, indem es mich durch Regen am Leben hält. Sicher war eines: Würde das Schicksal mich sterben lassen, dann nur, weil für mich keine Besserung in Sicht ist und jegliche Hoffnung vergebens ist. Doch in diesem Fall hätte ich auch zuvor schon ertrinken können. Folglich muss es in meinem Leben noch einen Sinn, noch Hoffnung geben, ansonsten wäre ich gar nicht mehr hier. Und deswegen wird es auch in Kürze regnen!
Ich lasse meinen Blick umherschweifen. Freudestrahlend stelle ich fest, dass ich von Delfinen begleitet werde. Eine ganze Horde von ihnen schwimmt neben mir und meinem Brett her. Mit unbeschwerter Leichtigkeit bahnen sie sich ihren Weg durch die Wellen. Zutiefst beeindruckt von der Energie und Lebensfreude dieser Tiere, entscheide ich, mich von ihrer positiven Ausstrahlung anstecken zu lassen. Die Freude der Delfine zaubert mir ein breites Lächeln ins Gesicht und gemeinsam eilen wir unaufhaltsam vorwärts. Nun wird nicht mehr zurückgeblickt. Die Energie wird nur noch zum Weiterkommen eingesetzt.
Ich richte mich auf, breite die Arme auseinander, lache über die kindische Verspieltheit der Delfine und werde mir bewusst, welch privilegierter Mann ich doch bin und wie viel Grund ich doch habe, glücklich und optimistisch zu sein. Irgendwo dort draußen wartet meine Familie auf mich. Meine Frau und meine Kinder. Ich werde sie nicht enttäuschen, ich werde um ihretwillen zurückkehren. Wegen ihnen gebe ich nicht auf und erliege nicht der Versuchung des Meerwassers. Ich werde für sie kämpfen und durchhalten, denn das ist meine Aufgabe. Deswegen bin ich noch am Leben und eben nicht ertrunken.
Just in diesem Augenblick ziehen dunkle Wolken auf und es beginnt wie aus Eimern zu regnen. Wahrlich, es hört kaum auf. Überglücklich und voller Dankbarkeit blicke ich gen Himmel, öffne den Mund, um die Regentropfen, die sich über mich ergießen, aufzunehmen und erfreue mich des Lebens.

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