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Morgen wird die Sonne scheinen

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30.09.18 21:34
12 Ab 12 Jahren
Fertiggestellt

1. Ein Gewitter

Das ferne Grollen kam näher. Über den Himmel zogen die zerfetzten Sturmwolken. Es roch nach Gewitter durchsetzt mit Tang und Lavendel. Die Möwen schrien, dass es bald regnen würde. Ich lag auf den rotweißen Streifen der alten Gartenliege und starrte in den Himmel. Ein Moment eingehüllt in watteweiche Idylle. Ich fühlte mich ganz allein auf der Welt.

Der alte Stoff scheuerte an meinem Rücken, wenn ich mich bewegte. An den Enden lösten sich die Fäden, einer nach dem anderen, um sich zu befreien. Langsam, aber sicher zerstörte die Liege sich selber. Die rostigen Scharniere protestierten, wenn man sie zusammenklappen wollte, jedes Mal könnte das letzte sein. Eine Frage der Zeit. Die gute alte Liege. Viele Sommer hatten wir zusammen verbracht, dort im Garten, im Schatten des Hauses, mit dem Meeresrauschen im Ohr. Am Anfang, es schien mir Jahrhunderte her zu sein, war sie viel größer gewesen. Ich hatte auf dem Schoß meines Vaters gesessen. Inzwischen hingen meine Füße in der Luft.

Die Spätsommerstimmung kroch an jenem Tag aus ihren Verstecken hervor, aus Friesenwall und Dachrinne, aus dem Bootsschuppen und dem halboffenen Küchenfenster; sie lugte um die Ecke, vorsichtig, es war ja noch August, der Sommer war kurz und heiß gewesen.
Dieses ganz bestimmte Licht, das durch die Wolken scheint, bevor der Himmel explodiert, das zwischen den schmalsten Rissen in der Decke bricht, erleuchtete die sich im Wind biegenden Sanddornsträucher. Die Ruhe vor dem Sturm. Die Ruhe vor dem Gewitter. Irgendwo zwischen Sein und Nichtsein, zwischen Gedeih und Verderb. Ein wenig verloren in den nicht mehr klar definierten Grenzen der Umgebung. Alles schwamm, alles verschwamm und lief ineinander über. Als hätte man Wasser über das Aquarellgemälde des frühen Abends geschüttet. Wo war ich? War ich noch? Diese Art philosophische Fragen kamen mir immer in den Sinn, wenn ein Gewitter aufzog. Was, wenn der Blitz einschlagen würde und ich nicht überlebte. Menschen starben bei Gewittern. Dabei waren sie so schön. Es grollte wieder. Lauter. Über dem Festland zuckten vielleicht schon die Blitze.

Auf meinem Schoß lag die uralte Ausgabe von Hasenclevers „Sohn“, den ich Kasimir für die Uni rausgekramt hatte. Ich konnte mich nicht erinnern, das Buch gelesen zu haben, aber das hieß ja nichts mehr. Wer erinnerte sich schon an alle Bücher, die er gelesen hatte. Mit Mühe und Not konnte ich noch meine Schullektüre aufzählen. Kafka, Lessing, Goethe, Storm, Mann. Fontane? Vielleicht. Da ging es los. Das Vergessen. Besonders gut gefallen hatte mir nur der Schimmelreiter. Die Zerstörungswut des Meeres. Das war etwas Vertrautes. Der Tod im Wasser. Das kannte ich. Das passierte wirklich. So hatte ich meinen Vater verloren. Und seine Liege übernommen. Als ich mich das erste Mal alleine daraufgesetzt hatte, da war mir der Verlust unerträglich vorgekommen. Der raue Stoff grausam auf meiner Haut. Lange her war das. Lange her.

„Du solltest dir wirklich etwas anziehen. Oder reinkommen. Besser reinkommen.“ Ich hatte Kasimir nicht kommen hören. Er stand plötzlich neben mir, die Arme vor der Brust verschränkt, und starrte hinunter, über die Heckenrosen hinweg, aufs Meer. Eine ganze Weile blieb er dort stehen und sah mich nicht an. Ich betrachtete ihn, schräg von unten. Er hatte sich wohl am Morgen beim Rasieren geschnitten, ihm klebte ein wenig Blut am Kinn. Ein hübscher Junge war er. Hübsch, aber mürrisch. Seinem Vater sehr ähnlich. Äußerlich jedenfalls. Die dunklen Haare, die hellen Augen. Die waren von ihm. Das Mürrische hatte er aber von mir. Sein Vater war nie mürrisch gewesen. Der hatte nur zwei Gemütszustände gekannt: Fröhlich und wütend. Meistens war er fröhlich, seltener wütend gewesen. Aber wenn er wütend war, dann war es gewaltig. Furchteinflößend. Ein kalter Schauer lief über meinen Körper. Die Erinnerung, die ließ sich nicht verbannen, nein, die nicht. Faust, die Verwandlung, der Tod in Venedig waren aus meinem Kopf verschwunden, obwohl ich sie gerne bewahrt hätte. Die Wut, der Schmerz, die Verzweiflung blieben. Hatten sich unbemerkt so tief in mein Herz gebohrt, dass sie mein Leben lang nicht mehr von mir weichen würden. So viel Gewissheit jedenfalls dachte ich zu haben.

Am Himmel verdichteten sich die Wolkenfetzen zu einer festen Decke. Die Luft war inzwischen grauenhaft schwül geworden. Wenn ich die Augen schloss, konnte ich mir vorstellen, dass sie mich niederdrückte und ich nicht eher wieder aufstehen könnte, als dass das Gewitter die Luft entlud.

„Ist heute eigentlich die Post gekommen?“
Als hätte der Stoß einer Böe mich erinnert, dachte ich an die Rechnung, die wohl aus der Stadt nachgeschickt werden würde.
„Nein.“ Eine kurze Pause. „Komm jetzt rein, Mama, du holst dir den Tod.“ Immer noch sah er mich nicht an.
„Kasimir?“
„Komm jetzt.“
Ich hörte ihn wieder ins Haus gehen. Sanft spürte ich die ersten Tropfen auf meiner Stirn, auf meinen Beinen. Ich seufzte leise. Die Liege ließ ich im Regen stehen. Als ich reinkam, hielt Kasimir mir meinen Bademantel hin.



Dann saßen wir am Fenster und starrten hinaus. Laut und lauter schlugen die Tropfen gegen die Scheibe. Draußen schmiss der Wind die Liege um und zerrte an den Sanddornbüschen. Hinter uns brauste der Wasserkocher. Ich goss eine Kanne Tee auf. Dazu schlug in Nachbars Garten das Seil an die Fahnenstange. Ein beruhigendes Klangkonzert. So vertraut, so gleich wie die Gewitter am Meer immer waren. Kurz und heftig. Am nächsten Morgen würde es schön sein. Die Sonne würde scheinen.

