Storys > Kurzgeschichten > Horror > Helena

Helena

79
03.07.18 19:54
16 Ab 16 Jahren
Fertiggestellt
Früher arbeitete Jens als Polizist. Er mochte seinen Job ganz und gar nicht. Er hasste ihn sogar. Wie jeder andere freute auch er sich, wenn er nach einem anstrengenden Arbeitstag endlich nach Hause konnte und die freie Zeit mit seiner Frau verbringen (Kinder hatte er keine), den Hobbys nachgehen (er ging leidenschaftlich gerne jagen) oder einfach nur entspannen konnte (dann pflegte er für gewöhnlich ein spannendes Buch zu lesen). Doch die Zeiten, in denen Jens sich auf den Feierabend freute, gehörten schon lange der Vergangenheit an. Was er nämlich in seinen eigenen vier Wänden mitmachen musste, war an Horror und Grausamkeit nicht mehr zu überbieten. Die verhasste Arbeit war ihm immer noch lieber als das Elend, das ihn zuhause erwartete. Je näher der Feierabend rückte, desto unruhiger und ängstlicher wurde er. An manchen Tagen wünschte er sich nichts sehnlicher als nicht mehr nach Hause zurückkehren zu müssen. Doch das war unmöglich! Zu verschwinden, wegzugehen und nie mehr wieder zu kommen, war zwar eine reizvolle Vorstellung, doch stellte keine Option dar. Zu groß war sein Verantwortungsbewusstsein...und die Liebe! Die Liebe zu seiner Frau! Sie brauchte ihn. Also musste er stark sein und durchhalten. Für sie. Nur für sie.
Nur das, was wir aufrichtig lieben, kann uns wirklich weh tun, dachte Jens immer. Und Helena tat ihm weh. Sie tat ihm unglaublich weh. Sie konnte nichts dafür und war dennoch der Grund, warum ihn der Feierabend stets derart erschaudern ließ. Mittlerweile hatte Jens seinen Job bis auf weiteres niedergelegt, um sich um Helena zu kümmern. Sie konnte nicht mehr den ganzen Tag alleine zuhause verbringen, da sie nicht mehr in der Lage war, sich selber zu versorgen. Ihre schwere Krankheit war zu weit fortgeschritten. Man hatte die besten Ärzte aufgesucht, sich die teuersten Medikamente verschreiben lassen, doch es war alles nutzlos. Dass Helena bald sterben würde, war Gewissheit. Das einzige, was Jens noch für sie tun konnte, war, ihr das Leben so erträglich wie möglich zu gestalten.
Er blieb den ganzen Tag zuhause, blieb bei ihr. Er tat dies aus einer absoluten Selbstverständlichkeit heraus. Genaugenommen war es eine Art Zwang, dem er nichts entgegenzusetzen hatte. Natürlich liebte er seine Frau. Er liebte Helena über alles in der Welt. Doch er hasste es, sie zu pflegen, sich um sie zu kümmern. Immer wenn er mit ihr zusammen war, wurde er mit dem Tod konfrontiert, sah nichts als Leid und Elend. Er hatte etwas besseres verdient! Helena hatte das zwar auch, doch er konnte schließlich nichts daran ändern. Kein Tag verging, an dem Jens sich nicht sehnlichst wünschte, dass Helena endlich tot war. Er schämte sich zutiefst dieser Gedanken, doch ein Teil in ihm wusste, dass es für sie alle das Beste wäre. Sie wäre endlich erlöst und er von der elenden Verantwortung befreit. Er könnte dann endlich sein eigenes Haus verlassen, das ihm zu einem Gefängnis geworden war. Er wäre nicht länger an die Liebe gebunden und wäre frei. Frei wie ein Vogel in den Lüften, frei wie ein Löwe in der Wüste, frei wie ein Fisch im Meer.
Vorsichtig klopfte Jens an die Tür zu Helenas Zimmer. Sie schlief nicht mehr in ihrem Ehebett. Ihre Krankheit war zwar nicht ansteckend, doch Jens konnte diese intime Nähe zu seiner todkranken Frau nicht länger ertragen. Also wurde Helena im Gästezimmer untergebracht.
