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Natalies Geheimnis - eine Adventskalendergeschichte

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05.11.23 16:48
6 Ab 6 Jahren
Fertiggestellt

„Nadja, aufstehen! Du hast verschlafen!“, hörte ich die ungeduldige Stimme meiner Mutter durch die Tiefen meiner Träume schallen. Gähnend schaute ich auf den Wecker: Verdammt! Eine halbe Stunde zu spät! In derselben Sekunde wurde mir bewusst, dass dies wieder einmal einer dieser typischen Tage war, an denen alles schiefläuft!

Blitzschnell lief ich ins Bad, wo ich mich in Windeseile fertig machte, fütterte meine Katze Minka und rannte schließlich hinaus auf den Hof.

Eisige Kälte empfing mich. Als ich gerade los sprintete, um meinen Bus nicht zu verpassen, fiel mir ein, dass ich mein Pausenbrot zu Hause vergessen hatte. Doch umzukehren kam jetzt nicht mehr in Frage. 

Kaum hatte ich unser Grundstück verlassen, da bemerkte ich auch schon, dass die Straße über Nacht gefroren und alles spiegelglatt war. Bevor ich bremsen konnte verlor ich das Gleichgewicht, schlitterte den Hügel hinunter und schlug zunächst mit dem Rücken und dann mit dem Kopf auf dem harten Asphalt auf. 

Ich war wie benebelt, spürte meine Glieder nicht mehr und konnte mich nicht bewegen. Mich überfiel Angst, große Angst. Ich wusste, dass ich mitten auf der Straße lag, unfähig mich zu rühren. Wenn ein Auto kommen würde, wäre ich hoffnungslos verloren, und früher oder später würde eins kommen, das spürte ich. 

Und ich sollte Recht behalten. Nach wenigen Minuten hörte ich ein Motorengeräusch, mich ergriff Panik und ich schrie. Ich schrie mir die Seele aus dem Leib, aber ich wusste, ich hatte keine Chance gegen dieses Ungeheuer, gegen das Monster, dass da auf mich zuraste, es kam näher und näher!

Zunächst sah ich nur schwarz, dann einen grellen Lichtblitz, bevor alles wieder dunkel wurde. Ich hatte das Gefühl nicht mehr richtig atmen zu können, meine Lunge zog sich zusammen, immer enger und enger. Mein Körper verkrampfte sich und ich versuchte, mich auf die Seite zu drehen. Aber da war nichts, ich fiel in ein Loch, tiefer und tiefer, aber kam nie am Boden an. Plötzlich war alles totenstill.

 

Als ich die Augen wieder öffnete, wurde ich von einem hellen Schein geblendet. „Bin ich tot?“, flüsterte ich. Da beugte sich eine junge Frau über mich; ich hatte sie noch nie zuvor gesehen, aber sie war wunderschön. Das lange, braune Haar fiel ihr in leichten Wellen über die Schulter und sie hatte sanfte bernsteinfarbene Augen, aus denen sie mich jetzt lächelnd ansah.

Doch das Schönste an ihrer Erscheinung waren die Schneeflocken, die in ihrem Haar glitzerten und ich fragte mich unwillkürlich, weshalb sie nicht schmolzen.

„Bist du ein Engel?“, wollte ich erstaunt wissen und bemerkte im selben Moment, wie dumm meine Frage klang. Aber die junge Frau schüttelte nur stumm den Kopf, bevor sie antwortete: „Nein Nadja, du bist nicht im Himmel, du lebst!“ 

Ich zuckte zusammen und sofort begann mein ganzer Körper zu schmerzen. Woher kannte sie meinen Namen? Und wo zum Teufel befand ich mich? 

„Du musst vorsichtig sein Nadja, du darfst dich nicht so viel bewegen!“, hörte ich den Engel mit glockenheller Stimme sagen. Im selben Moment verschwamm sie vor meinen Augen und alles wurde wieder schwarz. Dunkelheit umfing mich.

Als ich das nächste Mal erwachte, saß meine Mutter auf der Bettkante neben mir. „Ich lebe also wirklich noch“, dachte ich und sofort fiel mir die hübsche Frau wieder ein. Ich konnte mich noch genau an sie erinnern, obwohl ich meine Träume normalerweise nach dem Erwachen nicht mehr in Erinnerung hatte. „Das war kein Traum!“, stellte ich leise fest, „Das war Realität!“. Ich fröstelte ein wenig-wo war sie hin, das ältere Mädchen, das meinen Namen kannte?

„Du bist ja wach, meine Kleine!“, rief meine Mutter und streichelte mir lächelnd über den Kopf. „Was machst du nur für Sachen?“ 

Ich versuchte mich aufzurichten, aber sofort schmerzte mein Kopf und ich war gezwungen mich wieder hinzulegen. Neben meinem Ohr hörte ich eine klare Stimme, die unverkennbar zu dem Mädchen von vorhin gehörte: „Du musst vorsichtig sein Nadja, du darfst dich nicht so viel bewegen!“ 

Ich drehte meinen Kopf leicht nach links, aber da war niemand! Ein kalter Schauer lief mir über den Rücken und ich fühlte mich beobachtet. „Wer ist das?“, fragte ich tonlos. „Was meinst du?“, wollte meine Mutter verwundert wissen. „Hörst du sie nicht?“, keuchte ich und sie erwiderte besorgt: „Du fantasierst Nadja Schatz. Versuch noch ein bisschen zu schlafen, hörst du? Ich gebe den Ärzten Bescheid, dass du aufgewacht bist.“ 

Ich fühlte mich wieder wie ein kleines Kind, als mir meine Mutter über die Wange strich und meine Hand drückte, aber gehorsam schloss ich die Augen und schlief sofort ein. 

 

Ich träumte. Wieder schlitterte ich den Berg vor unserem Haus hinab und blieb zusammengekrümmt am Boden liegen. Doch ich sah das alles aus den Augen einer außenstehenden Person. Jetzt sah ich, wie ich, beziehungsweise mein Abbild, schrie, als ein riesiges schwarzes Auto den Berg hinauf raste. 

Und plötzlich passierte etwas, mit dem ich nie gerechnet hätte: Eine junge Frau sprang auf die Straße und winkte. Es war nicht irgendein Mädchen, nein! Sie war es!

In diesem Moment begriff ich, dass sie, ein wahrer Engel, mir das Leben gerettet hatte. Denn das Auto musste anhalten und der Fahrer, ein hochgewachsener Mann mit schwarzen Haaren, einem langen Bart und Lachfältchen im Gesicht, stieg irritiert und etwas verärgert aus. Doch dann, als er mich bewusstlos am Boden liegen sah, begriff er, was passiert war, betastete mich vorsichtig und als er sich versichert hatte, dass ich noch atmete, rief er schnell und etwas besorgt den Krankenwagen. 

Eine Welle der Dankbarkeit für diesen Herrn und das ältere Mädchen, das auf mich aufmerksam gemacht hatte, ergriff mich. Aber als ich mich umdrehte, um die junge Frau noch einmal anzusehen, die so geistesgegenwärtig auf die Straße gesprungen war, um mich vor dem Auto zu beschützen, war sie nicht mehr da.

Meine Lebensretterin, meine Heldin war verschwunden.

Ich wusste, dieser Traum war wichtig, er entsprach der Realität. Eine Stimme sagte mir, ich müsse die Augen öffnen und da ich von Natur aus ziemlich neugierig bin, tat ich wie geheißen.

Und vor mir saß meine Heldin! „Wer bist du?“, fragte ich die junge Frau, aber diesmal kamen mir die Worte unglaublich schwer über die Lippen. Ich rang nach Luft und bemerkte, dass ich vor Aufregung den Atem anhielt. 

Meine Retterin begann zu sprechen und zog mich in ihren Bann: „Ich heiße Natalie und bin 21 Jahre alt, also sieben Jahre älter als du.“ 

Natalie… Der Name kam mir irgendwie bekannt vor. „Wir kennen uns schon, aber du wirst dich wahrscheinlich nicht mehr an mich erinnern können…“

Der letzte Satz klang ein wenig betrübt und dennoch hörte ich ein kleines bisschen Hoffnung darin mitschwingen. Ich schüttelte überrascht den Kopf, als ich sah, wie sie mich fragend anschaute. 