Kasimir war sehr schweigsam. Er umfasste die heiße Tasse mit beiden Händen und schien sich dabei nicht zu verbrennen. Ich dachte daran, dass er früher keinen Fencheltee gemocht hatte. Überhaupt keinen Fenchel. Oder Rosenkohl. Ein trauriger Moment war das beinahe, wenn das kleine Kind plötzlich Fenchel und Rosenkohl und Pastinaken aß ohne zu murren. Verlust der Unschuld. Die Schuld durch Fenchel und Kohl.

„Sind die Fenster oben alle zu?“
„Ja, natürlich“, sagte er und sah nicht zu mir. Ich wollte erst nach seiner Hand greifen, sie halten, ihn einfach berühren, meinen einzigen Sohn, aber ich traute mich nicht. Er schien so weit entfernt, als könnte ich ihn mit meinen kurzen Armen gar nicht erreichen. Wirklich kein bisschen wie sein Vater. Der konnte nur Liebesschwüre oder Beleidigungen. Er konnte niemals schweigen. Niemals stillsitzen. Nicht dem Gewitter zusehen, wie es sich über der Bucht entlud. Er hätte den Fernseher angemacht und wäre dann doch wieder aufgestanden, um durchs Zimmer zu gehen, Dinge zu verrücken. Aber es war lange her, dass er in diesem Haus gewesen war. Sehr lange. Gut so, dachte ich. Gut so.

Draußen kam ein neues Geräusch hinzu. Schlagend, wie Holz auf Holz. Das war nicht mehr der Fahnenmast. Eher eine Tür. Kasimir sprang auf.
„Der Schuppen“, sagte er nur und ich dachte, gut, dass er überhaupt mit mir sprach.

Ich sah ihm dabei zu, wie er im Regenmantel über den Hof zum Schuppen stapfte. Eine große, dunkle Gestalt, an der der Wind heftig zerrte. Inzwischen war es fast nachtfinster. Die Lampe an der Haustür leuchtete wohl, aber ihr Schein wurde fast völlig vom Sturm verschluckt. Als einziges Licht drang noch der Kegel vom Leuchtturm zu uns durch. Sonst zuckten nur noch die Blitze, allerdings sehr regelmäßig, in Einklang mit dem Donner. Lautes Dröhnen. Im grellen Schein sah ich Kasimir mit der Tür kämpfen. Die Stärke, die war auch vom Vater. Ich war klein und schwach, immer gewesen, immer geblieben. Ich erinnerte mich an die Hoffnung zu wachsen, aber sie war schwach, ganz schwach. Tief hineingeschoben in die unübersichtlichen Windungen meines Gedächtnisses. Vielleicht blockierte sie den Weg für Faust.

Früher hatte Kasimir Herbststürme geliebt. Sein Vater und er hatten sich die Regenmäntel angezogen und waren durch den Garten gerannt und hatten Eimer unter alle Regenrinnen gestellt, um das Wasser aufzubewahren – „Für umsonst, Mama!“, hatte er dann strahlend am nächsten Morgen verkündet. Eine Weile lang hatte ich mir das angesehen, bis ich es nicht mehr ertragen konnte. Hinter dem Haus stand damals noch eine alte, hohe Kiefer, um die ich mich bei jedem Sturm sorgte. Den Blitzableiter nannte Müntzer den Baum und bot sich an, ihn zu fällen. Aber Kasimir hatte immer entsetzt den Kopf geschüttelt und sich schützend vor den Blitzableiter gestellt. Also hatte ich bei jedem Sturm wieder beängstigt auf den krachenden, ächzenden Stamm gestarrt, wie er sich im Wind hin und her bog und dann war ich auf die Terrasse raus und hatte solange in die Dunkelheit geschrien, bis die Jungs wieder reinkamen.
„Kommt rein, sonst holt ihr euch noch den Tod, verdammt!“

Und dann hatte Kasimirs Vater den Kamin angezündet und wir hatten uns drumherum gesetzt und ich hatte aus Tom Sawyer vorgelesen.
An all das musste ich denken, während Kasimir draußen mit der Schuppentür kämpfte, die nur schwer zu verschließen war – der Riegel klemmte seit Jahren, seit Ewigkeiten. Gleichmäßig trommelten die Regentropfen gegen die Fensterscheibe. Ich nahm einen Schluck Tee und spürte der Wärme nach, die meinen Körper in Besitz nahm. Tock, tock, tock, tock, tock, machten die Tropfen. Tock, tock. Ich musste blinzeln. Es schien draußen noch dunkler zu werden. Aber ja, es sah aus, als käme Kasimir wieder zurück. Die Tür war wohl zugegangen. Gut, dass er das konnte. Ich hatte die Mechanik nie verstanden und sein Vater war ja nicht mehr da. Tock, tock, tock.
Ich hörte ein Kaminfeuer knistern, dann fielen mir die Augen zu.

2. Ein Toter

Als ich aufwachte, schien die Sonne hell und warm in die Küche herein. Im Regal glitzerten die Gläser. Durch das halb geöffnete Fenster kam ab und an ein Windstoß.

Ich wollte mich strecken, aber meine linke Schulter, mit der ich auf der Lehne gelegen hatte, protestierte. In meinem Alter sollte man nicht mehr auf Holzstühlen einschlafen. Auch nicht auf diesen edlen Stühlen, die wir für die Küche angeschafft hatten. Schnäppchen waren sie gewesen. Aber zum Schlafen doch nicht geeignet.

Mühsam raffte ich mich auf und stolperte über die Teekanne, die auf dem Boden gestanden hatte und jetzt lag, auf dem Weg zum Kaffeeautomaten. Noch so ein Schnäppchen. Tolles Teil, hatte der Verkäufer gesagt. Tolles Teil. Nur musste man es alle drei Tage entkalken. Ich drehte den Regler auf stark.

Von draußen waren Stimmen zu hören. Müntzer von nebenan lehnt am Gartenzaun und sprach mit Kasimir, der Wäsche an die Spinne klammerte. Der nasse Rasen glitzerte noch schöner als die Gläser.

Ich nahm die Kaffeetasse mit und zog den Bademantel wieder fest, ehe ich auf die Terrasse hinaustrat.

„Sie haben einen Toten gefunden, unten am Strand“, sagte Müntzer.
„Wie – einen Toten?“ Kasimir ließ die Unterhose sinken, die er in der Hand hielt.
„Na, einen toten Mann. Mit ‘nem Loch im Kopf.“
„Einen von hier?“
„Nee, glaube nicht. Den kennt wohl keiner.“
„Ungewöhnlich. Ein Tourist?“
„Nun, die Saison ist noch nicht vorbei – Oh, guten Morgen, Frau Morgenstern. Haben Sie gut geschlafen?“ Müntzer bestand seit dem ersten Tag darauf uns zu siezen. Stadtvolk täte das ja wohl so.

Ich nahm einen großen Schluck, der mir sofort Mund und Kehle verbrannte.
„Guten Morgen, Müntzer. Wie geht es Fanny?“
Müntzer presste die Lippen zusammen und wog den Kopf hin und her. Das sollte wohl „Geht so“ heißen. Nun denn.
„Was erzählst du hier nur für dramatische Geschichten? Ein Toter?“ Ich warf einen Blick in Richtung Meer, also ob ich dort etwas erkennen könnte. Dabei war der Strand gar nicht einzusehen. Aber vielleicht hatte ich ja auf ein Polizeiauto am Straßenrand oder rotweißes Absperrband gehofft. Jedenfalls wurde ich enttäuscht. Das Meer lag ruhig, wie immer nach einem Gewitter, ein paar Möwen zogen ihre Kreise. Das Wetter war herrlich.