Langsam öffnete Jens die Tür und betrat gemächlich die kleine Stube. Als er Helena erblickte, erschauderte er bis ins Mark. An diesen grässlichen Anblick hatte er sich nach all der Zeit immer noch nicht gewöhnt. Er würde es auch nie.
Sie schlief noch. Jens kam langsam näher und schlich sich an ihr Bett. Von der einst so lieblichen Gestalt war nicht das Geringste geblieben. Voller Ekel und Abscheu sah Jens auf das zusammengekauerte Etwas, das sich dort im Bett wand. Er konnte nicht fassen, was aus seiner Frau geworden war. Sie hatte vor ihrer schrecklichen Erkrankung schöne, braun gebrannte Haut. Ihre Haut war nun grau und verschrumpelt, glich mehr der einer Toten als der einer Lebenden. Zudem spannte sich die Haut über die Knochen. War Helena einst eine stattliche Frau mit weiblichen Rundungen, so magerte sie nach Ausbruch ihrer Krankheit vollkommen ab, bis sie wahrlich nur noch aus Haut und Knochen bestand. Feste Nahrung konnte sie im Endstadium ihrer Krankheit nicht mehr zu sich nehmen, weshalb sie intravenös ernährt werden musste. Ansonsten erbrach sie alles. Gelegentlich sah ein Arzt bei ihnen vorbei, doch Helena bestand darauf, nicht im Krankenhaus, sondern zuhause bei ihrem Mann zu sterben. Jens hätte sich gefreut, wäre sie nur so weit wie möglich von ihm weg gewesen, doch er ließ sich nichts anmerken.
Er streichelte Helena durchs Haar, oder zumindest dem, was davon noch übrig war. Es war in Büscheln ausgefallen und die noch verbliebenen Strähnen waren dünn und hatten jedwegen Glanz verloren. Doch das Schrecklichste an ihrem Antlitz waren zweifellos die Augen, welche sie in diesem Moment ruckartig öffnete. Unwillkürlich zog Jens seine Hand blitzschnell zurück und wich einen Schritt beiseite. Helenas Augen glichen einst denen eines Rehs. Groß, braun und melancholisch. Jetzt konnte Jens nicht einmal mehr die Farbe der Iris identifizieren. Die Augen waren so blass als hätte man eine Folie über sie gestülpt. Sah er sie an, war ihm, als blickte er dem Tod selbst in die Augen.
Helenas leerer Blick fiel auf ihren Mann.
"Guten Morgen, Schatz", begrüßte sie ihn mit schwacher Stimme. Die Worte endeten in einem Hustenanfall. Jeden Tag fühlte sie sich elender, jeden Tag sah sie schlechter aus.
"Guten Morgen...Helena. Wie geht es dir heute?"
Jens kam sich immer dumm vor, wenn er sich dieser Floskel bediente. Helena nach ihrem Gesundheitszustand zu fragen war so als erkundigte man sich nach den Flugkünsten eines Wals.
"Wie immer", gab sie schwach zurück, als sich ihr Hustenanfall gelegt hatte.
Jens Gesicht verzog sich zu einer Grimasse. Er konnte nichts dagegen unternehmen. Seine Frau und der erbärmliche Anblick, den sie bot, widerte ihn einfach zu sehr an. Dann platzten die Worte nur so aus ihm heraus. Er konnte nicht anders, musste seine Gedanken einfach verbal zum Ausdruck bringen: "Weißt du schon, wann du stirbst? Spürst du es?"
Helena versuchte sich im Bett aufzurichten, was ihr jedoch nicht gelang, weshalb sie sich wieder kraftlos sinken ließ.
"Das Ende naht, Jens. Ich fühle den Tod. Er nimmt mich ein, jeden Tag etwas mehr. Es wird schlimmer und ich bin ihm hilflos ausgeliefert. Weißt du, warum ich noch lebe, Jens? Weißt du, was der einzige Grund ist, weshalb ich noch nicht tot bin?"
"Nein."
"Es ist meine grenzenlose Liebe zu dir. Sie hält mich am Leben, obwohl mein Körper längst abgestorben und verfault ist. Ich liebe dich mehr als alles in der Welt, Jens!"
In Jens Augen bildeten sich Tränen. Diese rührenden Worte ergriffen ihn. "Ich liebe dich auch, Helena."
