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Sonnenstrahlen streckten sich durch die dichte Wolkendecke,
als wollten sie die Schatten vertreiben, die der Winter über das Land gelegt
hatte. Aber so warm sie auch schienen, vermochten sie es nicht, die Kälte zu
vertreiben, die Erendis Herz gefangen hielt. Nichts, vermochte es sie zu
vertreiben. Es hatten schon viele versucht, ihr Herz zu befreien. Aber alle
waren daran gescheitert.
Erendi hatte sich an den Stamm gelehnt, sie strich den
Schnee fort, der die Erde bedeckte. Sanft presste sie ihre Hand auf den dunklen
Grund, als ob sie dort noch immer das Herz schlagen hörte, das Herz ihrer
Tochter. Ein Schluchzen entrang ihrer Kehle, aber die Tränen wollten nicht
kommen. Keine Einzige war geflossen in den Zeiten der Kälte und Trauer. Sie
hatte die Tage nicht gezählt, doch sie sah ihre Augen immer noch vor sich.
Braun waren sie gewesen, braun wie die ihren. Das dunkle Haar, das im
Sonnenlicht geschimmert hatte. Die kleinen Finger hatten ihre Hand umklammert,
als das Fieber sie besiegt hatte. Nur das Lächeln war auf ihrem Gesicht
geblieben, das hatte der Tod ihr nicht nehmen können. Aber die Freude und das
Glück waren mit ihrem Tod aus Erendis Leben verschwunden.
Erendi schloss die Augen und sah sie vor sich, ihr Lachen.
Sie hörte ihre Worte, ihre Stimme. Doch sobald sie die Augen wieder öffnete,
sah sie nur die Welt. Diese weiße Welt, die sie nicht mehr erfreuen konnte. Da
war das Dorf, in dem sie geboren war, ihren Mann kennen gelernt hatte und ihn
und ihre Tochter wieder verloren hatte. Da waren die weiten Steppen des Südens
und die riesigen Wälder im Westen.
Doch es gab keinen Baum, den sie so liebte wie diesen. Hier
hatte sie ihren Mann das erste Mal gesehen und hier lag ihre Tochter begraben.
Es war ein Kirschbaum. Und obwohl die rötliche Rinde sie
jedes Mal an ihre Tochter erinnerte, liebte sie ihn. Weiß waren die Blüten im
Frühling, weiß wie die kindliche Unschuld ihrer Tochter. Doch es war der
Winter, der das Land bedeckte, auch wenn die Sonne noch so schien. Die Blüten
würden nie mehr für sie erblühen, ihre Schönheit würde Erendi nie wieder zum
Lächeln bringen, nie wieder.
Erendi zog ihr Messer, es wäre so leicht. So leicht, es sich
ins Herz zu stoßen. Doch sie war schwach, so schwach. Ihre Hand vermochte es
nicht, die Klinge auf ihr Herz zu richten. Sie hielt das Messer in der Hand und
verfluchte sich für ihre Schwäche. Wieso nur konnte sie nicht unverletzbar
sein? Wieso musste sie diese Trauer spüren? Diese Trauer, die ihr das Herz
zerriss. Aber war es nicht Liebe? Liebe, sie ließ Menschen zerbrechen, machte
sie dumm und leichtsinnig. Warum nur musste Liebe so schmerzen?
Erendi ließ sich den Stamm hinabsinken und vergrub den Kopf
zwischen den Armen. Wieder erschütterte ein Schluchzer ihren Körper, doch die
Erlösung der Tränen kam nicht. Wieso sollte sie auch kommen? Liebe war grausam
und unberechenbar. Ihre wilden Wogen hatten Erendi gefangen genommen und es war
kein Land in Sicht. Hilflos blickte sie den Stamm hinauf, als erwartete sie,
dass von dort Hilfe kam. Und die Hilfe kam – aber unerwartet.
Erendi drehte den Kopf zur Seite und starrte das Mädchen an,
das sie beobachtete. Es war dieser Blick, der sie aus ihren Gedanken riss.
