Storys > Kurzgeschichten > Horror > Das Weib im Spiegel

Das Weib im Spiegel

72
17.02.19 15:56
16 Ab 16 Jahren
Fertiggestellt
Fraglich, welche Ereignisse sich dem realen Geschehen, so wie es wirklich vonstatten ging, zuordnen lassen und was nur der Einbildungskraft eines zutiefst verwirrten Hirns entstammt, das darüber hinaus von einer gepeinigten Seele ergriffen wird.
Ist nicht die Welt eine Projektion meiner Vorstellungen, meiner Gedanken, Fantasien und Träumen auf neutrale Objekte? Wer vermag schon zu sagen, wie die Dinge wesentlich an sich beschaffen sind? Wer vermag uns zu garantieren, dass das, was wir unserer individuellen Weltsicht entsprechend für real halten, auch unseren Mitmenschen auf die gleiche Weise erscheint? Vor dem Hintergrund dieser Überlegung ist es dementsprechend unmöglich, etwas derart komplexes wie die sinnliche Wahrnehmung zu verallgemeinern. Wer Dinge sieht, die außer ihm sonst niemand wahrzunehmen scheint, wird für wahnsinnig, unzurechnungsfähig und dergleichen erachtet. Doch was wäre wenn jener als Einziger im Recht ist? Ist der Wahnsinn folglich nicht das Tor zu außergewöhnlichen Eigenschaften, der Weg, der zur absoluten, unwiderruflichen Erkenntnis führt? Eine gesteigerte Einbildungskraft und lebhafte Fantasie dürfte dem jedenfalls förderlich sein.
Ohne zu übertreiben, darf ich von mir behaupten, dass letztgenannte Fähigkeiten mir in besonderem Maße zu eigen waren. Stets neigte ich dazu, das Leben meinen persönlichen Wunschvorstellungen entsprechend zu formen. Es ist der Wille, der die Welt gestaltet. Mitnichten hätte ich mich damals noch als wahnsinnig erachtet. Was bedeutete schließlich Wahnsinn? Sich außerhalb der Norm zu bewegen! Doch wer legte die Norm fest, wenn nicht selbst ein Wahnsinniger, der sich selbst außerhalb derselben bewegte und nur das Bedürfnis verspürte, sich dazugehörig zu fühlen. Aus diesem Grund machte ich mir nie etwas aus gesellschaftlichen Konventionen, sozialen Klassen und dergleichen. Ich war ich und lebte mein Leben. Lange Zeit ging das auch gut, zumindest bis zu dem Zeitpunkt, an dem meine Erzählung einsetzt.
Mir als melancholischen Menschen war die Fähigkeit, bedingungslos glücklich zu sein, niemals vollkommen zu eigen. Keineswegs lag dies daran, dass es mir in der Blüte meiner Jugendzeit an etwas gemangelt hätte. Das Elternhaus verwöhnte mich nach allen Regeln der Kunst, die verehrte Frau Mutter scheute nicht, mir jeden Wunsch zu erfüllen, ja, ihn mir wahrlich von den Lippen abzulesen, noch ehe ich ihn überhaupt ausgesprochen. Die Erkenntnisse, die mir diese Zeit meines Daseins auf Erden einbrachte, lehrten mich jedoch, dass der Mensch stets dazu neigt, sich dem Unerfülbaren zu verschreiben, den Fokus auf das zu legen, was außerhalb seiner Selbst liegt, was ihn belastet und bedrückt. Somit konzentrierte ich, ein Kind aus gutbürgerlichen Verhältnissen, dem es augenscheinlich an nichts mangelte, meine vollste Aufmerksamkeit auf die wenig negativen Erlebnisse und Erfahrungen, die zuweilen in mein Leben traten. Dies führte zu meiner großen Unzufriedenheit. Ich begann Kinder aus armen Elternhäusern, die gar auf der Straße hausten und schrecklich Hunger litten, zu beneiden. Jene Menschen wurden stets von Schicksalsschlägen ereilt, weshalb sie ihren Fokus unweigerlich auf die wenig schönen Ereignisse legen mussten, die ihnen widerfuhren. Daraus schloss ich, dass sie, trotz ihrer miserablen Lage, sich erheblich mehr des Lebens erfreuten, als ich es tat, ein reicher, verwöhnter Bengel. Die Leere in meinem Herzen, die wie eine schwere Last meine Seele hinab in den Untergrund drückte, beraubte mich jedweder Freude, sodass ich die Welt um mich herum wie einen Spiegel wahrnahm, der mein tiefschwarzes Inneres widerspiegelte.
Dies änderte sich plötzlich schlagartig, als ich das Knabenalter hinter mich gelassen und das Elternhaus verließ. Ich suchte G. auf und beschloss dort mein Studium der Geisteswissenschaften aufzunehmen. Da es mir an Geld, bedingt durch die Großzügigkeit der Eltern, insbesondere der Mutter niemals gemangelt hatte, hatte ich die Möglichkeit, zu schreiben und Literatur in unfassbaren Mengen zu produzieren. Wahrlich schrieb ich wie ein Besessener und eignete mir alles Wissen durch eigene Lektüren an. Kaum ein Themenbereich fand nicht Einklang in mein mittlerweile sehr umfangreiches Werk, dennoch zeigte ich besonderes Interesse an Geister-und Schauererzählungen, die mich in meinen innersten Grundfesten zu erschüttern pflegten und mir somit das Gefühl einverleibten, wahrlich lebendig zu sein. In jenen Momenten des Schreibens und Lesens verspürte ich die vollständige Energie des Lebens, doch wahrlich glücklich wurde ich, ein nachdenklicher, schwermütiger junger Mann mit sentimentalen Anwandlungen erst, als ich Hope kennenlernte, ein in den schönen Künsten geschultes, mit Talenten des Geistes und Eigenschaften des Temperaments ausgestattetes Mädchen von äußerlicher wie innerlicher Schönheit.
