10.00 Uhr morgens. Erst 10.00 Uhr morgens, dachte Frank. Der Tag zieht sich schon wieder so.
Frank war Geschäftsführer einer Bank. Das mehr als gute Gehalt tröstete ihn ein wenig über die Tatsache hinweg, dass er seinen Job hasste.
Es lag nicht an seinen Kollegen. Die waren stets freundlich und begegneten ihm mit Respekt. Die Arbeit an sich war auch nicht die Schlechteste. Viele Menschen wären glücklich, wenn sie so viel hätten, wie Frank.
Daher schien dessen große Unzufriedenheit für einen Außenstehenden schwer nachvollziehbar zu sein, zumal er auch glücklich verheiratet war.
Was ihm fehlte und so unglücklich stimmte, war die volle Entfaltung seiner Persönlichkeit. Geschäftsführer einer Bank zu sein, erfüllte Frank nicht im Geringsten. Er hatte sich schlichtweg mehr erhofft.
Als Kind wurde Frank oft belächelt und nicht ernst genommen. Der fehlende Respekt seitens seiner Mitmenschen hat in Franks Psyche tiefe Spuren hinterlassen.
Ich werde es ihnen heimzahlen, hatte er immer wieder gedacht. Eines Tages werde ich mehr Geld verdienen, als ihr jemals zu Gesicht bekommen werdet.
Auf diese Art wollte Frank sich rächen. Er hat nicht auf sein Herz gehört und ist nicht seiner Leidenschaft hinterhergegangen.
Seit seiner Kindheit liebte er es, zu zeichnen. Das nötige Talent hat man ihm nie abgesprochen, doch Frank glaubte nicht an sich und befand seine Fähigkeiten für nicht ausreichend. Somit gab er seinen Traum, ein großer Künstler zu werden, den er als Kind immer gehabt hatte, auf. Das Zeichnen hat er anschließend ebenfalls komplett aufgegeben. Zu sehr schmerzte ihn der eigene Perfektionismus und die Angst, nicht gut genug zu sein.
Franks Racheakt war ihm durchaus gelungen. In der Tat war er deutlich wohlhabender, als alle, die ihm damals die Anerkennung verweigert haben. Doch Frank stellte sich immer wieder die Frage, was er überhaupt davon habe. Reich zu sein ist bedeutungslos, wenn man nicht glücklich ist.
Ich bin jetzt 54. Es lohnt sich nicht mehr, etwas neues anzufangen. Ich bin zu alt.
Diese negativen Gedanken plagten Frank. Sie waren ein stetiger Begleiter, wohin er auch ging. Er war oft schlecht gelaunt und an manchen Tagen sogar depressiv.
Hätte ich nur den Mut gehabt.
Aber der Mut hatte Frank gefehlt. Von den Meinungen anderer hatte er sich zu sehr beeinflussen lassen. Er war so besessen von dem Gedanken, sich zu rächen und endlich die Anerkennung zu erhalten, die er sich immer gewünscht hat, dass er dabei vollkommen vergaß, sein Leben zu leben.
Ich habe nur für andere gelebt und nie das getan, was ich gerne tun wollte.
Kein Tag verging, an dem Frank sich nicht vorstellte, wie schön es doch wäre, ein großer Künstler zu sein. Oft musste er bei diesen Gedanken die ein oder andere Träne vergießen. Der Schmerz und das Bedauern aufgrund der verpassten Möglichkeiten, saß tief.
Frank saß am Schreibtisch und tippte etwas in den Computer ein. Die Zeit wollte einfach nicht vergehen. Wie jeden Tag, warf Frank in regelmäßigen Abständen einen nervösen Blick auf die Uhr. Die Zeit wollte einfach nicht vergehen. Jeder Tag wurde zur Qual. Jeden Tag wurde es noch unerträglicher. Frank merkte, dass ihm die Zeit davonlief.
Irgendwann habe ich keine Zeit mehr, die Dinge zu tun, die ich gerne tun würde. Ich verschwende meine Zeit hier in diesem Büro. Ich werde auch nicht jünger.
Es war ein etwa zehnminütiger Fußweg von Franks Arbeitsstelle bis zu seinem Zuhause. Es war 17.00 Uhr. Wie jeden Tag hatte er überpünktlich den Arbeitstag beendet und schlenderte, in einen grauen Anzug gekleidet, nach Hause. Doch die negativen Gedanken wollten einfach nicht verschwinden. Um sich irgendwie abzulenken, beschloss er, seinem Lieblingsrestaurant, das auf dem Weg lag, einen Besuch abzustatten. Es war ein teures asiatisches Restaurant, doch an Geld mangelte es ihm schließlich nicht.
