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Die Tatsachen im Fall Viktor

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22.12.18 16:25
16 Ab 16 Jahren
Fertiggestellt
"Was die Welt gemeinhin Genie nennt, ist jener krankhafte Geisteszustand, welcher aus einer ungebührlichen Vorherrschaft einer einzigen Fähigkeit über alle anderen erwächst. Die Werke solcher Genies sind niemals von echter Gesundheit und verraten in speziellen Punkten stets einen wahnhaften Geist."
Edgar Allan Poe
Alle Berichte, die ich mühsam von diesem Mann namens Viktor habe auffinden können, gedenke ich hier darzulegen, um der Nachwelt zu erhalten. Glücklicherweise sind seine Schriften gut erhalten geblieben, weshalb wir  über ein aussagekräftiges Bild der Lebensgeschichte dieses Menschen verfügen und uns dieser tragischen Erzählung erfreuen können. Mir selbst steht es zu, über ihn zu urteilen, da ich, wie der Bericht noch ergeben wird, ein enger Vertrauter dieses Mannes war. Nichtsdestotrotz mahne ich zur Vorsicht. Welcher der im Folgenden geschilderten Ereignisse tatsächlich der Wahrheit entsprechen und welche nur der kranken Fantasie eines eindeutig Wahnsinnigen entstammen, ist nicht endgültig zu klären und bleibt uns allen wohl auf Ewig ein Mysterium. Die Frage nach der absoluten Wahrheit, der unumstößlichen Gültigkeit einer Erfahrung ist ohnehin eine, welche dem Menschen nicht zusteht, zu beantworten. Der Verstand ist zu beschränkt, die Gültigkeit der Erfahrungen hinterfragbar, genau wie alles andere auch. Nur die Kraft der Fantasie vermag Antworten zu liefern auf Mysterien, die sich der Geisteskraft des Intellekts wohl auf Ewig entziehen werden. Nicht wenige sind der Annahme, der Tod liefere Antworten, auf die quälenden Fragen nach der Erkenntnis. Doch wie würde der Mensch wohl reagieren, wenn er erführe, dass es sich bei der Existenz alles Irdischen bloß um reine Imagination, den Traum eines Wahnsinnigen handelt? Jeder Mensch ist somit auf seine Art wahnsinnig, da erst sein krankes Hirn die Welt um ihn herum entstehen lässt, denn außerhalb der fixen Idee, der ideelen Vorstellung, existiert nichts. Folglich spielt es keine Rolle, ob der Bericht Viktors vollkommen den Tatsachen entspricht oder nicht. Wer legt schließlich fest, ob Träume und Fantasien nicht genau so echt sind, wie die vermeintlich reale Welt? Andersherum gefragt, wie können wir uns sicher sein, dass die Welt nicht einzig das Produkt unserer Vorstellung, sowie unseres Willens ist? Das Subjekt sieht in der Welt, was es zu sehen gezwungen ist, bedingt durch die geistigen Ergüsse seiner krankhaften Einbildung. Erhält vor diesem Hintergrund nicht gar der gesamte Begriff des Wahnsinns eine gänzlich andere Bedeutung? Das Absurde, das Groteske, wird pötzlich zur Normalität. Erfahrung ist etwas surreales, wahre Erkenntnis ist in der materiellen Welt niemals vollständig zu erlangen. Der Mensch ist nur a priori seinen Vorstellungen unterworfen, die sein individuelles Bild der Wirklichkeit formen, jedoch keineswegs auf Vernunft oder Erfahrung zurückzuführen sind, sondern einzig auf die Fantasie des Übernatürlichen, der Krankhaftigkeit des eigenen Geistes und der emotionalen Verkehrtheit. Vor diesem Hintergrund lässt sich die Erzählung unseres Viktors, einem zutiefst emotional gebrochenen und zerrissenen Menschen, besser verstehen und einordnen. Was Formen der höchsten geistigen Verwirrtheit wie das Phänomen der Liebe in einem Subjekt auszulösen in der Lage sind, wird der Bericht zeigen. Folglich bitte ich den Leser dazu, nicht allzu schlecht von diesem bemitleidenswerten Mann zu denken, und seine eigenen Moralvorstellungen für den Augenblick zu verwerfen (ohnehin ist nichts in der Welt von absoluter Gültigkeit, weder der bestirnte Himmel über mir, noch das moralische Gesetz in mir). Antworten wird die Zeit liefern!
Mein Name ist Viktor, den Familiennamen möchte ich aus Gründen des Identitätsschutzes nicht preisgeben. Auch das Jahr meiner Geburt soll unbekannt bleiben. Ich lebte ein recht bescheidenes Leben der Mitte, zwischen Mangel und Übermaß. Ich war ein Mensch, der nicht viel zu seinem Glück bedurfte, dementsprechend hegte ich kaum Ansprüche. Die Liebe meines Weibes, der wundervollen Maria genügte mir. Ich selbst versuchte mich in den Bereichen der Kunst zu betätigen, dichtete und komponierte, jedoch mit geringen Erfolg. Das wahre Genie war Maria! In sämtlichen Lebensbereichen war sie mir überlegen. Ihre Dichtungen und ihre Kompositionen versetzten mich stets aufs Neue in Erstaunen. Ihr ebenfalls ausbleibender Erfolg war einzig auf geschlechtsbedingte Diskriminierung zurückzuführen und keineswegs auf mangelnde Qualität, wie es bei mir der Fall gewesen. Doch nicht nur in den Künsten war ich Maria hoffnungslos unterlegen. Auch in den Wissenschaften legte sie eine außergewöhnliche Begabung an den Tag. Ihre mathematische Begabung war kaum zu übersehen, ihr Allgemeinwissen im Bereich der Physik bemerkenswert. Sie verfasste gar philosophische Abhandlungen, etwas, das mir niemals gelang, auch wenn ich mir kaum etwas sehnlicher wünschte. Die eigene Limitiertheit meines Verstandes war mir höchst zuwider, doch Maria gleichte all diese Schwächen auf beeindruckende Art und Weise wieder aus, weshalb ich das unvollständige Bild meiner Selbst in ihr zu vervollständigen suchte.
Maria war eine derart vielseitig begabte und interessierte Frau, dass es nichts zu geben schien, wozu sie nicht in der Lage war. Diese geistige Perfektion spiegelte sich jedoch nicht in ihrem äußeren Erscheinungsbild wider. Wahrlich handelte es sich bei ihr nicht um eine Frau, die dem klassischen Schönheitsideal entsprach. Sie war recht großgewachsen, dafür jedoch spindeldürr. Die Haut war blass, das schwarze Haar spröde, und die Augen eindeutig zu groß geraten. Immer wenn ich ihr in die Augen sah, glaubte ich, der Mond würde mir entgegenblicken. Dennoch erschien sie mir als wunderschön. Ihre Bewegungen hatten etwas derart elegantes und würdevolles an sich, wie ich es noch nie zuvor gesehen hatte. Sie zeigte, dass sie sich in ihrem Körper wohl fühlte und dieses gesunde Selbstvertrauen gepaart mit der zuvor thematisierten unbeschreiblichen Anmut und Würde, ließ sie für mich zutiefst attraktiv wirken und täuschte über äußerliche Makel mühelos hinweg.