Aber da war noch etwas außer der Traurigkeit in ihrem Blick, war das etwa… Liebe? Mit dem gleichen Blick sahen mich meine Eltern auch immer an, wenn sie stolz auf mich waren. Ich schaute zurück und genoss den Anblick dieser schönen jungen Frau und während ich sie nun genauer betrachtete, fiel mir eine gewisse Ähnlichkeit mit mir auf. Na gut, meine Haare sind schwarz und ihre Augen etwas heller als meine, aber die Gesichtszüge sind die gleichen. Und auch ihre große schlanke Gestalt ähnelt meiner, wir haben beide die gleichen langen Beine…

Plötzlich hörte ich mehrere Stimmen auf dem Gang und zuckte, in meine Gedanken vertieft, zusammen. Vorsichtig drehte ich meinen Kopf zur Tür. Kurze Zeit später trat eine blonde Frau, die einen Arztkittel trug, in mein Zimmer. Hinter ihr kamen meine Eltern herein. Sie trugen meine Reisetasche zwischen sich und unterhielten sich mit einem Arzt, der sich jetzt auch noch durch die Tür schob. Als ich meinen Kopf zurückdrehte, war Natalie verschwunden…

„Wo ist sie hin?“, wollte ich verwirrt wissen. Meine Eltern wechselten einen kurzen verständnislosen Blick: „Wer?“, riefen sie wie aus einem Munde. „Na, die junge Frau, eben saß sie noch an meinem Bett!“, entgegnete ich. „Du hast geträumt Schätzchen“, erklärte mir meine Mutter und mein Vater fügte hinzu: „Du hattest einen schweren Unfall, da sind solche lebhaften Fantasien ganz normal.“ 

Ich wollte ihnen nicht so recht glauben, denn ich wusste, dass Natalie da gewesen war, wahrscheinlich war sie sogar noch in der Nähe, doch in meinem Zustand konnte ich wohl kaum zum Fenster laufen, um nach ihr Ausschau zu halten und meinen Eltern ihre Anwesenheit zu beweisen. 

Ich seufzte, als mir bewusst wurde, dass es keinen Sinn hatte, mit Mama und Papa darüber zu diskutieren. Schon gar nicht nach dem, was heute alles passiert war. Ich machte also nur „Hmm…“ und schaute sie fragend an. 

Nur komisch, wie Natalie in mein Zimmer gekommen war, immerhin befanden wir uns in einem Krankenhaus und ich dachte, man könne dort nicht einfach so zu wildfremden Leuten in das Zimmer spazieren. Aber angeblich kannte sie mich ja… 

Nach einer kurzen Schweigepause sagte mein Vater: „Wir haben dir einige Dinge in deine Tasche gepackt: frische Wäsche, deinen Kulturbeutel mit Waschsachen, Zahnpasta und Zahnbürste, ein paar Bücher und-“, er zwinkerte mir zu, „eine Kleinigkeit zum Naschen. Wenn du noch etwas brauchst, sag uns Bescheid, wir werden dich jeden Tag so lange wie möglich besuchen. Versprochen Süße!“

Ich nickte nur stumm, meine Gedanken kreisten immer noch um Natalie. Sie musste ein Engel sein, wie sonst hätte sie von hier innerhalb weniger Sekunden aus dem Zimmer entkommen können? Gedankenverloren blickte ich aus dem Fenster und meinte, Natalie davor winken zu sehen, aber als mein Vater nach draußen schaute, war die Erscheinung wieder verschwunden. Warum zeigte sie sich nur mir?

Meine Mutter ging nun ebenfalls durch den Raum und zog sich einen Stuhl an das kleine Fenster in meinem Krankenhauszimmer.

Wir redeten noch ein wenig, naja, besser gesagt meine Eltern erzählten noch ein bisschen, denn ich war ziemlich abgelenkt. Ich wollte unbedingt wissen, wer diese geheimnisvolle Frau war.

„Nadja? Nadja!“, holte meine Mutter mich wenig später aus den Gedanken: „Hörst du uns überhaupt zu? Dein Vater hat gerade erzählt, dass deine Freundin Amy angerufen und sich nach dir erkundigt hat! Übrigens habe ich auch dein Smartphone zu deinen Sachen gepackt, ich schätze mal, du hast schon eine Menge Genesungswünsche. Amy meinte jedenfalls, so etwas spräche sich in der kleinen Schule ganz schnell herum.“

Mein Vater zwinkerte mir zu. Ich hob fragend eine Augenbraue, musste aber bei der Erinnerung an meine beste Freundin lächeln. Es war nicht schwer mir vorstellen, wie aufgelöst sie gewesen sein musste, nachdem sie von meinem Unfall erfahren hatte. 

 

Als meine Eltern gegangen waren, öffnete ich die Tasche und zog mein Handy heraus. Mir verschlug es die Sprache: 46 Nachrichten auf WhatsApp und das aus 14 verschiedenen Chats!

Nachdem ich den Messenger-Dienst geöffnet hatte, musste ich lachen: 28 dieser Nachrichten waren von Amy! Das war mal wieder typisch! Sie schrieb mir nicht nur, was sie in der Schule gemacht hatten, sondern auch alle Neuigkeiten aus dem Unterricht: Marius hatte sich die ganze Stunde mit dem Geschichtslehrer gestritten, nur wegen einer Karikatur, welche er anders interpretiert hatte als Herr Robinson. Die Klasse hatte sich köstlich amüsiert über die wütenden Blicke, die sich die beiden mit zusammengekniffenen Augen zuwarfen. Das musste mal wieder herrlich unterhaltend gewesen sein und ausgerechnet ich hatte es durch meine Pechsträhne verpasst!

Außerdem hatte unsere Klasse einen neuen Musiklehrer bekommen, da der Unterricht bei Frau Rosmarin aufgrund einer langwierigen Krankheit schon seit zwei Wochen nicht mehr stattfinden konnte. 

Der neue Lehrer war eigentlich freiberuflicher Musiker und wollte sich nun einmal im Lehrerberuf versuchen. Ich traute meinen Augen kaum, als ich las: „Du wirst es nicht glauben Nadja! Dieser Herr Mönchsbach möchte, dass wir ihn Hannes nennen und duzen! Nein, ich lege dich nicht rein, es ist wirklich so, aber der Unterricht macht total Spaß bei diesem Hannes… xD“

In ihrer letzten Nachricht wollte sie wissen, ob sie mich mal besuchen dürfe. Was für eine Frage, die Antwort war doch sonnenklar! Ich chattete noch ein wenig mit meiner besten Freundin, bevor ich die Genesungswünsche meiner Klassenkameraden öffnete. 

Ich traute meinen Augen kaum: Matthias hatte mir geschrieben! In meinem Bauch begannen tausende von Schmetterlingen wie wild umherzuflattern, als ich die Nachricht mit aufgeregt zitternden Händen öffnete: „Hey Nadja, ich habe von deinem Unfall gehört und es tut mir sehr leid. Wie geht es dir jetzt? Ich hoffe besser! Wie lange musst du im Krankenhaus bleiben? Hoffentlich kannst du bald wieder in die Schule kommen, ich würde dich gerne wiedersehen. Der Reli Unterricht ist ohne dich sooo langweilig. Ich drücke die Daumen, dass alles gut geht und deine Verletzungen nicht so schlimm sind. Werde bitte schnell wieder gesund! Matt“ 

Ich las mir die WhatsApp dreimal durch, bevor ich mit klopfendem Herzen antwortete: „Heyy, danke für deine Nachricht! Mir geht es besser, aber wenn ich mich bewege tut mir immer noch alles weh. Deshalb fürchte ich, ich muss noch eine Weile hier im Krankenhaus liegen. Mir ist jetzt schon langweilig und ich weiß nicht, was ich die ganzen nächsten Tage hier machen soll. Meine Eltern haben mir zwar meine Lieblingsbücher vorbeigebracht, aber wenn ich den lieben langen Tag mit nichts anderem beschäftigt bin, dann habe ich die schnell zehnmal durchgelesen xD. Ich komme mir so hilflos vor. Du wirst mir wahrscheinlich nicht glauben, aber ich würde den Aufenthalt im Krankenhaus jetzt gern gegen die stressige Schulzeit ersetzen und wenn ich das sage, heißt das schon etwas… Ich vermisse den lustigen Reli-Unterricht mit dir. Bleib du gesund und denk morgens bevor du aus dem Haus gehst daran, dass der Boden im Winter gefroren sein könnte ;) Deine Nadja“ 

Ich las den Text noch zweimal durch, bevor ich beherzt auf „Senden“ drückte.

Bei dem Gedanken an meinen Mitschüler musste ich lächeln, er war echt lieb! Normalerweise haben wir außerhalb der Schule leider nicht sonderlich viel miteinander zu tun, allerdings sitzen wir im Religionsunterricht nebeneinander und verstehen uns wirklich gut. Unsere Lehrerin, Frau Marobi, hat die Klasse nicht besonders gut im Griff, weshalb wir ziemlich viel reden und dabei wirklich viel Spaß haben… Aber irgendwie schaffen wir es doch immer wieder, mit dem Stoff einigermaßen durchzukommen. „Sie ist echt eine Legende!“, hatte mein Sitznachbar sie einmal lachend beschrieben, und alle anderen hatten ihm ausnahmslos zugestimmt.

Obwohl der Reli Unterricht meistens ziemlich langweilig war, liebte ich die Stunden! Matt war dann immer so nett zu mir und total hilfsbereit! Es war unser Ritual, dass er am Ende des Unterrichts auf mich wartete, damit wir gemeinsam zum nächsten Fachsaal laufen konnten. Und jetzt hatte er mir geschrieben! Manchmal ist so ein Unfall ja doch für eine kleine Überraschung gut. Nicht, dass ich glücklich über meine Verletzungen wäre, schließlich tut mir alles extrem weh und ich wäre fast durch dieses Auto umgekommen, aber meistens bin ich recht gut darin, immer das Gute zu sehen. Nur Amy ist im Positiv-Denken noch begabter als ich! 

