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Das Geschenk

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12.05.19 15:17
12 Ab 12 Jahren
Fertiggestellt
Gut erinnere ich mich noch. Genau ein Jahr ist´s mittlerweile her, im tiefsten Winter war´s.
Die Mutter hatte das Haus verlassen, eine kleine Reise angetreten, wie sie jedenfalls sagte. Es war der Tag, ein Samstag, vor ihrem Geburtstag. Ich wusste nicht, wo genau sie war, um ehrlich zu sein interessierte es mich auch nicht. Die Mutter konnte schließlich handeln wie ihr beliebt, ich hatte damit nichts zu tun. Außerdem war ich recht froh darüber, dass sie nicht im Haus war, da ich noch kein Geschenk für ihren großen Tag hatte. Es sollte etwas schön schlichtes sein, denn sie mochte keinen Schnick Schnack. Etwas kleines mit Substanz war ihr stets willkommener als Plunder, für den man keinerlei Verwendung hatte und den man bei der nächstbesten Gelegenheit ohnehin weiterverschenkte. Allzu teuer durfte es ohnehin nicht sein. Schließlich war ich arm. Womöglich lag dies daran, dass ich einer Tätigkeit nachging, die zwar für den Fortbestand unserer Gesellschaft von essentieller Wichtigkeit ist, jedoch im Verhältnis betrachtet nicht angemessen gewürdigt wird. Sei´s drum. Ich brauchte schleunigst ein Geschenk für die Mutter! Und es musste etwas persönliches sein, etwas mit Tiefgang und doch im bezahlbaren Rahmen. Keine leichte Aufgabe, zumal ich unter Zeitdruck stand. Doch die Herausforderung nahm ich an.
Als die Mutter an jenem verschneiten Wintertag nicht zugegen war, begab ich mich mit meinen Ersparnissen in die Stadt. Ich schlenderte die vereisten Straßen hinab, mich durch den Schnee kämpfend, einen dicken Wintermantel und eine Wollmütze tragend, um mich vor der stechenden Kälte zu schützen. Der Wind peitschte mir schmerzhaft ins Gesicht und hinterließ ein unangenehmes Prickeln auf meiner Haut. Es war einer der Tage, an dem man sich am liebsten in den eigenen vier Wänden aufhielt, in einer Decke gehüllt vor dem Kaminfeuer sitzend ein gutes Buch liest und das Haus nicht verlässt. Doch ich hatte natürlich keine Wahl. Ich brauchte ein Geschenk für den großen Tag der Mutter. Unbedingt!
Ich fragte mich, was sie wohl gerade tat. Der einsetzende Schneesturm muss sie  überrascht haben. Ob es der Mutter gut ging? Ich hoffte es!
Was könnte ihr nur gefallen, fragte ich mich, als ich die Innenstadt erreicht hatte und die verschiedenen Schaufenster betrachtete. Alles teurer Schnick Schnack, alles ohne Substanz. Alles nicht zu gebrauchen, nichts dabei für die Mutter zum Geschenk für den großen Tag, für ihren morgigen Geburtstag.
Jeder schenkt seiner Mutter Blumen, dachte ich. Was ist an jenen Rosen und Tulpen in diesem Laden schon besonders? Nicht individuell, alles nur Massenware.
Wer braucht schon diese albernen Ketten und Ohrringe, wie sie in diesem Schaufenster ausgestellt sind. Alles nur oberflächlicher Glanz, nichts mit Substanz. Alles nur teuer und nicht zu gebrauchen.
Ich schlenderte weiter, die Augen offenhaltend.
Wie friedlich alles aussieht, dachte ich. Das Weiß des Schnee übte eine beruhigende Wirkung auf mich aus. Ich sah Kinder, wie sie die Straße hinunterliefen und sich gegenseitig mit Schneebällen bewarfen und sich offensichtlich sehr daran erfreuten. Der Spaß ging so lange weiter, bis sie von ihren wütenden Eltern eingeholt wurden, die sie an den Armen packten und schleunigst wegzogen.
Komisch dass es immer alle so eilig haben, dachte ich. All diese gehetzten Zeitgenossen, denen jedweder Sinn für Humor und Spaß abhanden gekommen ist, machten den Eindruck, als wollten sie ihr Leben in Rekordzeit hinter sich bringen.
Ich ließ mich dagegen nicht hetzen. Zwar drängte die Zeit, denn ich brauchte ja möglichst schnell ein Geschenk für den großen Tag der Mutter, doch gute Entscheidungen trifft man, so lautete meine feste Überzeugung, nur in der Ausgeglichenheit des seelischen Zustandes.