So grenzenlos meine Liebe zu Maria doch war, so kann ich nicht leugnen, dass ich mich zuweilen wahrlich vor ihr ängstigte. Ihre Geisteskraft nahm Züge an, die ich nicht mehr für menschlich hielt. Sie stellte für mich die Personifizierung des Übernatürlichen dar, etwas, das Worte allein nicht auszudrücken vermögen. Und was nicht durch die Sprache vermittelt werden kann, ist auch für den Verstand unmöglich nachzuvollziehen, denn Sprache, Denken und Erkenntnis sind untrennbar miteinander verbunden und bedarfen gar einander, denn ohne das eine, existiert das andere auch nicht. Daraus folgt, dass ich Maria, ihr gesamte Persönlichkeit, ihr unbeschreibliches Wesen, weder selbst verstand noch überhaupt erklären konnte. Das von ihr hier dargelegte Bild ihrer Selbst ist aus diesem Grunde unvollständig und entspricht nicht der Wahrheit. Grundsätzlich fürchtet sich der Mensch vor dem, was seine Vernunft rational nicht zu begreifen in der Lage ist und ich stellte dabei selbstverständlich keine Ausnahme dar, da ich ein Mensch war, wie jeder andere auch. Ich hatte Angst, mich in Marias Nähe aufzuhalten, da ich den Grund ihrer Präsenz nicht verstand. Voller Ehrfurcht vergötterte ich sie, steigerte mich in eine krankhafte Abhängigkeit. Die Angst verhinderte, dass ich mich von Maria trennen konnte, was sicherlich auch meiner eigenen Gesundheit eine Wohltat gewesen wäre. Doch ich teilte mir weiterhin die Wohnung mit dieser nicht irdischen Erscheinung und lebte somit den selbstzerstörerischen Trieb, der mir seit jeher zu eigen war, in vollen Zügen aus. Für Maria entschied ich mich aus freien Stücken, zu leiden, stand folglich jeden Tag Todesängste aus und erniedrigte mich vor ihr. Sie kritisierte meine Dichtungen und verglich sie mit ihren eigenen Meisterwerken, was ich ihr keineswegs übel nahm, stand einem solch großen Geist doch jederzet zu, die Ergebenen und Unterwürfigen zu demütigen.
Wenn ich am Klavier übte und ich die leisen, kaum wahrnehmbaren, leichtfüßigen Schritte der sich mir nähernden Maria vernahm, erstarrten all meine Glieder und ein eiskalter Schauer lief mir den Rücken herab. Ich verfiel stets in einen tranceähnlichen Zustand, sobald sich ihre eiskalte und bleiche Hand auf meinen Hals legte und von dort langsam an der Schulter herab glitt und ihre erschreckend ruhige und stets gefasst wirkende Stimme mir befohl, aufzustehen und sie spielen zu lassen. Augenblicklich verließ ich dann den Raum und überließ der Kreatur das Zimmer. Heimlich lauschte ich jedoch an der Tür, meist gar stundenlang, ohne mich auch nur zu regen und ließ mich von herrlichen Klängen, die Maria dem Instrument entlockte, verzaubern und noch weiter in ihren Bann ziehen.
Maria und ich hatten kein intimes Verhätlnis, körperliche Nähe war eine absolute Seltenheit. Ich selbst getraute mich nicht, mich ihr zu nähern und sie schien das Bedürfnis danach zu verspüren, wofür ich sehr dankbar war. Dies bestätigte zudem meinen Eindruck, dass es sich bei dieser Frau nicht um ein irdisches Geschöpf handeln konnte, da sie selbst vollkommen losgelöst von allen menschlichen Begierden und Trieben zu sein schien. Wie eine erhabene Gottheit stand sie über allem Weltlichen, ihre betonte Sachlichkeit, emotionale Kälte und schier unmenschliche Rationalität, verstärkten das Bild des Übernatürlichen, welches ich von ihr hatte. Es mag lächerlich erscheinen, doch tief im Innern war ich davon überzeugt, dass Maria unsterblich war, dass sie auch Jahrhunderte später noch an meinem eigenen Grab wachen würde und auf selbiges mit ihren eiskalten Mondaugen herabstarren würde. Dieser Gedanke war mir derart unerträglich, dass ich nicht einmal mehr mit Maria das Bett teilen konnte. Tatsächlich schlief ich in einem Nebenraum, meist im Sitzen auf einem Stuhl, so unerträglich wurde mir ihre physische Gegenwart. Des Nachts wachte ich zumeist aus den schrecklichsten Albträumen auf, in welchen mir Maria erschien, gekleidet in einem entsetzlich entstellten Leichentuch. Dann blickte ich angsterfüllt auf die Tür zu Marias Schlafgemach und fragte mich, was wohl hinter dieser Tür geschah. Diese Fantasien ließen mich zutiefst erschaudern und raubten mir endgültig den so wichtigen und heilenden Schlaf.
Eines Tages als ich erneut heimlich lauschte, während Maria Klavier spielte, ereignete sich etwas, das ich niemals für möglich gehalten hätte. Sie spielte ensetzlich, absolut grässlich, von ihrer einstigen Perfektion war nichts mehr übrig geblieben. Zudem wurde das Spiel oftmals von hysterisch anmutenden Hustenanfällen unterbrochen. Die Klänge des Klaviers gingen mir durch Mark und Bein. Vollkommene Disharmonie lag vor, diese sogenannte Musik ließ mich in meinen Grundfesten erschaudern. An gewöhnlichen Tagen spielte Maria schöner als ich es je für möglich gehalten hätte. Ich vernahm die süßesten Klänge, die Pforte des Himmels öffneten sich vor mir und ich hörte den Gesang der Engel und wurde des Herrn leibhaftig ansichtig. An diesem Tag jedoch spielte Maria schrecklicher als ich es mir in meinen furchtbarsten Albträumen hätte ausmalen können. Ich vernahm das Lachen des Satans, welches mir den Magen umdrehte und das schlagende Herz in meiner Brust zum Stillstand zwang. Ich hörte alle Klänge der Hölle, die schrecklichsten Kreaturen nahmen sich meiner an und setzten mich einer menschenunwürdigen Folter aus.
Ohne dass ich mich dessen hätte erwähren können, schrie ich plötzlich laut auf: "Aufhören! Aufhören! Aufhören!" Verzweifelt hielt ich mir die Ohren zu, doch die Höllenklänge hallten in meinem Kopf wider und erfüllten mein Herz mit tiefster Furcht. Das Instrument heulte ein letztes Mal mit einem mächtigen und erschütternden Klang auf und dann herrschte Ruhe.