Als ich plötzlich eine Bewegung am Fußende meines Bettes wahrnahm, erschrak ich und fuhr hoch. Vor Schmerzen zuckte ich zusammen, entspannte mich jedoch ein wenig als ich Natalie erkannte, die dort stand und zu mir hinüber lächelte. Doch irgendetwas war anders als in den Tagen zuvor. Nach kurzer Zeit begriff ich was es war: Ich konnte die junge Frau nur unscharf erkennen, obwohl ich sie zuvor immer glasklar hatte sehen können. Daher kniff ich die Augen zusammen, doch als ich sie wieder öffnete, war nichts mehr von der geheimnisvollen Besucherin zu sehen. Woher kam sie nur immer? Oder war das eben vielleicht wirklich nur eine meiner verrückten Fantasien gewesen? Immerhin hatte ich sie dieses Mal nur verschwommen gesehen…

In meine Gedanken vertieft zuckte ich zusammen, als eine Pflegerin anklopfte, um mir das Abendessen zu bringen. Jetzt erst bemerkte ich, wie hungrig ich tatsächlich war. Dankbar lächelte ich sie an und nahm das Tablett entgegen. Nachdem die freundliche Frau gegangen war, um sich um andere Patienten zu kümmern, ließ ich mir das Essen schmecken. Nun ja, von genießen kann keine Rede sein. Ich stopfte die Nahrung nämlich so schnell in mich hinein, dass es sich eher mit einem verhungerten Tier vergleichen lässt, dass ein riesiges Stück Beute innerhalb weniger Sekunden verschlingt, ohne auch nur den kleinsten Happen übrig zu lassen.

Nachdem alles leer war, fühlte ich mich gesättigt, entspannt und zufrieden, nur meine Arme begannen langsam wieder zu schmerzen. Ich griff in meine Tasche, zog ein Buch heraus und begann zu lesen. In diesem kurzen Augenblick fand ich es gar nicht so schlecht, keinen Schulstress zu haben. Allerdings würde ich das alles bald aufholen müssen… Schnell verbot ich mir den Gedanken, denn ich wollte doch positiv denken! Heute war ich sowieso zu geschafft, um noch irgendetwas machen zu können. Auch auf mein Buch konnte ich mich nicht wirklich konzentrieren, es war einfach zu viel geschehen. Vor allem das Aufeinandertreffen mit dieser geheimnisvollen Natalie beschäftigte mich. Daher kuschelte ich mich unter die Decke - sie war nicht so weich wie meine, aber mir hätte es definitiv schlechter gehen können. 

Entschlossen, jegliche Gedanken fürs Erste aus meinem Kopf zu verbannen, schloss ich die Augen. Trotzdem fragte ich mich unwillkürlich, ob Natalie mir heute Nacht wieder begegnen würde? Woher kannte ich sie und was wusste sie über mich? Und würde sie mir meine vielen Fragen beantworten, die sich schon wieder in mein Bewusstsein drängten? 

Und dann fiel mir ein, dass ich noch gar nicht geschaut hatte, ob Matthias mir geantwortet hatte! Das musste ich vor dem Einschlafen unbedingt überprüfen! Seufzend angelte ich nach dem Handy und tatsächlich: er hatte mir zurückgeschrieben. Als ich seine Nachricht las, schlugen die Schmetterlinge in meinem Bauch Saltos.

Er schrieb: „Schön, dass es dir besser geht. Ich wünsche dir viel Spaß beim Lesen. Wir haben momentan ziemlich viel Schulstress und es ist sehr anstrengend den Überblick zu behalten, wann wir welchen Test schreiben. Aber eigentlich hast du Recht. Schule ist bei Weitem besser, als verletzt auf der Straße zu liegen und danach mehrere Tage im Krankenhaus verbringen zu müssen. Ich werde mich sehr freuen, wenn du zurückkommst. Frau Marobis Unterricht ist so langweilig ohne dich! Bis bald!“

Ich lächelte. Das klang, als wären wir seit Jahren befreundet! Aber auch so, als würde er mich vermissen… Ob er das wirklich tat? Nein, so richtig vorstellen konnte ich es mir nicht, er hatte bestimmt bloß nett geschrieben. Wir redeten überhaupt erst etwas mehr, seit ich mich nach den Sommerferien in Religion neben ihn gesetzt hatte. Und selbst jetzt hatten wir uns noch nie privat getroffen, obwohl wir uns eigentlich ziemlich gut verstanden.

Kopfschüttelnd versuchte ich, meine Vorstellungen zu vertreiben, um einen klaren Gedanken fassen zu können. Was sollte ich zurückschreiben?

Also antwortete ich, dass es hier im Krankenhaus wirklich langweilig ist, aber Amy mich morgen zum Glück besuchen würde. Ich freute mich wirklich schon riesig darauf. Außerdem teilte ich meinem Mitschüler mit, dass ich es ebenfalls kaum erwarten könne, wieder in die Schule zu gehen. Dann schloss ich endlich die Augen und war im Nu eingeschlafen. 

Im Reich der Träume öffnete ich die Augen und stellte fest, dass niemand Geringeres als Natalie vor mir stand. Es überraschte mich schon fast gar nicht mehr. „Hallo meine Kleine!“, rief sie erfreut, sobald sie bemerkte, dass ich sie wahrgenommen hatte. 

„Äh…“, machte ich, war sie also doch nur Einbildung? Nein, das konnte nicht sein! „Guten Morgen Natalie!“, erwiderte ich, nachdem ich einmal tief durchgeatmet hatte. Die junge Frau lachte leise über meinen irritierten und etwas verängstigten Gesichtsausdruck. Ich hatte noch nie so ein schönes Lachen gehört und konnte nicht anders, als einfach mit einzustimmen. Es war ein magischer Moment und ich konnte das erste Mal seit meinem spektakulären Abgang auf dem Hügel wieder lachen. Das Gefühl war gut. Endlich fühlte ich mich frei. Glücklicher irgendwie. 

Natalie nahm meine Hand, dann wurden wir beide wieder ernst. Gleichzeitig begannen wir zu reden. Ich wollte natürlich meine Fragen loswerden, doch die junge Frau hatte etwas anderes im Sinn. „All das, was du wissen möchtest, kann ich dir auch wann anders noch erklären!“, bestimmte sie, „Jetzt bin ich an der Reihe. Mein Plan war eigentlich, dich schon früher zu besuchen, aber, naja, das schien mir dann doch nicht der richtige Augenblick. Also: Wer ist dieser Matthias?“ Ich wich zurück, was wusste sie über Matt?  

„Ei- ein Mitschüler“, stotterte ich. Natalie schaute mich lächelnd an: „Du magst ihn sehr, sehr gerne, nicht wahr?“ Schüchtern nickte ich und wurde rot. Schon beim bloßen Gedanken an ihn begann mein Herz wie wild zu rasen. Die 21-jährige schob ihre Finger unter mein Kinn und hob meinen Kopf an, sodass ich in ihre freundlichen Augen blicken musste. 

„Nadja, denk doch an die Nachrichten, die du von ihm bekommen hast. Zeigen sie nicht, dass er dich ebenso sehr mag?“, wollte sie wissen.

Lange dachte ich nach, doch nach einer Weile schüttelte ich den Kopf: „Nein. Ich bin mir sicher, dass er mich nicht hasst, aber jeder hätte einer netten Mitschülerin, die im Krankenhaus liegt, einen Genesungswunsch geschickt.“ 

Die junge Frau legte den Kopf schief: „Hat dir sonst noch irgendein Junge wenigstens ‚Gute Besserung‘ geschrieben?“ Sie hatte Recht! „Nein, niemand außer er und Nikolas, mein ältester Freund. Er geht nicht auf unsere Schule, da er etwas weiter weg wohnt.“, antwortete ich überrascht. „Siehst du?“, sagte Natalie und ich nickte stumm. Dann sprach sie weiter: „Ich muss jetzt leider los, aber keine Sorge, wir werden uns demnächst wiedersehen. Ach, und Nadja: Du wirst bald eine tolle Überraschung erleben!“ 

Bei ihren letzten Worten zwinkerte sie mir zu, dann war sie verschwunden. Na toll! Jetzt hatte sie mich einfach abgewürgt und ich konnte ihr noch nicht mal eine der tausend Fragen stellen, die in meinem Kopf herumgeisterten. Und wieso wusste sie was ‚bald‘ passieren würde? Zu allem Überfluss drängte sich dann auch noch in mein Bewusstsein, dass Natalie eigentlich gar nichts von Matts Nachrichten hätte wissen können, da ich noch niemandem etwas davon erzählt hatte. Ein kalter Schauer lief mir über den Rücken und ich bekam eine Gänsehaut. 

