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Eine ganz normale Familie im 21. Jahrhundert

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03.07.18 19:50
12 Ab 12 Jahren
Fertiggestellt
Sie stand in der Küche und bereitete das Essen vor. Das Kind saß im Wohnzimmer. Der Fernseher war an. Sie glaubte, dass eine Kindersendung lief. Jeden Tag lief eine Kindersendung. Und zwar rund um die Uhr. Das war ganz normal in der Familie Miller.
Sie sah auf die Uhr...zehn Minuten vor sechs. In zehn Minuten wird er zurückkommen, dachte sie. Das war jeden Tag so.
Er war Geschäftsführer in einem großen Unternehmen und verdiente dementsprechend viel Geld. Bald würden sie sich einen neuen Fernseher kaufen. Nicht, weil der alte nicht mehr gut genug war, sondern weil es eben sein musste. Für ihn wollten sie das machen, für Max.
Max saß vor dem Fernseher. Er bekam Hunger. Wo bleibt mein Essen, rief er in Richtung Küche, dort wo sie sich aufhielt. Ist gleich fertig, kam prompt die Antwort.
Das Essen war fertig. Sie wollte es Max bringen. Es gab sein Lieblingsessen, Schnitzel mit Kartoffeln. Oft gab es das, was er gerne wollte. Das war ganz normal in der Familie Miller.
Auf einem feinen Tablett servierte sie Max das Essen, sein Lieblingsessen. Wird auch Zeit, soll ich etwa verhungern?
Ohne zu antworten verließ sie das Wohnzimmer wieder in Richtung Küche. Zunächst versicherte sie sich noch, ob er auch wirklich nur Sendungen schaute, die auch für sein Alter geeignet waren. Das tat er. Es lief, wie jeden Tag, eine Kindersendung. Welche genau das war, interessierte sie nicht.
In der Küche starrte sie auf die Uhr. Es war fünf vor sechs. In fünf Minuten würde er von der Arbeit zurückkommen. Sie stellte seine Portion Schnitzel mit Kartoffeln auf den Küchentisch. Mehr konnte man nicht von ihr erwarten.
Sechs Uhr. Er war wieder zuhause. Er öffnete die Tür und stand in der Küche, das Gesicht ausdruckslos, wie immer. Er legte langsam den Mantel ab und hängte ihn über einen Stuhl. Erwartungsvoll sah er sie an. Sie handelte aus Gewohnheit und nahm den Mantel, um ihn sorgfältig aufzuhängen.
Er setzte sich hin und nahm das fein zubereitete Mahl zu sich. Sie schaltete das Radio an. Sie sprachen kein Wort miteinander.
Sie wusste nicht worum es ging, doch der Radiosprecher las gerade Statistiken vor. Rund 37 Prozent aller Ehen werden im Laufe von 25 Jahren geschieden.
Sie sah ihren Mann an. Schwachsinn so etwas, murmelte er. Wir würden uns niemals scheiden lassen. Wir sind eine glückliche Familie.
Er verzog keine Miene und sie nickte nur. Als nächstes folgte im Radio ein Beitrag über gestörte Kommunikation und wie diese menschliche Beziehungen vergiften würde. Alles uninteressant, dachte sie und schaltete das Radio wieder aus.
Wann kaufst du endlich den neuen Fernseher, fragte sie.
Bald, antwortete er. Hier muss nochmal dringend geputzt werden, stellte er fest und rümpfte die Nase.
Er hatte fertig gegessen und wollte die Küche verlassen. Dann fiel ihm ein Buch auf, das auf der Kommode lag und ihr gehören musste. Er stellte fest, dass es ein Beziehungsratgeber war.
Sie kam von hinten und schnappte sich schnell das Buch, sichtlich peinlich berührt. Es hätte dort gar nicht liegen sollen.
Was ist das, fragte er abwertend. Das geht dich nicht an, gab sie laut und bestimmt zurück.
Nun wurde er wütend. Das kann doch nicht sein! Bist du etwa nicht mehr zufrieden mit unserer Beziehung?
Nun wurde sie wütend. Das geht dich nicht an!
Ihm war klar, was sie vorhatte. Du hast kein Vertrauen mehr zu mir, stellte er fest.
Abends, wenn er von der Arbeit zurückkam, gab es für gewöhnlich immer Streit. Dabei kümmerte sie sich stets um alles. Sie sind alle undankbar. Was würden sie nur ohne mich machen, dachte sie. Ja, sie wären definitiv aufgeschmissen ohne sie. Niemand, der das Lieblingsessen kocht, die Wäsche macht, den Fernseher einschaltet.
Was würden sie ohne mich machen, dachte er. Niemand, der das Geld für einen neuen Fernseher, für ein neues Auto, für neue Kleidung, für neues Spielzeug verdient. Ja, sie wären definitiv aufgeschmissen ohne ihn.
Wo ist Max, fragte er, ohne sie dabei eines Blickes zu würdigen. Er wollte nicht weiter wegen dem Buch streiten. Das wäre schließlich sinnlos. Es könnte alles so gut laufen. Sie ist an allem schuld! Ohne sie wäre alles viel besser, dachte er.
Max ist natürlich im Wohnzimmer und schaut seine Kindersendung. Genau wie jeden Tag, sagte sie. Es könnte alles so gut laufen. Er ist an allem schuld! Ohne ihn wäre alles viel besser, dachte sie.
Max hat eine fünf in Deutsch geschrieben, sagte sie fast beiläufig.
Na und? Er wird schon was aus seinem Leben machen. Schließlich geht es ihm gut. Er darf jeden Tag Kindersendungen schauen und heute gibt es sogar sein Lieblingsessen, sagte er. Das stimmte! Max hatte alles, was er brauchte und noch viel mehr. Warum also für die Schule lernen?
Ich möchte ihn begrüßen, sagte er und ging in Richtung Wohnzimmer. Sie folgte ihm. Das ist ein guter Zeitpunkt, um ihm von dem neuen Fernseher zu erzählen, dachte er.
Frau und Mann öffneten die Tür zum Wohnzimmer. Max starrte gelangweilt und ausdruckslos in den Fernseher. Er hatte seine Eltern seine Eltern noch nicht bemerkt.
Ich habe eine Überraschung für dich, Max. Morgen kaufe ich uns einen neuen...
Er hielt inne, als er Beleidigungen und Pistolenschüsse vernahm, die aus dem Fernseher kamen. Max erschrak und griff schnell zur Fernbedienung. Das sah aber nicht nach einer Kindersendung aus!
Das letzte, was er im Fernseher sah, war ein Mann mit Gewehr, der einen anderen Mann wütend anschrie. Sprich mit mir!
Dann wurde er Fernseher ausgeschaltet und der Bildschirm wurde schwarz. Niemand sagte etwas. Alle drei sahen sich gegenseitig verstört an. Ein ganz normaler Tag in der Familie Miller.

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