Die alten Knochen knirschen und ächzen und die Gelenke klagen bei jeder Bewegung. Die Leichtigkeit von einst ist lange dahin. Das Leben geht den Bach hinunter, alsbald man einmal ein gewisses Alter erreicht hat. Auch Johannes, einem fünfundachtzigjährigen Witwer, ergeht es so.
Soll der Tod doch kommen und mich holen, denkt er. In meinem Alter hat man sowieso nichts mehr zu verlieren. Mal abgesehen vom Leben, aber daran hänge ich ohnehin nicht mehr.
Nein, die Zeiten in denen Johannes sich des Lebens erfreute, gehören der Vergangenheit an. Alsbald man einmal ein gewisses Alter erreicht hat, beginnt das Leben einem, anstatt Dinge zu schenken, Dinge wegzunehmen, manchmal gar einstige Geschenke zurückzunehmen und einem zu entreißen. Daran ist Johannes gewöhnt.
So ist das Leben, denkt er, sentimental wie er ist und wird ganz melancholisch darüber.
So ein alter Sack wie ich, denkt er. Ist noch so melancholisch wie ein Teenager, der seinen ersten Liebeskummer überwinden muss.
"Alles kommt wieder", hatte seine Frau, Inge, früher immer gesagt. "Das Leben ist wie ein Rad, ein ewiger Kreislauf. Am Ende ist man immer wieder dort, wo man angefangen hat. Alles kommt wieder!"
Also kommt auch die jugendliche Melancholie am Ende des Lebens wieder, so schlussfolgert Johannes. Daraus schließt er wiederum, dass sein eigenes Ende naht, da die Schwermut nun schon so drückend auf ihm lastet.
Aus Staub entstehen wir, zu Staub werden wir, denkt er und kommt sich dabei vor wie ein frommer Pfarrer, der Beerdigungen von irgendwelchen Dorftrotteln beiwohnen muss und dabei ganz melancholisch wird, wollte er doch eigentlich Papst werden und dafür sogar von den Frauen die Finger gelassen hat, was er jetzt ebenfalls bereut, da er schon alt und faltig ist und die hübschen Mädchen nicht einmal mehr Notiz von ihm nehmen.
Dieser absurde Gedankengang endet damit, dass Johannes plötzlich Mitleid mit jedem Pfarrer empfindet, dem er jemals begegnet ist, vor allem der von Inges Beerdigung, da dieser besonders frustriert aussah. Armer Teufel!
"Nur geboren, um zu sterben", seufzt Johannes leise vor sich hin. "Wofür dann überhaupt hier?"
Nein, so kann es nicht weitergehen! Er darf nicht völlig in Selbstmitleid versinken! Der Therapeut hat immer vehement davon abgeraten. Es sei irgendwie schädlich für das Immunsystem. Wie auch immer. Johannes hatte ohnehin nie wirklich zugehört. Er konnte die dauerhaft grinsende Visage dieses Affen von Therapeuten nie leiden. Der hatte es ja auch einfach! War jung, verdiente gutes Geld und hatte eine hübsche Frau. Was will man noch mehr? Nein, so jemanden konnte Johannes nicht ernstnehmen!
Aber in Bezug auf das schädliche Selbstmitleid muss er ihm freilich, ausnahmsweise zustimmen.
Sei glücklich, Johannes. Sei glücklich, du gebrechlicher, alter Sack. Du wirst eh bald verrecken!, denkt er und redet sich ein, er sei glücklich, jedoch mit eher mäßigem Erfolg. Schwachsinnige Therapie!
Vielleicht sollte er doch lieber bei einem kalten Bier Fußball gucken. Hat früher zur Abwechslung schließlich auch immer funktioniert.
Als Johannes den Fernseher einschaltet und sich das Spiel ansieht, kommt ihm erneut ein Gedanke: Erstaunlich, dass einige Menschen ihren Lebenssinn darin sehen, wie ein Besessener einer Kugel hinterherzurennen. Interessant, interessant!
Doch wahrscheinlich findet man alles gut, wenn man jung und reich ist und findet seinen Lebenssinn sogar darin, zu diskutieren, ob der Ball nun im Aus war, oder nicht. Er, Johannes, erinnert sich nicht mehr daran, wie es früher war, früher, als er noch jung war. Es war schlichtweg zu lange her. Die Zeit rennt! Die Zeit, die Zeit, die Zeit. Welch subjektive Erscheinung sie doch ist! Ewig für den Jungen, zu kurz für den Alten. Quälend, wenn man wartet, flüchtig, wenn man glücklich ist, entsetzlich, wenn sie, ohne Vorankündigung, plötzlich weg ist. Die Zeit, die Zeit, die Zeit.