„Es stimmt. Der Carlsen, der hat die Wagen stehen sehen, mit dem Blaulicht, Sie wissen schon. Und da hat er natürlich gefragt, was denn los wäre.“
Natürlich hat er das, dachte ich. Carlsen war unerträglich neugierig und penetrant. Auf eine sehr, sehr unangenehme Art und Weise.
„Na und da haben die es ihm gesagt. Dass sie eine Leiche gefunden haben und dann haben die ihn noch gefragt, ob er was gesehen hätte. Hatte er aber leider nicht.“ Müntzer nieste.
Ich dachte, dass ihn das bestimmt sehr gewurmt hatte. Auch, dass er nun nicht wusste, wer es war. Aber merkwürdig war es schon.

Kasimir klammerte die Unterhose an die Leine. Er sah nachdenklich aus. Oder war es das? Vielleicht war er auch bloß müde. Ob er wohl geschlafen hatte? Ich wusste, dass er das oft nicht tat. Dass er ganze Nächte wach blieb. Spazieren ging, unten am Strand. Oder einfach durch das Haus. Vorsichtig nur, behutsam tat er das. Aber obgleich er das Haus so gut kannte, ab und an trat auch er auf eines der knarrenden Bretter. Und die Eingangstür quietschte neuerdings auch. Ach ja, dachte ich. Öl. Ich wollte doch in die Stadt.

„Ich werde mal wieder rüber, muss dringend Rasen mähen.“ Müntzer deutete auf den Boden. „Vielleicht sollten Sie das auch mal wieder tun.“ Zum Abschied tippte er sich an seinen Elbsegler.

Ich folgte seinem Blick. Da sah ich das Buch. Es lag zu meinen Füßen im zu hohen Gras, der Zaun hatte es wohl abgefangen. Ich hob es auf. Nass war es natürlich, ganz und gar durchgeweicht, verbogen und zerknickt. Ich versuchte die Seiten wieder zu glätten, um es schließen zu können, aber ich hatte keinen Erfolg. Der Anblick des zerstörten Buches erschien mir da plötzlich fast unerträglich. Grauenhaft. Brutal. Wie hatte ich es nur im Regen liegen lassen können? Ich hatte es einfach vergessen. Und weil ich es vergessen hatte, war es gestorben. Ja, so fühlte ich. Als wäre das Buch gestorben. Ein erdrückendes Unwohlsein, das Gefühl der Schuld, legte sich über mich und ich eilte ins Haus zurück, wo ich die Buchleiche wider besseren Wissens auf die Heizung im Flur legte. So hatte ich sie zumindest aus den Augen.

Gerade als ich die Kaffeetasse wieder auffüllen wollte, dröhnte draußen ein Motor los und es klingelte das Telefon.
„Morgenstern.“ Ich klang vielleicht ein wenig unwirsch. Zu so früher Stunde aber noch legitim.
„Guten Morgen, Frau Morgenstern. Ich hoffe, ich störe Sie nicht. Mein Name ist Grau, Kriminalpolizei. Ich muss sie bitten, umgehend bei uns vorbeizukommen.“



Die Wache war am anderen Ende der Insel. Über die Hauptstraße fuhr auch ein Bus, aber am Sonntag nur zweimal. Morgens und abends. Den Morgenbus hatte ich schon verpasst. Kasimir war mit dem Auto verschwunden (Ich hatte vergessen ihm zu sagen, dass er Öl für die Angeln mitbringen sollte). Es blieb mir der Weg über den Strand. Schön bei solchem Wetter. Unangenehm, wenn man nicht wusste, warum man geht. Die Polizei hielt selten gute Nachricht bereit.

Das Unwohlsein schloss sich mit erneut um mich, intensiver noch. Ich überlegte, was passiert sein könnte. Kasimir, war mein erster Gedanke. Aber der war nur einkaufen gefahren. Eier und Milch. Auf der Inselstraße konnte man nicht verunglücken. Sie war schnurgerade, es fuhren kaum Autos. Kasimir war ein guter Fahrer. Ruhig und besonnen. Er hatte nie Ärger gemacht. Ich war eine sehr stolze Mutter gewesen. War es immer noch. Würde es immer sein. Stolz auf meinen mürrischen Sohn, der nicht sein Vater war, auch wenn er so aussah. Mein erster Vertrauter. Kitschig, hätte er gesagt, wenn ich ihm das erzählt hatte, was ich dachte. Dann hätte ich gelacht. Ja, ich lachte auch. Leise nur, aber mir schien, das Meer lachte mit mir. Welch kitschige Vorstellung. Aber es klang so, das Glucksen der Wellen an den Buhnen.
Der Sand war noch klamm, ich zog trotzdem die Schuhe aus. In Schuhen über den Strand zu laufen, das erschien mir Frevel am Meer zu sein. Frevel an der Freiheit, der Insel. Außerdem schien die Sonne ja warm, mir war nicht kalt, ich trug nur eine Bluse. Ich hätte so fröhlich sein können, hätte die Ungewissheit mich nicht umklammert.

Auf dem ganzen weiten Sand traf ich nur zwei Leute. Eine Mutter mit ihrem kleinen Sohn. Wie passend. Sie bauten eine Sandburg, die nicht so recht zusammenhalten wollte. Ich lächelte ihnen zu. Wahrscheinlich Touristen, die die Ruhe der Nachsaison schätzten. Ob wohl der Vater des Kindes auch hier war? Vielleicht war er am Morgen noch im Haus geblieben, um die Zeitung zu lesen. Der Junge lachte vergnügt über sein instabiles Bauwerk. Vielleicht gab es keinen Vater.

Manche Kinder haben nur eine Mama. Oder nur einen Papa. Das hatte ich Kasimir erklären müssen, als er einmal verwirrt aus dem Kindergarten zurückkam. Oder eben zwei Mamas oder zwei Papas. Es gibt ja viele Möglichkeiten.
Kasimir hatte kurz überlegt, dann eifrig genickt.
„Gut, dass wir Papa haben“, hatte er geantwortet. „Wer würde sonst die ganzen Reste essen?“

Vielleicht, dachte ich und hier überkam mich kurz die Bitterkeit, ist es besser für dich, Junge, wenn du keinen Vater hast. Dann kann er euch auch nichts antun.
Die Mutter lächelte zurück. Ich nickte ihr zu. Vielleicht, ja, vielleicht.



„Frau Morgenstern.“ Hauptkommissar Günther Mann hielt mir seine rote, prankenartige Hand hin. Wir kannten uns. Keine Bekanntschaft, die besonders schöne Erinnerungen weckte. Am liebsten hätte ich die Augen vor der Pranke verschlossen, aber ich ergriff sie – tapfer, wie ich fand.
„Herr Hauptkommissar.“

Wir setzten uns, jeder auf die vorgesehene Seite des dünnen Spanplattentisches, der sich unter der Last dutzender Aktenordner und halbleerer Kaffeetassen Richtung Teppichboden bog.