"Beende das Hexenwerk", heulte ich voller Entsetzen und stieß die Tür zu ihrem Zimmer gewaltsam auf. Der sich mir offenbarende Anblick hätte wundersamer nicht sein können. Ich zweifelte an der Glaubhaftigkeit meiner sinnlichen Erfahrungen, da das, was sich unmittelbar vor meinen Augen abspielte, den Erkenntnissen meines Verstandes zuwiderlief. Maria, meine Geliebte und gleichzeitig Verhasste, die Frau, die ich für unverwundbar und von irdischen Naturgesetzen für losgelöst gehalten hatte, lag dort vor mir ausgestreckt auf dem Boden. Auf den Tasten des Klaviers erkannte ich Tropfen frischen Blutes. Die Blässe Marias Haut hatten nun ebenfalls unmenschliche Züge angenommen, die violett und dick angelaufenen Adern kontrastierten mit der toten Hautfarbe, die Mondaugen waren auf entsetzliche Art aus ihren Höhlen hervorgetreten und aus dem weit geöffneten Mund rann Blut, welches, ich vermochte es nicht zu glauben, schwarz erschien. Sofort eilte ich zu ihr herüber und unternahm verzweifelte Wiederbelebungsversuche, die allesamt scheiterten. Nach einer gewissen Zeit blieb mir nichts anderes übrig, als ihren Tod festzustellen. Mein Weltbild unterlag einer derartigen Erschütterung, dass ich an meiner eigenen Zurechungsfähigkeit zweifelte. Maria war tot. Es war mir ein Unmögliches diese Tatsache zu begreifen und zu akzeptieren. Gott hatte seinen Liebling zu sich gerufen und ließ einen armen Mann in seiner Verzweiflung alleine zurück. Was ich allerdings ebenfalls nicht zu verschweigen gedenke, ist die neue, sich in mir entwickelnde Gemütsverfassung. Es ist mir vollkommen unerklärlich, doch der leblose Körper der Maria, welcher mir zu Füßen lag, erregte mich um einiges mehr, als es der lebendige jemals tat. Aus unerklärlichen Gründen genoss ich die neu gewonnene Überlegenheit. Endlich war ich nicht mehr der Unterlegene, endlich war ich ihr übergeordnet, denn ich war am Leben, während sie tot war. Dieses eine Mal in meinem Leben hatte ich Maria etwas Voraus, dies war der einzige Sieg, den ich jemals über sie erringen konnte, das einzige Mal, dessen sie eher meiner Hilfe bedurfte als ich der ihren.
Mit den Fingern schloss ich Marias weit geöffnete Augen und trug den Leichnam in das Bett. Im Anschluss zerschlug ich mit einer Axt das Klavier, da selbiges nur eine schmerzhafte Erinnerung an meine Frau gewesen wäre und warf all ihre Schriften in den Ofen. Dann legte ich mich in das Bett, neben die Leiche und umschloss den toten Körper mit meinen Armen. In dieser Position schlief ich ein, so ruhig und gelassen wie schon lange nicht mehr.
In jener Nacht träumte ich, dass ich mich mit Maria auf einem Friedhof befand. Hand in Hand überquerten wir langsam den Friedhof, bis meine Frau plötzlich begann, Blut aus ihrem Mund herauszuhusten und anschließend zusammenbrach. Verzweifelt nach Hilfe schreiend, wurde mir bewusst, dass wir alleine waren. Ich erblickte in der Ferne ein bereits ausgehobenes Grab, schulterte tränenüberströmt den Leichnam und trug ihn zu jener Stelle. Als ich den Körper soeben in das Grab gelegt hatte, klopfte mir jemand von hinten auf die Schulter. Erschrocken wandte ich mich um und starrte in mein eigenes Gesicht.
In diesem Augenblick erwachte ich schweißgebadet und mit rasendem Herzen aus meinem Traum und erschauderte heftig, als Marias weit geöffnete Mondaugen mir entgegenblickten. Ich hatte völlig vergessen, dass ich zusammen mit der Leiche im Bett lag und sprang sofort auf. Hatte ich die Augen der Toten nicht geschlossen? Wieso standen sie auf einmal weit geöffnet?
Am darauffolgenden Tag meldete ich Marias Tod und eine Woche später fand die Beerdigung statt. Außer einigen Geistlichen war abgesehen von mir niemand anwesend, was mich nicht verwunderte, lebten wir beide doch stets von der Zivilisation abgeschieden und hatten nur einander. Seltsam erschien mir nur die Tatsache, dass das Grab bereits zuvor schon ausgehoben war...
Ich verfiel in eine tiefe Depression, die Schatten bemächtigten sich meiner Seele, sodass ich keinen Ausweg aus meinem Leid zu finden in der Lage war. Marias Tod hatte mir vollständig den Boden unter den Füßen weggezogen, das Schicksal hatte meiner armseligen Existenz jedweden Sinn geraubt. Eines Abends, als der Vollmond durch das Fenster schien und mein blasses Antlitz bestrahlte, fällte ich den Entschluss, meinem elenden Leben ein schnelles Ende zu bereiten. Mit Maria wollte ich die Verbindung im Tode wiederherstellen und mich selbst dadurch erneut vervollständigen. Ohne Maria wurde ich mir meiner eigenen Unvollständigkeit aufs Grausamste bewusst, meine Fehler und Schwächen traten in den Vordergrund. Dies vermochte ich nicht länger zu ertragen. Die Angst vor der irdischen Maria artete jetzt aus in eine allgemeine Angst vor der irdischen Welt als solche, weshalb ich die Verbindung mit der himmlischen Maria anstrebte, um die Last des Lebens von mir abzuwerfen.
Als ich gerade das Messer zur Hand genommen und kurz davorstand, mir einen tödlichen Schnitt zuzufügen, ließ eine Stimme mich erstarren: "Halte inne, Viktor!"
Vor Schreck ließ ich das Messer fallen und blickte mich um. "Wer spricht dort?"
Aus dem Nichts erschien vor mir eine geisterhafte Erscheinung. Entsetzt wurde mir sofort bewusst, um wen es sich dort handelte. Es war ich selbst. Jedenfalls sah der Geist genauso aus wie ich. Somit erschloss sich mir auch, warum ich in meinem Traum in mein eigenes Gesicht blickte. Es musste einen Doppelgänger von mir geben, der sich mir im Traum ankündigte und mir nun leibhaftig erscheint. Wenn ich schreibe, dass die Gestalt meiner Selbst vollständig gleicht, liege ich nicht gänzlich richtig. Ihre Gesichtszüge erscheinen viel boshafter als die meinen. Vielmehr handelte es sich bei dieser geisterhaften Erscheinung um eine boshafte Version meiner Selbst und nicht um ein genaues Abbild.