Das war die Wahrheit. Natürlich liebte er Helena. Doch er hasste sie auch. Solch unvergleichlich starke Gefühle wie Liebe und Hass liegen eng beieinander. Er liebte Helena für die Frau, die sie einst war, hasste sie für den Schmerz und den Kummer, den sie ihm mittlerweile bereitete. Man kann nur lieben, was man hasst und nur das hassen, was man liebt, denn ansonsten wäre es einem vollkommen egal!
Jens fuhr fort: "Aber du darfst mich nicht länger lieben, Helena! Lass mich los und finde endlich Frieden. Ich kann es nicht ertragen, dich länger leiden zu sehen. Du musst sterben!"
Helena sagte: "Ich verliere langsam den Verstand. Sollte ich bald nicht mehr zurechnungsfähig sein, musst du eines jetzt erfahren. Ich werde dich bis ans Ende meiner Tage lieben! Ich werde nicht aufhören! Du bist meine Welt, Jens. Ich habe nur dich. Du bist das Licht in der ewigen Dunkelheit. Das musst du wissen!"
"Ich weiß." Jens resignierte. Er begriff, dass Helena ihren Lebenswillen nicht verlieren würde, so lange sie ihn liebte. Und er konnte tun, was immer er wollte, sie würde niemals aufhören, ihn zu lieben. So schnell würde er sich ihrer also nicht entledigen können. Jens trottete aus dem Zimmer bis Helenas Stimme ihn erstarren ließ.
"Halt! Hast du nicht was vergessen?"
Schockiert drehte Jens sich um. Was wollte das Ungeheuer noch von ihm. Hatte er nicht schon genug für sie getan, genug für sie gelitten? Welche Forderungen konnte sie noch an ihn stellen? Wie viel konnte der Teufel noch von einem armen Mann erwarten?
Er sah wie Helena ihre dünnen, farblosen Lippen gespitzt hatte. Vorsichtig näherte er sich ihr, zögerte einen Moment und küsste sie dann. Er schmeckte nur Fäulnis, die aus ihrem Mund stammte. Voller Ekel löste er den Kuss, doch Helena schlang ihre langen, dürren Arme um ihn und küsste ihn erneut. Ihre kalten Hände wanderten von seinem Hals unter seinen Pullover den Rücken runter und lösten eine Gänsehaut bei ihm aus. Sie löste jetzt ihrerseits den Kuss und begann plötzlich zu lachen.
"Ich liebe dich! Ja, ich liebe dich! Ich liebe dich über alles in der Welt, Jens!"
Panisch befreite sich Jens aus Helenas Umklammerung und eilte verstört aus dem Zimmer. Sie hörte nicht auf zu lachen und je länger dieses seltsame Gekicher andauerte, desto teuflischer, sadistischer und furchtbarer kam es ihm vor.
"Ich liebe dich! Ich liebe dich! Ich liebe dich!", schrie sie immer weiter. Der Albtraum nahm kein Ende. Voller Entsetzen schloss Jens die Tür und ließ seine Frau alleine in der dunklen Kammer zurück. Aus dem Inneren vernahm er immer noch ihre immer leiser werdende Stimme, die immer nur die gleichen drei Worte hervorbrachte. Helena verlor wirklich den Verstand. Ihre körperlichen Leiden und Gebrechen hatten zweifellos verherende Auswirkungen auf ihre Psyche. Sie verfiel dem Wahnsinn!
Die Erinnerung an Helena wie sie früher war, verblasste zunehmend in Jens Gedächtnis. So wie allgemein alles vor seinem geistigen Auge verblasste. An sein früheres Leben konnte er sich kaum noch erinnern, vergaß die schöne Seite des Lebens, vergaß die wunderbare Zeit mit Helena bevor sie krank wurde, vergaß seinen verhassten Job, vergaß alles!
Auf dem Regal direkt neben seinem Bett befand sich ein eingerahmtes Bild von Helena, das sie in der Blüte ihres Lebens abbildete. Wie gerne das Paar doch Kinder gehabt hätte, doch es war ihnen nicht vergönnt. Im Nachhinein jedoch war Jens erleichtert darüber. Niemand konnte einem Kind zumuten, mitanzusehen, wie seine Mutter vor seinen Augen wegstarb, auf die elendeste nur vorstellbare Art wahrlich verreckte und darüber hinaus noch dem Wahnsinn verfiel.