Es war Nachmittag und ich wartete ungeduldig auf Amys Besuch. Was war denn nur los? Normalerweise war sie doch, im Gegensatz zu mir, immer total pünktlich! Doch nun waren schon fünf Minuten seit der verabredeten Zeit vergangen. Als ich nach weiteren sechs Minuten immer noch kein Lebenszeichen von ihr erhalten hatte, begann ich mir Sorgen zu machen.

Doch plötzlich wurde die Tür aufgerissen und ich schrak zusammen, bis ich erkannte, dass es Amy war, die schwer atmend vor mir stand.

Sie war ganz rot im Gesicht, als wäre sie den letzten Teil des Weges gerannt. „Entschuldigung für die Verspätung“, keuchte sie und hob bedauernd die Schultern, „Ich habe es leider nicht früher geschafft. Tut mir wirklich leid.“ Dann setzte sie sich auf mein Bett und schaute mich etwas schüchtern an. Ich war verwirrt. Normalerweise war sie doch nicht so unsicher, bestimmt hatte sie wieder etwas ausgeheckt… „Aber das ist doch nicht schlimm, Hauptsache du bist jetzt da. Ich bin ja auch nicht immer die Pünktlichste. Du trägst bestimmt keine Schuld, wie ich dich kenne!“, meinte ich lächelnd und gleichzeitig etwas misstrauisch. 

Und ich lag richtig. Sie nickte vorsichtig und erwiderte: „Ja, du darfst dich aber nicht erschrecken. Ich hoffe es ist okay…“ Jetzt wurde ich wirklich ungeduldig: „Das kann ich dir erst versprechen, wenn du so freundlich wärst mir mitzuteilen, was du jetzt schon wieder angestellt hast.“ Vor der Tür hörte ich ein Kichern und zog die Augenbrauen hoch. Während ich mich noch bemühte vom Bett aus durch den Türspalt zu spähen um zu erkennen, wer davor stand, erklärte Amy hastig: „Ich habe dir etwas mitgebracht.“

Von draußen ertönte eine männliche, leicht genervte Stimme: „Etwas, na danke!“ Ich sah meine Freundin mit großen Augen an, als ich seine Stimme erkannte. „MATT?!“ Das hatte Natalie also mit der Überraschung gemeint, ganz sicher. Obwohl, so ein Quatsch, woher hätte sie das wissen sollen?

Amy konnte mir gerade noch zuflüstern: „Er hat mich gefragt, ob er mitkommen darf, weil er heute nichts zu tun hat. Da ich weiß, wie gerne du ihn magst, dachte ich…“

In meinem Bauch flogen die Schmetterlinge so schnell wie noch nie und ich glaubte, nicht mehr atmen zu können. Aber ich freute mich riesig! 

Noch im gleichen Augenblick trat Matt ins Zimmer, schaute mich etwas besorgt an, so als hätte er Angst vor meiner Reaktion und warf dann einen entschuldigenden Blick zu meiner besten Freundin: „Tut mir leid, ich hab’s nicht mehr ausgehalten, einfach nur draußen auf dem Gang zu stehen und zu warten. Ich hoffe du hattest genug Zeit, Nadja auf mich Ungeheuer einzustellen…“ Er zwinkerte mir zu und ich wurde rot, ohne etwas dagegen unternehmen zu können.

„Das wir zu spät sind, ist übrigens meine Schuld. Ich musste noch auf meine Mutter warten, da ich auf meine kleine Schwester Lena aufgepasst habe. Ich hoffe, du nimmst mir das nicht übel.“, fügte er noch hinzu. 

Ich schüttelte nur stumm den Kopf, zu überwältigt, um noch etwas sagen zu können. Bevor es zu einer peinlichen Situation kommen konnte, mischte sich Amy geschickt ein. Sie nahm ihren Rucksack vom Rücken, öffnete ihn und grinste: „Ich habe dir etwas mitgebracht, Nadja. Deine Lieblingsschokolade natürlich, ehe du mir hier verhungerst. Aber noch etwas, hoffentlich gefällt es dir, ich habe gestern nach der Schule den ganzen Tag daran gearbeitet…“

Amy kramte erneut in ihrer Tasche und legte dann ein selbstgebasteltes Buch mit hübschem Einband neben mich. Vorne war ein Foto von uns beiden im Kindergarten aufgeklebt. 

„Schau es dir an!“, schlug meine Freundin vor und gab Matt ein Zeichen, sich zu uns zu setzen. Der Junge ließ sich auf meiner anderen Seite nieder und wir mussten eng zusammenrücken, damit wir zu dritt ins Buch schauen konnten.

Ich war begeistert von dem Geschenk, das Amy extra für mich gemacht hatte. Darin waren ein paar selbstgemalte Zeichnungen und viele Fotos, sowohl aus Kindertagen, als auch Aktuellere. Ebenso Klassenfotos und Bilder von Geburtstagen hatte meine Freundin eingeklebt. Daneben hatte sie einige Kommentare geschrieben. 

Grinsend musterte ich ein Bild, das uns im vierten Schuljahr auf einem Klassenausflug zeigte. Wir schnitten beide lustige Grimassen und im Hintergrund konnte man den Sessellift erahnen, mit dem wir zum Niederwalddenkmal gefahren waren. Von dort oben hatten wir einen herrlichen Ausblick auf den Rhein und die Umgebung gehabt. 

Als ich den Kopf hob, sah ich, dass auch Natalie hier aufgetaucht war. Wo zum Teufel kam sie jetzt schon wieder her? Niemand von uns hatte bemerkt, wie sie hineingekommen war. Als die junge Frau erkannte, dass ich sie gesehen hatte, lächelte sie. Ich öffnete den Mund, um etwas zu sagen, aber dann war sie genauso plötzlich verschwunden wie sie aufgetaucht war. Verständnislos starrte ich auf den Stuhl, auf dem sie eben noch gesessen hatte, doch sie kehrte nicht zurück. „Alles okay?“, wollten meine Freunde gleichzeitig wissen und schauten mich besorgt an. Ich nickte und riss meinen Blick los. Dann wandte ich mich wieder dem Geschenk meiner Freundin zu. 

Auf den letzten Seiten des Buches waren Fotos, die Amy erst wenige Tage vor meinem Unfall geschossen hatte. Eines davon zeigte Matt neben mir. Ich erinnerte mich noch gut an den Moment, als Amys Kamera plötzlich vor unseren Nasen aufblitzte und uns aus dem Gespräch riss. Wir hatten in der letzten Stunde Religion gehabt und machten uns dann gemeinsam auf den Weg zur Bushaltestelle. Dort wartete schon meine Freundin und als sie uns sah, machte sie sofort einen Schnappschuss. Sie ist nun mal leidenschaftliche Fotografin und ihre Bilder sind fantastisch. 

Als Matthias jetzt das Bild betrachtete, neckte er mich: „Süßes Foto, der verwirrte Gesichtsausdruck steht dir!“ Ich lachte: „Du guckst aber auch nicht gerade besser!“ Amy grinste nun ebenfalls, sagte dann aber: „Das ist doch gerade dieses Zauberhafte an dem Bild, ein Moment, in dem ihr euch nicht extra in Pose stellt. Es ist die Überraschung, die solche Fotos ausmacht und sie sind selten. Es ist eines meiner Lieblingsfotos.“ Da musste ich ihr einfach zustimmen, meines war es auch. Wenn auch nicht nur aus diesem Grund…

Als wir uns alle Bilder angeschaut hatten, meinte Matt zu mir: „Ich habe dir auch noch etwas mitgebracht.“ Ich sah ihn erstaunt an: „Das hättest du doch ni-“ Wortlos legte er seinen Finger auf meine Lippen und bedeutete mir so, leise zu sein. Sofort begann meine Haut an der Stelle zu kribbeln, an der er mich berührt hatte. Dann griff Matt in seine Tasche, zog ein Päckchen heraus und reichte es mir lächelnd. 

Vorsichtig öffnete ich das Papier und hielt einen Fantasyroman in der Hand. Der Titel lautete „Die Reise ins (N)irgendwo“, ich hatte schon mal davon gehört. „Es ist mein Lieblingsbuch.“, erklärte Matthias mir, „Damit du nicht vor Langeweile stirbst. Hoffentlich magst du es genauso sehr wie ich.“ „Bestimmt. Vielen, vielen Dank!“, erwiderte ich strahlend und aus ganzem Herzen. 

Auf einmal stand Amy auf. „Müsst ihr jetzt schon heim?“, fragte ich enttäuscht, doch sie beruhigte mich: „Nein, natürlich nicht. Ich möchte bloß in der Cafeteria drei heiße Schokoladen bestellen. Ich weiß doch wie gerne du das trinkst, du Schokomonster! Das wird uns allen guttun, denke ich mal.“ Tja, meine Freundin kannte mich einfach viel zu gut!

Die Getränke waren lecker, auch wenn mir der italienische Kakao von zu Hause noch besser schmeckte. Wir redeten noch eine Weile, bis meine Freunde abends wieder nach Hause mussten, um sich auf die Schule vorzubereiten. Zum Abschied umarmte mich meine beste Freundin, so gut es eben ging und Matt machte es ihr wie selbstverständlich nach. Dann liefen sie nach Hause.