"Du wirst dich nicht umbringen, Viktor", sagte mein komplett in schwarz gekleideter Doppelgänger.
"Wer bist du und was willst du von mir", stammelte ich nur, ohne den Blick von dem Geist abwenden zu können.
"Unwichtig. Entscheidend ist das Angebot, welches dir zu unterbreiten, ich gedenke."
"Hat es etwas mit Maria zu tun", erkundigte ich mich vorsichtig. Aus einem mir unerklärlichen Grund hatte ich eine gewisse Vorahnung. Irgendetwas sagte mir, dass der Doppelgänger von Maria gesandt wurde und in ihrem Auftrag handelte.
Bestätigung für meine Annahme fand ich in der Antwort des unangekündigten Besuchers: "Ich verfüge über die Macht, dir deine Geliebte zurückzuholen. Im Gegenzug verlange ich gewisse Dienste von dir, denn alles in der Welt hat seinen Preis."
Plötzlich wurde ich hellhörig, sprang von meinem Platz auf und fiel dem Doppelgänger zu Füßen.
"Oh Herr, ich weiß, dass Ihr es seid! Eine göttliche Erscheinung, gesandt von Maria, um mich von meinen Qualen zu erretten! Sagt, was muss ich tun, um meine Geliebte zurückzubringen?"
Der Geist sprach: "Maria gehört nicht in die irdische Welt. Sie in selbige zurückzubringen, stellt dementsprechend eine mit erheblichen Schwierigkeiten verbundene Herausforderung dar. Um Leben zurückzubringen, muss es eingetauscht werden gegen anderes Leben. Ich verlange als Gegenleistung also, dass du mir drei Menschen opferst."
Diese Forderung seitens des Unbekannten, ließ mich erbleichen. Zögerlich begann ich, das Für und Wider abzuwägen. Ich, ein vollkommen harmoniebedürftiger Mensch, der bislang keinerlei Gewaltpotential in sich trug, sollte zum kaltblütigen Mörder werden. Allein diese Vorstellung und der Gedanke daran, einem anderen Menschen das Leben zu nehmen, war mir zuwider, doch ich dachte an Maria und wie sehr ich ihrer Vollkommenheit und Perfektion bedurfte, um mich selbst lieben zu können. Ich vermisste die Angst und Ehrfrucht vor ihr, ich vermisste das Gefühl, lebendig zu sein und spürte aufs Neue die abgrundtiefe Leere in meinem Herzen. Die Angst vor der Einsamkeit und mit der eigenen Unfähigkeit dauerhaft konfrontiert zu sein, wog wesentlich schwerer als die Angst davor, zu morden und mich auf übernatürliche Mächte einzulassen, die ich ebenso wenig verstand, wie damals Maria. Daher fragte ich: "Wen muss ich umbringen?"
Der Doppelgänger sprach: "Die Wahl obliegt einzig dir. Die einzige Voraussetzung ist, dass es sich bei den drei Opfern um Menschen handelt, die alle wichtigen menschlichen Emotionen hervorrufen. Folglich muss eines der Opfer ein Mensch sein, den du liebst, eines ein Mensch, den du hasst und eines ein Mensch, der keinerlei Gefühle in dir erweckt, also ein dir Unbekannter. Reihenfolge ist irrelevant, Zeitvorgabe existiert nicht. Dennoch rate ich dazu, nicht zu lange zu zögern, da auch deine eigene Zeit schwindet!"
Ich sah meinen Doppelgänger entschlossen an, dennoch bemächtigte sich ein Gefühl von Unbehagen meiner. Der Unbekannte hielt mir seine Hand hin.
"Willigst du ein?"
Ohne zu zögern schlug ich ein und just in dem Augenbick, in dem sich unsere Hände berührten, begann die meine plötzlich rot anzulaufen und zu glühen. Erschrocken ließ ich los und wich zurück, die ursprüngliche Farbe kehrte in meine Hand zurück. Der Doppelgänger grinste.
"Was passiert, wenn ich scheiter?", wollte ich wissen.
"Dann gehörst du mir", sagte die Gestalt und löste sich auf einmal in Luft auf. Ich vernahm trotzdem noch ihre Stimme, die sagte: "Ich beobachte dich!"
Und dann stand ich alleine da, von Dunkelheit umgeben, in Finsternis gehüllt und begann hemmungslos zu weinen. Worauf hatte ich mich da nur eingelassen? Und es gab kein Zurück mehr...
"Trink noch etwas, ich gebe dir einen aus", sagte ich. Ich befand mich in einer Kneipe, etwas außerhalb meiner Heimatstadt, wo mich niemand kannte und wo ich niemanden kannte. Diesen Ort hatte ich als Schauplatz meines ersten Mordes erwählt. Ausgestattet war ich mit dem Messer, mit welchem ich kürzlich noch mein eigenes Leben auszulöschen gedachte. Es sollte also doch noch mit Blut getränkt werden, nur eben nicht mit meinem eigenen. An Selbstmord dachte ich mittlerweile längst nicht mehr. Allein die Vorstellung, dass ich einige Stunden zuvor noch kurz davor stand diese Handlung auszuführen, versetzte mich jetzt in Unverständnis. Warum sollte ich mein Leben schließlich einfach so wegwerfen, wenn mir jetzt doch von himmlischen Mächten die einmalige Möglichkeit zuteil wurde, meine Geliebte von den Toten zurückzuholen? Ich war zutiefst davon überzeugt, dass alles besser würde, und zwar schon sehr bald. Doch zunächst musste ich meine Pflicht tun. Alles in der Welt hat seinen Preis.
Ich hatte mich nicht direkt an die Theke gesetzt, sondern etwas abseits, da ich keine Aufmerksamkeit auf mich ziehen wollte. Für mein Vorhaben wäre Aufmerksamkeit höchst ungünstig gewesen. Ich musste heimlich agieren, aus dem Schatten heraus.
"Ich beobachte dich", flüsterte die Stimme in meinem Kopf. Ich hatte soeben das Gespräch mit einem mir gänzlich unbekannten Mann aufgenommen, der bereits sichtlich betrunken war. Diese Gestalt war ein absolutes Scheusal. Widerlich, ungepflegt, hässlich, dumm und abstoßend. Ich sorgte dafür, dass er immer mehr trank, indem ich gar die Kosten für seine Getränke übernahm. Mein Plan ging auf. Der Mann, der von Anfang an nur sinn-und zusammenhanglosen Blödsinn schwafelte, war nun derart betrunken, dass er nicht mehr in der Lage war, alleine die Kneipe zu verlassen. Ich bezahlte also für ihn (ich selbst hatte natürlich nichts getrunken) und begleitete ihn nach draußen, wobei ich ihn stützen musste, da er ansonsten augenblicklich zusammengebrochen wäre. Der Mann verfiel fortan bedingt durch den Alkohol in eine regelrechte Apathie. Er nahm um sich herum nichts mehr wahr, sprach kein Wort mehr und übergab sich mehrfach auf der Straße. Die Straßen hatten sich mittlerweile geleert, da es spät in der Nacht war. Die Hauptlichtquelle stellte der Mond dar, der von oben auf uns herabschien und die ganze Welt in ein gespenstisches, melancholisches Licht tauchte.