Das Bild auf dem Regal war jedenfalls Jens einzige noch verbliebene Erinnerung an die alte Helena. Jetzt gab es nur noch ihn und das Ungeheuer, eingesperrt im eigenen Haus. Gefangen, gefoltert und vom allgegenwärtigen Tod überschattet. Und Jens fürchtete den Tod. Fürchtete ihn fast so sehr wie er Helena fürchtete...
In den nächsten Tagen pflegte Jens seine Frau genauso gut wie er es zuvor auch getan hatte. Es blieb ihm allerdings nicht verborgen, dass ihr Zustand sich von Stunde zu Stunde verschlechterte. Das Bedürfnis, einfach wegzurennen und alles hinter sich zu lassen, war stärker als jemals zuvor. Doch Jens fand nicht den Mut dazu. Die moralische Verpflichtung sich um seine Frau zu kümmern und für sie in diesen schwierigen Zeiten da zu sein, hatte nach wie vor die Oberhand.
Helena war manchmal schon gar nicht mehr ansprechbar, reagierte auf nichts, war völlig abwesend und hätte genauso schon tot sein können. Manchmal sprudelten die Worte aber nur so aus ihr heraus. Sie gab viel zusammenhanglosen Schwachsinn von sich. Gelegentlich sang sie sogar, erzählte Geschichten, die sie angeblich selber erlebt hatte und Jens hörte sich alles geduldig an. Sie behauptete beispielsweise sie wäre als Kind Rotkäppchen gewesen und erzählte in beängstigender Genauigkeit von den Begegnungen mit dem großen, bösen Wolf. Jens war nun endgültig klar, dass Helena nicht mehr zurechnungsfähig und vollkommen irre geworden war.
Jede Nacht weinte sich Jens in den Schlaf. Die erbärmliche Gestalt, die dort im Nebenzimmer lag und die ganze Nacht sang und lachte, sollte seine Frau sein? Unmöglich! Vor Angst verkroch er sich immer tiefer unter die Decke. Vor Angst, Helena könnte auf einmal vor ihm stehen und ihn mit ihren eiskalten Händen erwürgen, was unmöglich war, da sie nicht mehr aus ihrem Bett aufstehen konnte. Ihr Anblick und Verhalten ängstigten ihn und Jens glaubte, dass auch er bald den Verstand verlieren würde, müsste er dieses Leid noch länger ertragen.
Schon seit einiger Zeit hatte kein Arzt mehr vorbei gesehen. Vermutlich hatte man Helena schon aufgegeben und wahrscheinlich gar vergessen. Man ließ Jens alleine. Er war auf sich gestellt und eingesperrt mit einer Wahnsinnigen! Je mehr er darüber nachdachte, desto elender wurde ihm zumute. Es gab keinen Ausweg! Kein Entrinnen aus dem Leid und Elend! Keine Hoffnung auf Besserung! Nur der Tod! Er sollte Helena endlich holen und Jens erlösen. Es war nicht zum Aushalten!
Jens betrat Helenas Zimmer, um nach dem Rechten zu sehen. An diesem Tag wirkte sie schwach. Schwächer als je zuvor. Reglos lag sie in ihrem Bett, die Augen nur zur Hälfte geöffnet...die schrecklichen Augen.
"Brauchst du irgendetwas?", bot Jens seine Hilfe an.
"Deine Liebe!"
"Die hast du bereits."
"Dann bin ich wunschlos glücklich."
Vorsichtig setzte sich Jens auf die Bettkante. Mitleidig sah er seine Frau an. Seine Furcht und der Hass waren einem neuen Gefühl gewichen. Er empfand tatsächlich aufrichtiges, wahrhaftiges und nicht geheucheltes Mitleid für Helena. Sie war extrem ruhig und nicht so aufgedreht wie in den vorherigen Tagen. Die Medikamente hatten sie ruhig gestellt...und wahrscheinlich der immer näher kommende Tod.
Also stellte Jens die Frage, die ihn die ganze Zeit beschäftigte: "Hast du Angst vor dem Tod?"