Die darauffolgenden Tage verliefen vergleichsweise ruhig, auch Natalie tauchte nicht mehr auf, obwohl ich tagelang darüber nachdachte, wer diese Frau war. Doch jetzt wo es mir wesentlich besser ging, fragte ich mich, ob sie vielleicht wirklich bloß meiner lebhaften Fantasie entsprungen war. Aber konnte das wirklich sein?

Dann endlich kam der Tag, an dem ich aus dem Krankenhaus entlassen wurde. Zwei Tage später durfte ich auch wieder in die Schule. Die meisten aus der Klasse wussten gar nicht, dass sie mich heute wiedersehen würden. Nur meiner Klassenlehrerin hatten meine Eltern Bescheid gesagt und ich hatte natürlich Amy informiert.

Als ich dann die Schule betrat, begleitete mich meine beste Freundin auf Schritt und Tritt. Zuerst entdeckte uns Martina. Erfreut rief sie meinen Namen, rannte zu uns und drückte mich stürmisch. Ich fühlte mich total überrumpelt, aber mir wurde warm ums Herz als ich ihre freudestrahlenden Augen sah. 

Amy bemerkte meine leichte Unsicherheit und erklärte schnell, dass ich mich noch ein bisschen schonen müsse. 

Noch im selben Moment kam Matt um die Ecke und wollte neugierig wissen: „Wer oder was muss sich schonen?“ Da entdeckte er mich hinter Martina und rief völlig begeistert: „Nadja! Du bist endlich wieder da!“ Schnell lief er zu mir und umarmte mich, allerdings etwas vorsichtiger und liebevoller als es Martina eben getan hatte.

Danach liefen wir gemeinsam in unseren Klassensaal. Dort angekommen erblickten mich auch alle anderen und einige kamen zu uns, um mir sofort die neuesten Storys zu erzählen. Lachend berichtete ich, dass Amy mich schon über alles unterrichtet hatte, aber davon wollten meine Freunde nichts hören.

Zum Glück trat kurz darauf Frau Bonette, unsere Klassenlehrerin, in den Raum. Deshalb schob ich mich schnell an ihnen vorbei und ließ mich auf meinen Platz neben meine beste Freundin fallen. 

Von den Lehrern wurde ich ebenfalls erfreut begrüßt, wenn auch nicht ganz so überschwänglich wie von meinen Freunden. Nach der sechsten Stunde war ich vollkommen erschöpft und hatte überhaupt keine Konzentration mehr. 

Amy, die mit dem gleichen Bus wie ich nach Hause fuhr, begleitete mich zur Haltestelle und dort holte uns dann auch Matthias ein: „Nadja! Nadja!“, rief er, „Warte mal kurz!“ Ich blieb stehen, denn ich hatte es nicht eilig, mein Bus kam erst in zehn Minuten. Außer Atem kam Matt bei uns an. Oder viel mehr bei mir, denn meine Freundin war einfach weitergelaufen, als hätte sie nichts gehört. 

„Willst du…, also hättest du Lust, also ich meine…“, druckste er herum und wurde rot, fasste sich dann aber wieder: „Ich wollte heute Nachmittag auf den Weihnachtsmarkt in Mariendorf gehen. Hättest du Lust mitzukommen?“ 

Ich nickte begeistert: „Ja klar, wieso nicht! Ich war dieses Jahr wegen meines Unfalls noch gar nicht dort, das muss ich unbedingt nachholen. Wo und wann sollen wir uns treffen?“ Er überlegte kurz und fragte dann, ob er mich so gegen fünf Uhr abholen solle. „Cool! Danke!“, stimmte ich voller Vorfreude zu und fügte noch hinzu: „Ich freue mich!“ „Ich mich auch! Bis nachher!“, rief Matt, als ich mich auf den Weg zur Haltestelle machte. Schnell winkte ich ihm noch zu und rannte dann zu Amy, die schon ungeduldig auf mich wartete. 

Am Nachmittag holte Matthias mich pünktlich ab und als wir in Mariendorf angekommen waren, schlenderten wir gemütlich über den Weihnachtsmarkt. Wir redeten über die Schule, gemeinsame Erlebnisse und erzählten uns Geschichten aus unserer Kindheit. Dann entdeckte ich einen Stand mit Süßigkeiten und kaufte eine große Tüte frisch gebrannter Mandeln, die wir uns teilten. Nebenbei bewunderten wir die hübsche Deko und erfreuten uns an der Weihnachtsmusik, die im Hintergrund dudelte. 

Auf einmal wollte Matt wissen: „Hast du eigentlich schon Weihnachtsgeschenke für deine Eltern?“ Erschrocken schlug ich mir die Hand vor die Stirn. „Oh Mist, nein! Das habe ich ganz vergessen.“

Normalerweise hatte ich die Sachen für die Bescherung meiner Familie schon recht früh beisammen, aber durch meinen Unfall und den Krankenhausaufenthalt hatte ich das ganz verdrängt. Und bis Weihnachten hatte ich nicht mehr so viel Zeit…

„Hast du eine Idee, was ich verschenken könnte?“, fragte ich hoffnungsvoll. Matthias legte mir die Hand auf die Schulter und zeigte auf einen Stand, an dem irgendwelche gelben Figuren verkauft wurden. „Dort drüben, das sind Kerzen aus Bienenwachs. Es gibt ganz verschiedene Formen, sie sind wunderschön und nicht zu teuer. Letztes Jahr habe ich sie meinen Eltern geschenkt und sie waren begeistert. Allerdings sind unsere mittlerweile abgebrannt, deshalb möchte ich ihnen neue kaufen.“, erklärte er, „Kommst du mit?“ Bittend sah er mich an und ich war sofort einverstanden. 

Diese Figuren waren einfach zu niedlich, ich konnte mich kaum entscheiden, was ich nehmen sollte. Doch am Ende holte ich eine süße Katze aus Bienenwachs für meine Mutter und einen lustigen Weihnachtsmann für meinen Vater. Matt verschenkte den Gleichen und außerdem einen hübschen Weihnachtsengel an seine Eltern. 

„Willst du nicht noch etwas für deine kleine Schwester kaufen?“, fragte ich. Lächelnd schaute Matt mich an: „Ich weiß nicht, ob Lena von einer Kerze so begeistert wäre, sie ist ja erst sechs Jahre alt. Für sie habe ich einen Teddy mit Weihnachtsmütze gekauft. So einen wollte sie schon letztes Jahr haben.“ „Das stimmt natürlich.“, gab ich ihm Recht, „So ein Kuscheltier habe ich mir auch immer gewünscht!“

„Ich auch!“, grinste er und ich war überrascht: „Wirklich? Ich hätte nicht gedacht, dass Jungs mit Teddys kuscheln.“ Er blieb stehen und legte den Kopf schief: „Also ich schon, wieso auch nicht?“ „Stimmt, war eine blöde Frage, sorry“, ärgerte ich mich, doch Matthias griff nur nach meiner Hand und zog mich weiter: „Es gibt keine blöden Fragen, es gibt nur blöde Antworten. Sagt mein Onkel immer.“

An einem Würstchenstand blieb er stehen und fragte: „Hast du Hunger?“ Da ich nickte, bestellte er kurzerhand zwei Brötchen mit Bratwurst und eine Portion Pommes. Kurz darauf kam er schwer beladen zu mir zurück und wollte wissen: „Ich hoffe, du wolltest nicht lieber etwas anderes?!“ Als ich dankbar den Kopf schüttelte und das Geld zurückzahlen wollte, drückte er mir schnell ein Brötchen in die Hand und meinte: „Lass stecken, du bist eingeladen.“ „Danke!“, freute ich mich, „Das ist wirklich lieb von dir!“ „Aber gerne doch!“, lachte Matt und hielt mir die Pommes hin, damit ich probieren konnte.

Abends brachte er mich wieder nach Hause und umarmte mich zum Abschied. Wir hatten einen wirklich genialen Nachmittag miteinander verbracht! Dann trat ich in die warme, hell erleuchtete Küche und schnupperte – eindeutig: meine Mutter hatte meinen Lieblingskakao gekocht. Wie lieb von ihr!

In dieser Nacht schlief ich gut, bis ich um vier Uhr plötzlich erwachte. 

Zunächst wusste ich nicht wieso, doch dann hörte ich ein Geräusch im Erdgeschoss. Es klang, als hätte jemand die Flasche umgeworfen, die noch vom Abendessen neben dem Esstisch stand…

Ich begann zu zittern, wer machte sich da unten zu schaffen? Vorsichtig stieg ich aus meinem Bett, schlüpfte in meine weichen Pantoffeln, streifte mir den Bademantel über, der an der Tür hing, und schlich leise nach unten. Dort stand eine Gestalt über das Sofa gebeugt und flüsterte etwas. Ich erschauderte. Wie viele Menschen mochten dort sein? Und mit wem redete die Person da?