"Tu es jetzt", flüsterte die Stimme in meinem Kopf. Ich riss den Betrunkenen, der gar nicht wusste, wie ihm geschah, herum und zerrte ihn in eine gänzlich menschenleere, dunkle und stinkende Gasse. Dort schleuderte ich ihn zu Boden. Der Mann erbrach erneut und schaffte es nicht mehr, eigenständig auf die Beine zu kommen. Währenddessen gab er einige gänzlich unverständliche Laute von sich. Ich zögerte nicht länger und zückte mein Messer. Ich stieß es dem Betrunkenen mit voller Wucht gegen die Schläfe. Um gegen den Widerstand anzukämpfen, zog ich das bereits blutgetränkte Messer immer wieder heraus und stieß erneut an der gleichen Stelle zu. Von dem Mann vernahm ich nur noch ein schmerzerfülltes Stöhnen bis er schließlich leblos zu Boden sackte. Das Blut kam aus der Wunde in einer Fontäne herausgeschossen und breitete sich auf dem kalten Boden aus. Ich meinte gar das Gehirn aus der Stelle hervorquellen zu sehen. Das Blut mischte sich mit dem Erbrochenen und bot ein Bild des Grauens.
"Gut gemacht", flüsterte die Stimme in meinem Kopf. Mir wurde schwindlig und schwarz vor Augen. Ich taumelte rückwärts und musste mich an dem Gemäuer festhalten, um nicht den Halt zu verlieren. Mir wurde bewusst, dass ich schwer gesündigt hatte und sofort spürte ich wie meine Seele schwerer wurde. Ich machte mir gar nicht erst die Mühe, den Tatort von allen Spuren zu reinigen, die Stimme in meinem Kopf hatte mir nämlich glaubhaft zugesichert, dass meine Morde unbemerkt bleiben würden und niemand nach mir suchen würde. Selbstverständlich vertraute ich den höheren Mächten und suchte schleunigst das Weite.
Der Mord an einem mir unbekannten Menschen lag bereits hinter mir. Ich hatte einen wichtigen Schritt in Richtung Rettung Marias getan, doch mein Werk war noch lange nicht vollendet. Als nächstes musste ich einen verhassten Menschen aus dem Weg räumen. Hierbei musste ich nicht lange überlegen. Meine Wahl fiel auf den Verleger, Edgar von Grimmsland, ein absolut unausstehlicher Zeitgenosse. Meinen Hass hatte er bereits vor langer Zeit auf sich gezogen, da er sich stets weigerte, Marias Dichtungen zu verlegen und bezeichnete selbige gar als "schändliche Literatur". In Wahrheit handelte es sich bei ihm einfach um einen frauenfeindlichen, abgehobenen und moralisch zutiefst abstoßenden Menschen. Natürlich bedurfte ich eines Vorwandes, um mich mit ihm zu treffen. Einfach so war das schließlich nicht möglich. Ich konnte ihm jedoch keine meiner eigenen Werke zukommen lassen, da diese qualitativ niemals gut genug wären, um ihn zu überzeugen. Unglücklicherweise hatte ich jedoch die Dichtungen Marias allesamt verbrannt, um die schmerzhafte Erinnerung an sie auszulöschen.
Wie ich da so an meinem Schreibtisch saß und fieberhaft nach einer Lösung suchte, meldete sich die Stimme in meinem Kopf wieder zu Wort. Sie flüsterte: "Lass mich dir helfen."
Und wie von Geisterhand erschien auf meinem Tisch ein großer Stapel mit beschriebenem Papier. Verwundert las ich mir die Texte durch und erkannte sofort die Werke Marias wieder. Die übernatürlichen Mächte hatten sie also wieder hergestellt. Ich bereitete umgehend alles vor, verfasste einen ausführlichen Brief an Edgar von Grimmsland und fügte diesem dem Manuskript bei, bevor ich alles zusammen in einem Umschlag verpackte und zufrieden an seine Adresse verschickte.
Es dauerte wahrlich nicht lange, bis ich eine Antwort erhielt. Der Brief des Verlegers war recht kurz gehalten und auf das Wesentliche beschränkt, er ließ jedoch anklingen, dass er mich sehr gerne sehen würde und teilte mir bereits einen konkreten Termin für ein persönliches Treffen mit. Dieses nahm ich natürlich wahr.
Lange musste ich mich nicht gedulden. Bereits am nächsten Tag wurde ich in seine Redaktion eingeladen. Außer dem Messer nahm ich nichts mit. Äußerst widerwillig schüttelte ich Edgar die Hand und stellte mich vor, wobei ich gut aufpassen musste, ihm meinen Hass nicht zu deutlich zu zeigen. Nachdem ich ihm gegenüber Platz genommen hatte, begann er einen regelrechten Lobgesang auf meine Fähigkeiten, pries meine Werke und erzählte mir, ich hätte ihn mit meiner Kunst auf eine Weise verzaubert, wie er sie niemals für möglich gehalten hätte und dass diese Dichtungen das beste waren, was er jemals gelesen hatte. Ich nickte nur zustimmend und sagte nichts. Natürlich sprach er mir aus dem Herzen, da es mir genauso erging wie ihm, als ich Marias Werke gelesen hatte. Edgar meinte, er wolle meine Werke um jeden Preis veröffentlichen und sei gar bereit mir keinen Wunsch zu verweigern.
Ich lachte. "An Finanziellem bin ich keineswegs interessiert, gnädiger Herr."
"Was ist es dann, was ich für Sie tun kann, Sie Genie?"
"Zahlen Sie auch mit Blut?"
Wie er diese Worte gehört, starrte Edgar mich irritiert an. "Was meinen Sie damit", fragte er dumm.
Langsam und mit anmutenden Bewegungen, die ich mir von Maria abgeschaut hatte, erhob ich mich von meinem Stuhl und näherte mich meinem Feind und zweiten Opfer. Der Verleger blieb sitzen und warf mir einen fragenden Blick zu.
"Eine Sache möchte ich Ihnen gerne mitteilen", begann ich. "Diese Dichtungen. Sie sind nicht von mir. Meine Frau hat sie verfasst. Genau die Frau, die Sie stets abgelehnt und für nicht gut genug befunden haben."
Des Verlegers Augen weiteten sich ungläubig. "Von einer Frau? Unmöglich! Das kann niemals ein Weib geschrieben haben! Sie lügen!"