Helena schwieg eine lange Zeit bevor sie antwortete: "Ja. Und weißt du warum? Weil von mir nichts übrig bleibt. Ich wünschte, ich hätte meine Gene weitergeben können. Ich wünschte, ich hätte Kinder, in denen ich, mein Geist, weiterleben würde."
Jens nickte zustimmend. Er hatte einen Kloß im Hals und Tränen in den Augen, weshalb er nichts erwiderte, sondern nur seine warme Hand auf die eiskalte und schon fast abgestorbene seiner Frau legte.
Eine gefühlte Ewigkeit sagte keiner der beiden ein Wort. Sie starrten nur ins Leere und hingen ihren eigenen Gedanken nach bis plötzlich Helenas Stimme die Ruhe unterbrach. Sie sprach wieder in dieser schrecklich hohen Stimme, in welcher sie auch in ihren Wahnvorstellungen sang.
"Aber noch lebe ich. Noch ist es nicht zu spät. Ich will Kinder haben, Jens! Jetzt! Sofort! Machen wir ein Kind! Jens, machen wir ein Kind!"
Diesen Worten folgte Helenas unbeschreiblich grässliches Lachen. Wie von der Tarantel gestochen sprang Jens auf. Helena streckte ihre Hände nach ihm aus, doch er entkam schnell ihrer Reichweite. In ihrem Wahn hörte sie nicht auf zu lachen und die Worte "Machen wir ein Kind!" zu schreien.
Jens eilte hinaus, schlug die Tür hinter sich zu. Sein Herz pochte bis zum Hals, auf seiner Stirn hatten sich Schweißperlen gebildet. Schnell begab er sich ins Badezimmer wo er sich übergeben musste. Helenas hysterisches Lachen war auch durch die verschlossenen Türen noch deutlich zu vernehmen.
Jens betrachtete sich im Spiegel, was er schon länger nicht mehr getan hatte, und erschrak heftig. Er erkannte sich selber kaum wieder. Er war vollkommen abgemagert, die Augen waren blutunterlaufen und er war bleich wie eine Leiche. Kraftlos sank er zu Boden und weinte bitterlich. Er konnte die Tränen nicht länger zurückhalten. Die Schreie aus dem Gästezimmer waren mittlerweile verstummt. Jens hoffte, dass sie für immer verstummt waren. Während er so auf dem Boden saß, den Rücken an der Wand angelehnt und überlegte, wie er sich ablenken und seinem Leid zumindest kurzfristig entkommen konnte, kam ihm eine Idee!
Jens hatte sich in den Wald begeben, eine Flinte über den Schultern. Es war ohnehin Jagdsaison und er musste einfach das Haus verlassen, nur für ein paar Stunden, um auf andere Gedanken zu kommen. Lange war er nicht mehr jagen gewesen. Er konnte sich an das letzte Mal nicht mehr entsinnen, doch es musste eine Ewigkeit her sein. Es wurde nochmal Zeit! Wenn nicht jetzt, wann dann?
Der Erfolg blieb jedoch aus. Wenige Stunden später kehrte Jens mit leeren Händen zurück. Er war zu nichts in der Lage und erkannte, dass auch das Jagen, seine große Leidenschaft, ihm keinen Ausweg bieten konnte. Er war gefangen!
Niedergeschlagen ließ er sich auf dem Sofa nieder. Im Nebenzimmer war es ruhig. Er wusste, dass es so nicht weitergehen konnte. Die missglückte Jagd war ein eindeutiges Zeichen dafür, dass Veränderungen her musste, und zwar dringend. Ansonsten würde er nie mehr in sein normales Leben zurückfinden, nie mehr an etwas anderes denken können als Leid und Kummer, nie mehr glücklich sein!
Helena würde nicht so schnell sterben. Sie täuschte ihre Schwäche nur vor, es musste so sein. Andererseits sah ihr Körper wirklich zum Fürchten aus und das konnte sie ja wohl kaum vortäuschen. Er begriff nicht wie es möglich war, dass sie so lange durchhielt. Rein biologisch betrachtet hätte sie bei diesem rasch voranschreitenden körperlichen Zerfall längst tot sein müssen. Ihre Liebe zu ihm schien sie wirklich am Leben zu halten, genau wie sie gesagt hatte. Es gab einfach keine andere Erklärung. Jens war sich sicher, dass sie nur nicht sterben wollte, um ihn weiterhin zu quälen. Sie wollte ihn weiter foltern, das sah er in ihren garstigen Augen, das erkannte er an ihrem sadistischen Lachen. Sie genoss ihren elenden Zustand förmlich, da sie wusste, wie sehr sie ihm damit schadete. Es war klar, dass Jens sie auf natürliche Art nicht los wurde. Der Tod wollte und wollte nicht kommen. Wahrscheinlich hatte selbst dieser zu viel Angst vor Helena als dass er sie freiwillig holen würde. Wahrlich eine Kreatur zum Fürchten!
