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Ein schwaches Herz

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03.07.18 19:49
12 Ab 12 Jahren
Fertiggestellt
Sonne. Frühling. Es war warm. Warm war es auch an jenem Tag vor zwei Jahren. Es war ebenfalls im Frühling. Und jetzt ist es wieder so, wie damals, dachte sie. Genau wie an jenem Tag!
Nachdem sie den Taxifahrer bezahlt hatte, stieg sie aus. Sie war fast angekommen. Dort, wo sie hinmusste. Er hat es mir nie leicht gemacht, dachte sie. Doch der Gang, den sie seit mittlerweile zwei Jahren regelmäßig antreten musste, war der schwierigste von allen. Jedes mal tat es gleich weh, ihn so zu sehen. In diesem...Gebäude.
Eine Frau mittleren Alters stieg aus dem Taxi, dessen Anstrich so gelb war, wie ihre Haare, obwohl diese an manchen Stellen bereits ergraut waren. Die Sonne schien auf sie hinab, mit ihrem hämischen Grinsen. O ja, diese Jahreszeit würde sie immer mit seinen schlimmen Taten in Verbindung bringen, die er ebenfalls im Frühling begangen hatte.
An diesem Tag trug sie ein rotes Kleid. Schließlich muss ich ihm ja gefallen. Sie hatte ihm nicht immer gefallen.
Unter dem Arm trug sie ein kleines, in grünem Papier verpacktes Päckchen. Es war natürlich für ihn. Alles, was sie jemals getan hatte, war für ihn. Da sie ihn doch so sehr liebte. Und genau daher war es so schwer für sie, diesen Gang anzutreten, den sie schon seit zwei Jahren regelmäßig antreten musste. Das musste sie auch noch weiterhin für eine längere Zeit. Doch ist "müssen" wirklich die treffenste Formulierung? Immerhin tat sie es ja freiwillig. Nur für ihn, wie alles, was sie jemals getan hatte. Weil sie ihn liebte.
An jenem Tag kam er, wie so oft, stark alkoholisiert nach Hause. Das wusste sie noch! Ansonsten waren ihre Erinnerungen sehr lückenhaft. Verdrängt hatte sie es. Sie wollte ihm jedenfalls helfen. Wollte sie jemals etwas anderes? Doch er war wütend, wollte sich nicht helfen lassen. Er beschimpfte sie wüst, schlug sie. Das war zwar nicht unüblich, aber diesmal spürte sie, dass ihn etwas anderes antrieb. Da war etwas vorgefallen, das seine Wut und seinen Frust erklärte.
Der Nachbar hatte die Polizei gerufen als er die Schreie der Angst und des Schmerzes aus ihrem Haus vernahm. Wenige Minuten später trafen sie ein und nahmen ihn fest. Niemals würde sie den eisigen kalten Blick vergessen, den er ihr zuwarf, kurz bevor er abgeführt wurde. Sie weinte daraufhin. Ein paar Tage später rief die Polizei sie an und teilte ihr mit, was er alles getan hatte, basierend auf den Ergebnissen ihrer Ermittlungen. An jenem Abend hatte er, bevor er sie schlug, einen Mord begangen und wurde deswegen ohnehin von der Polizei gesucht. Sie konnte nicht nicht mehr erinnern, wer ermordet wurde und warum. Sie wollte sich nicht erinnern. Doch genau aus diesem Grund ist er jetzt dort, wo sie gerade hinging.
Das Ertönen einer lauten Hupe und quietschenden Reifen riss sie aus ihren Gedanken. Erschrocken blickte sie auf und realisierte, wo sie sich befand. Sie war tatsächlich so sehr in Gedanken versunken, dass sie einfach auf der Straße stehen geblieben war. Sie sah in das wütende Gesicht eines ungeduldigen Autofahrers, der mit seinem Gefährt nur wenige Meter von ihr entfernt stehen geblieben war. Dahinter hatte sich eine kleine Schlange wartender Autos gebildet. Die Augen des Fahrers lösten bei ihr Angstzustände aus.