Mein Leben glich fortan dem Paradies auf Erden. Unbeschwert wie ein Engel nahm ich alle Herausforderungen und Pflichten auf mich, die ich mit einer mir ungekannten Leichtigkeit erledigte und meisterte. Hope war alles, was ich benötigte, um mich des Lebens zu erfreuen. Ihretwegen nahm ich Abstand von allem, was mich zuvor schädigte. Dem Alkohol und dem Opium, dem ich keineswegs abgeneigt war, kehrte ich den Rücken. Nie zuvor in meinem Leben fühlte ich mich derart befreit, derart ausgeglichen, derart gesund.
Alles, was Hope und ich gemeinsam anpackten, schien sich in Gold zu verwandeln. Unmöglich ist es mir darzulegen, wie sehr sie vor Enthusiasmus und Tatendrang nur so strotze. Sie war das Leben selbst. Die Personifizierung der abstrakten Idee des Guten und Erhabenen, die für mich immer mehr zur fixen Idee wurde. Sowie die Zeit verstrich, begann ich mehr und mehr zu realisieren, wie abhängig ich mittlerweile von Hope geworden war. Meine gesamte Existenz schien sich nur noch um sie zu drehen, war unzertrennbar mit der ihren verknüpft, miteinander verbunden, fest zusammengenäht. Das Schicksal des Einen, stellte selbiges ebenfalls für den anderen an.
Ihre Gestalt blieb mir derart in Erinnerung, dass ich sie auch auf dem Totenbett, von Krankheit und Schmerz gepeinigt, des Verstandes beraubt, wohl noch in allen Einzelheiten hätte beschreiben können. Noch heute stehen mir die anmutigen, grazialen Bewegungen der Hope noch ohne jedweden Schleier des Vergessens klar und eindeutig vor Augen, so klar wie der wolkenlose Himmel im Sommer, der ungetrübte See bei vollkommener Windstille, klar wie die Sterne am düstern Nachthimmel. Vergebliches Bemühen wäre es, wenn ich eine Beschreibung der Erhabenheit, welche sie ausstrahlte, gepaart mit der würdevollen Haltung und ihrem anmutigen Schreiten versuchen wollte.
Vielmehr noch als ihr zweifelsohne engelähnliches Äußeres war es jedoch die Unbefangenheit ihrer Seele, ihre Gelassenheit und scheinbar spielerische Leichtigkeit, die mit einer unglaublichen Selbstverständlichkeit, mit der sie all ihre Aufgaben anging, einherging, die meine Bewunderung auf mich zog und mir im höchsten Maße imponierte. Kurz gesagt zogen mich an Hope sämtliche Eigenschaften ihrer Persönlichkeit in den Bann, die ich mich an mir selbst zu bemerken, vergeblich bemühte.
Umso mehr litt ich darunter, als ich gewahr wurde, wie sich ein finstrer Schatten über das herrliche Gemüt der Hope legte und wahrlich ihren Witz, ihre Urteilskraft und reine Vernunft derart benebelte, dass die Person, die ich nun vor mir hatte, nichts mehr mit der zu tun hatte, die ich einst zu lieben gelernt.
Sie wurde verschwenderisch, ging wenig umsichtig mit meinem Geld um, kaufte allerhand sinnloses Zeug, darunter einen großen Wandspiegel, den sie direkt vor unserem Bett aufstellte und dies meinem eigenen Wunsch vollkommen zuwiderhandelnd. Was ich bisher noch verschwiegen, war die Tatsache, dass ich mich seit frühster Kindheit zutiefst vor Spiegeln ängstigte. Die damalige Zofe meiner verehrten Mutter, pflegte mir kurz vor dem Schlafengehen als allabendliches Ritual von dem bösen Weib im Spiegel zu berichten, was mich des Nachts heimsuche, sollte ich bis dahin nicht schon eingeschlafen sein. In diesem Falle würde sie mich verschonen und ein anderes Opfer zu ihrer grausamen Triebbefriedigung suchen. Darüber hinaus warnte mich die Zofe davor, nachts einen Blick in den kleinen Spiegel zu werfen, der in meinem Gemach, dem Bette gegenüber angebracht und daher für mich aus der nächtlichen Position heraus sehr gut ersichtlich war. Das Weib im Spiegel würde sich daduch genötigt fühlen mir sofort einen Besuch zu erstatten. Sollte ich auch einen kurzen Blick in Richtung des Spiegels werfen, würde ich ihrer augenblicklich ansichtig werden und von dem grässlichen, sich mir bietenden Anblick derart entsetzt sein, dass meine Augen stehen bleiben würden und ich sie nie wieder in eine andere Richtung bewegen könnte. Als gereifter Heranwachsender stellte ich natürlich irgendwann fest, dass diese Märchen der Zofe nur dazu dienten, mich gehorsam werden zu lassen und aus Angst sofort einzuschlafen. Selbstverständlich funktionierte dies mitnichten, sondern ließ mich ganz im Gegenteil erst recht wach bleiben. Wie entsinne ich mich noch der unzähligen Stunden als junger Knabe, in denen ich mich verzweifelt im Bett hin und her wand, tief unter der Decke verkrochen, in der Hoffnung somit unentdeckt bleiben und dem Blick des achtsamen Weibes im Spiegel entziehen zu können. Angstschweiß verlor ich literweise, am ganzen Leibe zitterte ich wie Espenlaub, eine furchtbare Eiseskälte ließ mich wie zu Stein erstarren, während