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Abstrakte Vorstellungen

200
17.08.18 19:06
12 Ab 12 Jahren
Fertiggestellt

Im Zimmer war es recht dunkel. Die einzige Lichtquelle stellte eine bereits etwas in die Jahre gekommene Lampe dar. Doch es genügte, um zu lesen. Dafür war es hell genug.
Hans hatte es sich im Wohnzimmer in seinem Lieblingssessel bequem gemacht. Er verbrachte auch diesen Nachmittag, diesen überaus trüben Tag (es regnete draußen, absolut scheußliches Wetter) mit der Beschäftigung, der er immer nachging. Der ausgiebigen Lektüre eines seiner Lieblingswerke. Als überaus romantischer Mensch hatte er eine besondere Vorliebe für Liebesgeschichten. Im klassischen Stil sollten sie gehalten sein. Keine übertriebenen und überladenen Melodramen. Schnörkellos und das Herz ansprechend. Das musste es sein! Waren diese Voraussetzungen erfüllt, las er alles, was er in die Finger bekam. Von Goethe, Schiller und Shakespeare war alles dabei. Hans liebte die Bücher, genauso wie er die Liebe an sich liebte. Er pflegte beim Lesen stets einen Bleistift zur Hand zu haben, um damit seine Lieblingspassagen und schönsten Zitate zu unterstreichen, sodass er sie beim späteren Durchblättern schneller wiederfinden konnte. Die allerschönsten schrieb er gar auf Zettel, die er in ihrem gemeinsamen Schlafzimmer aufzuhängen gedachte.
"Was liest du da eigentlich?", fragte Maria, seine Frau. Sie saß ihm gegenüber, in ihrem Lieblingssessel und strickte. Eine Beschäftigung, der sie überaus gerne nachging.
"Mmmhh", machte Hans nur, ohne von dem Buch in seinen Händen aufzusehen, nervös am Ende des Bleistifts kauend.
"Ich habe dich gefragt, was du eigentlich die ganze Zeit liest."
"Immer unterschiedlich", gab er zurück.
Mit dieser Antwort gab Maria sich nicht zufrieden. "Und was liest du jetzt gerade? `Immer unterschiedlich´? Ist das der Titel des Buches?"
"Nein, was redest du für einen Schwachsinn", sagte er, jetzt sichtlich gereizt. "Ich lese Shakespeare! Von dem wirst du doch wohl gehört haben!"
"Ich verstehe nichts von Literatur."
"Ich bitte dich!"
"Doch von Shakespeare habe sogar ich schon gehört."
"Willst du dafür einen Orden haben?"
"Du bist zynisch!"
Darauf entgegnete Hans nichts mehr. Er bevorzugte es, sich wieder in seine Lektüre zu vertiefen. Die stellte wenigstens keine dummen Fragen. Aus den Augenwinkeln nahm er jedoch wahr, dass seine Frau den roten Pullover, an dem sie arbeitete, beiseite gelegt hatte. Nun sah sie ihn aufmerksam an. Er versuchte sich nicht daran zu stören, doch es gelang ihm nicht, seine Konzentration aufrecht zu halten. Schließlich musste er sich doch zu Wort melden: "Du machst mich nervös!"
"Irgendwo muss ich hingucken", meinte sie und verzog dabei keine Miene.
"Dann guck bitte woanders hin. Schau doch lieber aus dem Fenster, nicht mir ins Gesicht."
"Du bist doch das Fenster. Das Fenster zu meiner Seele."
Jetzt sah Hans zum ersten Mal von seinem Buch auf. "Werd nicht sentimental", bat er.
Maria kam seiner Bitte nach, entgegnete nichts mehr und ließ ihren Blick in Richtung Fenster schweifen. Der Regen schien gar nicht nachzulassen. Die Welt dort draußen war in Dunkelheit gehüllt.
Hans dagegen war bald darauf wieder in seiner Lektüre vertieft. Endlich hatte er den Faden wiedergefunden.
Draußen blitzte und donnerte es. Das Wohnzimmer wurde immer wieder von dem kurzen Aufleuchten erhellt, das ebenso schnell wieder verschwand, wie es gekommen war.
Der Bleistift kam zum Einsatz. Er kratzte über das Papier. Hans hatte eine Textstelle gefunden, die ihm sehr imponierte.
Er schwärmte: "Ist das nicht schön? `Denn, wie sich selbst, so quält auch dich mein Herz.´ Ist das nicht schön?"
"Umwerfend", antwortete Maria mit nicht zu überhörender Ironie in der Stimme. Hans, dem dieser sarkastische Unterton natürlich nicht entgangen war, missfiel diese Äußerung seiner Frau sehr.