Hauptkommissar Mann faltete umständlich seine Pranken ineinander und kaute anscheinend unangenehm berührt auf seiner Unterlippe herum. Es sah grotesk aus. Ein nervöser Bergtroll, der seinen massigen Leib auf dem billigen Bürostuhl hin und her schob.

„Frau Morgenstern. Heute Morgen wurde am Strand, beim Kiosk, hinter dem Steg, sie wissen schon – also, wir haben einen Toten gefunden.“
Ich nickte und umklammerte fest die Stuhllehnen, um wie ich hoffte, auf alles gefasst zu sein.
„Ja, ja, das hat mir mein Nachbar schon erzählt, vorhin.“
„Carlsen?“
„Frank Müntzer. Der Sohn von Fanny Müntzer.“
„Ah – Fannys Teestube?“
„Ja, genau.“ Ich versuchte überall hinzusehen, aber nicht in die Augen des Hauptkommissars. „Er sagte auch, wahrscheinlich ein Tourist.“ Also warum haben Sie mich herbestellt, fügte ich stumm hinzu, stumm aus Angst, meine Stimme könnte zittern. In der Polizeistation war ich nervös, immer nervös. Ich kannte keine Touristen.

„Nun, da war Herr Müntzer leider falsch informiert.“ Kommissar Mann machte eine Pause und ordnete seine Finger neu. „Es ist sogar im Gegenteil jemand, den wir alle sehr gut kennen.“
Ich meinte im Augenwinkel zu erkennen, wie jemand an der Glastür des Büros vorbeihuschte.
„Den wir kennen?“, wiederholte ich.
„Ja, Frau Morgenstern, wir alle. Aber Sie kennen ihn besonders gut.“ Das war wohl seine einfühlsame Stimme.
War ich vorher nervös gewesen, dann wusste ich nicht, welches Wort ich nun noch finden sollte. Ich zitterte.
„Besonders gut?“

Eigentlich wusste ich in dem Moment, wen er meinte. Aber manchmal will man Dinge eben nicht glauben, der ganze Körper sträubt sich dagegen.

„Frau Morgenstern, ich weiß doch, ich weiß – also, ich muss es Ihnen ja sagen. Sie müssen ihn identifizieren. Der Tote ist Jakob Morgenstern.“
Nein, nein, nein. Mir wurde schwindelig, ich musste die Augen schließen. Es stach in meinem Arm. Ich hörte es nur rumpeln und im nächsten Moment legte sich eine schwere Hand auf meine Schulter.
„Aber es hieß doch – nicht von hier?“, brachte ich leise flüsternd hervor.
„Na das hat vielleicht der Grau erzählt. Der ist doch neu hier.“ Alexander Grau arbeitete seit zehn Jahren auf der Wache. „Der kennt ihn nicht mehr.“ Hauptkommissar Mann klang hilflos. Wir konnten nicht beide hilflos sein. Ich versuchte an das Mantra zu denken, das mir eine meiner elendigen Therapeutinnen eingeredet hatte.
Ich bin ruhig. Ich bin stark. Ich kann es schaffen.

Ich öffnete die Augen wieder. Der Hauptkommissar hielt mir ein Glas Wasser unter die Nase, ich nahm dankend an.
„Wie, ich mein, also, wie ist er denn –?“
„Erwürgt, am Strand, in der Brandung gelegen. Sie, Sie werden ihn identifizieren müssen.“ Er klang sehr unangenehm berührt.
Ich trank das Glas in einem Zug aus.
„Natürlich, ja.“ Als ich aufstand, schien sich kurz alles zu drehen.
Ich bin ruhig. Ich bin stark. Ich kann es schaffen.
Kommissar Grau trat ins Zimmer, als hätte er nur auf diesen Moment gewartet.
„Folgen Sie mir bitte, Frau Morgenstern.“

3. Eine Beerdigung

Ich ermahnte mich. Bloß nicht daran denken. Nicht daran denken. Es war zehn Jahre her. Zehn verdammte Jahre.

Beim Anblick seines Gesichts, wenn nun auch leblos und blass, schien in meinem Kopf ein Schloss aufzuspringen, ein Tor knallte mit Wucht auf und Bilder drehten sich hinter meiner Stirn, Laute, Gefühle – rotes Gesicht, Knall, Schmerz in der linken Wange. Ich musste die Augen schließen und einmal, zweimal tief durchatmen.

„Natürlich ist er das.“

Sein Haar war grau geworden und der Bart lang, aber ich würde ihn immer wiedererkennen.
Grau nickte und schlug das Laken wieder zurück. Ein Moment, in dem ich ihm so dankbar war wie ich es nie wieder sein würde, dachte ich.
„Ich werde Sie nach Hause fahren, Frau Morgenstern.“

Wir sprachen nicht mehr miteinander, aber Alexander Grau hatte eine beruhigende Ausstrahlung, ganz anders als sein Vorgesetzter. Als ich vor unserem Gartentor ausstieg und dachte, dass wir dringend mal wieder streichen mussten, wollte ich ihm sagen, dass ich ihn für einen großartigen Polizisten hielt, aber ich brachte es nicht über die Lippen. Obwohl es die Wahrheit war, so hätte es doch verlogen geklungen, kaum glaubwürdig, in so einer Situation. Also gab ich ihm nur die Hand und bedankte mich.
„Kein Problem“, sagte er und nickte mir zu. Ich sah ihm noch hinterher, bis der leuchtend blaue Streifenwagen vom leuchtenden Himmel nicht mehr zu unterscheiden war.



Kasimir saß am Küchentisch hinter einer Tasse Kaffee und sah auf die vor ihm liegende aufgeschlagene Zeitung. Er schien aber nicht zu lesen, nur drauf zu starren. Mit intensivem Blick auf die immergleiche Stelle. Seine Haare waren unordentlich, auf dem Boden waren Dreckspuren – er war mit seinen Straßenschuhen reingegangen. Er bemerkte mich erst, als die Türschwelle unter meinem Gewicht zu knarzen begann. Er wirkte richtig erschrocken darüber mich zu sehen. Wahrscheinlich sah ich nicht besonders gut aus. Ich fühlte mich fiebrig. Wie erklärte man einem Sohn, dass sein Vater gestorben war? Ich erinnerte mich an das lange Gespräch, dass wir über Großmutter gehabt hatten, nachdem sie den Freitod gewählt hatte. Jetzt also Mord.

Kasimir, jemand hat Papa ermordet.
Nein, nein, nein. Ich bin ruhig. Ich bin stark. Ich kann es schaffen.

Ich deutete auf die Kanne, die auf dem Herd stand.
„Ist da noch Kaffee drin?“
Kasimir nickte und sah mich immer noch an, als wäre es absurd, dass ich einfach so in meinem eigenen Haus auftauchte. Beim Einschenken zitterten meine Hände, die Hälfte landete auf der Küchentheke. Ich machte mir nicht die Mühe abzuwischen, ich kippte den Kaffee runter.