das Herz in meiner Brust vor lauter Hämmern zu zerbersten drohte. Der starken, wenngleich von Furcht geprägten Neugierde, die wohl jedem Jüngling zu eigen ist, hatte ich es zu verdanken, dass ich nicht anders konnte, als doch von Zeit zu Zeit in Richtung des verhassten Spiegels zu schielen, wenngleich ich es direkt im Anschluss zutiefst bereute. Meine überstrapazierte Einbildungskraft, die verborgenen Ängste meines Unterbewusstseins, ließen mich im Spiegel allerhand Erscheinungen erblicken, von denen ich bis heute nicht mit Sicherheit zu sagen vermag, welche davon tatsächlich der Realität entsprachen und welche wirklich einzig und allein auf die angeregte Fantasie eines zutiefst verstörten Kindes zurückzführen waren. Ich sah Schatten im Spiegel in Windesheile vorbeifliegen, verschwommene Oberflächen, die von dem dünnen, zerbrechlichen Glas auf bedrohliche Weise reflektiert wurden und um mich herum zu kreisen schienen und einmal, ja einmal, glaubte ich wirklich so etwas wie schwache Umrisse eines weiblichen Körpers zu überblicken. Mit Sicherheit vermag ich jedoch zu sagen, dass die entsprechenden Schatten und Spiegelungen zumindest diesen Schluss nahelegten. Wie ich dies sah, bemächtigte sich eine Art Ohnmacht meiner und ich, der dachte, das Leben sei nun beendet, nahm nur noch Dunkelheit um mich herum war und verschmolz mit dieser.
Nie hatte ich mit jemandem über die Ängste meiner Kindheit gesprochen, keine Menschenseele vermochte sich auch nur eine Vorstellung der entsetzlichen Ängste zu machen, die ich auf grausame Weise habe ausstehen müssen und die mich für mein Leben prägten. Einzig der verständigen und verständnisvollen Hope vertraute ich mich diesbezüglich an, stieß mit meiner Angst jedoch unglücklicherweise auf wenig Verständnis, was mich zutiefst betrübte.
Als Hope in ihrem Zustand hochgradiger Verwirrung einen Spiegel für unser Gemach anschaffte und selbigen mit voller Überzeugung dem Bette gegenüber anbrachte, fühlte ich mich mit einem Mal an jene schrecklichen Nächte der Kindheit erinnert, die ich zuvor doch recht erfolgreich aus meinem Kopf zu verbannen vermochte. Voller Inbrunst bemühte ich mich, Hope von ihrem Vorhaben abzubringen, doch scheiterte kläglich. Sämtliche Empathie und Zurechnungsfähigkeit hatte sie auf einen Schlag hin auf mir bis heute unerklärliche Weise eingebüßt.
Wie in einem Opiumrausch begann sie fortan zu halluzinieren, schrie des Nachts und riss mich somit aus dem Schlaf, wandelte tagsüber wie ein Geist durch unser Haus und ließ mir einen eiskalten Schauer über den Rücken laufen, wenn sie sich wie ein Schatten in mein Arbeitszimmer bewegte und ich sie erst bemerkte, als sich ihre eiskalte Hand auf meine Schulter legte.
Als sich Hopes Zustand zunehmend verschlechterte begriff ich, dass sie ernstlich krank war und dringend fachmännischer Hilfe bedurfte. Die besten Ärzte, die ich ausfindig machen konnte, lud ich ein, sich ihrer anzunehmen, doch alle fällten das gleiche Urteil: Hope war kerngesund, es mangelte ihr an nichts. Ihre akuten Wahnvorstellungen seien nur eine Nebenerscheinung der harten Arbeit, der sie sich in der Vergangenheit ausgesetzt hatte. Hope hatte sich schlichtweg übernommen und bedurfte nur der Ruhe, nichts weiter mehr, so lautete der allgemeine Tenor. Was blieb mir schon anderes übrig, als der Ärzte Einschätzungen Glauben zu schenken? Dies stellte sich als gewaltiger Fehler heraus, denn dass es Hope offensichtlich nicht wohl war, hätte gar ein Blinder erkannt. Ich ärgerte mich über die Unfähigkeit der Fachmänner, sowie meiner eigenen Machtlosigkeit und wenngleich ich begann mich vor Hopes seltsamen Verhalten zu ängstigen, so kümmerte ich mich mit einer derartigen Hingabe und Leidenschaft um sie, wie es nur ein wahrhaftig Liebender zu tun in der Lage war.
Was allerdings zur Verschlechterung meines eigenen gesundheitlichen Zustands beitrug, war die Tatsache, dass die Nächte derart an meinen Nerven zehrten, wie ich selbst es nicht für möglich gehalten hätte. Immer wieder ertappte ich mich selbst dabei, wie ich einen verstohlenen Blick in Richtung des Spiegels war, der dort still und erhaben, mich zu beobachten und dabei heimtückisch zu grinsen schien. Hopes gelegentliche Panikattacken, die des Nachts in auffälliger Häufigkeit auftraten, trugen ihren Teil zu dem beklemmenden, eingeengten Gefühl bei, dass sich meiner zunehmend bemächtigte. Die Angst vor dem Weib im Spiegel war zurückgekehrt, die endlosen Qualen der Kindheit wiederholten sich. Hinzu kamen die unerträglichen Sorgen um Hope, die mich noch zusätzlich des Schlafes beraubten und meine Seele peinigten wie das Ohr das Gekritzel eines Messers auf Glas.
