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Gefangen im Diesseits

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01.08.18 23:56
12 Ab 12 Jahren
In Arbeit

Es ist Nacht. In der warmen Sommerluft laufe ich eine einsame Straße entlang, die den Waldesrand klar von den Häusern der Menschen trennt. Flimmernd und scheinend machen sich die neugierigen Augen der kleinen Häuser bemerkbar. Aus ihnen hallen die Klänge von Fernsehern, die sich in der weiten Nacht verlieren. Gebietsweise stehen Straßenlaternen, die mit ihrem gelben Lichtkegel die Dunkelheit zu verscheuchen versuchen. Und dann ist da noch das Zirpen der Grillen, welches nur gelegentlich durch das Vorbeirollen eines LKWs unterbrochen wird, der sich durch ein verschlingend-mechanisches Geräusch ankündigt und sich dann den Asphalt hinter sich lassend, wie ein Schwert durch die besänftigende Stille der Nacht bohrt. Der Wind ist so ruhig, dass die Bäume das Rascheln ihrer Blätter nicht einmal anzudeuten wagen. Unversehens huscht ein Eichhörnchen über die Straße. Leben, denke ich. Überraschend wirkt die Luft plötzlich statisch. Von weit her ertönt einmalig ein feines Klingeln, zierlich und ganz allein, hat es sich auf den Weg gemacht. Die Luft bauscht sich auf. Etwas bahnt sich an. Die Ruhe, die eben noch einzig durch das Orchester der Grillen untermalt wurde, nimmt ein Ende und wo vorhin noch Unbeweglichkeit galt, herrscht nun Sturm. Ungezügelt ziehen Windböen auf, sie zerren an den Blättern der Bäume, reißen sie ab. Herrschaftlich durchwühlen sie alles, mit dem Bestreben mir ihren Wert zu bezeugen. Das Licht der Straßenlaternen beginnt zu flackern, schnell, so wie das Tippen einer Schreibmaschine. Das Material aus dem sie gemacht sind, verbiegt sich. Zuckend und schnalzend, wie eine Zunge, bewegt sich die Straße neben mir in einem völlig absurden Rhythmus, die Bäume, sie greifen nach mir und der tiefe, tintenschwarze Himmel, der Allesumfassende, stürzt auf mich herab, ist im Begriff mich zu erdrücken. Alles bricht zusammen, von überall her rufen sie nach mir. Unzählige Eindrücke prasseln auf mich nieder. Sie überfluten mein Ohr. Es passiert, denke ich. Irgendwann musste es passieren. Es konnte nicht anders kommen. Dies Schicksal war unausweichlich. Die Existenz, sie bricht zusammen. Sie implodiert. Meine Beine werden langsamer. Wie an einer Flüssigkeit gleite ich zu Boden. Ich ertrage das nicht mehr! Wie soll ich alles ordnen, kategorisieren, es klassifizieren? Wo kann ich mich festhalten, wenn mich der Wind der Bestimmung wegfegt und ich einmal wieder die Orientierung in diesem Sturm verliere? Erkenntnis, richtig, falsch, Ästhetik, Mord, schön, abscheulich, Wissen, gut, schlecht, Wahrheit, Lüge, kalt, warm, oben, unten, links, rechts, überall. Gib mir eine Antwort, Existenz! Aber sie kann nicht. Das konnte sie noch nie und können wird sie es nimmer mehr. Mit ihren Lebewesen, die sie stolz geschaffen hat, lügt sie uns frech ins Gesicht, macht uns etwas vor. Lächerlich-feierlich präsentiert sie uns diese. Etwas wird verfallen, aber triumphierend wird aus dem Verfall wieder ein neues Leben erwachsen und erneut wird sie uns hingehalten und uns eine frische Lüge aufgetischt haben. Und wir, wir werden sie ehrfürchtig und dankend fressen. Ich aber, gehöre dazu. Ich bin gefangen, gefangen in der Existenz und gefangen, bin auch ich die Existenz. Aber die Existenz, sie ist einfach nur. Zu mehr ist dies gleitende Konstrukt nicht in der Lage. Zu schwach ist es. Zu dumm ist dies Dasein. Was wäre, würde ich mich jetzt spurlos auflösen? Unversehens wäre dort ein schwarzer Fleck, ein Riss in ihr. Die Existenz, sie wüsste nicht, wie ihr geschehe. Hilflos würde sie hinterher gezogen, hineingezogen. Gnadenlos würde ich alles mitnehmen, und, ist es erst einmal geschehen, ist alles verschwunden, würde ich wie eine giftige Spinne zuschnappen und sie mir gänzlich einverleiben. In mir, würde ich sie zerpressen, ausquetschen, den letzten Saft. Und dann würde etwas neues daraus geformt, wie ein Ei. Stärker, prächtiger und entschiedener, als je zuvor würde darin die Existenz mit Sinn versehen. Und ich werde verkünden: Götter dieser Welt, das Dasein, es wird nicht mehr da sein, es wird dort sein, im Jenseits. Gefangen.

Autorennotiz

Erläuterung: Die Kurzgeschichte "Gefangen im Diesseits" zeigt einen Protagonisten, der unter dem Verlust seines Lebenssinns stark zu leiden hat. Er verflucht die gesamte Existenz, insbesondere aber das Leben, welches ihm als Lüge erscheint, da es mehr zu verheißen scheint, jedoch als unaufhörlicher Prozess von Entstehung, Verfall und Determinismus nichts weiter zu bieten hat. Auch mangelt es dem Protagonisten mit dem nicht vorhandenen Sinn an einer Möglichkeit der Orientierung. Der Lebenssinn hilft dem Menschen für gewöhnlich das alltägliche Geschehen, Meinungen und Gedanken einzuordnen, um so die viel zu komplexe Welt zu komprimieren und überschaubar und greifbar zu machen. Fehlt dieser Sinn, so fühlt sich der Menschen schnell überfordert und wird dem Geschehen gegenüber eventuell gleichgültig. Da der Prozess nicht zu stoppen ist, sieht sich der Protagonist gefangen in einem, seiner Meinung nach, ohnmächtigen System. Die Gegenwart nicht mehr ertragend, flüchtet er sich in Gedanken, in welchen er die Existenz überlistet, die Kontrolle über sie übernimmt und ein vermeintlich besseres Dasein zu schaffen versucht. Aus einem Mangel an Kontrolle wird also die absolute Kontrolle. Das, was den Protagonist zunächst gefangen hielt, hält er nun selbst hinter verschlossenen Mauern gefangen.

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Autor

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Sätze: 57
Wörter: 682
Zeichen: 4.063

Kurzbeschreibung

Der Protagonist wird auf dem Weg nach Hause von einer existentiellen Krise heimgesucht, der er sich hilflos ausgesetzt sieht. Die Gegenwart nicht mehr ertragend, flüchtet er sich in die eigenen Gedanken, in welchen er die Existenz zu überlisten versucht.

Kategorisierung

Diese Story wird neben Drama auch im Genre Nachdenkliches gelistet.

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