„Alles okay bei dir, Schatz?“ Er nickte nur und sah wieder auf seine Zeitung. Ich sah in meine leere Tasse. Wir schwiegen eine ganze Weile. Noch immer hatte er nicht umgeblättert. Früher, dachte ich unpassender Weise, habe ich immer gewusst, was ihn belastet hat.

Irgendwann brach er das Schweigen. Er wolle am Nachmittag noch den Rasen mähen, sagte er. Ich ließ die Tasse fallen und sie zerschellte auf dem Boden. Ich hatte keine Kraft mehr in meinen Armen, sie konnten sie nicht mehr halten. Er wollte den Rasen mähen. Einfach so. Den Rasen mähen.
Erschrocken sah er endlich wieder von der dämlichen Zeitung auf.

„Dein Vater ist tot“, wollte ich sagen, aber meine Stimme brach und ich schrie es mehr, verzweifelt klang das, ohne dass ich etwas dagegen tun konnte. Er starrte mich an. Fragend? Entsetzt? Ich wusste seinen Blick nicht zu deuten.
„Tot? Papa?“
Ich sah auf den Boden zu den Scherben. Es war eine hässliche Tasse gewesen. Ich griff mir an den Kopf. Ich bekam Kopfschmerzen. Ein wenig schwach in den Knien trat ich über die Scherben hinweg zum Telefon.
„Ich muss den Bestatter anrufen.“
Meine Hand zitterte, als ich wählte.



Die Trauerfeier in der weiß getünchten Inselkirche, vor die der sehr kleine, sehr schräg singende Kirchenchor einmal Hortensien gepflanzt hatte, die wuchsen wie Unkraut und noch nicht ganz verblüht waren, dauerte nicht lang. Es waren einige Leute da, aber ich hörte niemanden schluchzen, man warf mir nur sehr bedrückte Blicke zu. Ich war mir sicher, sie fragten sich, warum ich die Leiche nicht einfach eingeäschert und anonym hatte verbuddeln lassen. Warum ich Geld für einen Bestatter zahlte. Sie verstanden das nicht. Dass er trotz allem Kasimirs Vater war.

Kasimir. Ich hielt die ganze Messe hindurch seine Hand. Rau, er könnte einmal Creme benutzen. Sein Vater hatte auch raue Hände gehabt. Ich starrte zu Jesus hinauf. Nicht daran denken. Nicht daran denken. Ich versuchte mich daran zu erinnern wofür INRI stand. Es fiel mir aber nicht ein. Jesus Blick lastete schwer auf mir. Sollte er sich nicht wenigstens freuen, dass ich meinen Ex Mann in diese Kirche gebracht hatte? Vielleicht bereute er ja alles und konnte nun seinen Platz im Himmel antreten. Dort würde ich ihn jedenfalls nicht treffen müssen, ich, die Ehebrecherin. Eine beruhigende Vorstellung. Ich würde ihm nicht verzeihen. Er hatte mich davon erlöst es vielleicht irgendwann zu versuchen. Wäre er nicht wiedergekommen, wären meine Namen verblichen – ja dann – Aber er war wiedergekommen. Nur warum, das würde ich nicht mehr erfahren. Warum er nach all den Jahren wieder da gewesen war. Was hatte er sich nur gedacht? Es gab keinen offensichtlichen Anlass. Kein Jubiläum, es war nicht Kasimirs Geburtstag (der war im Winter), auch nicht meiner oder seiner. Er hatte regelmäßig die Unterstützung überwiesen. Die würde es jetzt auch nicht mehr geben. Dafür Waisenrente für Kasimir. Halbwaisenrente. Halbwaise. Was für ein grausames Wort. Ich sah nochmal zu Jesus hoch. Er schien sich abgewendet zu haben. Vernünftig.

Der Priester hatte versucht mit mir über Jakob zu sprechen, aber ich hatte nicht viel sagen können, ich hatte hauptsächlich Löcher in die Luft gestarrt, dann den widerlichen Kaffee verschüttet, den er mir angeboten hatte und ihm damit sein blütenweißes Hemd ruiniert. Er schien es mir jedoch nicht allzu übel zu nehmen.
Er sagte nur ein paar Dinge, das übliche. Dass Jakob Morgenstern gerne in der Kirche gewesen war (was nicht stimmte), seine Familie geliebt (was ich nicht wusste), ein erfülltes Leben gehabt hatte (das konnte schon sein). Kein Wort über das, was jeder dachte, weil es jeder wusste. Kein Wort über Schläge und Schreie und Schmerz. So war das eben. Am Ende verzeiht dir Gott. Ich versuchte einfach an etwas anderes zu denken. Was würde ich am Abend kochen?

Als wir hinaustraten, schien die Sonne in all ihrer spätsommerlichen Pracht und ließ die Hortensien leuchten. Kasimir hatte die Hände in den Hosentaschen vergraben, er hatte auch nicht geweint.

Es dauerte einen Moment, bis ich den Polizeiwagen entdeckte, der in der Hofauffahrt stand. Seltsam, dachte ich. Ich hatte den Hauptkommissar nicht in der Kirche gesehen, was mich vielleicht gewundert hätte, wäre ich nicht so damit beschäftigt gewesen, nicht an früher zu denken. Ich musste erst einmal Hände schütteln und Beileidsbekundungen abnicken, die niemand glaubte. Ich bin ruhig. Ich bin stark. Ich kann es schaffen.

Dann sah ich Kommissar Grau, der an dem alten Brunnen lehnte, in den die Leute Wunschmünzen warfen. Ich schenkte ihm ein Lächeln, das hoffentlich nicht allzu gequält aussah. Er trug kein schwarz.

„Mama?“, hörte ich Kasimir sagen.
Hauptkommissar Mann schien aus dem Nichts aufzutauchen, plötzlich kam er auf uns zu. Er trug Jeans und weißes Hemd.
„Mama?“
Die Menschentraube war schon hinüber zum Parkplatz geeilt. Es gab kein Essen und keiner wollte viel länger bleiben, als unbedingt notwendig.
Ich sah, dass Grau sich auch auf den Weg zu uns machte.
„Mama?“ Kasimir war lauter geworden, seine Stimme schärfer. Ich drehte mich zu ihm um. Er schwitzte. Er war rot im Gesicht.
„Schatz – was ist?“
„Ich liebe dich“, er griff nach meinen Händen und drückte sie so fest, dass ich sie ihm am liebsten wieder entrissen hätte.
„Ich liebe dich auch, Schatz. Wir schaffen das doch auch ohne Papa. Er ist doch schon so lange weg“, ich spürte wie meine Mundwinkel sanken, aber konnte nichts tun. Dieser gehetzte Blick in seinem Gesicht, ich konnte ihn nicht deuten. Er hatte Angst – das machte mir Angst. Ich hörte von beiden Seiten das Knirschen der Schritte der Polizisten. Als würden wir gejagt. Aber warum?