In einer Nacht, jener verhängnisvollen Nacht, war es mir besonders unerträglich. Die draußen vorherrschende Ruhe und absolute Stille war mir derart zuwider, dass ich befürchtete, bald ebenfalls den Verstand zu verlieren. Der Vollmond strahlte gleich der Sonne durch das Fenster und erhellte das Gesicht, der sich neben mir im Bett befindenden Hope, wobei ihr restlicher Körper, ebenso wie das komplette Zimmer in vollständige Dunkelheit gehüllt war, die kein menschliches Auge zu durchdringen vermochte. Hope schlief ruhig, jedenfalls erweckte sie den Anschein. Dennoch stellte dies mein unruhiges Herz nicht zufrieden, da ich befürchtete jederzeit könne etwas schreckliches geschehen. Doch nichts dergleichen trat ein. Alles war ruhig. Nur die Ruhe vor dem Sturm, dachte ich. Trotz meiner schier unfassbaren Angst schlief ich ein. Ich träumte entsetzlicherweise von dem Spiegel. Eine Frau stieg aus diesem heraus, ich erkannte nur ihre Umrisse, Konturen und Gesichtszüge waren nicht erkennbar. Sie näherte sich mir langsam, streckte ihre toten Hände aus und schrie immerzu: "Der unartige Bengel schläft nicht! Dann muss ich ihn holen. Deine Seele gehört mir!"
Schweißgebadet wachte ich mit einem leisen Schrei auf. Sofort drehte ich mich zu Hope um und erschrak heftig. Ihr Kopf war in meine Richtung geneigt, unsere Gesichter nur wenige Zentimeter voneinander entfernt. Unter dem hellen Licht des prallen Mondes sah ich, dass ihre braunen Rehaugen weit aufgerissen waren und mich anstarrten, der Mund war ebenfalls leicht geöffnet. Ich flüsterte zitternd ihren Namen. Nur ihren Namen, nichts weiter mehr. Plötzlich erhob sich ihre schwache Stimme, die derart verzerrt und unwirklich klang, dass ich sie beinahe nur für Einbildung gehalten hatte.
"Hänge niemals den Spiegel ab!"
Unwillkürlich wanderte mein Blick in Richtung des Spiegels. Wie damals in meiner Kindheit vermeinte ich erneut die schwachen Umrisse eines weiblichen Körpers zu erkennen. Ich sah genauer hin, bis ein schwacher Seufzer der Person neben mir, meine Aufmerksamkeit wieder auf Hope lenkte. Ihr Blick war nun leer, das Gesicht gleich einer Statue erstarrt. Wieder flüsterte ich ihren Namen und immerfort flüsterte ich ihn in die Dunkelheit. Ich wusste sofort, was geschehen war. Sie war tot. Und mit ihr all meine Lebensfreude, all mein Lebenssinn. Es war das Werk des Spiegels, ich wusste es einfach. Tränen rannen mir die Wangen herab, umarmte verzweifelt den eiskalten, erstarrten Leichnahm, der sich direkt neben mir in meinem Bett befand und warf erneut einen verstohlenen Blick in Richtung des Spiegels, nach dem Weibe Ausschau haltend. Doch ich erkannte nichts mehr. Keine Schatten, keine Umrisse. Der Spiegel war in vollständige Dunkelheit gehüllt, sodass jemand, der nicht wusste, dass sich dort an jener Stelle an der Wand, direkt dem Bette gegenüber ein solcher befand, ihn niemals auch nur dort vermutet hätte.
Nachdem in den Folgetagen die Beerdigung meiner Geliebten, die nun tief in der Erde liegt, vonstatten gegangen war, verfiel ich in meiner Depression dem Alkohol und dem Opium, war schließlich nach Hopes Ableben niemand mehr da, der mich fortan daran zu hindern vermochte. Meine Affekte stiegen bis ins Unermessliche. Ich verspürte unendlichen Hass auf die inkompetenten Ärzte, auf Hope, dass sie mich in meinem Elend einfach allein zurückließ und nicht zuletzt auch auf mich selbst, dass ich nicht imstande war, ihr Hilfe und Beistand zu leisten.
Von nun an, mied ich jedwede Gesellschaft, zog mich in mein Gemach zurück und arbeitete ununterbrochen, um dem unendlichen Schmerzen und der sich rasant in meinem Herzen ausbreitenden Leere entgegenzuwirken. Niemals zuvor waren meine Dichtungen derart düster, melancholisch und verzweifelt gewesen. Sie spiegelten des Künstlers Inneres wider und gaben Aufschluss über meinen gegenwärtigen Geisteszustand.
Nur im Opiumrausch vermochte ich den Verlust Hopes zu ertragen. Um mich sämtlicher schmerzlicher Erinnerungen zu berauben, entfernte ich alle Gegenstände, die meiner Geliebten gehört hatten. Ich verschenkte ihre Kleider, verbrannte ihre Bücher und Dichtungen, warf all jene nutzlosen Gegenstände weg, die sie am Ende ihres Lebens in ihrem desolaten Zustand der Unzurechnungsfähigkeit anschaffte und tauschte gar das alte Bett gegen ein neues um. Wenn ich jedoch sage, ich hätte alles aus meinem unmittelbaren Sichtfeld verbannt, was sich zweifelsohne Hope zuordnen ließe, ist das nicht die ganze Wahrheit. Es gab eine Ausnahme: Der Spiegel!
