Am Anfang steht die Suche

Oh, da seid Ihr ja. Wie schön, dass Ihr den Weg hierher gefunden habt. Ich befürchtete schon beinah, dass der Nebel Euch in die Irre geführt haben könnte. Es gehen immer wieder Dinge darin verloren. Wichtige Dinge... Dinge, die schmerzlich vermisst werden.

Habt Ihr auch etwas verloren? Was sonst sucht Ihr hier hinter den Nebeln? Sorgt Euch nicht – jeder verliert mal etwas. Wir können gemeinsam danach suchen. Ich bin sicher, zusammen finden wir, was Ihr verloren habt. Sagt mir einfach, was Ihr sucht.

Hm? Einen Anfang? Eure Geschichte? Das ist es, was Ihr verloren habt?

Oh, nein, macht Euch keine Sorgen, nur keine Sorgen. Geschichten gehen leicht verloren, aber sie tauchen immer wieder auf. Geschichten sind hartnäckig – sie wollen gefunden werden. So sehr, dass man aufpassen muss, die Richtige zu finden. Manchmal neigen Geschichten nämlich dazu, so unbedingt gefunden werden zu wollen, dass sie sich nicht darum kümmern, ob sie auch wirklich die gesuchte Geschichte sind.

Lass uns auf die Suche gehen. Kommt, folgt mir. Bleibt dich bei mir; im Nebel kann man sich leicht verlaufen. Und wir wollen doch nicht, dass Ihr selbst auch noch verloren geht.

Ich habe auch mal eine Geschichte verloren. Es war eine gute Geschichte, voll Abenteuer und Spannung. Ich genoss es sehr, sie zu erzählen. Aber dann, nach einer Weise, wollte mein Publikum lieber neue Geschichten hören – das Alte war ihnen zu bekannt. Sie wollten etwas anderes, etwas, das sie noch nicht kannten. Also habe ich ihnen neue Geschichten erzählt. Und die alte vergessen.

Geschichten, die nicht erzählt werden, gehen leichter verloren, müsst Ihr wissen. Sie werden blasser und verschwimmen, bis sie im Nebel fast unsichtbar sind. Und dann, wenn man sie nicht mehr sehen kann, dann werden sie vergessen. Und dann sind sie verloren.

Oh, seht hier – das sieht aus, wie ein anständiger Anfang. Vor langer, langer Zeit, in einem fernen, fernen Land... das klingt doch aufregend. Könnte dies Eure Geschichte sein?

Nein?

Oh, wie schade. Doch gut, suchen wir weiter. Irgendwo hier muss Eure Geschichte ja sein. Die Nebel können überwältigend groß wirken, aber am Ende lernt man, wo man nach Verlorenem suchen muss.

Erzählt mir doch etwas von Euch,während wir uns umsehen. Erzählt Ihr gern Geschichten? Sicherlich, warum sonst solltet Ihr Euch auf diese Suche begeben? Ich liebe Geschichten. Sie kommen in so vielen unterschiedlichen Formen und Farben... sie können lang sein oder kurz, aufregend oder beruhigend, fröhlich oder traurig – es gibt so viele Geschichten, wie es Menschen gibt. Vermutlich sogar nicht deutlich mehr.

Hm, was ist das denn? Ein Sturm tobte und es regnete, als wolle der Himmel die Welt überfluten... Oh nein, wir werden ja ganz nass! Kommt schnell weiter, diese Geschichte muss erst noch trocknen, ehe sie erzählt werden kann. Am Ende wellen sich noch die Seiten...

Kommt, gehen wir diesen Weg entlang. Vielleicht führt er uns ja zu Eurer Geschichte. Ich bin schon sehr gespannt darauf, sie zu hören. Bestimmt ist es eine Geschichte voller Abenteuer, voll Spannung und Gefühle.

Gefühle! Gefühle sind ja so wichtig für eine gute Geschichte... habt Ihr schon einmal eine Geschichte gehört, die Euch tief im Herzen berührt hat? So viele Leute denken, eine Geschichte müsse groß sein und atemberaubend, um nicht vergessen zu werden. Aber sie bedenken nicht, dass Gefühle viel länger leben als Gedanken. Wer könnte je eine Geschichte vergessen, die zum Lachen brachte, oder zum Weinen? Die uns Schauer über den Rücken jagt und uns dazu bringt, vor Aufregung an unseren Nägeln zu kauen? Nein, glaubt mir ruhig, ich habe viel Erfahrung mit diesen Dingen – Gefühle sind es, die eine Geschichte wirklich unvergesslich machen.

Huch, was ist denn das? Vor langer, langer Zeit, in einem fernen, fernen Land... aber die kennen wir doch schon? Weg mit dir! Los, troll dich! Was für ein aufdringlicher Anfang...

Wie? Im Kreis? Aber nein, nur keine Sorge, nur keine Sorge. Ich kenne die Nebel gut. Vertraut mir ruhig, ich werde Euch sicher hindurch führen. Wir finden Eure Geschichte, das verspreche ich Euch.

Da, das könnte sie sein... oh nein, diese Geschichte hat ja sogar schon einen Epilog. Ihr sucht einen Anfang, habe ich Recht? Nein, dann kann dies nicht Eure Geschichte sein.

Hm? Beendet? Oh nein, nein, das ist ein häufig gemachter Fehler, mein Freund. Ein Epilog bedeutet keineswegs, dass eine Geschichte beendet ist. Ganz im Gegenteil. Ein Epilog, das ist nichts anderes als eine Möglichkeit für die Geschichte zu sagen: Seht, hier beende ich meine Erzählung. Jetzt seid Ihr an der Reihe, mir zu berichten, wie es weitergeht.

Geschichten können ewig leben, wenn man sie nur lässt, müsst Ihr wissen. Ihre Lebensspanne ist lang, deutlich länger als sie ihrer Erzähler. Sie wandern von einem Mund zum nächsten, springen von einem Ohr zum anderen und mit jeder neuen Erzählung wird die Geschichte ein wenig jünger.

Ob Geschichten auch sterben können? Nun, das passiert sehr, sehr selten. Doch ja, hin und wieder kann es vorkommen. Ihr müsst wissen, für Geschichten ist es essentiell, gekannt zu werden. Das erzählen macht sie jünger, werden sie nicht erzählt, werden sie vergessen und versinken in den Nebeln. Doch Geschichten, die sterben, werden nicht einfach vergessen. Sie zerfallen, zerbröckeln und zerrieseln wie trockener Sand... und am Ende sind sie selbst nicht mehr als Nebel. Aber wie ich sagte, geschieht dies nur selten. Denn Geschichten sind hartnäckig. Sie wollen leben. Und sie wollen gefunden werden...

Oh je, wie die Zeit verrinnt. Da haben wir uns so lange unterhalten, dass wir schon wieder am Anfang angekommen sind. Wie peinlich... aber immerhin haben wir ein nettes Gespräch geführt. Ich liebe es, mich zu unterhalten... vielleicht kommt Ihr ja ein andermal wieder und wir führen unser Gespräch fort? Ihr seid so ein angenehmer Begleiter. Ich würde mich sehr freuen, wenn Ihr wieder kämt.

Wie? Wer ich denn eigentlich bin, wollt Ihr wissen? Habt Ihr es denn noch nicht erraten?

Ich bin der Anfang Eurer Geschichte...