„Was ist denn nur? Kasimir?“
Er sagte nichts. Schüttelte nur leicht den Kopf. Einen Moment schien er zu zögern, dann zog er mich in seine Arme, fester noch, als er meine Hände gehalten hatte, drückte er mich an sich. Ich fühlte mich, als hätte jemand mir einen Eimer voll Muttergefühle über den Kopf geschüttet. Wann waren wir uns das letzte Mal so nah gewesen?

„Mama, du musst endlich wieder glücklich werden, das musst du mir versprechen, okay?“, schluchzte er. Er schluchzte? Sein Körper bebte. Er weinte. Warum weinte mein Sohn? Die ganze Zeit hatte ihn der Tod seines Vaters kalt gelassen. Er war ein starker Mann. Ein guter Schauspieler. Ich konnte nichts tun, ich konnte ihm nur über den Rücken streichen und leise murmeln: „Alles wird gut, Schatz, alles wird gut.“ Obwohl das schon lange nicht mehr funktionierte. Lange, lange.

Das Knirschen hörte auf. Grau und Mann standen wohl direkt neben uns. Ich hörte ein Räuspern. Dann eine Hand auf meiner Schulter, die nur Manns riesenhafte Pranke sein konnte. Warm, dachte ich. Und: Was ist los?
„Frau Morgenstern“, es war Graus beruhigende Stimme, die sprach. „Sie müssen ihren Sohn loslassen, wir müssen ihn mitnehmen.“

„Warum?“ Ich klang erstickt zwischen den Falten von Kasimirs Hemd. Früher hatte ich ihn umschlungen, heute überragte er mich. Alles war so anders geworden, ich hatte es noch nie so bemerkt wie in jenem Moment. „Warum?“

„Mama, ich habe ihn umgebracht. Ich habe Papa umgebracht. Damit er nie wiederkommen kann. Nie wieder, verstehst du? Er sollte dir nur nie wieder weh tun.“

Kasimir ließ mich los, aber ich konnte nicht. Kommissar Grau musste meine Hände hinter seinem Rücken auseinanderziehen. Ich stand nur und starrte. Starrte meinen Sohn an. Er lächelte ein wenig. Auf seinen roten Wangen trockneten die Tränen.

„Kasimir Morgenstern, Sie sind verhaftet. Wir müssen Sie über ihre Rechte aufklären. Ich glaube, Sie werden uns auch folgen, ohne dass wir Ihnen Handschellen anlegen müssen?“ Hauptkommissar Mann griff mit seiner Pranke nun nach Kasimirs Schulter.

Ich blieb stehen, einfach stehen, während er dem alten Beamten zu dem Polizeiwagen folgte. Er hielt die Schultern straff, ging aufrecht. Ich wollte schlucken, aber mein Mund war staubtrocken. Grau, der noch neben mir stand, sah mich an, als wollte er noch etwas sagen, er öffnete schon den Mund, doch schloss ihn dann wieder. Er lächelte mir ganz kurz zu. Dann sprintete er hinter seinem Kollegen her.

Sie stiegen alle drei ein und ich blieb einfach stehen. Der Motor startete, ich blieb stehen. Ich sah bewegungslos zu, wie der Wagen die Kircheinfahrt hinunterrollte und auf die Hauptstraße einbog, die in die Stadt führte. Ich stand einfach. Dabei spürte ich meinen Körper wie nie zuvor in meinem Leben. Schwer, heiß, wie eine Beeinträchtigung. Er hielt mich dort zurück. Auf dem knirschenden Vorplatz, mitten in der herrlich lachenden Sonne zwischen sommerbunten Hortensien. Ich hätte ihn gerne dort zurückgelassen, meinen sinnlosen Körper, mich einfach verabschiedet, in die Luft hinein, ins Meer. Ich sah den Pastor, der vor dem Kirchentor stand. Er sah schockiert aus. Ich war nicht schockiert. Ich fühlte nur Leere. Unendliche Leere. Sie hatten mir meinen Sohn genommen. Meinen einzigen Sohn.

Ich war ganz alleine auf der ganzen weiten Welt.

4. Die Wahrheit

Kommissar Grau hatte angerufen und mir ausgerichtet, dass ich kommen könne und mit Kasimir sprechen. Er saß noch in einer der drei Ausnüchterungszellen, die das Inselpolizeiquartier hatte. Erst am nächsten Morgen würden die Kollegen vom Festland kommen und ihn mitnehmen, um ihn vor Gericht zu stellen. Er hatte aber bereits ein umfassendes Geständnis abgelegt. Dieses Mal nahm ich den frühen Bus.

Am Abend zuvor hatte ich fast zwei Flaschen Wein getrunken und dann Schlaftabletten geschluckt. Es ging mir beschissen. Während der alte Bus über die Schlaglöcher ruckelte, musste ich die Augen schließen, um mich nicht zu übergeben.

Als ich die Wache betrat, erschien sofort Kommissar Grau und drückte mir einen Becher Kaffee in die Hand. „Für die Nerven“, sagte er und fragte mich, wie ich mich fühlte. Ich log, dass es schon ginge.

Hauptkommissar Mann ordnete gerade wie wild die Akten auf seinem überlasteten Schreibtisch neu, als Grau anklopfte und mich anmeldete. Er sah mich voll unerträglichem Mitleid an und sagte mir, wie schrecklich leid ihm alles täte und dann, dass er noch etwas für mich hätte. Ich wolle doch sicher verstehen, was passiert war. Er öffnete seine oberste Schreibtischschublade und gab mir eine Klarsichthülle, in der ein Zettel steckte, ein zerknickter, mit Bleistift vollgekritzelter Zettel. Ich musste ihn mir direkt vor die Nase halten, um ihn zu entziffern, aber ich erkannte die Handschrift

„Berlin, den 27. August
Lieber Kasimir,
sicher bist du überrascht, dass ich dir schreibe. Hast ja lang nichts von deinem Alten gehört. Sei dir sicher, dass ich das bereue. Dass wir uns so lange nicht gesehen haben und alles. Das war scheiße. Du musst mir das verzeihen. Ich werde euch nämlich besuchen kommen. Ganz bald schon. Ich habe soeben die Fähre gebucht. Eigentlich wollte ich euch überraschen, aber dann dachte ich – nachher seid ihr gar nicht da. Also kündige ich mich lieber an. Ich bin gespannt, wie das Haus aussieht. Und du natürlich. Bist bestimmt gewachsen. Bist ja nicht von schlechten Eltern […]“


Ich ließ das Papier sinken. Ich konnte kein weiteres Wort lesen. Wollte keine Erklärungen hören, keine Lügen. Er hatte also einen Brief geschrieben. Er hatte gedacht, dass Kasimir sich freuen würde. Natürlich hatte er das. Das hätte ich auch gedacht. Dass Kasimir sich gefreut hätte. Dass er seinen Vater liebte. Aber er hatte ihn stattdessen umgebracht. Ich gab den beiden Polizisten das Papier zurück.
„Danke.“ Mehr brachte ich nicht hervor.