Dafür an anderen Dingen.
Frank erhöhte sein Schritttempo. So langsam bekam er Hunger.
Von weitem erblickte er das Restaurant. Von außen betrachtet war es wirklich ein wunderschönes Gebäude. Der Architekt hatte in der Tat großartige Arbeit verrichtet.
Frank hatte immer wieder mit dem Gedanken gespielt, das Restaurant zu zeichnen, so sehr gefiel ihm das künstlerisch gestaltete Gebäude. Doch aus unerklärlichen Grunden ließ er es sein und schob es immer weiter auf, bis der Gedanke irgendwann in Vergessenheit geriet. Aus "irgendwann" wurde schließlich "nie".
Frank näherte sich dem Restaurant. In ihm stieg tatsächlich ein Gefühl von Freude auf. Selten verspürte er dies.
Neben dem Eingang stand eine gut gekleidete Frau mittleren Alters mit einem kleinen Kind. Frank bewegte sich auf die Eingangstür des Restaurants zu und schenkte den beiden zunächst keine Beachtung. Das änderte sich jedoch, als er Teile ihres Dialogs vernahm.
Das Kind fragte:" Was malt der Mann denn da, Mama? "
Frank erstarrte plötzlich. Als er das Wort "malen" vernahm, wurde er sofort hellhörig.
Die Frau antwortete:" Beachte den da gar nicht, mein Schatz. Das ist nur ein Künstler."
Das Kind verstand nicht. "Aber Mama, malen ist doch schön."
"Aber damit verdienst du nichts. Du weißt doch, dass Geld am wichtigsten ist."
Daraufhin antwortete das Kind wieder etwas, doch Frank bekam schon nichst mehr davon mit. Die Frau ging mit dem Kind davon, wobei sie es eilig hinter sich herzog, um zu verhindern, dass es dem Künstler zu viel Beachtung schenkte.
Wie in Zeitlupe drehte Frank sich um. Er wollte wissen, von wem die Rede war. Er erblickte einen bunt gekleideten Mann mit Hut, der auf einer Parkbank saß und einen großen Block mitsamt einiger Stifte sich ausgebreitet hatte. Der Mann kritzelte eifrig auf dem Block herum und schien sehr konzentriert zu sein. Gelegentlich blickte er in Franks Richtung. Dieser fühlte sich sofort beobachtet. Er kam sich hilflos und nackt vor. Der Unbekannte hatte etwas an sich, das Frank sofort in seinen Bann zog. Frank fühlte sich regelrecht angezogen. Das Restaurant vergaß er sofort.
Langsam, den Blick starr auf den beschäftigten Künstler gerichtet, bewegte sich Frank auf diesen zu. Ihm fiel auf, dass sich außer ihm und dem Kind vorhin, absolut niemand für den Maler interessierte. Die Menschen gingen entweder an ihm vorbei, ohne ihn auch nur ansatzweise zu beachten oder zeigten mit dem Finger auf ihn, tuschelten untereinander und gingen leise vor sich hinkichernd weiter.
Je näher Frank dem Mann kam, desto mehr nahm seine Faszination zu. Schließlich stand Frank direkt vor ihm. Der Mann sah nicht von seinem Block auf und zeichnete einfach weiter. Frank sah ihn mit offenem Mund und geweiteten Augen an, ohne etwas zu sagen. Er wollte einfach nur beobachten und lernen. Dabei war ihm durchaus bewusst, was für einen lächerlichen Anblick er bieten musste, doch es war ihm in diesem Moment gleichgültig.
Nach einer gefühlten Ewigkeit, hob der Künstler langsam seinen Kopf und erblickte Frank, der immer noch fassungs-und regungslos dastand. Der Künstler musterte ihn ausgiebig von oben bis unten und Frank konnte endlich sein Gesicht sehen. Der Maler hatte stechend blaue und sehr aufmerksame Augen und einen Stoppelbart. Er sah nicht besonders gepflegt aus und war auch nicht mehr der jüngste. Frank schätzte ihn auf ungefähr 60.
"Seid gegrüßt, Unbekannter", sagte der Künstler plötzlich. Er hatte eine raue und doch zugleich warme und freundliche Stimme.
Der Maler reichte Frank eine kleine, mit Farben bekleckerte Hand.
Ohne ein Wort zu sagen, schüttelte Frank die Hand des Künstlers. Mit einer solche Offenheit hatte Frank nicht gerechnet.
Der Unbekannte lachte herzlich, nahm seinen Stift zur Hand und bat Frank freundlich, etwas zur Seite zu gehen, da er im Weg stünde.