Ich spüre, wie meine abläuft, denkt Johannes und schaltet, von Neid erfüllt, den Fernseher wieder aus. Auch das Bier, von dem er nur einen Schluck getrunken hat, schiebt er beiseite. Die obligatorische Zigarette bleibt unangezündet.
Verkürzt meine Zeit nur, denkt Johannes und sein Magen zieht sich krampfhaft zusammen, beim Gedanken daran, wie viele Jahre seines Lebens er im Laufe seines Daseins wohl schon verraucht, versoffen und verfernsehgeschaut hat.
"Über schlimme Dinge darf man gar nicht erst nachdenken", hatte Inge immer gesagt. Doch machte es sie ungeschehen, wenn man sie ignorierte und so tat, als ob alles gut wäre? Wohl kaum! Dann doch lieber die Wahrheit erfahren und melancholisch sein. Was soll´s? Wir müssen eh alle sterben!
Warum hängen wir nur alle so an unserem Leben und lassen keinerlei Möglichkeit, selbiges künstlich in die Länge zu ziehen, ungenutzt?
Johannes erklärt sich dies mit dem Selbsterhaltungstrieb, der jedem Menschen zu eigen ist. Jedenfalls unter normalen Umständen. Doch kann die Antwort auf alles wirklich rational begreifbar gemacht werden? Anstatt, dass man einfach sein Leben genießt und es ohne Rücksicht auf Verluste auskostet! Freilich, auch das ist unserem armen Johannes nicht gelungen. Er hätte mehr wagen müssen, mehr ausprobieren, mehr handeln!
Und da ist es wieder, das gute, altbewährte Selbstmitleid! Johannes lässt es über sich ergehen, teils aus Gewohnheit und der damit einhergehenden Bequemlichkeit, teils aus Resignation, weil er sich damit abgefunden hat, in Reue und voller Bedauern zu sterben.
Ich werde jetzt in Reue und voller Bedauern sterben, denkt Johannes und erhebt sich langsam von seinem Sessel, nicht ohne entsetzliche Schmerzen im Kreuz zu verspüren und nicht ohne das laute Aufschreien seiner schwachen Gelenke zu vernehmen.
Auf seine Krücke gestützt, humpelt der altersschwache Mann in Richtung seines Schlafgemachs, um sich ins Bett zu legen und dort den Tod zu erwarten.
Doch kaum betritt er das Zimmer, so wird er gewahr, dass es sich jemand auf seinem Bett gemütlich gemacht hat. Eine nicht zu identifizierende Gestalt, welche in einen schwarzen Kapuzenumhang gehüllt ist und neben dem Bett eine Sense liegen hat. Johannes, obgleich er nicht ganz unerstaunt ist, macht sich doch nichts aus diesem überraschenden Gast. Nein, aus dem Alter des Staunens ist er raus. Diese Zeit hat er überwunden.
"Was machst du hier?", fragt Johannes nur kurz angebunden und schließt mühsam die Tür hinter sich. Vielmehr als über den unangekündigten Besucher wundert er sich eher darüber, dass er heute seine Pillen noch nicht geschluckt hat, was ihm erst in diesem Moment einfällt.
Ich werde halt eben alt, denkt er. Da ist man nunmal vergesslicher als früher, als man noch jung war.
Früher, früher, früher. Wie schön das gewesen sein muss! Wie schön!
"Soll das ein Witz sein", entgegnet die unbekannte Gestalt, die sich jetzt im Bett aufrichtet. "Du hast doch gewollt, dass ich komme. Du warst es, der mich herbeigewünscht hat! Jetzt bin ich da! Jetzt setz dich gefälligst auch mit mir auseinander! Mensch, wie undankbar ihr alle seid!"
Johannes versteht plötzlich. "Dann musst du der Tod sein, richtig", erkundigt er sich vorsichtig.
"Verzeihung, wo sind meine Manieren geblieben", poltert die Gestalt auf einmal, erhebt sich schlagartig und reicht Johannes seine eiskalte Hand.
"Gestatten, Gevatter Tod!"
"Gestatten, Johannes!"
"Aber das weiß ich doch, mein alter Freund. Komm, wir setzen uns."