Gerade wollte ich mich umdrehen und nach oben verschwinden, um meine Eltern zu wecken, da drehte sich die Gestalt um und flüsterte meinen Namen. Ich wollte schreien, aber ich brachte keinen Ton heraus. 

Als ich die Person mir gegenüber mit geweiteten Augen ängstlich betrachtete, bemerkte ich, dass mir die Gestalt bekannt vorkam. Und dann erkannte ich Natalie! Ich war so erleichtert, dass ich lachen musste: „Wie schön, dich mal wiederzusehen!“ Aus irgendeinem Grund war mir die junge Frau sympathisch und ich fühlte mich in ihrer Nähe sicher. Dabei wusste ich nicht einmal genau, wer sie überhaupt war! 

„Das finde ich auch! Eine süße Katze habt ihr.“, antwortete sie. In diesem Moment begriff ich, dass sie wohl mit Minka geredet hatte, die zusammengerollt auf der Couch schlief. „Ja!“, nickte ich, „Mama und Papa wollten eigentlich kein Haustier haben, aber dann ist Minka uns glücklicherweise zugelaufen.“

„Ich weiß!“, Natalie lächelte geheimnisvoll, „Da hattest du großes Glück.“

Ich wich ein kleines Stück zurück. Wer war diese Frau, die so viel über mich wusste, die nachts einfach in meinem Haus auftauchte und die dann anfing mit mir zu reden, als würde sie mich schon jahrelang kennen? 

„Aber ich kenne dich doch schon seit deiner Geburt!“, antwortete diese und ich erschrak. Konnte sie etwa auch noch Gedanken lesen?!? Und woher zum Teufel sollte sie schon so lange von mir wissen? Wir hatten das erste Mal miteinander geredet, als sie plötzlich im Krankenhaus aufgetaucht war. Zuvor hatte ich für meinen Teil noch nichts von ihr gehört.

„Das sind schwierige Fragen… Wie soll ich das bloß erklären?“, überlegte Natalie, während ich immer größere Augen bekam. Sollte ich mich fürchten oder sie lieber bewundern? Sie konnte es also wirklich! Sie konnte wirklich- „Gedanken lesen, ja. Ich weiß tatsächlich, was andere Leute denken. Allerdings nur dann, wenn ich eine enge Beziehung zu diesem Menschen habe. Das ist aber nicht die einzige Eigenschaft, die man braucht, um diese Gabe zu besitzen. Da ist noch etwas…“, erzählte sie, und sie redete, als wäre das etwas ganz Normales. Stand sie mir wirklich so nahe? Das konnte doch gar nicht sein! Aber gruselig war es schon, dass sie immer zu wissen schien, was ich gerade dachte…

Nach einer kurzen Pause meinte die junge Frau: „Ich denke, du hast ein Recht darauf, es zu erfahren. Komm, setze dich zu mir. Ich will versuchen, es dir zu erklären!“ „Was soll ich erfahren?“, wollte ich jetzt neugierig wissen und gehorchte der Aufforderung, mich auf dem Sofa niederzulassen.

Gerade wollte sie zum Sprechen ansetzten, da ertönte ein Tappen nackter Füße über uns. Kurz darauf polterte jemand die Treppe hinunter und als ich mich umdrehte, war Natalie verschwunden.

„Was machst du denn hier unten?“, rief mein Vater überrascht, als er mich grübelnd auf dem Sofa sitzen sah. „Hmm…“, stammelte ich, was sollte ich antworten? „Ich, ich bin aufgewacht und wollte etwas trinken. Dann habe ich noch kurz bei Minka nachgesehen, ob alles in Ordnung ist.“ 

„Du hast wieder bei der Katze vorbeigeschaut, dass ihr an nichts fehlt?!“, schmunzelte mein Vater kopfschüttelnd. Das hatte ich früher oft getan, wenn ich mitten in der Nacht aufgewacht war. 

Ich nickte und wurde ein bisschen rot. Zum Glück konnte man das im dämmrigen Wohnzimmer nicht sehen. Mein Vater lächelte nur und sagte, ich solle bald hochkommen und weiterschlafen, morgen wäre schließlich wieder Schule.

Schließlich schlich er die Treppe zurück hinauf ins Schlafzimmer. Noch eine Weile blieb ich sitzen und fragte mich, ob Natalie noch einmal zurückkommen würde, aber nichts dergleichen geschah. Wieso verließ sie mich immer bevor andere Leute sie sehen konnten? Und was hatte sie mir mitteilen wollen? Ich grübelte und grübelte, doch irgendwann musste ich dann eingeschlafen sein. 

 

Am nächsten Morgen wurde ich durch einen lauten Ausruf meiner Mutter geweckt: „Nadja! Wieso liegst du denn hier unten im Wohnzimmer und nicht oben in deinem Bett?“ Mein Vater kam nun ebenfalls hinunter und hob grinsend die Augenbrauen. Wir fingen beide an zu lachen und meine Mutter schaute verwirrt von einem zum anderen. 

Schließlich schafften wir es doch irgendwie, ihr alles zu erklären und sie fiel in unser Gelächter mit ein. Ich fragte mich, wie sie wohl reagiert hätten, wenn sie die ganze, wahre Geschichte gekannt hätten. Wenn sie von Natalie gewusst hätten. Aber noch war ich nicht bereit, ihnen von dieser geheimnisvollen Person zu erzählen.

Da meine Eltern normalerweise etwas früher aufstanden als ich, hatte ich heute alle Zeit der Welt, mich für die Schule vorzubereiten. Als ich fertig war ging ich entspannt hinaus in den Hof und erlebte eine große Überraschung: Es hatte über Nacht geschneit und vor der Tür stand Amy! Dabei wohnte sie auf der anderen Seite des Dorfes und lief normalerweise einen ganz anderen Weg zur Bushaltestelle. Es wäre also schneller gewesen, nicht bei mir vorbei zu schauen. Was hatte sie also auf dem Herzen, das nicht warten konnte, bis wir gemeinsam zur Schule fuhren?

„Alles gut?“, fragte ich besorgt, war aber erfreut, sie zu sehen. Lachend umarmte meine Freundin mich: „Du musst mir alles erzählen! Von gestern Nachmittag, du weißt schon, Matt.“ Ich grinste, darum ging es also! Schon bei der Erinnerung an ihn wurde mir ganz warm ums Herz. Weil ich wusste, dass Amy keine Ruhe geben würde, bis ich ihr alles genau geschildert hatte, begann ich zu erzählen. 

Währenddessen schlenderten wir gemütlich den Berg hinab, dem ich meinen Unfall zu verdanken hatte. Doch plötzlich bemerkte ich einen großen Schatten hinter den Bäumen! Ich blieb irritiert stehen, doch beim genaueren Hinsehen, erkannte ich nichts. Nur ein Eichhörnchen flitzte einen Baum bis in die Krone hinauf und war kurz darauf verschwunden. Vielleicht hatte ich mich getäuscht…

Amy blieb stehen und schaute mich verwundert an: „Was ist denn los? Rede doch weiter, ich will alles erfahren!“ „Ja natürlich, ich dachte nur, ich hätte dort drüben etwas gesehen.“, erklärte ich schnell und verwarf den Gedanken. Vermutlich hatte ich mich wirklich geirrt. 

So unterhielten wir uns weiter über den Nachmittag mit Matt und als wir an der Bushaltestelle unterhalb des Berges angekommen waren, kannte Amy jedes Detail. Immer wieder sagte sie so etwas wie: „Oh, wie süß!“ oder „Nadja, er mag dich auch so gerne, ist das nicht toll?“ oder auch „Ich freue mich so für dich!“ Lachend nahm ich die Begeisterung meiner besten Freundin zur Kenntnis und freute mich tatsächlich auf die Schule, wo ich Matt endlich wiedersehen würde... 

Als wir dann schließlich dort ankamen, sah ich ihn schon von Weitem: Er stand in einem Grüppchen mit Emil, Simon und Leon, seinen besten Freunden. 

Während sich die drei anderen angeregt unterhielten, schaute er sich immer wieder abwesend um. 

Dann erblickte er uns, rief den drei anderen etwas zu und kam auf uns zugelaufen. Amy zwinkerte mir zu und wisperte: „Ich haue dann mal besser ab.“ Laut sagte sie: „Oh Mist, Nadja, ich habe Maria versprochen, ihr die Mathe Hausaufgaben zu erklären! Ist es okay für dich, wenn ich sie kurz suche? Wir sehen uns dann in Englisch!“ Ich nickte nur stumm, schon war meine Freundin verschwunden - und Matt stand vor mir. 

„Guten Morgen Nadja...“, sagte er schüchtern, ich erwiderte „Hi!“ und wurde leicht rot. Nach einer kurzen Pause, in der niemand etwas sagte, beschlossen wir, schon mal reinzugehen. Just in diesem Moment gongte es. 

Eigentlich konnte ich es nicht leiden, mit der großen Schülermasse in das Gebäude zu strömen, denn überall wurde gedrängelt, geschubst und geschrien, aber heute blieb mir wohl oder übel nichts anderes übrig. 