Ausgerechnet jenes verhasste Objekt, das eine Erinnerung an die schrecklichsten Stunden meines Lebens darstellte, die schlaflosen Nächte als Kind und jene Nacht, in der mir meine Geliebte genommen wurde, behielt ich in meinem Gemach. Tatsächlich war ich einmal kurz davor, ihn abzuhängen, doch just in diesem Augenblick hörte ich in meinem Kopf die Stimme Hopes, die letzten Worte, bevor sie der irdischen Welt den Rücken kehrte.
"Hänge niemals den Spiegel ab!"
Unter gewöhnlichen Umständen hätte ich vermutlich dieser Bitte zuwidergehandelt, doch ich brachte es nicht über das Herz, Hope, meiner einzigen Geliebten, ihren letzten Wunsch auszuschlagen. Ich kam dem nach und rührte den Spiegel nicht an. Dennoch linderte dies meine Angst keineswegs. Immer, wenn ich an dem großen Wandspiegel vorbeigehen musste, richtete ich meine Augen starr geradeaus, um nicht der Versuchung zu erliegen, doch den Blick vorsichtig in dessen Richtung schweifen zu lassen. Doch auch, wenn ich des Spiegels nicht richtig ansichtig wurde, so vermochte ich es doch nicht jenes entsetzliche Bild aus meinen frühen Knabenjahren aus dem Gedächtnis zu verbannen. Vor meinem geistigen Auge sah ich das verstörte Kind, die schattigen Umrisse eines Weibes im Spiegel, Hopes weit aufgerissene Augen, die Leichenstarre ihres Körpers, meine einsamen Schreie in der Dunkelheit, die Tränen, die meine Augen benetzten und den Blick trübten, das hämische Gelächter des Spiegels, vorbeiziehende Schatten, dunkle Wolken. Wahrlich, ich drohte in jenen Tagen den Verstand zu verlieren. Ob meine Alkoholexzesse dem Vergessen förderlich waren oder meine Ängste und emotionale Angeschlagenheit nur noch verstärkten, vermochte ich nicht zu sagen. Jedenfalls ging es mir fürchterlich, ich litt Qualen, die kein Sterblicher nachzuvollziehen in der Lage ist. An besonders entsetzlichen Tagen der Furcht, brachte ich es nicht einmal fertig, mich zum Schlafen in mein Bett zu legen, da ich des Spiegels, der nach wie vor dem Bette gegenüberhing, nicht ansichtig werden wollte. Stattdessen schlief ich an meinem Arbeitsplatz, die wenigen Stunden Ruhe, die mir überhaupt vergönnt waren.
Einzig im Traume fühlte ich mich noch erfüllt. In jenem Zustand der vollkommenen Sorg-und Furchtlosigkeit fühlte ich mich wahrlich lebendiger als in all den elenden Stunden des Wachseins zusammen. Ich träumte von Hope, von ihren anmutigen Bewegungen, dem traumhaften Lächeln, dem engelsgleichen Antlitz. Ich träumte von meiner Vorstellung von Glückseligkeit und Lebensfrohsinn. Ich träumte von Erfolgen, Talenten, von Leichtigkeit, Freiheit, Macht und Liebe. Umso härter war im Anschluss die Rückkehr in die triste Realität meines beklagenswerten Lebens, dem Aufwachen am nächsten Morgen, darüber hinaus zumeist noch begleitet von entsetzlichen Kopfschmerzen, zweifelsohne die Folge meines ausgiebigen Alkoholkonsums am Vorabend.
Das vertraute Gemach, das mir immer mehr zum Gefängnis wurde, verließ ich alsbald nur noch, um dem Friedhof und dem Grabe Hopes einen Besuch abzustatten. Die Erde des Grabes benetzte ich mit meinen Tränen, Blumen legte ich hernieder und beklagte mein trauriges Schicksal vor dem Allmächtigen.
Befand ich mich dann wieder auf dem Heimweg, den ich schweren Schrittes anzutreten hatte, packte mich erneut das entsetzlichste Grauen: Die Furcht vor dem Spiegel, der dort in aller Seelenruhe in meinem Gemach an der Wand, dem Bette gegenüber hängt und nur darauf wartet, mich wiederzusehen und mich weiterhin mit sadistischer Grausamkeit zu demütigen, zu erinnern an das, was war.
So schnell ich konnte, rannte ich an dem Spiegel vorbei, mich bemühend, ihn keines Blickes zu würdigen, was mir nicht immer gelang. Einen flüchtigen Augenblick blickte ich in mein eigenes Antlitz, mit den vor Schrecken geweiteten Augen und den großen Schweißperlen auf der Stirn. Ich bot einen grauenhaften Anblick, dem ich selbst nicht standzuhalten vermochte. Im Anschluss setzte ich meine Arbeit fort und öffnete die nächste Weinflasche.