Bevor Edgar auch nur ein weiteres Wort sagen konnte, zog ich blitzschnell die Klinge hervor. Er realisierte, was ich vorhatte und wollte sich gerade abwenden, doch ich war schneller. Ehe er sich versah, steckte die Klinge bereits tief in seiner Brust. Genüsslich ließ ich das Messer tiefer hineingleiten. Mein Opfer riss den Mund auf und rang nach Atem, brachte jedoch keinen Ton heraus. Die Klinge zerfetzte Kleidung und Haut, durchbohrte und trennte das Gewebe, stieß tief ins Herz, das Blut rann wie wild aus der Einschnittstelle. Auf entsetzliche Art verdrehten sich die Augen des Opfers und der Körper wurde starr und kalt. Mit einem heftigen Ruck stieß ich das Messer wieder heraus und betrachtete freudig wie Edgar von Grimmsland, ein absolut widerlicher Mensch, den niemand je aufrichtig vermissen wird, tot zu Boden sank.
"Das ist für Maria", sagte ich. "Gut gemacht", flüsterte die Stimme. Mit irren Augen betrachtete ich voller Genugtuung mein Werk. Nun hatte sich der Blutdurst endgültig meiner bemächtigt. Ich genoss das Morden, hatte Freude dabei, erfreute mich der Wehrlosigkeit meiner Opfer und meiner eigenen Überlegenheit. Leise lachend und innerlich zufrieden, entfernte ich mich von dem Tatort und suchte meine eigenen heimischen Gefilden auf.
Die mit Abstand schwierigste Aufgabe stand mir noch bevor, da ich mir selbige für den Schluss aufgespart hatte. Ich musste noch einen geliebten Menschen umbringen. Die Problematik lag darin, dass ich nach Marias Ableben über keinerlei geliebte Person verfügte. Soziale Kontakte hatte ich niemals geknüpft, ich liebte nur Maria und hatte auch sonst keinerlei Freundschaften oder gute Bekanntschaften. Ich wusste aus diesem Grund gar nicht, wer in Frage käme, wer sich als mein drittes und letztes Opfer überhaupt eignen könnte. Daher beschloss ich, sorgfältig abzuwägen und zunächst einmal abzuwarten. Die ersten beiden Morde hatte ich sehr schnell hintereinander ausgeführt, weshalb ich mir beim dritten ruhig noch etwas Zeit lassen konnte. Schließlich musste alles gründlich geplant werden, da einfach zu viel auf dem Spiel stand.
"Wer könnte es nur sein", fragte ich laut. Die erhoffte Antwort der Stimme in meinem Kopf folgte prompt.
"Morgen wirst du den Friedhof und das Grab deiner Frau aufsuchen. Dort wirst du die Antwort finden."
Dankend lobte ich Gott für die Unterstützung, die er mir gewährte und legte mich schlafen.
Der nächste Tag begann mit einem Augenblick des Entsetzens. Als ich mich im Spiegel betrachtete, konnte ich kaum fassen, dass es sich bei dem Gesicht, das mir entgegenstarrte tatsächlich um mein eigenes handelte. Wahrlich hatte ich mich auf derart entsetzliche Art verändert, dass ich mich kaum wiedererkannte. Scheinbar über Nacht schien ich furchtbar gealtert zu sein. Die Haut war durchzogen von hässlichen Falten und Furchen, die blutunterlaufenen Augen blickten trüb und ausdruckslos drein, die Haare waren wir zum großen Teil ausgefallen und darüber hinaus gar leicht aber dennoch merklich ergraut. Diesen seltsamen Befund vermochte ich mit meiner Vernunft nicht zu erklären, ebensowenig die unerklärliche Schwere, die auf meinem Herzen lastete. Nichtsdestotrotz ließ ich mich davon nicht aus der Ruhe bringen und suchte alsbald den Friedhof auf.
Auf dem Friedhof fühlte ich mich erneut auf beklemmende Art und Weise in den seltsamen Traum zurückversetzt, welchen ich in der Nacht von Marias Ableben hatte. Ich war komplett allein, niemand sonst war auf dem Friedhof. Es war wirklich ein deprimierender Herbsttag. Die schwarzen Wolken hingen erdrückend vom Himmel herab, die kargen Bäume hatten all ihre Blätter eingebüßt, ein eiskalter Wind wehte. In gebeugter Haltung schlenderte ich zwischen den grauen Grabsteinen hindurch und bewegte mich vorsichtig in Richtung Marias Grab. Ganz allmählich bemächtigte sich die Angst vor dem, was nun kommen könnte, meiner. Diese hielt ich allerdings für unbegründet, da ich der Stimme in meinem Kopf uneingeschränktes Vertrauen entgegenbrachte.
Wie ich vor Marias Grab stand, flossen die Tränen. Mein Herz ward erfüllt mit unendlicher Sehnsucht und das Verlangen nach ihr war größer denn je. Ich erinnerte mich daran zurück, wie sie stundenlang Klavier spielte, wie ihre Präsenz mich derart in den Bann zog, dass es mir gar den Schlaf raubte. Bei dem Gedanken, wie sie mir ihre eiskalte Hand auf die Schulter legte und sanft den Rücken herab glitt, erschauderte ich. In diesem Augenblick legte sich doch tatsächlich eine Hand von hinten auf meine Schulter. Sofort fuhr ich herum und glaubte der wiederbelebten Maria ansichtig zu werden, doch die Hand gehörte zu einer anderen Person. Eine junge Frau hatte sich mir genähert, ohne dass ich sie überhaupt wahrgenommen hatte. Vermutlich war ich einfach zu sehr in Gedanken vertieft.
"Hallo Viktor", flüsterte sie. Der Klang ihrer lieblichen Stimme ließ mein Herz augenblicklich höher schlagen.
"Woher kennen Sie meinen Namen?", stammelte ich nur. Als ich die Unbekannte genauer gemustert hatte, stellte ich fest, dass sie unglaublich schön war, mehr noch, in Bezug auf das äußere Erscheinungsbild übertraf sie bei Weitem alles, was ich je zuvor gesehen hatte. Vom Aussehen her erinnerte sie mich ein wenig an Maria. Auch diese Frau hatte langes schwarzes Haar und recht blasse Haut. Sie kam mir jedoch eher vor wie eine stark idealisierte Maria, ohne die Schönheitsmakel, die selbiger zu eigen waren.
"Das ist nicht wichtig. Wie ich heiße, ist auch nicht relevant", meinte sie nur. Sie sprach immer noch im Flüsterton. Vollkommen überwältigt von der unbekannten Schönheit, war ich nicht in der Lage, einen klaren Gedanken zu fassen. Meinen ursprünglichen Auftrag hatte ich genauso vergessen, wie ich Maria vergessen hatte. Der karge und düstere Friedhof erschien mir auf einmal wie eine Blumenwiese im Frühling. Das Grau war bunter Farbe gewichen und auch die Kälte in meinem Herzen war einer wohltuenden Wärme gewichen.