Mir begegneten Männer in Anzügen, Frauen in vornehmen Kleidern. Und das trotz der vorherrschenden Eiseskälte.
Menschliche Eitelkeit, dachte ich. Lieber frieren und sich den Tod holen, anstatt sich einfach nur der Jahreszeit angemessen zu kleiden. Die Stadt war schon ein komischer Ort!
Überall blitzte und blinkte es. Der helle Schnee spiegelte sich im Schmuck den die Frauen trugen. Ketten, Uhren und Armbänder glänzten. Männer starten auf ihre Handys, empfingen Anrufe und verdrehten dabei genervt die Augen. Und dabei achtete jeder nur auf sich. Nein, die Mutter, hatte nie ein Handy besessen, nie derart viel Schmuck getragen. All dem äußerlichen Wohlstand zum Trotz sahen die Menschen nicht glücklich aus. Ganz im Gegenteil! Ihre Augen waren leer. Ich sah nichts in ihnen. Mein Selbst spiegelte sich nicht in ihnen wider. Die Mundwinkel blieben ausdruckslos. Mir wurde ganz unbehaglich bei diesem Anblick. Der eiskalte Wind peitschte mir ins Gesicht, meine Augen tränten und ich senkte den Blick in Richtung Boden.
Es war mir unmöglich festzustellen, wie lange ich mich bereits in der Stadt aufhielt. Ich wurde einfach nicht fündig. Nirgends ein vielversprechendes Geschäft, nirgends etwas von wahrem Wert.
Stattdessen fragte ich mich, was dazu führen konnte, dass die Menschen derartige Unzufriedenheit ausstrahlten. Unternehmer, Menschen aus den oberen Schichten, denen es materiell an nichts mangelte, was sie nur allzu gerne auch zeigten. Doch ich konnte mich mit solchen Gedanken nicht befassen. In der Schule hatte man mir immer gesagt, dass ich zum Philosophieren nicht tauge. Ich verwarf also meine tiefgründigen Überlegungen und konzentrierte mich wieder auf das Wesentliche, auf das, worauf es ankam, nämlich der Mutter an diesem kalten Wintertag in dieser eingeschneiten Stadt, ein Geschenk für ihren großen Tag zu kaufen.
Markenkleidung hier, technische Begleiter und Hilfsmittel dort, teurer Schnick Schnack überall. So weit das Auge reichte, sah ich nur Herzlosigkeit, doch nichts von wahrem Wert.
Ich resignierte in meiner Verzweiflung. Es konnte doch nicht sein, dass es hier nichts gab für jemanden wie die Mutter.
Gerade als ich im Begriff war, umzudrehen und den Heimweg anzutreten, da die Kälte zunehmend an meinen Kräften zehrte und ich mich nach der Idylle des heimischen Gemachs zu sehnen begann, fiel mein Auge doch noch auf einen recht vielversprechenden, kleinen, völlig unscheinbaren Laden. Er befand sich in einer kleinen Seitengasse.
Wie ich von weitem feststellen konnte, bot dieser Laden auf Wunsch die Herstellung bestimmter Schilder aus Holz an, die man selbst mit einem Spruch seiner Wahl beschriften lassen konnte.
Endlich mal keine Massenwahre, sondern was individuelles, dachte ich und die Hoffnung doch noch fündig zu werden, kehrte zurück.
Ich bewegte mich in Richtung des Ladens, dessen Name "Zauberwald" lautete, was ich dem vor dem Eingang angebrachten Schild entnahm.
Je mehr ich mich näherte, gewahrte ich, dass vor dem Eingang eine Gestalt auf dem Boden kauerte. Während ich darüber nachdachte, welcher Spruch wohl am besten zu der Mutter passte, fiel mir bei genauerer Betrachtung auf, dass es sich bei der Gestalt um einen Mann handelte. Einem Bettler um genau zu sein. Sein ungepflegtes Erscheinungsbild und die verwaschenen, teil zerrissenen Kleider ließen zumindest unmissverständlich darauf schließen.
Mir entgegen kam eine überaus gut aussehende und vornehm gekleidete, blonde Frau, mit einem Kind am Arm. Weder den "Zauberwald" noch den Obdachlosen, der vorsichtig seinen dürren Arm ausstreckte und dabei die Hand offenhielt, würdigte sie eines Blickes. Ihr starrer Blick war einzig nach vorne gerichtet.