Dann führten sie mich in den Verhörraum, der bloß das einzige abschließbare Büro war, in das sie zwei Stühle und einen weiteren Spanplattentisch gestellt hatten. Auf einem der sehr ungemütlich aussehenden Stühle saß Kasimir, mit dunklen Ringen unter den Augen, noch immer in Hemd und Anzughose, beides inzwischen deutlich zerknitterter. Eine ganze Weile lang sahen wir uns nur an. Das Schweigen lag weich über dem Raum wie eine Decke, eine gemütliche Decke. Ich versuchte mir vorzustellen, wir säßen wieder am Küchentisch. Das war natürlich reichlich lächerlich. Aber für eine Weile funktionierte es ganz gut. Es roch sogar nach Essen. Nebenan war die kleine Küche.

Kasimir blieb ganz ruhig. Er griff nach meinen Händen und hielt sie die ganze Zeit, während er mit mir sprach. Er sagte, er wolle mir nur erklären, warum er getan hatte, was man ja eben hätte tun müssen. Er erzählte, wie er den Brief geöffnet hatte, wie ihm schwarz vor Augen geworden war, als er las, dass sein Vater auf dem Weg zu uns war. Dass er nur noch daran denken konnte, was passiert – was er uns angetan hatte. Dass er von allem immer gewusst hatte.

„Ich habe nur an dich gedacht, Mama, nur an dich.“

Ich konnte mich kein Stück bewegen, ich blieb auf meinem Stuhl sitzen und rührte mich nicht. Sah nur von seinen Händen zu seinen unruhigen Augen und wieder zurück.

Er erzählte, wie er zum Anleger gefahren war und die Passagiere beim Aussteigen beobachtet hatte. Fast hätte er ihn verpasst, denn er hatte sich so verändert. Trug einen langen Bart und hatte graue Haare. Dann war er ihm gefolgt. Den Strand entlang. Erst als er sich ganz sicher gewesen war, dass ihn niemand sah, da hatte er nach ihm gerufen. Nach seinem Vater.

„Er hat gelächelt. Wahrscheinlich hat er sich wirklich gefreut mich zu sehen.“
Dann hatte er eine Weile geschwiegen.
„Mama, es tut mir leid, dass ich dir an dem Abend die Tablette in den Tee getan habe. Das war nicht sehr nett von mir.“

Er fragte mich, ob ich wütend wäre. Ich wollte ihn in den Arm nehmen, aber in dem Moment stieß Hauptkommissar Mann die Tür auf und erklärte, dass die Zeit nun leider rum sei. Sobald Kasimir in Untersuchungshaft saß, könnte ich ja beantragen ihn zu sehen. Als sie ihn zurück in den Keller zogen, musste ich endlich das erste Mal weinen.



An dem Morgen, als ich von der Polizeiwache nach Hause lief, am Strand entlang, mit den Schuhen in der Hand und den Zehen im nassen Sand, ging ein scharfer Wind landeinwärts, der das Meer zu ungewöhnlich hohen Wellen auftürmte und mir die Tränen von den Wangen pustete. Der Himmel wurde dunkler, der Strand wurde kleiner. Das eiskalte Wasser umspülte meine Füße. Am Anfang zuckte ich noch zusammen, aber mit jeder Welle gewöhnte sich mein Körper an die Temperatur. Das war doch angeblich auch so gut für die Durchblutung, kalt baden.

Ich blieb stehen, zu meinen Füßen lag eine ganze, geschlossene Herzmuschel. Vorsichtig hob ich sie auf. Das war ein seltener Fund. Ein ganzes Herz. Wie kitschig. Wie unpassend. Ich steckte sie in meine Jackentasche und blieb eine Weile unschlüssig stehen. Nach Hause zu gehen erschien mir plötzlich so abwegig. Niemand würde dort auf mich warten. Das Haus war leer und würde es immer bleiben. Vielleicht sollte ich einfach meine Koffer packen und gehen. Vielleicht sollte ich meine Koffer nicht packen und gehen. Ich warf ein Blick auf meine Armbanduhr. Die nächste Fähre ging in dreißig Minuten. Ich war noch nicht allzu weit weg vom Anleger, das konnte ich noch schaffen. Aber wollte ich wirklich weg? Würde es mir in der Stadt bessergehen?

Ich fühlte mich immer noch so hilflos. Wie konnte ich nur eine Entscheidung treffen. Ich konnte mich an niemanden wenden. Ich drehte mich im Kreis. Am ganzen Strand: keine Menschenseele. Ich war ganz allein und auf mich gestellt. Das erste Mal seit fast dreißig Jahren. Da mir nichts Besseres einfiel, setzte ich mich. Sofort drang die Nässe durch meinen dünnen Rock und mein Hintern wurde kalt. Aber es war egal. Ich starrte hinaus über all die wilden Wellen hinweg zum Horizont, wo nichts zu sehen war, nicht ein einziges Schiff zog vorüber. Vielleicht hätte ich die Fähre schon erkennen können, wenn es nicht so diesig gewesen wäre. Ich bin ruhig. Ich bin stark. Ich kann es schaffen. Hatte ich das je geglaubt?

Es roch wieder nach Tang und Gewitter, als das erste Grollen über den Himmel zog. Ein wenig faulig, aber vertraut. Bald erzitterte die Wasseroberfläche unter den ersten Tropfen. Mir war kalt und ich begann zu zittern. Vor mir tanzte die See und schien mir zuzurufen. Sie türmte sich und stülpte sich und brach in sich zusammen, nur um sich gleich wiederaufzurichten. Der Wind zog und zerrte an uns beiden, aber sie ließ sich nicht unterkriegen. Und sie rief mir zu es ihr gleichzutun. Lass dich nicht unterkriegen, rief sie. Komm zu mir und sei sicher. Komm zu mir.

Erst merkte ich es gar nicht, dass ich aufgesprungen war; dann aber erst langsam, und schließlich immer hastiger legte ich meine Kleidung ab. Den Rock, die Jacke, dann BH und Unterhose. Ein einziges Mal in meinem Leben zögerte ich keinen Moment. Ich rannte ins Wasser, es hatte keinen Sinn sich lange zu zieren. Es war schon okay. Erstaunlich warm, eigentlich. Es fühlte sich vertraut an, wie die Wellen gegen meinen nackten Körper schlugen, an ihm hochleckten. Wie sie meine Knie umschlossen, meine Hüftknochen, die Taille.

Ich ließ mich fallen und schwamm, erst vorsichtig, kann immer kräftiger. Ich musste gegen den Seegang an, aber in der von den Buhnen geschützten Bucht, war es noch kein Problem. Ich testete und ich hatte keinen Boden mehr unter den Füßen, ich hielt mich sachte über Wasser, legte den Kopf zurück und sah in den Himmel, wo die Wolken sich immer eiliger zusammenzogen. Schon kam die Sonne nur noch in einzelnen Strahlen herab, die hier und da das Meer kitzelten, ein neu gedecktes Haus im Dorf glänzen ließen, sich irgendwo spiegelten und zurückblendeten.
Es grollte wieder. Ein neuerliches Gewitter würde das Unheil, das das erste gebracht hatte, wieder hinfort waschen. Ja, so musste es sein. Das war der natürliche Kreislauf der Natur. Sie brachte alles Böse hervor, aber holte es auch wieder zurück. Gewitter um Gewitter spülte das Schlechte der Menschen vom Erdengrund.