Außerdem hatte ich Matt an meiner Seite und als ich von der Seite gestoßen wurde und im Begriff war zu fallen, griff er schnell nach meiner Hand und zog mich wieder hoch. Seine Hand war angenehm warm und er vergaß, die meine wieder loszulassen, bis wir im Klassenzimmer angelangt waren.

Dort ließ ich mich auf meinen Platz fallen, während Matthias sich ans Pult vor mir setzte. „Und wie war's?“, flüsterte Amy, die bereits ungeduldig auf mich wartete-von Maria fehlte allerdings jede Spur.

Ich stieß ihr freundschaftlich den Ellbogen in die Seite, das hatte doch bis nach der Schule Zeit! „Wo ist Maria?“, fragte ich ebenso leise grinsend zurück. Meine Freundin schaute mich verdattert an, dann fingen wir beide haltlos an zu lachen. 

Erst als unser Englischlehrer den Raum betrat, hörten wir auf zu kichern, doch ich sah, dass meine verrückte Freundin immer noch wie ein Honigkuchenpferd grinste. Das Lachen verschwand erst aus ihrem Gesicht, als Herr Harold sie bat, ihre Hausaufgabe vorzulesen… 

Die nächsten Tage vergingen schnell, weder Natalie tauchte auf, noch konnte ich mich mit Freuden treffen. Stöhnend erledigte ich meine Schulaufgaben, lernte für die vielen Tests und Arbeiten und las am Abend noch ein wenig in dem Buch, das Matt mir geschenkt hatte. Es war nämlich so spannend, dass ich ein zweites Mal damit angefangen hatte, nachdem ich drei Bücher gelesen hatte, die nicht annähernd so aufregend waren. 

Doch eines Tages hörte ich meine Eltern in der Küche leise miteinander sprechen. Eigentlich hatte ich vor, mir einen Kakao zu machen und wollte nicht lauschen, aber dann vernahm ich den Namen „Natalie“. Neugierig blieb ich stehen und spitzte die Ohren, auch wenn ich ein schlechtes Gewissen dabei hatte. 

Gerade sagte meine Mutter: „Ja... sie war so ein tolles Mädchen.“, dann schwiegen beide. Nach einer Weile erklärte mein Vater traurig: „Nadja ist genauso lustig, nett und hilfsbereit! Die beiden hätten sich so gut verstanden...“ Seine Frau stimmte ihm zu: „Und ob! Sie waren sich so ähnlich! Natalie hat sie geliebt. Weißt du noch, wie sie sich geweigert hat ins Bett zu gehen, bevor sie Nadja noch einmal 'Gute Nacht' sagen durfte?“ Daraufhin glaubte ich ein Seufzen aus der Küche zu hören.

Ich war verwirrt und zugleich etwas beunruhigt, in meinen Augen brannten Tränen. Doch plötzlich musste ich laut und kräftig niesen. Schnell stieg ich die Treppen weiter nach unten und tat so, als hätte ich nichts von dem Gespräch mitbekommen.

Dennoch beschloss ich, ihnen weiterhin nichts von meinen Begegnungen mit Natalie zu erzählen, denn vielleicht war das gar nicht das Mädchen, von dem meine Eltern gesprochen hatten.

Doch, sie musste es sein! Sie war es, die junge Frau, die mich besser kannte als ich es je erwartet hätte! Die Frau, die wusste, was ich dachte, ohne dass ich etwas sagte! Und diejenige, die mir angeblich sehr nahestand… Jetzt glaubte ich ihr tatsächlich, dass es so war, schließlich hatte ich eben gehört, wie sehr sie mich früher geliebt hatte. Und es jetzt anscheinend noch immer tat. Aber wieso sprachen meine Eltern von ihr in der Vergangenheit?

Aufgeregt und zugleich etwas verunsichert lief ich in die Küche, wo meine Eltern aneinander gekuschelt saßen. Glücklicherweise waren sie so in ihre eigenen Gedanken versunken, dass sie meine Verwirrung nicht bemerkten. Mit dem zubereiteten Kakao in der Hand verließ ich kurz darauf wieder das Zimmer. Abermals fragte ich mich, wer sich hinter dieser gut gelaunten Frau verbarg. 

Es wurde Zeit, mit irgendjemandem über die Ereignisse zu sprechen. Morgen würde ich mich mit Amy verabreden und ihr alles berichten! Sie hatte immer gute Ideen, würde mich verstehen und mir bestimmt helfen, das Geheimnis zu lüften. Nachdem ich den Entschluss gefasst hatte, setzte ich mich hin und lernte ein wenig für den morgigen Bio-Test. Aber so wirklich konzentrieren konnte ich mich nicht, denn ständig schweiften meine Gedanken zu dem Gespräch zwischen meinen Eltern ab. 

Doch tun konnte ich sowieso nichts, deshalb ging ich an diesem Tag recht früh schlafen und grübelte noch ein bisschen vor mich hin, bis ich irgendwann in die Traumwelt eintauchte.

„Amy!“, rief ich schon von Weitem und winkte, als ich sie an der Bushaltestelle erblickte. Meine Freundin schaute mich verwundert an: „Was ist denn los? Warum bist du so aufgeregt? Gibt es etwas Neues von Matt?“ „Nein“, ich schüttele leicht betrübt den Kopf, „aber ich muss dir unbedingt etwas erzählen. Etwas, das mich sehr verwirrt. Aber es hat nichts mit einem Jungen zu tun. Kannst du heute Nachmittag zu mir kommen? Es ist wichtig, aber ich will es dir berichten, wenn wir unter uns sind.“ 

„Natürlich!“, erklärte Amy sich sofort mit gerunzelter Stirn bereit. Ich war ihr sehr dankbar dafür, dass sie nicht darauf drängte mehr zu erfahren, obwohl sie sichtlich neugierig war. 

Später in der Schulpause kam Matthias auf einmal zu uns, während wir frierend auf einer Bank unter einem Baum saßen und uns unser Pausenbrot schmecken ließen. Er fragte mich, ob ich heute Lust hätte mich mal wieder mit ihm zu treffen, um gemeinsam Plätzchen zu backen.

„Oh...“, machte ich enttäuscht. Wieso ausgerechnet heute? „Eigentlich sehr gerne, aber ich bin schon mit Amy verabredet, tut mir wirklich leid...“ Doch meine Freundin unterbrach mich: „Und wenn Matt einfach auch zu dir kommt und wir alle gemeinsam backen?“ 

Ich sagte bereits, sie hat wirklich die besten Ideen! Fragend schaute ich unseren Freund an. „Wenn du damit einverstanden bist... Gerne!“, erwiderte er. Lächelnd nickte ich und so beschlossen wir, uns um halb vier bei mir zu treffen. Jeder würde sein Lieblingsrezept mitbringen und dann mussten wir vielleicht noch einkaufen gehen, falls ich nicht alle Zutaten daheim haben sollte. Aber eins stand fest: Ich würde einen wundervollen Nachmittag mit meinen zwei besten Freunden verbringen! 

Am Nachmittag standen beide pünktlich vor meiner Tür. Ich öffnete und gemeinsam stiegen wir die Treppe zu meinem Zimmer hinauf. Dort stand für jeden ein Becher heiße Schokolade bereit und ich hatte auf einem Teller ein paar von den Plätzchen angerichtet, die meine Mutter bereits gebacken hatte. Amy ließ sich auf meinen Schreibtischstuhl fallen und verschränkte abwartend die Arme vor der Brust. 

„Setz dich!“, sagte ich zu Matt und machte eine einladende Handbewegung. „Du hast ein gemütliches Zimmer. Und hübsche Weihnachtsbeleuchtung!“, stellte er mit einem Blick zu der Lichterkette, die ich kurz vorher noch schnell aufgehangen hatte, fest und ließ sich auf meinem Bett nieder. Ich verteilte die Becher und setzte mich neben ihn. 

Während ich meine Geschichte von Natalie erzählte, hörten die beiden mir wie gebannt zu und futterten die Kekse auf. Als ich geendet hatte, starrten sie mich ungläubig an. „Das gibt’s doch nicht!“, rief Amy. „Krass!“ staunte Matt, „vielleicht...“, er zögerte, „vielleicht ist sie mit dir verwandt...“ Niemand redete und ich starrte ihn überrascht an. Auf die Idee war ich noch nicht gekommen, obwohl sie doch gar nicht so abwegig war! Langsam wurde die ganze Geschichte wirklich unheimlich...

Den restlichen Nachmittag verbrachten wir damit gemeinsam Plätzchen zu backen. Wir produzierten so viele verschiedene Sorten, dass wir gar nicht mehr nachkamen, sie alle in den Ofen zu schieben. 