Mein Leben bestimmte in dieser Zeit vor allem die Frage, warum es Hope derart wichtig war, dass ich den Spiegel nicht abhänge und was sie überhaupt dazu bewegte, diesen anzuschaffen. Letzteres erklärte ich mir recht einfach: Die Schuld war ihrem verwirrten Geisteszustand zuzuschieben. Doch Ersteres auch? Möglicherweise, doch warum ausgerechnet der Spiegel und nicht etwa unser Bett? So sehr ich mir auch den Kopf darüber zerbrach, düster grübelte, die absurdesten Gerüchte und Theorien aufstellte, ich wurde nicht schlauer daraus. Eine meiner entsetzlich krankhaften Theorien lautete folgendermaßen: Ich wusste, dass unsere damalige Zofe, jene der ich meine irrsinnige Angst vor Spiegeln zu verdanken habe, bald nachdem sie uns verlassen hatte, der Tod ereilte. Da ich nicht allzu längere Zeit später Hope kennenlernte, schloss ich daraus, dass die Zofe in Form eines hübschen Mädchens von den Toten auferstanden war, um micht weiter zu quälen. Dies würde das seltsame Verhalten Hopes in Bezug auf unseren Spiegel erklären. Als mir jedoch bewusst wurde, wie irrational, ja gar unmöglich, dieser Gedanke war, verwarf ich ihn schnell wieder, wenngleich ich das mit jener Idee einhergehende beklemmende Gefühl niemals gänzlich zu verbannen vermochte. Das Leben bot schlichtweg zu viele mysteriöse, mit der reinen Vernunft nicht zu erklärende Phänomene, um prinzipiell etwas auszuschließen. Aus diesem Grund hatten, zumindest nach meinem Gutdünken, auch die krankhaften Fantasien eines Geisteskranken durchaus eine gewisse Berechtigung und Legitimation. Gegen mich war eine Verschwörung im Gange und es hatte etwas mit Hope und der Zofe zu tun, dessen war ich mir sicher. Zwar können auch Gefühle nicht immer mit dem Verstand erklärt werden, und doch sind sie meist zutreffend. Dieser Gedanke ließ meine Panik und irrationale Furcht ins Unermessliche steigen.
Eines Nachts war von dem Fenster meines Gemaches aus, der bestirnte Sternenhimmel zu erkennen. Es war eine wolkenlose, klare Nacht. Der Vollmond schien durch das Fenster und erhellte den Raum im Innern. Ich war in die Lektüre eines esoterischen Werkes über Seelenwanderung und Reinkarnation vertieft, da ich mir auf die Art neue Erkenntnisse in Bezug auf das mich belastende Rätsel um Hope, ihr geheimnisvolles Ableben und die Zofe erhoffte. Ich las viel über den Willen, der unsere subjektive Weltsicht formte, doch zu meiner Enttäuschung gelangte ich zu keiner befriedigenden Antwort. Wütend schmiss ich das Buch auf den Boden und nahm einen kräftigen Schluck aus der Weinflasche zu mir. Nachdem ich noch einige Verse gedichtet hatte, um meinem großen Unmut entgegenzuwirken, warf ich einen Blick nach draußen und beobachte die Sterne, die dort so fern am Firmament leuchteten und selbigen mit ihrer Strahlkraft erhellten. Die bereits zur Hälfte abgebrannte, sich auf meinem Tisch befindende Kerze, brannte unregelmäßig. Die kleine Flamme wackelte unruhig und warf bedrohliche Schatten an die Wand, die mich zu umgeben und sich mir gefährlich zu nähern schienen. Ich ließ mich jedoch nicht davon beirren, hatte die Wirkung des Alkohols mein zutiefst gepeinigtes Herz doch etwas beruhigt. Stattdessen widmete ich meine vollste Aufmerksamkeit den Sternen und die Flamme der unerträglichen Sehnsucht loderte in meiner Brust. Tränen liefen mir das Gesicht herab, als ich mir vorstellte, wie Hope auf einem der unzählbaren Sterne im Kosmos saß und geduldig auf mich wartete. Zutiefst ergriffen von diesem quälenden Gedanken, fasste ich den Entschluss, mich zu endigen. Herauszufinden, was es mit dem Geheimnis des Spiegels auf sich hatte, bestimmte in der Zeit nach Hopes Ableben mein Dasein. Doch da mir des Rätsels Lösung zumindest in diesem Leben verwehrt blieb, nahm ich an, die Antwort auf all meine Fragen nur im Tod zu finden, sobald ich mit meiner Geliebten wieder vereint war. Nicht länger wollte ich in ständiger Angst und Einsamkeit leben, keinen Ausweg aus meinem Leid findend auch nicht in der heiß geliebten Kunst. Eine derart menschenunwürdige Existenz, war demütigend und diese Entwürdigung wollte ich nicht länger mitmachen und lieber das Leben in vollem Bewusstsein selbstbestimmt und würdevoll beenden, bevor der Tod mich erst spät ereilte nach endlosen Jahrzehnten des ununterbrochenen Leidens.
Ich öffnete die Schublade und nahm das Rasiermesser hervor. Zuvor warf ich noch einen Blick auf den bedrohlich schimmernden Mond, der mir hell entgegenschien und mein Herz höher schlagen ließ. Erst jetzt bemerkte ich, dass sich der Einfallswinkel, in welchem er durch das Fenster schien, sich unerklärlicherweise geändert hatte. Er beleuchtete nun nicht mehr meinen Arbeitstisch, sondern eine andere Stelle in meinem Gemach. Mit einer Vorahnung, die meine Gedärme verkrampfen ließ, drehte ich mich langsam um, um das nun im Fokus des Mondes stehende Objekt ausfindig zu machen. Zu meinem Leidwesen bewahrheitete sich meine Befürchtung. Der gesamte Raum war in Dunkel gehüllt, ein kräftiger Windzug von draußen hatte die Flamme der Kerze zum Erlischen gebracht, einzig der von der Strahlkraft des blassen Mondes beschienene, entsetzlich verhasste Wandspiegel dem Bette gegenüber, war meinen Augen ersichtlich. Die Umrandung des Spiegels glänzte, zwar schwach, jedoch eindeutig vernehmbar. Meine Furcht war allerdings aus mir unerklärlichen Gründen gewichen, ebenso der Drang, zu sterben. Ich legte das Messer sofort wieder beiseite und stand von meinem Platz auf, um auf den Spiegel zuzugehen, der auf einmal eine ungeheuerliche Anziehungskraft auf mich ausübte, vergleichbar mit dem Einfluss des Mondes auf die Gezeiten.