Jens hatte noch immer seine Flinte in der Hand und streichelte diese so, wie er Helenas Kopf immer gestreichelt hatte. Just in diesem Augenblick wurde ihm bewusst, was er zu tun hatte. Er wollte es zunächst nicht wahrhaben, da er dafür seine Hemmschwelle überschreiten musste, doch es gab schlichtweg keinen anderen Ausweg. Und er wollte endlich frei sein. Diesem Ziel musste er alles unterordnen. Das eigene Wohl musste sichergestellt werden und manchmal war dann eben rücksichtsloses Verhalten erforderlich. Die Waffe war noch geladen...
Wenige Minuten später stand Jens in Helenas Zimmer. E hatte sich vor ihr aufgebäumt, wovon sie jedoch nichts mitbekam, da sie tief und fest schlief. Langsam richtete Jens die Waffe auf seine Frau und visierte ihre Stirn an. Er begann zu sprechen, mehr zu sich selber: "Ich muss dem ein Ende setzen, Helena. Ich kann dies nicht länger ertragen. Du quälst mich, ja, du bringst mich gar um. Ich habe dich immer geliebt aber du tust mir einfach zu sehr weh und deshalb musst du endlich sterben. Ich will Frieden finden und du schließlich auch. Ich erlöse uns beide. Es ist zu deinem Besten. Du musst nicht länger leiden. Du stirbst nicht, deswegen ist es an mir, den Tod herbeizuführen. Ich tue dies aus grenzenloser Liebe zu dir, musst du wissen!"
Plötzlich riss Helena die schrecklichen Augen weit auf. Sie blickten Jens entsetzt an. Dieser schrie laut auf vor Angst, wartete nicht länger und drückte ab. Ein ohrenbetäubender Knall ertönte und die Kugel schoss Helena mit hoher Geschwindigkeit und gewaltiger Kraft mitten in den Kopf. Blut rann aus der Stelle des Einschlags und ihr geschundener Körper sackte leblos zusammen. Jens Hände zitterten so stark, dass er die Flinte fallen ließ. Sofort stürmte er aus dem Zimmer und verschloss es. Was hatte er nur getan?
Jens wankte in sein Schlafzimmer. Er konnte keinen klaren Gedanken fassen. Vor lauter Erschöpfung ließ er sich einfach auf sein Bett sinken. Die Müdigkeit übermannte ihn. Ihm wurde schwindelig. Alles drehte sich, ihm wurde schwarz vor Augen. Augenblicklich schlief er ein, er konnte nicht anders, war zu müde.
Jens war umgeben von tiefster Dunkelheit. Er war im Nichts. Frieden, Ruhe, Erholung. All dies hatte er endlich gefunden. Zumindest bis zu jenem Zeitpunkt. Als sie zurückkehrte...sie. Von den Toten auferstanden. Plötzlich öffnete sich quitschend die Tür. Jens vernahm die Schritte von nackten, über den Boden gleitenden Füßen. Er schreckte hoch. Es war real! Helena stand vor ihm, eingehüllt in Dunkelheit. Sie schwebte im Nichts. Es gab keine Zeit, keinen Raum, nur sie und ihn. Doch etwas war anders! Jens bemerkte es natürlich sofort. Vor ihm stand nicht die Helena, an die er mittlerweile gewohnt war, sondern jene, die er nur noch von dem Foto, das auf seinem Regal stand, kannte. Die junge, hübsche Frau bevor sie ihrer Krankheit zum Opfer fiel. Sie beugte sich über den im Bett liegenden Jens und küsste ihn sanft. Erst jetzt bemerkte Jens die Wunde an ihrem Kopf. Sie lächelte ihn an und sagte in ihrer lieblichen Stimme: "Ich bin wieder da, Geliebter. Meine grenzenlose Liebe zu dir hat mich wieder zum Leben erweckt. Niemals werde ich dich verlassen. Niemals!"