Den gleichen Blick hatte auch er damals aufgesetzt, an jenem Tag vor zwei Jahren.
Mit hochrotem Kopf, den Blick nach unten gerichtet, überquerte sie schnellen Schrittes die Straße und der Verkehr normalisierte sich wieder.
Das große Gebäude tauchte vor ihr auf. Sie wollte hinein, um ihn zu sehen, wollte aber auch gleichzeitig nicht hinein. Das Gebäude machte ihr Angst. Die Augen starr auf das immer näher kommende, bedrohlich wirkende Gefängnis gerichtet, rempelte sie versehentlich einen vorbeigehenden Passanten an. Es war ein junger Mann.
"Passen Sie doch auf", fauchte er. Erneut aus ihren Gedanken gerissen stammelte sie eine Entschuldigung, doch da war der Mann schon weitergegangen. Wie er aussah, konnte sie nicht sagen. Nur seine eisiger Blick und das kurz anhaltende, wutentbrannte Aufleuchten in seinen Augen fiel ihr auf. Ein eiskalter Schauer lief ihr über den Rücken.
Auf einmal stand sie direkt vor dem Gefängnis. War es nicht eben noch einige Meter entfernt gewesen? Hatte es sich etwa selbstständig bewegt?
Sie sah hoch und für einen Moment dachte sie die Ziegelsteine würden sich zu einem hämischen Grinsen verziehen. Sie schloss kurz die Augen und atmete tief durch. Da ist nichts!
Mit pochendem Herzen öffnete sie die Tür und trat ein, betrat das Innere des Ungeheuers. Sie umklammerte das kleine Päckchen, das sie bei sich trug, so fest, wie sie konnte.
"Hallo! Ich bin Frau Susanne Dehlen. Ich möchte gerne Herrn Stefan Dehlen besuchen. Er darf heute Besuch empfangen."
Mit diesen Worten stellte sie sich dem jungen Polizeibeamten vor, der am Empfang hinter einem großen Schreibtisch saß. Dieser grüßte sie freundlich und blätterte einige Dokumente durch. Nach einer Weile sagte er:" Herr Dehlen befindet sich momentan in der Kantine. Dort haben Sie eine halbe Stunde Zeit, um mit ihm zu sprechen. Wenn Sie mir bitte folgen."
Der Mann stand auf und setzte sich in Bewegung. Sie folgte ihm, wie ein kleiner Hund. Der Mann trug ein strahlend blaues Hemd.
Ihr war nicht wohl zumute, als sie durch die schmalen und kahlen Gänge ging. Obwohl sie schon oft dort gewesen war, kam es ihr so vor, als hätte sie diesen Ort noch nie im Leben gesehen. Hatte sie etwa eine Vorahnung?
Gelegentlich kamen ihnen Insassen entgegen, die von Gefängniswärtern zurück in ihre Zellen geführt wurden. Sie erschauerte jedes mal, wenn einer der Straftäter ihr einen bösen Blick zuwarf. In jedem erkannte sie ihn. Ihr wurde übel.
Nach einer gefühlten Ewigkeit erreichten sie endlich die Kantine. Dort ließ der Beamte sie alleine. Sie betrat den großen Raum. Die Kantine war voll. Überall saßen Insassen. Manche alleine, manche mit Besuchern. Etwas am Rande hielten sich einige Wachmänner auf, die das Geschehen aufmerksam verfolgten. Beobachtet. Alle werden beobachtet.
Sie sah sich vorsichtig um und erblickte ihn an dem Tisch in einer der hinteren Reihen, genau dort, wo er immer saß, wenn sie ihn besuchen kam.
Nervös bewegte sie sich auf ihn zu. Vielleicht war sie wegen dem Päckchen, das sie bei sich hatte, so unruhig.
