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Karussell

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26.10.19 14:39
12 Ab 12 Jahren
Fertiggestellt

Mein Neffe liebt den Jahrmarkt in M. Das habe ich früher auch. Liegt wohl in der Natur des Kindes. Für mich ist das heutzutage nichts mehr. Die Karussells sind mir zu schnell. Ich hasse es, wenn sich alles so schnell dreht. Mir wird dann immer schwindelig.
Ich sage dem Jungen, er soll an meiner Hand gehen, sodass wir zusammen bleiben. Ich habe Angst, ihn zu verlieren in der Menschenmenge. Aber er hört nicht auf mich und rennt vorne weg. Nur wenn er Geld für ein Karussell oder ein Eis benötigt, kommt er zu mir zurück. Ich gebe ihm, was er braucht.
Die Flut an Menschen, die mir wie eine gigantische Welle entgegenströmt, ist mir sehr zuwider. Man kann sich kaum bewegen, ohne nicht mit irgendjemandem zusammen zu stoßen, der einem daraufhin einen vorwurfsvollen Blick zuwirft. Als ob es meine Schuld wäre. Er oder sie hätte sich schließlich genauso entschuldigen können, dennoch bin es immer ich, der um Verzeihung bittet.
Meinen Neffen scheint das weniger zu stören. Geschickt wie ein kleines Äffchen schlängelt er sich durch die Menschenmenge, stößt Personen beiseite, die ihn kaum wahrnehmen.
Ich soll mit ihm aufs Riesenrad gehen. Ich lehne ab und warte stattdessen unten. Alleine. Höhenangst hatte ich schon immer gehabt. Mühsam erkenne ich, wie der Junge mir von ganz oben zuwinkt. Ich setze ein gezwungenes Lächeln auf, dass er aus dieser Entfernung zweifellos nicht erkennen kann und winke ihm zurück. Dann muss ich jedoch den Blick senken, denn die Sonne blendet mich zu stark und meine Augen schmerzen.
Die Menschen um mich herum, nehme ich kaum wahr. Ich stehe still und regungslos wie eine Skulptur Rodins auf dem Marktplatz. Die Menschen huschen als Schatten an mir vorbei. Ich erkenne keine Details, nichts genaues, nur kurz existierende Schleier, grau und schwarz, die sofort wieder in ihr ursprüngliches Nicht-Sein übergehen. Es kommt mir so vor, als sei ich das einzig unbewegte Objekt in diesem endlosen Augenblick, während alles um mich herum rast, beschleunigt, hetzt. Ich spüre die Unruhe, den Stress. Das ist die einzige Wirkung, die die Schatten, die Schleier, auf mich ausüben.
Der Junge kommt zu mir zurück. Die Fahrt ist vorbei. Es wundert mich, wie schnell er mich in der Menschenmenge findet. Womöglich, weil ich als einziger nicht verschwimme und noch klare Konturen aufweise.
Es kommt mir vor, als würden die Schatten mich verfolgen, die Schleier mich umzingeln. Alles dreht sich. Und doch lächle ich meinen Neffen an und gebe zumindest vor, ihm zuzuhören, wenn er mir von der Fahrt mit dem Riesenrad berichtet. In Gedanken bin ich nur bei den Schatten.
Mein Neffe hat Durst. Ich kaufe ihm eine Cola. Er schüttelt die Flasche, obwohl ich ihm sage, er soll es unterlassen. Die Cola sprudelt, tausende kleine Bläschen schäumen auf und zerplatzen. Die Flasche brodelt wie ein Vulkan, der im Begriff ist, zu explodieren.
Auch ich bekomme Durst, unterdrücke das Bedürfnis jedoch, da mein Neffe in ein Karussell steigt. Mir ist nach einem wärmenden Glühwein. Schließlich ist es schon spät im Jahr und die Sonne ist von Schatten und Schleiern bedeckt. Es wird langsam kalt. Langsam immer mehr.
Der Junge hatte zuvor versucht, mich zu überreden, mit ihm eine Runde zu fahren. Ich meinte daraufhin, dass es zu teuer wäre und solche Karussells nicht mehr für Menschen in meinem Alter geeignet seien. Dabei habe ich erst heute neues Gehalt überwiesen bekommen und der Junge wies mich voller Unverständnis darauf hin, dass mit dem Karussell auch viele Erwachsene fuhren, womit er Recht hatte. Ich willigte trotzdem nicht ein. Das störte den Jungen letztendlich aber kaum.
