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Ein unbekanntes Zimmer

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09.06.18 18:56
12 Ab 12 Jahren
Pausiert

Ich hätte mich für heute genug blamiert, sagte Phil, als er hinter sich die Tür abschloss. Er will versuchen, dass ich die Rolle doch noch bekomme, aber ohne mich im Weg hätte er mehr Chancen. Ich hasse ihn! Nur weil ich gegenüber diesem Produzenten ein paar französische Worte falsch ausgesprochen habe. Ich bin eben nicht so gebildet wie er und seine Frau. Sie war auf einem Internat für höhere Töchter. Sie hat auch dieses Haus für mich in Beverly Hills eingerichtet. Da drehte ich gerade in Acapulco. Als ich zurückkam, habe ich mir alles kaum angesehen, weil es schon weiterging zu einem neuen Dreh in Kapstadt. Das hier soll die Bibliothek sein, denke ich. An allen Wänden stehen Regale mit Büchern. Daheim gab es nur eine kleine Gemeindebibliothek in einem Kellerraum im Rathaus. Aber das waren andere Bücher - zerfleddert und abgestoßen. Diese hier sehen teuer aus. Ich ziehe eines heraus - meine Finger spüren Leder und Stoff, als ich über den Einband fahre.

Ich weiß gar nicht, warum man dieses Zimmer überhaupt eingerichtet hat. Immer, wenn ich versuche, mal über etwas Anderes zu sprechen als Kleidung, Partys und meine Wochenendpläne unterbricht mich Phil schnell. Meine Gedanken will er nicht hören - und er will auch nicht, dass die Welt sie hört. Ich soll gut aussehen - jugendlich, lebendig, wie Sommer in Kalifornien und ein Leben ohne Sorgen. Wenn ich es mir genau überlege, habe ich in keinem meiner Filme auch nur ein Buch in der Hand. Also warum richtet man mir eine Bibliothek ein? Nicht, dass es mir nicht gefallen würde, aber wann hätte ich denn überhaupt Zeit hierzu? Oder habe ich etwa inzwischen genug Filme gedreht, dass ich es mir leisten könnte, ein paar Monate auszusetzen, um zu lesen? Könnte ich es überhaupt? Wahrscheinlich würde ich gar nicht verstehen, was das Buch sagen soll. Das weiß ich noch aus der Schule. Es gibt immer versteckte Botschaften, die man erst aufspüren muss. Jemand müsste mir sicher helfen. Ein junger Mann mit Brille vielleicht, der studiert hat. Ich könnte ihn dafür engagieren. Die Vorstellung gefällt mir. Wir beide in deisem Raum, über ein Buch gebeugt, durch das Fenster zum Hof fällt sanftes Licht. Es wäre endlich einmal still um mich, so wie jetzt, nur noch besser, da kein Gelächter vom Pool herüberschallen würde. Bestimmt erzählt Phil dem Produzenten, ich hätte zu viel getrunken, aber er wisse schon, mit mir am Set umzugehen. Ich will nicht, dass der Produzent so über mich denkt. Vielleicht sollte ich einfach aus dem Fenster klettern, ums Haus zum Pool laufen und ihm zeigen, dass ich nicht so leichtfertig bin? Ich weiß nicht. Ich schlage das Buch in meiner Hand auf und fange an irgendeiner Stelle an zu lesen. "Was hat er in mir gesucht?", steht da, "nicht so sehr die Liebe, als vielmehr die Befriedigung seiner Eitelkeit." Mh, vielleicht bleibe ich doch hier.

"Cut!" Auf Signal des Regisseurs ließen Flint Jones' muskelbepackte Arme ihn los. Er stand vom Boden auf und ging zu dem unbeschrifteten Klappstuhl in der zweiten Reihe, den eine Assistentin ihm am Morgen zugewiesen hatte. Nicht zum ersten Mal an diesem Tag fragte er sich, was er hier eigentlich machte. Ja, sein Agent hatte ihm gesagt, es sei eine super Chance an der Seite von Flint Jones zu spielen und es würde ihn in seiner Karriere weiter bringen. Aber er sah nicht mehr, wie es ihn weiterbringen sollte, wenn es sein einziger Zweck war, Flint als Held darstehen zu lassen, während er selbst wie ein Vollidiot am Boden lag. Wie sollte eine weitere Nebenrolle ihn weiterbringen?

Vielleicht sollte er alles hier einfach hinter sich lassen und gehen. Es nervte ihn sowieso: dieser ständige Sonnenschein, die arrogante Filmindustrie, die Masse an anderen jungen Goldgräbern, die mit bis zur Verzweiflung strahlendem Gesicht daran glauben wollten, dass sie es schaffen würden; dass die nächste Audition die Rolle bringen würde, die nächste Castingagentur den großen Einsatz. Er stellte sich vor, wie er einen Rucksack packte - nur mit dem Nötigsten. Den anderen unnützen Plunder würde er einfach vor die Tür stellen - sollte ein anderer damit glücklich werden. Und dann weg. Raus aus der Stadt trampen und dann zu Fuß nach Hause. Über Felder, Wiesen, Wäldchen und Bachläufe.

Es könnte die Erfüllung werden - er könnte die Ruhe wiederfinden, die er damals mit Freuden aufgegeben hatte. Seine Eltern würden ihn begrüßen und der alte Hund, der Garten hinterm Haus mit seinen Farben - ein Leben, auf das Wesentliche reduziert. Aber er wusste, dass sich diese Szene auch ganz anders darstellen ließ: seine Eltern mit anderen Dingen beschäftigt, der alte Hund distanziert, die neuen Arbeitskollegen tumb und eindimensional.

Sein Telefon klingelte. Es war sein Agent. Er zögerte kurz, dann klappte er es auf. "Phil", sagte er, "hast du was für mich?"

Autorennotiz

Das Buchzitat am Ende des ersten Kapitels stammt aus "Anna Karenina" von Leo Tolstoi.

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Autor

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Statistik

Kapitel: 2
Sätze: 58
Wörter: 855
Zeichen: 4.779

Kurzbeschreibung

Kapitel 1: in dem sich ein junges Filmsternchen unvermittelt in einem Raum ihrer Hollywood-Villa eingeschlossen findet, den sie bisher kaum beachtet hat. Kapitel 2: in dem sich ein junger Schauspieler fragt, ob es das alles eigentlich wert sei.