Vorsichtig, behutsam einen Schritt vor den anderen setzend, wobei der Fußboden unter mir bei jedem Schritt aufheulte und klagte, näherte ich mich dem Objekt der Begierde, das meine Neugierde gefunden hatte. Je näher ich dem Spiegel kam, desto mehr erkannte ich. Genau wie in den zahllosen Nächten meiner Kindheit, sollte es sich um Einbildung halten, soll der Teufel meine Seele holen, sah ich aufs Neue die Umrisse eines weiblichen Körpers. Nun kannte ich die Wahrheit! Das Weib im Spiegel war kein altes Märchen, keine lächerliche Spukgeschichte um kleine Kinder zu ängstigen. Nein, es war die Realität, in jenem Augenblick zumindest meine Realität. Und obwohl ich die Angst kaum noch zu ertragen vermochte, obwohl mir das Herz bis zum Halse schlug und ich kurz vor der Ohnmacht stand, bewegte ich mich unaufhaltsam, von der Kraft des Mondes angetrieben, auf den Spiegel zu, um die Quelle aller Geheimnisse, die Mutter aller Rätsel ausfindig zu machen. Und ich erkannte mehr, und mehr, und mehr, und mehr. Schatten nahmen Konturen an, unbestimmte Muster bildeten konkrete Formen und als ich mich endlich direkt vor dem Spiegel stand, meinen Augen nicht trauend, erfuhr ich endlich die lang ersehnte Wahrheit.
Im Spiegel erblickte ich, meinen Erwartungen gemäß, nicht mein eigenes Abbild, sondern ein Weib, das Weib im Spiegel! Sie hatte eine Wespentaille, einen perfekt geformten Körper, langes, schwarzes, wallendes Haar und eine derart unnatürlich aussehende Haut, das man sie getrost für aus Wachs bestehend halten konnte. Die braunen Augen blickten mich starr an, sämtliches Leben war ihnen entzogen. Allgemein machte die Frau, nicht zuletzt auch aufgrund ihrer grauen Lippen und dem ausdruckslosen, wenngleich melancholisch angehauchten Gesichtsausdruck den Eindruck, sie wäre bereits tot. Und als ich genauer hinsah, stellte ich fest, dass sie tatsächlich bereits dem Reich der Toten angehörig war. Bei dem Weib im Spiegel handelte es sich, ich vermochte es nicht zu fassen, um meine verstorbene und niemals vergessene Geliebte, Hope, die mir auf so tragische Art entrissen ward! Sie regte sich nicht, blieb stumm und ruhig. Es war, als betrachtete ich ein lebloses Portrait.
Ich blieb wie angewurzelt stehen, nicht in der Lage, mich zu rühren. Erst als ich mich wieder einigermaßen gefasst hatte, wisperte ich in die Dunkelheit und wisperte immerfort ihren wunderschönen Namen, der wie Musik in meinen Ohren klang und eine traurige Erinnerung an die schönste Zeit meines Lebens darstellte.
"Hope, Hope, Hope, Hope."
Ich konnte den Blick unmöglich von dieser Schönheit abwenden. Mir wurde bewusst, dass die Hope im Spiegel wesentlich hübscher war als die lebendige Hope es je gewesen, wenngleich auch sie bereits eine kaum in Worten zu beschreibende Schönheit darstellte. Dementsprechend war ich vollkommen in ihren Bann gezogen und wie verzaubert. Ich vermochte keinen klaren Gedanken zu fassen. Das Weib im Spiegel war alles, an was ich dachte, an was ich zu denken überhaupt in der Lage war.
Plötzlich erhob sich eine Stimme, die ich sofort als die der über alles geliebten Hope zuzuordnen in der Lage war.
"Sieh genau hin!"
Wieder wusste ich nichts mit dieser seltsamen Aufforderung anzufangen. Beängstigend war, dass das Weib im Spiegel, während ihre Stimme erklang, die grauen Lippen nicht bewegte. Hope stand weiterhin einfach nur regungslos wie eine Statue da und sah mich ausdruckslos, ergreifend an. Ihr Blick durchdrang Mark und Bein, offenbarte mein Inneres und ich fühlte mich vollkommen nackt, hilflos ausgeliefert und mit einer Macht konfrontiert, der ich nichts entgegenzusetzen hatte.
"Was meinst du?", erwiderte ich endlich.
"Sieh genau hin!"
Es wurde immer unheimlicher. Von meiner Brust ausgehend breitete sich ein ein extrem beklemmendes Gefühl aus, das meine Seele in den Bann zog, in Ketten legte und mein Herz mit unfassbarer Grausamkeit zusammenschnürte.