Dieser Blick. Ihre Augen waren dunkel und sie funkelten wie die Sterne in den
Tiefen der Nacht. Sie konnte nicht viel älter als fünf Winter sein, dennoch
strahlte sie die Weisheit vieler Jahre aus. Sie war kräftig und nicht so
zierlich, wie es Erendis Tochter gewesen war. Ihr Haar war von einem
gewöhnlichem Dunkelbraun, aber ihre Augen…
Erendi schoss die
ihren, um diese Blicke nicht mehr ertragen zu müssen, diese ungebrochene Liebe
nicht mehr zu spüren. Eine gefühlte Ewigkeit saß sie da, aber dieses Mal
verschwendete sie keine Gedanken an ihre tote Tochter. Jetzt atmete sie nur die
frische Luft ein, in der schon die ersten Düfte des Frühlings hingen. Wie lange
hatte sie diesen Duft schon nicht mehr wahrgenommen.
Als Erendi die Augen wieder öffnete, war das Mädchen
verschwunden. Nur die kleinen Fußabdrücke im Schnee zeugten davon, dass es kein
Traum gewesen war. Die Frau stand auf und folgte den Spuren, sorgsam darauf
bedacht, keine zu zerstören. Zögernd stand sie im Dorf, nicht sicher, ob sie
nach dem Mädchen fragen sollte. Schließlich wandte sie sich um, auf ihrem
gewohnten Weg nach Hause.
Trotzdem saß Erendi am nächsten Tag wieder unter dem
Kirschbaum. Vielleicht weil die Trauer um ihre tote Tochter sie wieder
eingeholt hatte, vielleicht weil sie hoffte, dass das Mädchen wieder auftauchen
würde.
Als das Mädchen wieder da war, bemerkte sie es sofort.
Erendi konnte es spüren, die Liebe in ihren Augen. Sie selbst öffnete die ihren
nicht, als fürchtete sie, sich an der Liebe zu verbrennen. Vielleicht aber
auch, da sie Angst hatte, sie wieder zu verlieren. Sie wollte den Schmerz
nicht, den Liebe mit sich brachte. Still saßen die Beiden da und als das
Mädchen verschwand, blieb nur die Traurigkeit.
Tagelang ging es so weiter. Jeden Mittag erschien das
Mädchen. Es waren diese zwei, drei Stunden, für die Erendi lebte. Manchmal kam
es ihr wie Verrat vor, dass sie einem anderen Kind als ihrer Tochter
Aufmerksamkeit schenkte. Dabei kannte sie noch nicht einmal den Namen des
Mädchens. Seltsamerweise war sie glücklich, dass dieses Mädchen dort saß, den
kleinen Rücken gegen die Rinde gepresst. Erendi wollte die Stille nicht mit
ihrem Worten zerstören, diese mit Liebe angefüllte Ruhe, in der nur ihre
Atemzüge zu hören waren. Die Vögel, die sangen, als wollten sie den Schnee
vertreiben. Und die Kälte verschwand tatsächlich in den Tagen, in denen sie so
dasaßen. Das Mädchen und die gebrochene Frau.
Es war der zehnte Tag, als Erendi das erste Mal sprach. In
den letzten Monaten hatte sie immer das Gefühl gehabt, zusammen zu brechen,
sobald sie den Mund öffnete. Auch dieses Mal öffnete sie den Mund erst zögernd,
als fürchtete sie, dass das Mädchen davon laufen würde, falls sie etwas
Falsches sagte. Sie erzählte von ihrer Tochter, ihrem Mann. Und das Mädchen
hörte stumm zu, sie fragte und sprach nicht. Die Worte flossen wie ein Strom.
Ein Strom, der die Felder bewässerte und Leben brachte. Ab und zu huschte sogar
der Schatten eines Lächelns über ihr Gesicht. Irgendwann begann sie auch von
ihrer Kindheit, ihren Träumen und der Welt zu erzählen, anstatt ihrer Tochter.
Und das Mädchen schaute sie nur an mit den dunklen Augen,
die wie Sterne funkelten und sie war tatsächlich zu einem Stern, einen
Ankerpunkt in Erendis Leben geworden.
Aber dann kann der Tag an dem das Mädchen nicht erschien.