Johannes nimmt direkt nebem dem Tod auf der Bettkante Platz. Seine müden Beine erfreuen sich der sofort einsetzenden Entspannung. Kurz überlegt er, ob er dem Tod etwas zu trinken anbieten solle oder zumindest eine Zigarette, da er irgendwie das Gefühl hatte, dass dieser gerne rauche. Letztendlich lässt er es dann doch sein und fragt nicht.
"Komisch", meint er stattdessen, als er sein Gegenüber eine Zeit lang schweigend beobachtet hatte. "Du siehst genauso aus, wie ich es mir vorgestellt habe. Gesichtslos, mit schwarzem Umhang und da hinten liegt deine Sense."
Der Tod lacht über diese Aussage, wie ein Erwachsener über eine scheinbar dumme Feststellung eines Kleinkindes lachen würde.
"Aber natürlich, Johannes! Was hast du denn gedacht? Ich sehe für jeden Menschen genau so aus, wie er sich mich vorstellt. Und doch ist meine Gestalt wandelbar. Immer gleich und doch anders, du verstehst?"
"Nein."
Der Tod richtet seinen gesichtslosen Schädel direkt in Johannes Richtung und fährt fort: "Manchen Menschen erscheine ich als Waage. Andere nehmen mich als Sensemann wahr, so wie du. Für manch anderen bin ich sogar Gott oder zuweilen gar ein Rabe oder eine Taube. Kommt ganz darauf an. Ich bin, was immer der Mensch in mir sieht, welche Vorstellung er von mir hat oder welche Funktion ich für ihn übernehme. Verstehst du mich jetzt besser?"
Johannes nickt und spürt dabei, wie seine Halswirbel schmerzhaft aneinanderreiben.
"Tod, darf ich dir eine Frage stellen?", sagt Johannes.
"Nur zu. Ich gehöre für den Augenblick nur dir!", erfolgt prompt die Antwort.
Johannes kratzt sich fragend am Kopf, überlegend, ob er die Frage wirklich stellen sollte. Könnte er mit der Antwort, wie auch immer diese ausfiele, leben? Egal! Er hatte ohnehin nichts zu verlieren, jetzt, wo er buchstäblich dem Tod ins Auge blickt. Auch wenn der Tod kein Auge besitzt, er hat schließlich kein Gesicht, aber sei´s drum.
"Wie geht es Inge, meiner Frau? Wo ist sie gerade?"
Der Tod neigt seinen Kopf zur Seite, wie Erwachsene es tun, wenn sie ihre Kinder belehren. Mit ernster Stimme beginnt er: "Also wirklich, Johannes. Denkst du etwa, ich bin allwissend? Jeden Tag besuche ich so viele Menschen. Du glaubst doch nicht, dass ich mir jedes Einzelschicksal in Erinnerung behalte. Das käme ja einer regelrechten Überforderung gleich. Hälst du mich etwa für einen Spießer?"
"Nein, nein", rudert Johannes zurück, der feststellt, dass er ins Fettnäpfchen getreten ist.
Der Tod fährt fort: "Wie auch immer du von mir denkst, Johannes, eines musst du wissen: Ich bin nicht voreingenommen! Ich bin fair und behandle alle Menschen gleich."
"Fair? Fair?", stößt Johannes empört hervor und muss sich zusammenreißen, nicht in einen Hustenanfall auszubrechen. "Kleine Kinder zu stehlen und alte Frauen und Männer so lange leiden zu lassen, das empfindest du als fair? Ich glaube bezüglich der Weltanschauung liegen wir meilenweit auseinander!"
Der Tod setzt dem entgegen: "Menschen nicht unterschiedlich zu behandeln, die Reichen nicht zu bevorzugen, die Armen nicht zu benachteiligen, keinen Unterschied zwischen Mann und Frau, alt und jung vorzunehmen, Minderheiten und Angehörigen aller Nationen gleichermaßen zur Verfügung zu stehen und auch Dumme und Kluge gleichermaßen zu ereilen, hälst du das für gerecht?"
"Natürlich, aber", setzt Johannes zur Rechtfertigung an, wird jedoch unterbrochen.
"Na also. Überdenke vor diesem Hintergrund bitte deine Kritik!"
Johannes muss schlucken. Dieser Schlag ist hart zu verarbeiten. Resigniert stimmt er zu und sieht beschämt zu Boden, doch der Tod klopft ihm aufmunternd auf die Schultern, bis Johannes das Kreuz schmerzt.
"Mach dir keine Sorgen, alter Freund. Ich nehme das nicht persönlich. Weißt du, die Menschen brauchen immer eine Zeit lang, um mich kennenzulernen, um mich richtig zu verstehen. Ich bin nunmal nicht leicht im Umgang. Aber du bist auf einem guten Weg!"
