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Auswege und Temperaturunterschiede

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29.09.19 15:28
12 Ab 12 Jahren
Fertiggestellt

Leise war es geworden in meinem Haus, nachdem Hannah ausgezogen und mich allein zurückgelassen hatte. Zuweilen sehne ich mich in meinen nostalgischen Träumen danach, noch ein einziges Mal all jene Geräusche zu vernehmen, die mich früher so störten, wie das Klirren von Besteck, welches gewaschen wird oder das Rumpeln und Poltern des in die Jahre gekommenen Staubsaugers. Die Abneigung gegenüber diesen Wahrnehmungen, hatte mir damals zumindest stets das Gefühl verliehen, noch etwas zu fühlen, noch lebendig zu  und von anderen Menschen umgeben zu sein. Alleine lebt es sich nicht gut. Da ist der Staubsauger das kleinere Übel.

Ich habe mich in eine rote Wolldecke mit schwarzen Streifen gehüllt, da mich friert. Wohl eine Begleiterscheinung des Alters. Alt werden ist nicht schön. Ich huste. Es schmerzt im Hals. Ein Schauer durchzieht meine Glieder und verkrampft meine Muskeln. Es tut weh.
Auf dem Tisch vor mir liegt eine alte Ausgabe von "Men´s Health" (das Abonnement habe ich nie gekündigt) und eine gelbe, bereits hässlich vergilbte Tasse mit Tee. Ich streckte den Arm aus, um nach der Tasse zu greifen und spüre dabei, wie meine Gelenke ächzen und laut aufheulen. Ich führe die Tasse behutsam zu meinem Mund und genehmige mir einen Schluck gegen die Halsschmerzen.

Ich denke an Hannah wie sie damals ihr rotes Kleid trug. Damals, als die Welt noch in Ordnung war. Als sie noch nichts wusste, von meiner Diagnose. Doch es ist immer das gleiche. Die Illusion und der trügerische Schein erhalten Beziehungen aufrecht. Wenn man erfährt, wer ein Mensch wirklich ist, will plötzlich niemand mehr etwas mit einem zu tun haben. Der Mensch erträgt die Wahrheit wohl nicht.

Wenig später lese ich in meinem Tagebuch, welches ich führe, seit ich denken kann. Jeden Tag habe ich verewigt. Ich lese gelegentlich darin, um meiner mangelhaften Erinnerung auf die Sprünge zu helfen. Somit erfahre ich leider jedoch oftmals Informationen, die ich wohl aus Gründen des Selbstschutzes vergessen hatte und die besser auch weiterhin im Verborgenen geblieben wären. Doch es nützt nichts. Es macht die Vergangenheit schließlich nicht ungeschehen, wenn ich sie verdränge. Sie hatte trotzdem erheblichen Einfluss auf meine Entwicklung und mich zu dem gemacht, der ich bin, ganz gleich, ob ich mich nun erinnere oder nicht.

Beim Zurückblättern erfahre ich, dass meine Krankheit vor zwei Jahren ausgebrochen war, die Diagnose erhielt ich an einem stürmischen Tag im März. Daraufhin verbrachte ich viele Abende im "Eisernen Ritter", um für Ablenkung zu sorgen. Sehr gut erinnere ich mich noch daran, wie ich eines späten Abends müde und vom Schnaps erhitzt nach Hause kam und einen Zettel von Hannah vorfand, auf dem geschrieben stand:

"Ich muss irgendwohin, wo es wärmer ist."

Ich habe sie nie wieder gesehen.

Aus meinen Aufzeichnungen geht zudem hervor, dass Hannah das rote Kleid, welches ich sie in meinen Erinnerungen tragen sehe, in Barcelona erworben hatte. Dies war unsere letzte gemeinsame Reise, bevor ich krank wurde und sie mich verlassen hatte.
Barcelona, denke ich. Welch wunderschöne Stadt! Eine Stadt voll Leben, sanftmütiger Grazie und gleichzeitig Ausdruck des spanischen Temperaments. Ich erinnere mich an die breiten Straßen und Gehwege, die Palmen, die die Wege schmückten. Vor meinem inneren Auge erkenne ich die charmant altmodische Architektur, die blühende Kultur, die die Stadt zu bieten hat, die Wärme, die herzlichen und wunderschönen Menschen. Ich fühle in meinem Herzen den katalanischen Stolz, die Würde dieser unvergleichlichen Stadt, die einheimischen Spezialitäten. Ich kann die Düfte förmlich wieder riechen, höre die Menschen zu mir sprechen, nehme die bunten Farben wahr, all das, was ich damals gierig wie ein Schwamm in mich aufgesogen hatte.
Ich schwelge in Erinnerungen, schließe die Augen und döse ein wenig dabei. Als mir das Buch aus den Händen fällt und laut auf dem Boden aufschlägt, komme ich wieder zu mir. Deprimiert gelange ich zurück in die Realität und muss schmerzlich feststellen, wie sehr mein erwünschtes Traumleben von meinem realen Alltag divergiert.

Wieder keimen in mir die düstersten Fantasien auf, ein Zustand, an den ich mittlerweile gewohnt bin. Ich habe noch einen Strick aus dem Baumarkt übrig, fällt mir ein und ich verspüre das Bedürfnis, von diesem Gebrauch zu machen. Doch zunächst nehme ich noch ein letztes Mal mein Tagebuch in die Hand und blättere weiter.

Bald darauf stoße ich auf einen Eintrag vom heiligen Abend des Vorjahres, das Fest, welches ich alleine verbringen musste. Der Anblick des Datums allein, löst schreckliche Erinnerungen in mir aus, denn ich unternahm an jenem Tag einen Selbstmordversuch, da ich die Einsamkeit nicht mehr ertragen konnte. Dieser scheiterte jedoch. Ich traue mich kaum zu lesen, doch ich werde von der Neugierde übermannt und führe mir schließlich dennoch die von mir verfassten Zeilen zu Gmüte:

"Der Grund, kein Suizid zu begehen, ist die dem Menschen eigene Annahme, dass eigene Potential könne auch wieder bessere Zeiten herbeiführen. Zudem ist es das Gefühl der Einzigartigkeit der eigenen Persönlichkeit und die Angst davor, etwas derart besonderes zu verschwenden, etwas, dass es in dieser Form nie gab und nie wieder geben wird."

Ich weine. Der Eintrag geht mir in meiner gegenwärtigen Verfassung sehr nahe. Der Strick löst sich vor meinem inneren Auge auf und weicht einer anderen Vorstellung, nämlich, wie wohltuend sich warme Sonnenstrahlen auf meiner geschundenen Haut anfühlen. Ich weiß, was zu tun ist. Die dunklen Wolken, die mein Gemüt bedeckt hatten, wurden von einem hellen Strahl klaren und wärmenden Sonnenlichts durchdrungen. Bevor ich meine Sachen packe, schreibe ich noch ein letztes Mal in mein Tagebuch, welches ich allein zurücklasse.

"Auch mir ist es hier zu kalt. Aber in Barcelona ist es warm!"

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MichaelLutzs Profilbild MichaelLutz

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