Der Blick ihrer Augen traf nicht auf Erendis. Gleichzeitig wurde dieser Tag,
aber auch zu dem, an dem sie aufstand. Es war das erste Mal, das sie ins Dorf
ging, ohne ein bestimmtes Ziel, außer das Mädchen zu finden Sie wandte sich an eine
Frau, aber diese antwortete nur: „Es gibt viele Mädchen hier. Schon heute hat
Londie eine Tochter zur Welt gebracht. Versuche es bei Londons Stamm.“. Erendi
nickte, dies war das Winterlager verschiedener Stämme, in dem sie im Winter gemeinsam
lebten und sich im Sommer wieder trennten. Das Mädchen konnte überall sein.
Es dauert lange, bis sie tatsächlich eine Spur fand. Eine
alte Frau, die Zähne schwarz, das Gesicht faltig und von Narben zerfressen, die
Erendi den Weg wies. „Ja, ja das Fieber ist dort ausgebrochen. Ihr Name ist
Morva.“. Morva – Stern. Erendi lächelte, trotz des von Besorgnis und Angst gezeichneten
Gesichtes. Jetzt war nur noch dieses Mädchen, Morva, wichtig. Wenn Erendi schon
ihre Tochter nicht hatte retten können, so würde sie wenigstens dieses Mädchen
retten.
Die Hütte war nicht mehr als ein Bretterverschlag, der halb
zerfallen war und von dem geringen Reichtum von Morvas Familie zeugte. Wie kam es dazu, dass ein Mädchen, das täglich
ums Überleben kämpfte, so von Liebe strahlte? Wie? Erendi wusste es nicht, sie
verstand es nicht. Sie wusste nur, dass sie für dieses Mädchen kämpfen würde. Dieses
Mädchen, das ihr Leben gab, als sie selbst sich schon aufgegeben hatte.
Erendi trat in die Hütte. Es war nur ein Raum, eine
Feuerstelle, einfache Betten. Eine Frau trat ihr entgegen. Wie alt mochte sie
sein? Neunzehn? Zwanzig? Ihr Gesicht war dunkel, der Schatten der Angst hielt sie
ebenfalls gefangen, so wie Erendi damals. Sie sah Morva ähnlich mit dem dunklen
Haaren und den großen, schwarzen Augen.
Aber sie würde nicht in Trauer versinken, nicht wenn Erendi es
verhindern würde.
„Bitte steck dich nicht an.“. Wie schwach ihre Stimme klang.
Der Widerstand war nicht wirklich, längst hatte sie die Hoffnung aufgegeben.
Aber Morva würde nicht sterben, nicht Morva.
Erendi trat zu dem Lager des Mädchens, auf dem sich diese
kaum rührte, und legte die Hand auf die fiebernde Stirn. Sie hatte das Fieber,
so nannten die Stämme die Krankheit, die jeden Winter Kranke, Alte und Kinder
niederstreckte. Selten gab es eine Mutter, die kein Kind an sie verloren hatte.
Erendi tastete nach
ihrem Puls, er war schwach. Dann untersuchte sie den Hals, zwar konnte sie die
Beulen schon spüren, aber sie waren klein. Es war noch nicht zu spät.
„Ich brauche Huflattich.“, erklärte sie der Mutter, die noch
nicht einmal gefragt hatte, was die fremde Frau hier machte, als wäre es ihr
sowieso egal.
„Huflattich? Ist es nicht noch zu früh? Das war das Einzige,
das sie sagte. Ihre Stimme war immer noch verzweifelt und Erendi wollte sie
schlagen, dafür, dass sie die Hoffnung nicht witterte. Der sanfte Duft der
Hoffnung, der Erendi in die Nase stieg und ihr Tränen aus den Augen treten ließ.
„Ich brauche Huflattich.“, wiederholte sie ruhig, obwohl sie
innerlich vor Ungeduld erbebte, „Er muss auf den Feldern schon wachsen. Suche
nach trockenen Stellen.“. Zufrieden sah sie zu, wie die Frau nach draußen
rannte. Er musste schon wachsen, er musste einfach. Ihre Hauptaufgabe war es
nun das Fieber zu senken, wenn das Fieber erst einmal besiegt wäre, würde die
Krankheit verschwinden.