"Hier sind nur wir beide", säuselte die Frau. "Wir sind ganz allein. Möchtest du nicht mit zu mir kommen?"
Ohne nachzudenken, willigte ich ein und begleitete die junge Frau auf dem Weg zu ihrem Zuhause. Es war ungefähr einen halbstündigen Fußweg von meiner Unterkunft entfernt und eher bescheiden aber dennoch gemütlich eingerichtet. Den ganzen Tag verbrachte ich mit der Frau, deren Namen ich niemals erfahren durfte. Tatsächlich gab die Frau keinerlei Informationen über sich preis und auch über mich wollte sie nichts wissen. Es war, als wüsste sie bereits alles über mich und ich alles über sie. Ich fragte auch nicht weiter nach, wo sie herkam, wieso sie mich angesprochen hatte oder ähnliches. Wir redeten kaum ein Wort miteinander. Stattdessen schienen wir uns auf eine subtile Art zu verstehen, auf einer emotionalen Ebene, welche zum Verständnis keinerlei Worte bedurfte. Von Anfang an hatte mich die Frau derart in den Bann gezogen, wie es zuvor nur Maria vermochte, an die ich mittlerweile keinen einzigen Gedanken mehr verschwendete. Ich war vollkommen verliebt in diese unbekannte Schönheit. Sie hatte meinen Verstand derart vernebelt, dass ich alles um mich herum wahrlich vergessen hatte. Ich dachte nicht mehr an Maria, an die Stimme in meinem Kopf, an meinen Auftrag. Alles unwichtig, alles vergessen. Wenn die Liebe sprach musste alles andere schweigen. Ich begann mich in der jungen Frau vollständig aufzulösen, ich verlor meine eigene Identität. Meine individuelle Persönlichkeit war nun eins mit der Frau, mein Schicksal untrennbar an das ihre gebunden. Unterscheidungen waren nicht mehr möglich, ich hatte mich in meiner wahnsinnigen Liebe selbst verloren und bemerkte es nicht. Obwohl ich nur einen Tag mit der Frau zusammen war, kam es mir vor wie ein ganzes Leben. Ein Leben im Himmel. So musste also das Reich des Himmels aussehen, so musste ein Engel aussehen.
Ich verbrachte die Nacht ebenfalls bei der Unbekannten. Zufrieden und glücklich lag ich im Bett neben ihr und konnte mein Glück kaum fassen. Doch als ich kurz vorm Einschlafen stand, meldete sich plötzlich und vollkommen unangekündigt die beinahe schon in Vergessenheit geratene Stimme in meinem Kopf wieder.
"Vergiss deinen Auftrag nicht!"
Erschrocken riss ich die Augen auf und stand sogar vom Bett auf.
"Was willst du von mir", fragte ich in mich hinein. Die Antwort folgte prompt.
"Du hast einen Eid geschworen, Viktor!"
Just in diesem Augenblick fiel mir alles wieder ein. Es war wie das Aufwachen aus einem wunderschönen Traum, der harte Aufprall in die grausame Wirklichkeit. Ich dachte an Maria, an den Friedhof, an den Doppelgänger, an die Stimme und natürlich an den Eid.
Ich fragte die Stimme erneut: "Was ist, wenn ich Maria gar nicht mehr zurück will? Ich möchte mit der Frau, die dort im Bett liegt glücklich werden."
"Bedenke, was geschieht, wenn du der Abmachung nicht nachkommst."
Ich musste einen Moment nachdenken, mir die genauen Konditionen der Abmachung erneut vergegenwärtigen. Dann wusste ich wieder Bescheid.
"Ich muss sterben, wenn ich zuwiderhandle. Dann gehöre ich dir."
"Ich habe einen Menschen, der dir nichts bedeutet und ich habe einen Menschen, den du hasst. Du weißt genau, wer noch fehlt."
Mit Tränen in den Augen sah ich das Mädchen an, das dort scheinbar seelenruhig im Bett lag und in den süßesten Träumen schwelgte.
"Du weißt, was zu tun ist", sagte die Stimme. Gleichzeitig spürte ich auf einmal einen schweren Gegenstand in meiner Hosentasche. Es war das Messer, welches ich nun zur Hand nahm. Ich musste es vergessen haben, mitzunehmen, doch jetzt, wo ich es brauchte, war es erschienen. Ich umklammerte den Griff so fest, dass meine Knöchel weiß anliefen. Aus allen Poren trat Schweiß aus, mein Herz überschlug sich förmlich in meiner Brust.
"Tu es jetzt", befahl die Stimme.
Ich begann hemmungslos zu weinen. "Ich kann es nicht. Ich kann es nicht."
"Tu es jetzt", befahl eine andere Stimme. Erschrocken stellte ich fest, dass es die leise Stimme des Mädchens war. Auf einmal saß sie aufrecht im Bett und sah mich gebannt an. Verwirrt blickte ich abwechselnd auf sie und dann auf das blutgetränkte Messer. War es mir zuvor noch ein leichtes, einen Mord zu begehen, so sehr ängstigte mich dieses Vorhaben nun.
"Ich verstehe nicht. Wie kannst du...", begann ich, doch das Mädchen unterbrach mich erneut.
"Tu es jetzt!"
Die Stimme in meinem Kopf meldete sich ebenfalls wieder zu Wort. Und beide Stimmen wurden eins und skandierten gleichzeitig und immerfort skandierten sie: "Tu es jetzt! Tu es jetzt! Tu es jetzt!"
"Hört auf", schrie ich lauthals auf. "Raus aus meinem Kopf! Raus aus meinem Kopf!"
Doch die Stimmen hörten nicht auf. Im Gegenteil, sie wurden immer lauter. Das Mädchen starrte mich ununterbrochen fordernd an. Ich hielt es nicht mehr aus. Die Stimmen bereiteten mir unerträgliche Kopfschmerzen. Von Leid und Hass zerfressen, sprang ich mit einem Satz auf das Bett, holte weit aus und stach meiner Geliebten die Klinge mit aller Kraft in die Brust, während ich selbst verzweifelt aufschrie und heulte. Das Mädchen sank sofort tot zu Boden, jedoch spritzte mir kein Blut entgegen. Es sah aus, als würde ihr schlafen. Die Klinge meines Messers wurde ebenfalls nicht in Blut getränkt, stattdessen lief sie schwarz wie die finsterste Nacht an. Jedoch waren meine Nerven viel zu angeschlagen, als dass ich diesen seltsamen Zustand hätte hinterfragen können.
"Was habe ich nur getan", heulte ich und vergrub mein Gesicht in meinen Händen.
"Es ist vollbracht", sagte die Stimme in meinem Kopf. "Du sollst für deine Mühen belohnt werden. Du weißt, was das bedeutet, Viktor. Wir sehen uns noch!"