"Das ist große Kunst! Darüber macht man keine Witze!"
"Ich habe dir doch gesagt, dass ich von Literatur nichts verstehe!"
"Warum erlaubst du dir dann ein Urteil darüber? Bist du etwa ein Kritiker? Wer bist du eigentlich, dass du es wagst, dich über Shakespeare lustig zu machen?"
"Ich bin ja nur deine Frau."
Hans sah erneut auf und blickte in das verärgerte Gesicht seiner Frau. Er hielt kurz inne, als müsse er die eben erhaltene Information zunächst noch verarbeiten. "Stimmt", meinte er nur tonlos und las weiter. Maria starrte aus dem Fenster.
Draußen tobte ein wilder Orkan, Blätter flogen durch die Luft, das Heulen des Windes stimmte einen ganz melancholisch. Ja, ganz melancholisch.
Maria seufzte. "Was liest du da überhaupt?"
"Ist das dein Ernst? Das habe ich dir doch schon gesagt!"
"Shakespeare. Doch Shakespeare hat viel geschrieben. Ich meinte welches seiner Werke du gerade liest."
"`Romeo und Julia´."
"Du hast es also gerne romantisch?"
"Das weißt du doch. Wir sind doch schon seit 50 Jahren verheiratet!"
Sie nickte nur stumm. Es war wohl besser, ihren Mann nicht noch mehr zu reizen. Er machte ihr mehr als deutlich, dass er nicht an einer Konversation, einem verbalen Austausch von Gedankengut interessiert war. Dafür konnte sie ihn nach 50 Jahren der Ehe gut genug. Und bald waren es auch schon 51. Sehr bald schon.
Lange sagte keiner der beiden ein Wort, bis Hans aufgeregte Stimme die gespenstische Stille brach.
"Das gefällt mir! Ist das nicht schön? `Ach dass die Liebe, die so lieblich scheint, es doch so grausam und tyrannisch meint´."
Er blätterte weiter, seine Augen funkelten. "Oder das hier", meinte er wenige Minuten und nach einigem Blättern später. "`Der Narben lacht, wer Wunden nie gefühlt´. Ist das nicht schön?"
Hans schmunzelte, vermutlich über seine eigene kindliche Freude. Maria saß in ihrem Lieblingssessel. Teilnahmslos. Desinteressiert.
Er fuhr unbeirrt fort: "Wusstest du, dass Shakespeare im Jahre 1582 die 26-jährige Anne Hathaway heiratete, die bald darauf zwei Töchter und einen Sohn zur Welt brachte. `Romeo und Julia´, sein bestes Werk in meinen Augen entstand vermutlich 1595 oder 96. Wusstest du das schon?"
"Nein, das wusste ich nicht", gab Maria schließlich zu, was Hans nur mit einem Unverständnis ausdrückenden Kopfschütteln zur Kenntnis nahm.
"Was ich jedoch weiß, ist, dass morgen unser Hochzeitstag ist, Mr. Shakespeare."
Hans sah von seinem Buch auf. Das Funkeln in seinen Augen war erloschen. Maria blickte in ein vollkommen ausdrucksloses Gesicht.
"Welcher Tag ist denn morgen? Das Datum, meine ich", fragte er schließlich.
"Der 3. Oktober. Unser Hochzeitstag."
"Gut, dass du mich daran erinnerst."
"Gut, dass du mich daran erinnerst", wiederholte Maria fassungslos, entschied jedoch nichts mehr zu sagen. Hans war bald darauf wieder in seine Lektüre versunken. Draußen regnete und tobte es.
Nach einiger Zeit, die Maria wie eine Ewigkeit vorkam, stand Hans pötzlich auf. Erwartungsvoll sah sie ihn an und richtete sich in ihrem Lieblingssessel auf. Als er jedoch wortlos und ohne sie eines Blickes zu würdigen an ihr vorbeiging, sackte sie wieder zusammen, ließ enttäuscht den Kopf hängen und atmete tief durch.
Bald darauf kam Hans wieder. Er war in der Küche gewesen. In der rechten Hand hielt er eine bereits angefangene und schon fast aufgebrauchte Flasche Rotwein, in der linken ein Glas. Nur ein Glas. Nicht etwa zwei. Nur ein Glas.
Genüsslich nahm er Platz, schenkte sich den letzten Rest ein und trank das Glas mit einem Schluck leer. "Shakespeare und Rotwein. Was gibt es besseres", sagte er, mehr zu sich als zu seiner Frau.
"Du hättest mir auch was abgeben können", stellte diese entrüstet fest.
"Dann hättest du was sagen sollen", meinte er nur.