Morva würde sie nicht verlieren, nicht wie ihre Tochter. Das
Mädchen würde leben. Die gelben Blüten mussten einfach wachsen, um ihr Leben zu
retten. Sie mussten.
Erendi setzte sich neben Morva und umfasste ihre Hand. Die
fiebrigen Augen waren nun geschlossen.
Mit leiser Stimme begann Erendi zu singen: „
Wenn die Berge und das Meer zusamm’ treffen,
wenn der Adler seine
Schwingen erhebt
und die Erde den
Himmel berührt,
dann wird die Welt
erneut beginn’
Wenn Angst die Herzen
verlässt,
wenn der Hass zu hassen vergisst
und der Tod die Opfer lässt,
dann wird die Welt erneut beginn’
Wenn die Liebe den Hass besiegt,
wenn die Freude den Schmerz überwältigt
und die Hoffnung zu
leben anfängt,
dann wird die Welt
erneut beginn’
Erendi endete und starrte Morva an. Sie strich ihr das
verschwitzte Haar aus dem Gesicht, dann stürzte die Frau herein. Ohne etwas zu
sagen, reichte sie Erendi die Pflanzen. Nun waren auch ihre Augen wieder
lebendig und strahlten. Die gelben Blüten duften nach Honig und nach Frühling.
Vorsichtig zerkleinert Erendi die Pflanzen und legte die Stücke auf Morvas Zunge.
„Wasser.“. Eilig reichte
die Frau ihr einen Lehmbecher mit Wasser
„Schluck.“, beschwor sie Morva und versuchte ihr das Wasser
einzuflößen und dann, endlich trank sie.
Zwei Tage saßen sie abwechselnd an Morvas Bett. Erendi und
Midra, Morvas Mutter. Zwei Tage in denen Erendi Geschichten in die Luft malte.
Geschichten von mutigen Jägern und tapferen Frauen. Lieder über die Natur,
Lieder über die Liebe. Das einzige, das sie nicht sang, waren Schlaflieder.
Morva sollte erwachen, nicht schlafen. Erendi hatte zuletzt vor Monaten
gesungen, damals als ihre Tochter und ihr Mann noch gelebt hatten. In
glücklichen, friedlichen Tagen. Jetzt wollte sie nur, dass Morva lebte. Es
waren knisternde Worte, lebendige Worte. Sie vertrieben die Angst und den
Schmerz aus diesem Raum und füllten ihn mit Liebe und Hoffnung.
Dann am vierten Tag, als sie endlich die Augen aufschlug,
leuchteten sie wieder wie die Sterne, die am Nachthimmel funkelten und die
Nacht mit ihrem Licht erhellten. Midra schloss ihrer Tochter weinend in die
Arme.
Vielleicht wollte Erendi sich leise davon stehlen, vielleicht
wollte sie auch einfach ihre Erleichterung in die Welt schreien. Sie wusste
selbst nicht, warum sie zur Tür ging. Es war Morvas Aufschrei, der sie zurück
rief. Zu dritt lagen sie sich in den Armen. Die junge Mutter Midra, Erendi, die
die Hoffnung wieder gefunden hatte und das Mädchen Morva, das den Tod
zurückgestoßen hatte wie einen lästigen Verehrer. Der Tod war besiegt und davon
getrieben worden, so schnell würde nicht wieder kommen.
Und jetzt wusste Erendi, dass sie erneut eine Familie
gefunden hatte. Sie konnte ein neues Leben beginnt, dank Morva.
Und in diesem Jahr blühte der Kirschbaum schöner als jemals
zuvor, die Blüten erinnerten Erendi nun an die Liebe Morvas, die ihr die
Hoffnung wieder geschenkt hatte. Jedes Jahr wenn die Stämme sich im Winterlager
trafen, saßen Morva und Erendi unter dem Baum und erzählten einander Geschichten,
Geschichten über Liebe und Hoffnung. Denn hier unter diesem Kirschbaum hatte
ihre Geschichte begonnen, eine Geschichte voller Liebe und Glück. Lange sollte
der Baum dort stehen und die Welt mit weißen Blüten überhäufen
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