Von draußen, außerhalb der Plattform, beobachte ich, wie er wild im Kreis geschleudert wird und dabei lacht und sich freut als hätte seine Geliebte gerade seinen Heiratsantrag angenommen. Ich bemühe mich, das Gesicht des Kindes im Blick zu behalten aber aufgrund der Schnelligkeit des Karussells, verliere ich ihn oftmals aus den Augen. Das einzige, was ich ständig wahrnehme, sind die grellen Lichtblitze, die von unzähligen Lichterketten stammen, die bunten Farben, insbesondere rot und gelb, die sich mit den Schatten und Schleiern verbinden und einen albtraumhaften Anblick bieten. Mein Kopf dröhnt von der lauten Musik, den tausenden Stimmen in allen Tonlagen und nur denkbaren Oktaven, die tief und hoch aufeinanderprasseln und wie eine Naturkatastrophe wirken.
Das Karussell wird schneller und schneller und das Lachen der Fahrgäste dringt tief in mir ein und bohrt sich in mein Gedächtnis. Schließlich halte ich es nicht länger aus und verlasse die Plattform. Alles drehte sich.
Direkt neben dem Karussell befindet sich ein Stand mit Glühwein. Ich taumele unbeholfen an die Theke und warte, bis die Bedienung erscheint. Kurz schließe ich meine Augen und massiere mir die Schläfen, denn mein Kopf schmerzt ungeheuerlich, als würde ein fester Stiefel von innen meine Augäpfel zerdrücken und währenddessen ein Hammer gegen meine Schädeldecke schlagen. Schließlich erscheint die Bedienung. Automatisch bestelle ich, ohne aufzusehen einen Glühwein, erhalte jedoch die Antwort, dass alles weg ist. Schlagartig sehe ich auf, doch nicht wegen der Mitteilung an sich, sondern wegen der angenehmen Frauenstimme, die mir die Nachricht übermittelte. Ich erkenne die Stimme sofort. Ihr Klang regt alte Erinnerungen in mir an, erweckt längst vergangene Assoziationen und legt tief liegende Gefühle frei, die in meinem Innern nach all den vielen Jahren nach wie vor vorhanden sind. Wie eine Blume, die unter einer dichten Schneefläche verborgen ist und mithilfe einer Schaufel befreit wird.
Du bist es Manuela, sage ich erstaunt und blicke in ein mir bekanntes Gesicht. Meine alte Jugendliebe steht in voller Pracht vor mir. Der Zahn der Zeit scheint kaum an ihr genagt zu haben, mit mir nicht vergleichbar. Wie damals ertrinke ich wieder im Ozean ihrer azurblauen Augen. Ihr schwarzes Haar hat nichts von seinem Glanz verloren, die feinen, engelsgleichen Gesichtszüge sind so makellos und perfekt proportioniert wie früher. Sie sieht noch genauso aus wie damals, als wir Kinder waren, als wir jung waren und somit leicht zufriedenzustellen waren. Anspruchslos und einfach nur glücklich, ohne jedwede Bedingungen. Leicht zu unterhalten und abzulenken mit Oberflächlichkeiten, die kleinen Dinge des Lebens genießend. Oh wie wünsche ich mir diese Zeit zurück.
Mir entfährt ein Seufzer, den ich nicht unterdrücken kann. Manuela! Sie nimmt ihn wahr und wirft mir einen abwertenden Blick zu. Ihre Stirn legt sich in Falten, der schöne, rote Mund, der mein Blut in Wallungen geraten lässt, verzieht sich vor Ekel. Doch meine Lippen brennen vor Verlangen, diesen Mund ein einziges Mal zu berühren. Oh, nur ein einziges Mal!
Hätte ich mich nur damals intensiver um sie bemüht. Doch ein anderer war mir zuvorgekommen. Ein Schatten ist immer schneller, als man selbst, einem immer einen Schritt voraus. Ich hasste sie und mich selbst dafür, dass sie, jemand, der nicht das Geringste von mir hielt, einen derart großen Platz in meinem Leben einnahm. Sie strafte mich damals schon immer mit Ignoranz und Abscheu. Oh wie sehr wünsche ich mir die Erfüllung meines Verlangens, das Löschen des Durstes! Oh wie sehr liebe ich, hasse ich, bereue ich!
Ich fürchte, ich kenne Sie nicht, sagt sie zu nur zu mir. In ihrer Mimik spiegelt sich Verachtung wider und ich werde aufs Neue mit der Sinnlosigkeit meiner Existenz konfrontiert. Mein Kopf schmerzt als sie sich von mir abwendet, mir den Rücken kehrt und sich hastig von mir entfernt.
Aus den Augenwinkeln nehme ich wahr, dass das Karussell immer noch fährt. Meinen unbeschwerten Neffen sehe ich jedoch nicht mehr. Ich habe ihn wohl auch verloren. Jetzt weiß ich selber auch nicht mehr, wer ich bin...

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