"Woher hätte ich denn wissen sollen, dass du in die Küche gehst, um den Rotwein zu holen? Kann ich etwa Gedanken lesen?"
"Jetzt bin ich aber enttäuscht von dir", sagte Hans. "Ich pflege bei einem guten Buch stets meinen Wein zu mir zu nehmen. Das mache ich doch immer so. Bekommst du eigentlich gar nichts mit? Du denkst immer nur an deine Strickerei. Immer beschäftigst du dich nur damit!"
Er wies auf den fast fertigen roten Pullover, der neben Maria auf der Kommode lag.
"Weißt du wofür der ist", begann sie, jetzt gar mit Tränen in den Augen und brüchiger Stimme. "Den wollte ich dir morgen schenken. Zum Hochzeitstag!"
"Jetzt werd nicht sentimental." Hans lehnte sich wieder in seinen Lieblingssessel zurück und nahm das Buch zur Hand.
Auf einmal erhob sich Maria und bäumte sich vor ihm auf. "Jetzt reicht es mir! Du legst das scheiß Buch weg und hörst mir verdammt nochmal zu", schrie sie ihren Mann an. Vollkommen überrascht von diesem Gefühlsausbruch, fiel Hans das Buch aus der Hand und mit vor Entsetzen geweiteten Augen blickte er seine Frau an. Draußen blitzte und tobte es.
"Ich bin verdammt deprimiert", klagte Maria, mit den Tränen kämpfend. Ihre Worte überschlugen sich fast. "Ich fühle mich schon gar nicht mehr richtig lebendig. In meinem Inneren befindet sich ein großes Nichts, eine absolute Leere. Jeden Morgen stehe ich auf und weiß nicht, wie ich den Tag überstehen soll. Ich fühle mich antriebslos, sehe keinen Sinn mehr in meinem Leben. Ich blicke wie als Außenstehender auf mich selbst. Ich sehe wie mein Leben mir in Windeseile davonläuft. Ich lebe gar nicht mehr. Von mir ist nur noch die Idee vorhanden, die Idee einer Maria Laurenz. Der Mensch Maria Laurenz ist nicht mehr lebendig. Mein Körper ist eine seelenlose Hülle. Das einzige, was von mir noch übrig ist, ist eine abstrakte Vorstellung. Und dich interessiert es einfach nicht. Dir ist einfach alles egal, du Unmensch! Du widerliches Etwas!"
Maria brach endgültig in hysterisches Schreien und Heulen aus. Sie stampfte auf den Boden, schlug wie wild um sich und jammerte über ihr doch so elendes Leben.
Hans wartete bis sie sich beruhigt hatte, was recht lange dauerte. Dann sagte er: "Vielleicht solltest du einen Therapeuten aufsuchen." Dann nahm er wieder das Buch zur Hand und suchte verzweifelt die Stelle, an der er stehen geblieben war. "Na klasse. Ganz toll", beschwerte er sich. "Jetzt weiß ich wegen dir nicht mehr, wo ich stehen geblieben war. Ich hoffe du bist jetzt zufrieden. Du...Unmensch."
Maria lief hochrot an vor Wut und ballte die Fäuste, sodass die Knöchel weiß wurden. Gerade als sie diese ihrem sogenannten Ehemann, mit dem sie unfassbare 50 (fast 51) Jahre verheiratet war, mit voller Wucht ins Gesicht schlagen wollte, wurde sie in ihrem Vorhaben von dem Klingeln an der Tür unterbrochen. Verwundert hielt sie inne und fragte sich, wer ihnen wohl einen Besuch abstatten würde, denn oft empfingen sie nicht Besucher. Zudem stellte sie fest, dass sich das Wetter mittlerweile beruhigt hatte. Zwar regnete es nach wie vor, jedoch hatte das Blitzen und Donnern aufgehört und auch der Orkan war spurlos verschwunden. Nur die draußen herumliegenden Trümmer erinnerten noch daran, dass er vor kurzem noch gewütet hatte. Da sie den Besucher, wer auch immer es war, nicht so lange im Regen stehen lassen wollte, eilte sie schnell zur Tür. Ihren Mann hatte sie bereits vergessen. Dieser schien von all dem nichts mitbekommen zu haben, denn er war schon wieder in seine Lektüre vertieft.
"`Um Hass gehts hier, doch mehr um Liebe noch. Zänkische Liebe, Liebe voller Hass, du alles aus dem nichts zu erst erschaffen. Oh schwere Leichtigkeit, oh ärmste Tendelei. Entstelltes Chaos, scheinbar wohlgeformt´", murmelte Hans.
Maria öffnete die Tür, um nachzusehen, wer dort draußen sehnsüchtig wartete. Es war ihr Sohn.

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