Mir entging jedoch nicht, dass das Kind sich neugierig nach dem Mann umsah und den kleinen Kopf in dessen Richtung streckte. Es fragte die Mutter etwas, das ich aus der Ferne nicht verstand. Ich hörte nur die gezischte Antwort der Frau.
"Komm, wir müssen schnell weiter!"
Die Mutter zog ihr Kind regelrecht hinter sich her. Als sie bemerkte, wie ich sie beobachtet hatte, warf sie mir nur einen finsteren Blick zu, der mich zutiefst erschaudern ließ, weil in ihm alles an menschenmöglicher Kälte und Herzlosigkeit lag und schritt dann mit ihrem Kind schleunigst von dannen.
Ich setzte meinen Weg unbeirrt fort und näherte mich langsam dem Bettler, der meine Aufmerksamkeit beanspruchte.
Als ich vor ihm stand, realisierte ich, dass er überdies blind war, da er die Augen geschlossen hielt. Aufrichtiges Mitleid regte sich in mir und bemächtigte sich meines Herzens, welches ergreifend zu schmerzen begann.
"Guter Mann", sprach ich ihn an.
Beinahe erschrocken hob der Bettler schlagartig seinen Kopf, die blassen, leblosen Augen auf mich gerichtet.
"Wer ist da", fragte er stotternd, vermutlich vor Kälte. Die Lippen des Mannes waren blau angelaufen, dem Gesicht jedwede Farbe gewichen.
"Ein Freund", gab ich zurück.
"Freund? Einen solchen habe ich nicht". Ein tiefer Seufzer entfuhr dem Mann, in dem all sein Leid sich äußerte.
"Ich bin ein Freund", meinte ich nur, mich wiederholend.
"Sie versuchen doch nicht etwa, mir Hoffnung zu geben. Die habe ich lange verloren."
Ermutigend sagte ich zur Antwort: "Das sollten Sie nicht! Was wäre das Leben schon ohne Hoffnung? Ich verstehe Ihre missliche Lage, doch wo Leben ist, ist auch Hoffnung!"
Ein zynisches Lachen seitens des Bettlers erfolgte.
"Hoffnung ist etwas entsetzliches! Sie ist wie ein Gift, das einen schleichend umbringt. Hoffnung verhindert, dass wir den Tatsachen ins Auge blicken. Hoffnung hindert uns daran, zu akzeptieren, was nunmal nicht geändert werden kann. Hoffnung ist verzweifeltes Klammern an dem, was einem geblieben ist. Hoffnung schmerzt, denn sie führt unweigerlich zur Enttäuschung, zur Resignation. Hoffnung ist wie ein Gift, das einem den Verstand raubt, die Sinne vernebelt und das Leben unerträglich macht. Und dennoch ist Hoffnung etwas urmenschliches, das uns allen zu eigen ist. Oh, wie viel besser wäre das Leben nur ohne Hoffnung. Wie kann man in einer solchen Welt überhaupt noch Hoffnung haben?"
"Wenn dem so ist, haben Sie früher einmal Hoffnung gehabt, Hoffnung, dass sich alles wieder zum Besseren wenden wird, doch Sie sind entsetzlich enttäuscht worden."
"Wie wir alle", stimmte der Bettler zu.
"Wie wir alle", wiederholte ich nachdenklich.
"Es gibt keine höhere Gerechtigkeit auf der Welt", fuhr er fort. "Die einzige wirklich gerechte Instanz ist der Tod. Er ereilt jeden ungeachtet seiner zahllosen Privilegien."
"Sehr pessimistische Weltanschauung", sagte ich.
"Was erwarten Sie? Das Leben hat mich so gemacht. Sind wir nicht alle Opfer der Umstände?"
"Wahr, wahr. Auch ich nehme an, dass wir Menschen von Natur aus gleich sind, doch erst die äußeren Einflüsse unsere Persönlichkeit, mit allem was dazu gehört, formen."
"Sehen Sie. Warum sollte ich also noch hoffen? Ich bin des Hoffens müde, verstehen Sie doch."
Vor dem Mann auf dem Boden befand sich eine kleine Schüssel, die jedoch vollkommen leer war.
"Dieses Leben ist nunmal mein Los. Ich kann nichts daran ändern", endete der Blinde seine Ausführungen, ließ den Kopf senken und sackte weiter in sich zusammen.
Ich sah in Richtung des Ladens und las, was auf dem Schild stand, das ebenfalls dort angebracht war. "Wo Wunder geschehen".
Ohne weiter zu überlegen, ließ ich mein Herz entscheiden und handelte intuitiv. Die größte Freiheit ist nämlich die, welche man verspürt, wenn man keine andere Wahl hat!