Frank gehorchte, doch begriff zunächst nicht. Erst als er einen verstohlenen Blick auf den Zeichenblock des Künstlers warf, wurde ihm einiges klar. Der Mann zeichnete das Restaurant und hatte vorhin gar nicht auf ihn, sondern auf das Gebäude geguckt.
Unwillkürlich durchzuckte Frank ein quälender Gedanke.
Er lebt meinen Traum.
Der Künstler zeichnete unbeirrt weiter. Sein Gemälde nahm bereits konkrete Formen an und sah sehr beeindruckend aus.
In Franks wuchs das Bedürfnis, ein Gespräch mit dem Mann zu beginnen. Doch worüber sollten sie nur sprechen?
"Was arbeiten Sie, dass Sie Zeit haben, um nebenbei noch zu zeichnen", fragte Frank schließlich. Das interessierte ihn in der Tat.
Der Künstler ließ sich Zeit mit der Antwort und gab dann, ohne von seinem Block aufzuschauen zurück:" Jeder hat Zeit. Für jeden von uns hat der Tag 24 Stunden. Es ist alles eine Frage der Prioritäten."
Diese Antwort stellte Frank nicht zufrieden, weshalb er daraufhin seine ursprüngliche Frage nach der Arbeit des Mannes wiederholte.
"Sie sehen doch, als was ich arbeite", meinte dieser nur. Leicht irritiert beugte Frank sich vor. "Und...Sie können davon leben?"
Jetzt sah der Künstler von seinem Block auf und blickte Frank direkt in die Augen. Ihre Gesichter waren nur noch wenige Zentimeter voneinander entfernt.
"Ich lebe meinen Traum und verdiene damit sogar genug Geld, dass es zum Überleben reicht. Wenn man wirklich etwas erreichen will, schafft man es auch. Geld ist nicht alles."
Mit diesen Worten nahm der Künstler seine Arbeit wieder auf.
Zutiefst beeindruckt von dem Mann, fielen Frank plötzlich wieder die Leute auf, die begannen mehr zu tuscheln, als vorhin.
Sie denken schlecht von mir, weil ich mich mit so einem unterhalte.
Frank wich ein paar Schritte zurück und sah sich nervös um. Als hätte der Künstler seine Gedanken gelesen sagte er: "Die reden sowieso immer. Ganz egal, was man macht, oder mit wem man spricht. Ich habe aufgehört, mir Gedanken darüber zu machen, was andere von mir denken. Es ist unwichtig."
Frank begann zu verstehen und richtete seinen Fokus wieder auf den Künstler, der still und in sich gekehrt auf der Parkbank saß und zufrieden seiner Arbeit, seiner Leidenschaft nachging.
Dieser Mann besitzt viel weniger, als ich und ist trotzdem reicher, dachte Frank. Er wurde nachdenklich.
Er ist weder gesellschaftlich anerkannt, noch verdient er viel Geld. Dennoch ist er ein zufriedener Mensch und hat den Mut, das zu tun, was er liebt.
"Ich würde auch gerne zeichnen", klagte Frank.
Der Künstler hielt inne und sah Frank mit seinem durchdringenden Blick an. "Warum tun Sie es dann nicht? Wenn Sie nicht das tun, was Sie gerne tun würden, verschwenden Sie nur Ihre Zeit. Die können Sie sich auch nicht kaufen. Am Ende zählt nicht, wie viel Geld wir hatten oder wie anerkannt wir waren, sondern nur, wie wir die uns gegebene Zeit genutzt haben."
Nachdem er das gehört hatte, fing Frank an, sich ernsthaft zu hinterfragen. Ja, warum zeichnete er eigentlich nicht? Eigentlich hinderte ihn doch nichts daran.
Frank kam eine letzte Frage in den Sinn, die er unbedingt loswerden musste: "Wie wird man glücklich?"
Der Künstler zog mit einem Bleistift einen letzten Strich. Anschließend begutachtete er sichtlich stolz seine Arbeit. Sein Meisterwerk war fertig.
Er setzte ein freundliches Lächeln auf und meinte nur: "Wenn Sie es immer noch nicht verstanden haben, werden Sie es niemals verstehen."
Mit diesen Worten widmete sich der Künstler endgültig seinem Bild und achtete nicht weiter auf Frank.
Dieser verstand endlich! Er hatte gute Schulen besucht, viele gute Lehrer gehabt und auch auf der Arbeit hatte er jeden Tag mit intelligenten Menschen zu tun, doch niemand hatte ihm so viel gelehrt, wie dieser ungepflegte Mann, der still und ganz alleine auf der Parkbank saß und in seiner eigenen Welt zu leben schien. Frank drehte sich um und entfernte sich von dem Künstler und dem Restaurant. Er wusste jetzt, was zu tun war...
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