"Sag mir Tod", beginnt Johannes, doch wird erneut unterbrochen.
"Nein, nein, keine weiteren Fragen. Alles, was du wissen musst, ist bereits in dir. Sinn und höhere Wahrheit findet der Einzelne nur für sich!"
"Bist du der Sinn", stellt Johannes entgegen der Anordnung doch noch seine Frage.
Der Tod lacht nur: "Ihr Menschen neigt dazu, mich überzubewerten. Nimm mich nicht zu ernst. So wichtig bin ich nämlich nicht!"
"Verstehe", murmelt Johannes vor sich hin. Vielleicht hatte er sich den Tod zuvor doch anders vorgestellt.
"Eigentlich bist du ziemlich nett", sagt Johannes.
"Ich bin nicht da, um gemocht oder gehasst zu werden", antwortet der Tod. "Ich bin einfach nur da! Außerdem interessiert es mich nicht, was ihr über mich denkt!"
Johannes stellt fest, wie überlegen ausgerechnet der Tod und niemand Geringeres hinsichtlich Lebensgestaltung ist. Tatsächlich hört er diesem ungewöhnlichen Gesprächspartner besser zu, als er jemals einem Therapeuten zugehört hat.
"Was starrst du mich so melancholisch an?", fährt der Tod ihn an.
"Ach, es ist so", seufzt Johannes. "Als intelligenter Mensch hat man es so schwierig in dieser Welt. Man nimmt eigenes und fremdes Leid viel intensiver wahr, als dass es für das eigene Wohlbefinden förderlich wäre. Man schafft es nicht einfach grundlos glücklich zu sein, wie all die anderen und sich an den simplen Dingen zu erfreuen."
Ihm kommt der Tod mittlerweile wie eine Art Vater vor, wie der Vater, den er sein ganzes Leben vermisst hat, wie der Vater, den er niemals kennengelernt hat.
Weise wie es nur eine solche Autoritätsperson sagen kann, spricht der Tod, indem er Johannes aufs Neue auf die Schulter klopft: "Mein lieber Freund, du nimmst nicht nur mich viel zu ernst, sondern auch dich selbst. Wie kannst du nur in Anbetracht deiner Unwissenheit beispielsweise in Bezug auf meine Wenigkeit, dich selbst als intelligent bezeichnen? Was weißt du schon, Johannes? Du verstehst nichts vom Leben und der Ewigkeit! Nichts! Deine Überheblichkeit ist völlig Fehl am Platz!"
Johannes kommen die Tränen, die sich schon länger in ihm aufgestaut haben und er weint leise.
"Wie?", ergreift der Tod erneut das Wort. "Du hast mich herbeigewünscht und jetzt wo ich da bin, bist du traurig darüber?"
"Wirst du mich mitnehmen?", fragt Johannes mit schwacher Stimme. "Eigentlich will ich noch gar nicht sterben."
Der Tod erhebt sich und greift zur Sense. "Geh zurück ins Wohnzimmer und schaue das Spiel zu Ende! Ist es das, was du willst?"
Johannes denkt einen Moment nach. "Ja, das brauche ich. Danach bin ich bereit."
Der Tod klopft ihm wieder auf die Schultern. "Na siehst du, mein Freund! Jetzt, wo du mich kennst, weißt du, dass du nichts zu befürchten hast."
Der Tod tritt ein paar Schritte zurück und er verschwindet zurück in das Nichts, aus dem er gekommen ist. Nur noch seine klare, deutliche Stimme ist zu vernehmen:
"Ich komme dann später nochmal!"
"Beim nächsten Mal bitte als hübsche Frau", ruft Johannes zurück, doch erhält keine Antwort mehr. Es herrscht völlige Stille. Am besten nackt, denkt Johannes und stellt sich den Tod bildhaft als nackte Frau vor. Über diesen Gedanken muss er so heftig lachen, dass er völlig rot anläuft und das Gelächter in einem Hustenanfall endet. Doch er fühlt sich großartig, wie ein alberner Teenager. Johannes ist endlich wieder jung! Johannes weiß endlich wieder, wie es ist, wie es sich anfühlt, schön und jung zu sein! Im Anschluss geht er langsam zurück ins Wohnzimmer, schaut sich die letzten Minuten des Spiels an, während er sein Bier fertig trinkt und genüsslich eine Zigarette raucht. Daraufhin lässt er sich in seinen gemütlichen Sessel entspannt zurücksinken und erwartet seinen guten alten Freund.
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