Vor mir erhob sich nun das ganze Meer zu einer hohen Wand. Gebannt folgte ich dem Wasser mit den Augen beim Aufstieg. Eine ungewöhnlich riesige Welle. Vielleicht hätte ich Angst haben sollen, aber da war nichts. Ich fühlte gar nichts mehr in dem Moment. Die See machte sich bereit mich zu verschlucken, aber mir war alles egal. Es war doch eine beruhigende Vorstellung. Ein friedlicher Tod.

Die Welle brach über mich herein und ich wurde unter Wasser gedrückt, die Luft aus meinen Lungen. Ich zählte mit, bis elf, dann kam ich prustend wieder an die Wasseroberfläche, meine Füße ruderten und fanden Grund – der Druck hatte mich ein ganzes Stück zurückgeschleudert. Keuchend holte ich Luft.

Ich hörte jemand schreien, wie aus einer anderen Dimension drangen die Wörter dumpf an mein Ohr. Verschwommen nahm ich am Strand zwei Gestalten wahr. Sie schienen zu hüpfen und zu winken. Wer konnte das sein? Die Mutter und ihr Sohn wahrscheinlich. Sie waren zurück an den Strand gekommen, um ihre Ruhe zu finden.
„Ich verstehe das“, sagte ich und schluckte Wasser dabei. „Vergesst ihn einfach. Ein Mann ist es nicht wert.“ Ich musste husten. Mein Mund war voller Salzwasser. Mich hatte das noch nie allzu sehr gestört, das Salzige, aber jetzt brannte es in meiner Kehle, schlimmer als jedes Curry, alles, was ich je gegessen hatte. Es brannte sich durch meine Mundhöhle und breitete sich in meinem Kopf aus, im Hals.

Mein Atem ging sehr schnell. Vielleicht spürte mein Körper die Angst, die nicht in meinen Geist vordrang. Ich sollte flüchten. Wo war mein Fluchtinstinkt? Ich stand nur da, das Wasser sprang um meine Schultern, die Algen zogen an meinen Knöcheln und Schenkeln. Mit letzter Kraft widerstand ich dem Wunsch mich einfach fallenzulassen und hinfort zutreiben.

Hinter mir wurden die Stimmen mal lauter, mal leiser, aber ich drehte mich nicht mehr um. Vor mir türmte sich die nächste Welle auf.

Einmal, als er noch ganz klein gewesen war, war Kasimir im Schwimmbad ins Nichtschwimmerbecken gefallen, ohne Schwimmflügel, einfach so. Ich konnte erst gar nicht reagieren. Als ich ihn schließlich mit pochendem Herzen und den schlimmsten Gedanken wieder herauszog, lachte er nur und rief laut: „Nochmal, Mama, nochmal!“ Es hatte ihm Spaß gemacht. Er hatte keine Angst vor dem Wasser gehabt, weil es ihm noch niemand beigebracht hatte. Er wusste nicht, dass man ertrinken konnte. Er fand es nur herrlich lustig wie es platschte, wenn man hineinfiel.

Ich fühlte mich ähnlich. Keine Sekunde dachte ich daran, dass ich ertrinken könnte. Ich wollte einfach nur dort stehen. Für immer im Wasser bleiben. Vielleicht würde ich mich irgendwann auflösen. Wenn das Wasser meine Haut soweit erweicht hatte, dass sie sich einfach von meinem Fleisch löste und davonschwamm. Irgendwann würden meine bleichen Knochen an den Strand gespült, aber niemand wüsste mehr, wer ich eigentlich war. Niemand würde mich vermissen.

Die zweite Welle brach kaum weniger heftig über mich herein, sie riss mich von den Füßen und drückte mich wieder unter Wasser, alle Luft aus meinen Lungenflügeln und ich begann erneut zu zählen. Diesmal bis vierzehn. Dann kämpfte ich mich zurück an die Wasseroberfläche. Meine Augen brannten nun auch. Verzweifelt blinzelte ich, um sie wieder zu öffnen. Ich wollte doch das Meer sehen – und das Gewitter. Nur sehen wollte ich. Nur noch sehen.
Trotzdem wurde hinter mir weiter geschrien. Warum ließen sie mich nicht einfach in Ruhe? Warum nicht? Ich wollte auch schreien. Damit sie aufhörten.
„Warum nicht?“

Aber ich krächzte nur. Meine Augen tränten. Nicht, dass es etwas ausmachte. Ich war nass, mir war kalt. Meine Finger wurden steif. Der Donner wurde lauter, er kam näher. Das Gewitter, es war fast da. Gewitterstimmung, dachte ich. Es riecht nach Tang. Ich war, wo ich mich immer wieder fand, immer wieder finden musste. Irgendwo zwischen Sein und Nichtsein, zwischen Gedeih und Verderb. Verschwimmende Grenzen. Das Aquarellpapier löste sich im Ozean auf.  

War nicht alles gut gewesen? Alles gut, wie es eben gewesen war? Hatte ich nicht immer versucht alles richtig zu machen. Alles getan? Alle beruhigt und ermahnt? Mehr war mir doch gar nicht übriggeblieben. Nein, es war schon okay. Es war richtig.

Und es war eiskalt. Der Sommer war unwiderruflich vorbei. Alles Licht war vorbei. Es war stockfinster. Die zerfetzten Sturmwolken hetzten über die Himmel. So vertraut waren sie, so gleich wie die Gewitter am Meer immer waren. Kurz und heftig. Am nächsten Morgen würde es schön sein. Die Sonne würde scheinen.

Die Algen zogen sich fester um meine Füße, ich stolperte. Über mir schloss sich das Wasser vor dem Himmel. Ich kniff die Augen zusammen. Ich dachte an meinen Vater. Ich dachte an Jakob. Ich dachte an Kasimir. Ich dachte an die Tanne, wie sie vom Haus wegkippte, im Gestrüpp der verwilderten Wiese versank. Das war ein schlimmer Sturm gewesen. Aber es war lange her. Mir ging die Luft aus. Ich öffnete die Augen. Am Horizont kündigte sich die dritte Welle an.

Autorennotiz

Entstanden im Rahmen eines fanfiktion.de Wichtelns.

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Kapitel: 4
Sätze: 792
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Zeichen: 45.310

Kurzbeschreibung

Eigentlich hat die Familie Morgenstern, die nur noch aus Mutter und Sohn besteht, die Vergangenheit längst hinter sich gelassen, vergessen und verdrängt, was vor vielen Jahren passiert ist. Doch dann bringt ein Sommergewitter neues Unheil über die Insel, auf der sie ihre Ferien verbringen und droht die Idylle ein für alle mal zu zerstören. Eine Geschichte über eine Mutter, die zweifelt, um nicht zu verzweifeln und einen Sohn, der endlich handelt.

Kategorisierung

Diese Story wird neben Katastrophe auch in den Genres Drama, Familie gelistet.

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