Ich nahm meinen Geldbeutel hervor und leerte dessen Inhalt vollständig vor dem Bettler. Scheine fielen heraus, Münzen klirrten und klapperten in der Schüssel. Von diesem Geräusch aus den düsteren Träumen gerissen, sah der Bettler auf einmal wieder hoffnungsvoll zu mir auf. Seine Kinnlade klappte herunter und obwohl er nichts sehen konnte, so war ich mir doch sicher, dass er wusste, dass ich ihm soeben all mein Geld geschenkt hatte.
"Kein Mensch sollte ohne Hoffnung leben", erklärte ich mit einem Lächeln. Auch der Bettler lächelte mich an und in diesem Augenblick wurde mein Inneres mit herrlicher Wärme erfüllt, die mich vollkommen vergessen ließ, dass es ein kalter, dunkler Wintertag war.
"Haben Sie einen Vorschlag, was ich der Mutter zum Geburtstag schenken kann, jetzt, wo ich kein Geld mehr habe, ihr etwas zu kaufen?", fragte ich den Mann um Rat.
"Wie wäre es, wenn Sie ihr sagen, dass Sie einem armen Mann die Hoffnung zurückgeschenkt haben?", schlug dieser freudestrahlend vor.
"Sehr gut", stimmte ich ihm zu. "So wird´s gemacht!"
Mit diesen Worten machte ich mich auf den Heimweg, zufrieden und ausgeglichen, da ich in diesen wohl wichtigsten Minuten meines Lebens verstanden hatte, worauf es wirklich ankommt.
Ich sah die Mutter niemals wieder. Später erfuhr ich, dass sie auf ihrer Reise von einem ungeheuerlichen Schneesturm überrascht wurde und sie die Kontrolle über ihr Fahrzeug verloren hatte. Offenbar starb sie nicht direkt. Es hätte für sie noch Hoffnung auf Rettung gegeben, wenn man nicht den Notarzt viel zu spät gerufen hätte. Im Krankenhaus war dann nichts mehr für sie zu machen.
Niemals werde ich die elenden Stunden des Wartens, des hoffnungsvollen Bangens vergessen, die Reue, die sich meiner bemächtigte. Die Reue, mich nicht von ihr verabschiedet zu haben. Die Angst, sie für immer zu verlieren, sie nie wiederzusehen, was sich unglücklicherweise bestätigte. Es waren die Momente, in denen ich lernte, wie machtlos man als Mensch doch ist, wie abhängig wir alle von dem Schicksal sind und wie wenig Einfluss wir letztendlich entgegen unseren arroganten Vorstellungen, wirklich auf den Lauf der Dinge haben. Ich begriff, wie schnell das Leben vorbei sein kann, wie ungerecht die Welt doch ist. Gleichzeitig war ich paradoxerweise voller Optimismus und Hoffnung auf eine bessere Welt. Ich kann zwar das Schicksal nicht aufhalten, dachte ich. Doch ich kann den Menschen Hoffnung verleihen und das ist doch auch etwas!
Heute stehe ich hier, am Grab der Mutter. Das Ereignis ist nun genau ein Jahr her. Heute ist ihr Geburtstag. Anstatt den gängigen Massenwahren habe ich mich für ein Geschenk mit Tiefgang und Substanz entschieden.
"Ich habe etwas für dich, Mama", sagte ich und nehme aus meiner Tasche ein aus Holz geschnitztes und mit grüner Farbe bestrichenes Schild heraus.
"Ich hoffe es gefällt dir. Alles Gute zum Geburtstag, Mama!"
Ich lege das Geschenk auf das Grab. Die Inschrift des Schildes lautet: "Wie die Mutter, so der Sohn".
Hinter den großen Wolken scheint die Sonne hervor. Unbeirrt bahnt sie sich ihren Weg, bis sie die Schleier am Himmel endgültig verdrängt und die ganze Landschaft mit Licht flutet und in Wärme taucht.
Eine Taube fliegt umher und landet schließlich kurz auf dem Grabstein, bevor sie sich wieder erhebt und in Richtung Sonne fliegt.
Ich sehe ihr nach und richte meinen Blick empor. Der Schnee beginnt zu schmelzen und die Natur beginnt zu blühen, ungewöhnlich früh für diese Jahreszeit, doch sehr zu meiner Freude.
Lächelnd blicke ich gen Himmel. Dabei denke ich an den Bettler.
"Ich schenke den Menschen Hoffnung, Mama!"

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