Jens war sprachlos und überwältigt von ihrer Schönheit. Er erinnerte sich nicht mehr daran, dass sie jemals krank gewesen war. Alles, was er wollte war, sie zu umarmen, was er auch tat. Helena erwiderte die Umarmung zunächst auch, doch als sie ihn erneut küssen wollte, erschrak sie und wich zurück.
"Was ist los, Schatz", fragte Jens voller Verwunderung. Ebenfalls verwundert war er über seine eigene Stimme. Sie klang so...anders. So befremdlich. So hoch und schrill.
"Du widerst mich an, Jens!"
"Was...Helena...warte!"
Helena nahm einen kleinen Handspiegel hervor und hielt ihn Jens vor das Gesicht. Dann folgte Geschrei. Geschrei und nichts anderes. Entsetzt über den furchtbaren Anblick, den er bot, schlug er ihr den Spiegel wütend aus der Hand. Seine Haare waren gänzlich ausgefallen, die Augen entsetzlich blass, die Haut grau und faltig.
Angewidert sah die schöne Helena auf ihn herab. Dann drehte sie sich um und ging ohne ein weiteres Wort zu sagen. Sie entschwand in der Dunkelheit, aus der sie gekommen war. Die ewige Dunkelheit...
Jens schrie ihr hinterher: "Nein, Helena! Wo willst du denn hin? Geh nicht, bleib bei mir, bleib bei mir! Ich liebe dich, Schatz. Ich liebe dich!"
"Ich liebe dich auch", kam prompt die Antwort. Jens Augen weiteten sich vor Entsetzen. Er kannte diese hohe, psychopathische Stimme nur zu gut. Es war die Stimme des Ungeheuers. Helena nach dem Ausbruch ihrer Krankheit, so wie er sie zuletzt immer gesehen hatte, sehen musste!
Sie tauchte wieder auf und stand direkt vor Jens! Ihre dünnen Lippen formten ein teuflisches Grinsen. Ihre blassen Augen sahen in die von Jens. Ihre Haut war noch verschrumpelter als zuvor und am Kopf hatte sie eine klaffende Wunde, aus der Blut und Eiter strömte, das ihr über ihr entstelltes Gesicht rann.
"Nein, nicht du! Ich will nicht diese Helena! Geh weg! Verschwinde! Hau ab!", schrie Jens voller Verzweiflung auf. "Lass mich in Ruhe. Bitte lass mich in Ruhe, du Monster!" Er brach in hysterisches Weinen und verzweifelte Hilferufe aus.
Helena dagegen blieb ganz ruhig und näherte sich ihm bedrohlich.
"So lange ich dich liebe, werde ich dir keine Ruhe lassen. Und ich werde dich immer lieben, Jens. Ich werde immer zu dir zurückkehren, dich immer in deinen Träumen heimsuchen. Ich tue dies aus grenzenloser Liebe zu dir, musst du wissen!"
Starr vor Entsetzen konnte Jens sich nicht mehr regen. Helenas Gesicht war nun ganz nah an seinem. Er blickte in ihre grässlichen, toten Augen. Niemals würde er dieses Bild aus seinem Kopf bekommen...niemals.
"Wenigstens bin ich jetzt nicht mehr die einzige, die so hässlich ist", meinte Helena, während sie Jens entstelltes Gesicht genaustens betrachtete. "Auch dein Körper zerfällt jetzt so wie der meinige. Doch keine Sorge, Schatz. Ich liebe dich, egal wie du aussiehst, egal wie krank du bist. Ich werde dich immer lieben!"
Anschließend küsste sie Jens und dieser war nicht imstande, sich zu wehren und musste alles über sich ergehen lassen. Helenas Gestank kroch ihm in die Nase. Oder war es etwa sein eigener? Jedenfalls war es der Gestank einer verwesenden Leiche. Stellte sich nur die Frage, wer von beiden in Wahrheit der Tote war.
"Weißt du was, Jens?", sagte Helena und bäumte sich auf einmal vor ihm auf. "Wir holen jetzt nach was uns in früheren Tagen nicht gelungen ist."