Sofort dachte ich an Maria, meine einstige Liebe. Mein schwarzes Herz wurde beim Gedanken an sie wieder mit schier unerträglicher Sehnsucht erfüllt. Obwohl es mitten in der Nacht war, eilte ich hinaus und rannte so schnell ich konnte in Richtung Friedhof.
Freudestrahlend wurde ich gewahr, dass Marias Grab geöffnet war. Erde war ausgehoben, der Sarg stand offen und war leer. Ich wusste, was das bedeutete. Sie war wieder da. Sie war wieder zuhause. Gott hatte Wort gehalten!
"Maria, ich komme zu dir", rief ich voller Freude in die Nacht und trat überglücklich den Heimweg an.
Die Sehnsucht war nun derart unerträglich, dass ich es nicht länger auszuhalten vermochte. Folglich legte ich den Weg im Laufschritt zurück. Nie mehr würde ich Maria gehen lassen, nie mehr.
Als ich endlich die Tür zu meinem Haus öffnete, vernahm ich ganz leise Musik. Maria spielte wieder Klavier, dass ich das Instrument mit einer Axt zerstört hatte, fiel mir in dem Moment nicht ein. Schnellstmöglich polterte ich die Treppe hinauf und schrie weinend Marias Namen. Kurz vor der geschlossenen Tür zum Klavierzimmer, hielt ich jedoch inne. Erst jetzt, wo ich dort vor der Tür kauerte, wie ich es früher so oft heimlich getan hatte, nahm ich bewusst wa, welche Musik es war, die Maria dort spielte. Es war jene schreckliche Höllenmusik, die sie damals kurz vor ihrem Tod gespielt hatte.
"Oh nein! Nein, was habe ich getan", schrie ich verzweifelt und hielt mir die Ohren zu.
"Aufhören! Maria, ich bitte dich, meine Geliebte! Aufhören!"
Als des Satans Klänge immer noch nicht verstummten, trat ich die Tür auf und stürmte in das Zimmer. Wie angewurzelt blieb ich stehen und spürte, wie das Blut in meinen Adern erstarrte und mein Herz für einen Moment aufhörte zu spielen. Dort am Klavier saß Maria, gekleidet in ein blutgetränktes Leichentuch, die Haut weiß wie der Mond, die Augen nur noch zwei schwarze Punkte. Ihre langen, spinnenartigen Finger schlugen weiterhin wie wild auf die Tasten des Klaviers und produzierten mehr Klänge zu des Satans Ehren. Sie hatte mich gar nicht wahrgenommen, ihr starrer Blick war weiterhin auf die Tasten gerichtet.
"Maria! Hier bin ich", schrie ich so laut ich konnte, doch ich selbst hörte meine eigene Stimme nicht. So sehr ich mich auch dagegen zu wehren gesuchte, bekam ich keinen einzigen Ton heraus. Von der Stelle rühren konnte ich mich auch nicht, meine Glieder waren allesamt bewegungsunfähig. Voller Entsetzen sah ich die Tote an und konnte nicht anders als der furchtbaren Musik zu lauschen.
"Geliebte, ich bin zurück", ertönte plötzlich eine Stimme hinter mir. Ich bemerkte, wie Maria aufhörte zu spielen und sehnsüchtig aufsah. Mir widmete sie keinerlei Aufmerksamkeit, ihr Blick war auf etwas oder jemanden direkt hinter mir gerichtet. Jetzt gelang es mir, meiner Schockstarre zu entrinnen. Langsam drehte ich mich um und erschauderte heftig über den sich mir bietenden Anblick. Mein Doppelgänger war scheinbar aus dem Nichts aufgetaucht und im Zimmer erschienen. Auch er ging an mir vorbei, als sei ich gar nicht vorhanden.
"Viktor, Geliebter", rief Maria und erhob sich. Die beiden näherten sich vorsichtig und umarmten und küssten sich.
"Ich habe dich so vermisst", sagte der Doppelgänger und Maria brach in Tränen aus.
"Welcher Verrat ist das?", schrie ich vollkommen außer mir, doch wurde weiterhin mit Nichtachtung gestraft. Voller Entsetzen musste ich mit ansehen, wie der Doppelgänger und Maria sich gegenseitig langsam entkleideten und sich dann gemeinsam an das Klavier setzten und die schreckliche Musik im Duo spielten. Die Höllenklänge brachten mein Trommelfell zum Bersten, der unerträgliche Anblick der beiden Gestalten der Finsternis, ließ mich beinahe erblinden. Maria und der Doppelgänger begannen beide auf entsetzliche Art zu lachen, was mir durch Mark und Bein ging.
Auf einmal bemerkte ich, wie die Wände anfingen, zu bröckeln. Das Gemäuer bog sich, aufgrund der Höllenklänge und brach in sich zusammen.
"Jetzt gehörst du mir", flüsterte die Stimme in meinem Kopf. Das teuflische Gelächter der beiden Musiker nahm zu. Und in diesem Moment verlor ich das Bewusstsein und wurde ohnmächtig.
Unbestimmte Zeit später kam ich in einem Krankenhaus wieder zu mir. Ich wusste nicht, was mit mir geschehen war, wie ich dorthin gelangt war. Die Ärzte sprachen von einem vollkommenen Nervenzusammenbruch, doch ich erinnerte mich noch daran, was wirklich geschehen war. Unglücklicherweise glaubte mir niemand, weshalb ich beschloss, meine Geschichte niederzuschreiben, in der Hoffnung, die Nachwelt würde mich verstehen und neuere Ermittlungen würden die Wahrheit meines Berichtes bestätigen können. Das Leben ist mir zur unerträglichen Last geworden. Man hat mich manipuliert und betrogen. Ich wurde die Marionette böser Mächte. Schwer gesündigt habe ich. Einen kaltblütigen Mörder hat man aus mir gemacht. Und wieder bin ich erfüllt von der Sehnsucht nach Maria. Ich weiß, dass sie tot ist. Ihre Wiederbelebung war nichts anderes als ein böser Trick, die echte Maria spielt im Himmel Klavier. Möge der Herr meiner gepeinigten Seele gnädig sein!
Kurz nachdem er aus dem Krankenhaus entlassen wurde und er seinen Bericht verfasst hatte, hat sich Viktor das Leben genommen. Die hier dargelegte, von ihm verfasste Geschichte, ist der einzige Nachlass, auf den wir zurückgreifen können. Er war nicht länger imstande den Schmerz des Verlustes zu ertragen und konnte nicht länger mit sich selbst leben. Die Stimme in seinem Kopf begleitete ihn bis an sein selbstgewähltes Lebensende. Die Leiche ist bis heute niemals gefunden wurden. Es bleibt wirklich nur zu hoffen, dass die arme Seele wenigstens im Tode Frieden findet. Das schwarze Herz jedenfalls, hat aufgehört zu schlagen.
Gezeichnet:
Maria!

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