Je näher sie kam, desto höher schlug ihr Herz. Einerseits wegen der Freude, ihn wiederzusehen, andererseits wegen der Angst. Wahrlich hasste sie diesen Ort, denn man wurde beobachtet.
Sie konnte die Blicke, die man ihr zuwarf, spüren. Es tat weh, wie kleine Stiche und sie traute sich nicht die Blicke zu erwidern. Überall wird man beobachtet.
Sie setzte sich ihm gegenüber und lächelte schwach zur Begrüßung. Er erwiderte ihr Lächeln nicht, sondern sah sie einfach nur ausdruckslos an, ohne auch nur ein Wort zu sagen. Er hatte die Arme verschränkt. Er trug die gleiche graue Gefängniskleidung, wie jeder andere Insasse auch. So grau wie die Wände, so grau wie das äußere dieses Ungeheuers, in dem sie sich befand.
Für einen kurzen Moment trafen sich ihre Blicke, doch sie konnte seinem Blick nicht standhalten und sah beschämt weg. Ist das alles meine Schuld?
Die Minuten vergingen und keiner der beiden sagte etwas. Schließlich war sie es, die das Wort ergriff. Jedoch nicht, weil sie sich gerne mit ihm unterhalten wollte, sondern weil sie die grausame Stille nicht länger ertragen konnte. Die Geräuche und Unterhaltungen um sich herum, nahm sie nur verschwommen wahr. Es gab nur sie und ihn...und das Ungeheuer.
"Gutes Wetter heute. Wird ein schöner Tag", meinte sie mit gespielter Fröhlichkeit. Nein, es ist alles andere als ein schöner Tag. Das Wetter ist genauso, wie an jenem Tag.
Gespannt wartete sie auf eine Reaktion, doch die blieb aus. Er rührte sich kein bisschen. Vielleicht ist das Thema zu banal für ihn.
Sie versuchte ein Lächeln aufzusetzen, doch dieser Versuch scheiterte kläglich, denn ihre Lippen formten eine Grimasse. Ein hämisches Grinsen.
Und wieder Schweigen. Und die Zeit verging, die Uhr tickte. Mit jeder Minute, die verstrich, stieg in ihr das Verlangen, diesen furchtbaren Ort sofort zu verlassen. Doch sie konnte nicht. Sie war wie gelähmt, konnte sich nicht bewegen, saß starr in ihrem Stuhl. Wir wissen beide, dass es für keinen von uns ein Entkommen gibt.
Mit weit aufgerissenen Augen und leicht geöffnetem Mund starrte sie ihn an, ohne sich im Klaren darüber zu sein, wie lächerlich das für Außenstehende aussehen würde. Und das war ihr auch egal, denn es gab nur sie, ihn und das Ungeheuer.
Sie wollte ihm sagen, dass sie ihn trotz allem noch immer liebte, doch wie sollte sie ihm das sagen? Die Uhr tickte!
Viel sprach er nie, wenn sie ihn besuchte, doch an diesem Tag kam ihr das alles noch viel schlimmer vor. Hatte sie etwa eine Vorahnung?
Auf einmal wurde ihr bewusst, dass sie nicht erwünscht war. Hatte sie das nicht die ganze Zeit gewusst?
Zu ihrer Verwunderung begann er auf einmal mit seiner tiefen Stimme zu sprechen. Sie wünschte sich nichts sehnlicher, als dass er einfach sagte, dass er sie genauso liebe, wie sie ihn und ihm alles leid täte. Stattdessen sagte er: "Ich mag dein Kleid. Du weißt ja, dass ich rote Sachen an dir liebe."
Nun, das war nicht das erhoffte Kompliment, doch vielleicht war dies der Beginn einer einigermaßen vernünftigen Konversation.
"Danke! Ich habe es nur für dich angezogen", sagte sie.
"Ich weiß! Du kannst ohne mich einfach nicht leben!"