Jens stammelte: "Was...was meinst du?" Natürlich wusste er genau was gemeint war.
Helena lachte erneut. Das Lachen ging durch Mark und Bein und auf Jens Körper richtete sich jedes Haar vor Erschaudern auf. Wie wild und besessen kreischte die Wahnsinnige: "Wir machen ein Kind! Wir machen ein Kind, damit ich in ihm weiterleben kann! Wir machen jetzt ein Kind!"
Dann bot sich Jens ein Anblick von solch unfassbarem Grauen, dass er befürchtete, den Verstand zu verlieren. Helena riss sich die Kleider vom Leib und stand nackt vor ihm, während sie weiterhin nicht aufhörte zu kichern und zu kreischen. Beim Anblick ihres entblößten, verkümmerten und verwesten Körpers kombiniert mit ihrem stechenden Gestank, wurde Jens unbeschreiblich übel und er hatte das Gefühl alle Nahrung erbrechen zu müssen, die er in seinem gesamten Leben je zu sich genommen hatte.
Alles was er tat, war schreien. Rühren konnte er sich nicht, dafür saß der Schock zu tief. Je lauter er schrie, desto lauter wurde auch das teuflische Lachen Helenas. Wahrlich, sie ergötzte sich an seinem Leid, spielte mit ihm, nutzte seine Angst aus und genoss die eigene Überlegenheit, die sie vollkommen auskostete.
Doch das Schlimmste sollte noch folgen! Helena kletterte mit einem breiten Grinsen, das ihre verfaulten Zähne offenbarte und weit aufgerissenen, wahnsinnig gewordenen Augen aufs Bett und entriss Jens die Decke, in die er sich vor lauter Angst gehüllt hatte. Kraftlos, unfähig sich zu bewegen und wie paralysiert musste Jens mitansehen und miterleben wie Helena ihn entkleidete und sich an ihm verging...
Schweißgebadet wachte Jens auf und sah sich panisch um. Er lag zugedeckt in seinem Bett, alleine. Sonst war niemand im Raum. Alles war beim Alten. Naja, zumindest fast. Das eingerahmte Bild von Helena in ihren jungen Jahren lag auf dem Boden. Das Glas war zerstört. Er musste im Schlaf so heftig um sich geschlagen haben, dass er das Bild erwischte und es vom Regal stieß. Es musste so gewesen sein, denn ansonsten war schließlich keiner im Raum...
Jens rannte ins Badezimmer und begutachtete sich im Spiegel. Zwar war sein Gesicht nach wie vor abgemagert, doch wenigstens sah er nicht krank und entstellt aus, so wie im Traum. Erleichtert atmete er auf. Nichts von dem Horror, den er erlebt hatte war real. Glücklicherweise! Dann erinnerte er sich jedoch schlagartig an einen anderen Albtraum, von dem er wusste, dass er leider real war.
Er stürmte ins Gästezimmer. Auf dem Boden lag die Flinte. Das Bett jedoch war leer. Wo war die Leiche? Wo war Helena? Erschroken riss Jens die Decke herunter, warf das Kissen beiseite, sah unter dem Bett nach, schob den Schrank aus dem Weg, doch fand...nichts. Keine Spur von Helenas Leiche!
"Unmöglich! Wo ist sie? Wo ist sie verdammt nochmal?!", schrie er panisch auf. In ihm machte sich ein merkwürdiges Gefühl breit. Als ob er beobachtet würde. Als ob noch jemand anderes im Raum wäre. Sein Herz stand für einige Sekunden still, denn in diesem Moment legte sich eine eiskalte Hand auf seine Schulter.
"Ich bin zurück, Schatz!"

Feedback

Logge Dich ein oder registriere Dich um Storys kommentieren zu können!

Autor

MichaelLutzs Profilbild MichaelLutz

Bewertung

Noch keine Bewertungen

Statistik

Sätze: 420
Wörter: 4.764
Zeichen: 27.300

Ähnliche Storys

Scherben der Schuld
Von Ast3ri
35 4 1 16
Andere Zeiten
Von Tommy
57 5 2 12
Auf Abwegen
Von Tommy
117 5 1 16
Möge Frieden
Von Tommy
111 5 1 16
Das alte Spukhaus?
Von Sarah
74