"O Hope", seufzte ich von wahnsinniger Sehnsucht ergriffend, die Hand nach dem Weib im Spiegel greifend. "Sag mir, werde ich dich im Reich der Toten, im Land der Seligen, im gesegneten Himmelreich wiedersehen? Sag mir, was hat es mit all dem auf sich? Sag mir, liebst du mich noch?"
"Sieh genau hin!", folgte die Antwort aus dem Spiegel, ohne dass der Mund geöffnet oder auch nur leicht bewegt wurde. Endlich wandte ich die Augen ab, da ich dem starren, toten Blick der Frau nicht länger standzuhalten vermochte.
"Bitte Hope", sagte ich, als ich den Blick wieder auf die anmutige, wenngleich angsteinflößende Erscheinung im Spiegel richtete, die mir von Sekunde zu Sekunde unnatürlicher und gefährlicher vorkam. "Lass meine gepeinigte Seele nicht im Unfrieden das Antlitz dieser Welt verlassen. Füge diesem gequälten Herz nicht noch mehr Schmerzen zu, indem du es unwissend lässt und keine Antworten auf die allgegenwärtigen Fragen des Seins lieferst. Bitte, o Hope, du einzige Geliebte, du Licht meines Lebens, gewähre mir diesen letzten Wunsch, diese letzte Antwort, genauso wie ich auch deiner letzten Bitte nachkam. Mein Tod für deinen Tod!
"Sieh genau hin!"
Ich verlor die Beherrschung. Die Grenze des Zumutbaren war erreicht.
"Du lebloses, scheinheiliges, verdammtes Abbild der echten Hope! Fahr zum Teufel, du entsetzlicher Dämon und lasse meine Seele zufrieden", schrie ich aus Leibeskräften, vor Wut scharlachrot anlaufend. Mit der Faust holte ich weit aus, näherte mich dem Spiegel und der toten Frau und wollte gerade zuschlagen als das Bild im Spiegel sich ohne Vorankündigung augenblicklich wandelte.
Die idealisierte Gestalt meiner verstorbenen Geliebten wich dem Bild einer anderen Frau, einer die mir aus Kindertagen noch in bester Erinnerung war. Ich hielt inne und erschrak heftig. Nie, nie, nie würde ich diesen sich mir anbietenden Anblick vergessen. Sofort erkannte ich die hässliche, von Warzen im Gesicht übersäte, kleine, buckelige, faltige Frau, mit ergrautem Haar, kleinen tiefschwarzen und bedrohlich funkelnden Augen, mit buschigen Augenbrauen und der gleich dem Schnabel eines Raben gebogenen Nase. Das Weib im Spiegel, das nun in grässliches, sadistisches, zutiefst erschütterndes, hämisches Gelächter ausbrach, war die alte Zofe!
"Deine Seele gehört mir, deine Seele gehört mir! Jetzt reiß ich dir die Äuglein aus dem Kopf, du unartiger Bengel, du unartiger Bengel, der des Nachts nicht schlafen will!"
Aus dem Spiegel streckte sich mir eine tote, verfaulte Hand entgegen, die mit ihren langen, an die Beine einer Spinne erinnernden Fingern, gierig und wollüstig nach mir griff. Ich schrie, doch niemand hörte mich. Ich war ausgeliefert, alleine in der Finsternis, alleine mit dem Weib im Spiegel in meinem Gemach, das sich immer mehr an meinem Leid ergötzte, mich auslachte und beobachtete.
Von unmenschlicher Furcht und unerfüllter Sehnsucht zutiefst ergriffen, sank ich zu Boden und die sich mir immer weiter nähernde Hand des Todes war das letzte, was ich sah, bevor ich in eine fieberhafte Ohnmacht einkehrte, die meine Sinne außer Gefecht setzte. Dunkelheit, unbestimmte Schatten, grausige Umrisse und das Nichts umgaben mich. Es war vorbei!
Unbestimmte Zeit später, ich vermag unmöglich einzuschätzen, wie lange ich weggetreten war, wachte ich mit heftigen Kopfschmerzen wieder auf. Neben mir auf dem Boden lag eine ausgelaufene Weinflasche. Sofort erinnerte ich mich an das, was geschehen war und setzte mich auf. Mein Herz machte einen gewaltigen Sprung, als ich feststellte, dass ich direkt vor dem Spiegel gelegen hatte. Unwillkürlich zuckte ich zusammen, war jedoch zu schwach, um aufzustehen. Schließlich fand ich den Mut, direkt in den Spiegel zu blicken, für alles gewappnet, bereit den Kampf auf Leben und Tod anzunehmen. Doch mit dem, was ich tatsächlich im Spiegel erblickte als ich genau hinsah, hatte ich niemals gerechnet und ließ mich derart erschaudern, dass ich einer weiteren Ohnmacht nur mit Mühe zu entgehen vermochte:
Aus dem Spiegel blickte mir mein eigenes, verstörtes Gesicht entgegen, das ich bereits seit langer Zeit nicht mehr gesehen hatte!

Feedback

Logge Dich ein oder registriere Dich um Storys kommentieren zu können!

Autor

MichaelLutzs Profilbild MichaelLutz

Bewertung

Noch keine Bewertungen

Statistik

Sätze: 243
Wörter: 5.804
Zeichen: 36.117

Ähnliche Storys

Scherben der Schuld
Von Ast3ri
13 4 1 16
Andere Zeiten
Von Tommy
42 5 2 12
Auf Abwegen
Von Tommy
114 5 1 16
Möge Frieden
Von Tommy
109 5 1 16
Das alte Spukhaus?
Von Sarah
71