Mit einer solchen Antwort hatte sie nicht gerechnet. Ihr blieben die Worte im Hals stecken. War sie nicht immer stolz darauf eine unabhängige und freie Frau zu sein? Doch er sagte die Wahrheit! Sie war von ihm abhängig. Sie war abhängig von einem Kriminellen, der im Gefängnis sitzt. Diese Erkenntnis fühlte sich für sie schlimmer an, als ein Schlag ins Gesicht. Mit seinen Worten tat er ihr mehr weh, als mit seinen Fäusten, obwohl auch das immer schmerzhaft gewesen war.
Wieso können wir nicht das loslassen, was uns Angst macht? Warum halten wir an dem fest, was uns nicht gut tut? Weil es Liebe ist!
Anstatt dem erhofften Wortwechsel trat erneutes Schweigen ein. Stille. Tödliche Stille. Sie konnte das Lachen des Ungeheuers deutlich hören. Hat es gewonnen?
Sie spürte die Blicke. Sie sah hämisch grinsende Gesichter vor sich. Du bist schwach!
Sie fühlte sich elend. Alles ist meine Schuld! Dabei liebe ich ihn doch!
Es gab noch eine letzte Chance. Das Päckchen, jetzt fiel es ihr wieder ein. Die ganze Zeit hatte sie es fest umklammert und es dabei völlig vergessen, verloren im tödlichen Strudel ihrer Gedanken.
All ihre Hoffnungen lagen nun auf dem Geschenk, das sie für ihn mitgebracht hatte. Gestern hatte sie es gekauft, und zwar nur für ihn, genauso wie alles, was sie jemals getan hatte, für ihn war.
Sie nahm das Päckchen hervor und legte es vor ihm auf den Tisch. Er sah es unbeeindruckt an. "Habe ich dir mitgebracht. Ich hoffe, du freust dich", sagte sie mit schwacher Stimme. Die letzte Hoffnung.
Sie begann zu schwitzen. Das Herz schlug ihr jetzt bis zum Hals. Die letzte Hoffnung!
Grob riss er das grüne Papier ab und betrachtete das kleine Kästchen, das er jetzt in der Hand hielt. Skeptisch musterte er es und öffnete es schließlich. Zum Vorschein kam ein kleines Herz aus Stein, das leicht rot angemalt war.
Erwartungsvoll sah sie ihn an. Seine Augen waren starr auf das kleine Herz in seinen Händen gerichtet. Mein Herz!
Ganz kurz glaubte sie in seinen Augen etwas zu sehen und es war nicht das, was sie sonst in seinen Augen sah. Für den Bruchteil einer Sekunde flackerte es auf und erlosch ebenso schnell wieder, wie es gekommen war.
Er legte das Herz zurück in das Kästchen. "Das ist es also", sagte er und setzte wieder den gleichgültigen Gesichtsausdruck auf, der ihr so weh tat.
Tränen bildeten sich in ihren Augen. Das Ungeheuer lachte sie aus und sie hatte die traurige Gewissheit, dass es endgültig vorbei war. Draußen begann es plötzlich zu regnen, obwohl bisher die Sonne geschienen hatte. Langsam erhob sie sich, drehte sich um und ging einfach, ohne auch nur einen flüchtigen Blick zu ihm zurückzuwerfen. Schlagartig hörte das grausame Gelächter des Ungeheuers auf, sowie sich auch ihre Anspannung löste. Es ist vorbei!
Sie hatten sich nichts mehr zu sagen.

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Mira Am 01.01.2022 um 17:58 Uhr
Hey!
Ich bin wirklich sprachlos und weiß gar nicht so wirklich, was ich dazu schreiben soll. Du hast es wirklich sehr ergreifend beschrieben und durch die Wiederholungen eine Spannung erzeugt.
Der Gedanke, dass man von jemandem abhängig ist und gleichzeitig jedoch unabhängig sein will, ist faszinierend.
Eine wirklich schöne Geschichte!
Viele Grüße
Mira

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