„Wie wollt ihr die denn alle essen?“, fragte meine Mutter erschrocken, als sie, von dem leckeren Geruch angelockt, in die Küche trat. „Nadja, auch wenn deine Freunde jeweils ein Drittel der Gebäcke mitnehmen: Ich bin mir sicher, dass ihr sie trotzdem nicht alle essen werdet.“ 

Wir schauten uns leicht verlegen an, da hatte meine Mutter natürlich Recht. Doch dann kam Amy eine hervorragende Idee: „Ich hab’s! Lasst uns die restlichen Plätzchen übermorgen einfach an unsere Mitschüler verteilen, wenn wir den Klassenausflug auf die Schlittschuhbahn machen!“

Matt grinste: „Stimmt, darüber werden sich unsere Klassenkameraden sicherlich freuen!“ Auch ich war begeistert und klatschte die beiden ab. Meine Mutter verließ kopfschüttelnd, aber ebenfalls lachend die Küche. 

Als ich das letzte Blech in den Ofen geschoben hatte, beschlossen meine Freunde nach Hause zu gehen, um noch ein paar Hausaufgaben zu bearbeiten. Schnell packte ich einige der gebackenen Plätzchen in zwei Dosen und gab jedem von ihnen eine. Dann umarmte ich sie zum Abschied und Matt strahlte: „Das war ein wunderschöner Nachmittag! Danke, dass ich auch kommen durfte.“ Er winkte und schloss die Tür hinter sich. Bei seinen letzten Worten war meine Mutter neben mich getreten. „Deine Freunde sind wirklich nett!“, lächelte sie und ich nickte: „Ja, ich weiß!“. 

Am Abend schaute ich mit meinen Eltern einen Film und Minka rollte sich auf meinem Schoß zusammen. Neben mir knisterte heimelig und etwas geheimnisvoll der Kamin und eine angenehme Wärme umgab mich. Ich konnte mich wirklich glücklich schätzen, so eine wundervolle Familie zu haben! 

Und da fielen mir Matts Worte wieder ein: Was, wenn Natalie wirklich mit mir verwandt war? Aber nein, das war unmöglich! Meine Eltern waren beide Einzelkinder, meine Cousine konnte sie also nicht sein. Wenn, dann war sie... 

Ach Quatsch, es war Schwachsinn so etwas in Betracht zu ziehen! Doch der Gedanke verfolgte mich bis in die Nacht hinein und als ich schlafen ging, beschloss ich, Natalie meine Fragen zu stellen, falls sie wieder auftauchen sollte. Diesmal würde ich mich nicht von ihr unterbrechen lassen. Allerdings glaubte ich kaum, dass die junge Frau ausgerechnet heute hier auftauchen würde, so lange hatte sie sich schon nicht mehr bei mir blicken lassen.

Ich grübelte noch lange über das Geheimnis, aber immer wieder fielen mir die müden Augen zu. „Ach was soll's!“, entschied ich irgendwann. Morgen war auch noch ein Tag um darüber nachzudenken und in wacherem Zustand hatte ich ohnehin bessere Ideen. Vielleicht, ganz vielleicht, hatte ich alles nur falsch verstanden und mein Unterbewusstsein hatte die Tatsachen unbemerkt zu wirren Gedankensträngen vermischt. Wahrscheinlich gab es für alles eine logische Erklärung! Mit diesem beruhigenden Gedanken schlief ich letzten Endes doch ein.

Die nächsten 24 Stunden vergingen, ohne dass etwas Merkwürdiges vorgefallen wäre. Weder Natalie tauchte auf, noch hatten ich oder einer meiner Freunde eine Lösung gefunden, das Geheimnis zu lüften. 

Am Tag darauf ging es dann mit der gesamten Klasse auf die Schlittschuhbahn in Münsthausen, die einige Orte entfernt lag. Jeder hatte gute Laune und freute sich über den unterrichtsfreien Tag. Ich hatte mir eine große, mit Plätzchen gefüllte Box unter den Arm geklemmt und zwei weitere Matt und Amy in die Hand gedrückt. 

Als wir dann endlich an unserem Ziel angelangt waren, beeilte ich mich, um möglichst schnell auf dem Eis zu sein. Ein paar meiner Mitschüler waren noch nie Schlittschuh gelaufen, aber ich war bereits in den vorherigen Jahren mehrmals mit Amy oder meinen Eltern in der Halle gewesen. 

Geschickt ließ ich mich auf die Eisfläche gleiten und hielt nach meiner Freundin Ausschau. Wir fassten uns an den Händen und liefen einige Runden. Dann kamen wir prustend zum Stehen, schauten uns an und begannen zu lachen. 

„Klappt noch genauso gut wie letztes Jahr!“, stellte Amy zufrieden grinsend fest. Ich stimmte ihr strahlend zu. Es war einfach wundervoll so dahin zu gleiten und alle Sorgen hinter sich zu lassen. Im Hintergrund dudelte entspannte Weihnachtsmusik und meine Glücksgefühle spiegelten sich in den Gesichtern der Leute um mich herum wider. So war das Leben schön! 

Ich hatte gerade zu Ende gedacht, da hörte ich Matt rufen: „Hey ihr zwei! Ihr fahrt ja ganz schön schnell!“ Er kam zu uns und ich muss zugeben, ich war ziemlich überrascht, dass er so gut über das Eis gleiten konnte. Seine Balance war nahezu perfekt und es sah aus als würde er schweben. 

Als er bei uns angekommen war, griff er nach meiner freien Hand und meinte lächelnd: „Ihr wollt doch nicht sagen, dass das alles war.“ Natürlich schüttelten wir sofort den Kopf und fuhren wieder an, doch es war schwierig, Matts Tempo mitzuhalten. Trotzdem war ich überglücklich, dass meine besten Freunde bei mir waren und am liebsten würde ich die Zeit anhalten... 

In meine Gedanken vertieft passte ich einmal nicht richtig auf und landete auf der Nase, nachdem ich über eine Unebenheit gefahren war. Besorgt hielt Matthias an und fragte: „Alles gut? Oder willst du dich nach draußen auf eine Bank setzen?“. „Nein danke, mir geht’s gut. Ich möchte lieber noch ein paar Runden mit euch drehen.“, antwortete ich wahrheitsgemäß und wollte gerade wieder aufstehen, als ich überrascht zusammenzuckte und auf dem Eis sitzen blieb: Da hinten hatte ich doch Natalies Gestalt ausgemacht! Aber jetzt, wo ich genauer hinschaute, konnte ich sie nicht mehr entdecken.  

„Ist wirklich alles okay?“, fragte Matt, der mein kurzes Zögern bemerkt hatte. Ich nickte und er half mir auf die Beine. 

Mein Herz begann zu rasen, als er so dicht vor mir stand und mein Blick verfing sich in seinen himmelblauen Augen. Doch der magische Moment war schlagartig vorbei, als unsere Mitschülerin Luisa vorbei raste und die Klasse dazu aufrief, sich für ein Foto zu positionieren.

Zwei Stunden später verteilten wir unsere leckeren Plätzchen und alle griffen hungrig zu. Dann stiegen wir in den Bus und machten uns auf den Heimweg. Ein vorweihnachtlicher Geruch erfüllte die Luft, und ich lehnte mich entspannt zurück, während ich an meinem Keks knabberte.

„Nadja! NADJA!“, hörte ich durch die Tiefen meiner Träume eine Stimme, die nicht wirklich zu dem idyllischen Park passte, in dem ich mich gerade befand. Ich rieb meine Augen und als ich mich an die Dunkelheit in meinem Zimmer gewöhnt hatte, erkannte ich Natalie. 

„Was machst du denn hier?“, fragte ich verwirrt und fügte noch schnell hinzu: „Naja, egal. Das Wichtigste ist doch, dass du mir jetzt endlich meine hunderttausend Fragen beantworten kannst!“

Die junge Frau knetete verlegen ihre Hände: „Das würde ich wirklich sehr gerne, aber deshalb bin ich nicht hier. Ich muss dir etwas sehr, sehr Wichtiges mitteilen.“ Jetzt wurde ich sauer, mein Unwissen über ihre Herkunft war wohl mindestens genauso wichtig! „Aber Natalie, du tauchst hier einfach auf, wann du Lust hast und verschwindest genauso plötzlich wie du gekommen bist, obwohl wir mitten in einem Gespräch sind! Das geht so nicht! Ich finde es wird Zeit, dass du mir sagst wer du bist!“, beschwerte ich mich wütend. „Hör zu, Kleine und beruhige dich.“, erklärte die junge Frau mit ruhiger, weicher Stimme, „Eigentlich war es nicht vorgesehen heute Nacht hierher zu kommen, aber du solltest mir zuhören, wenn du nicht möchtest, dass heute Nacht etwas wirklich Schlimmes passiert. Wenn du Amy schützen willst, dann sollten wir uns beeilen.“ 

Meine Gedanken schwirrten verständnislos in meinem Kopf und ich verstand gar nichts mehr. Wieso war Natalie gekommen und was um Himmels willen hatte das alles mit meiner besten Freundin zu tun? 

„Das erkläre ich dir jetzt.“, fuhr Natalie unbeirrt fort, „Pass auf, du schreibst Amy sofort, dass du heute nochmal gebacken hast und beinahe vergessen hättest, den Ofen abzuschalten!“ Ich widersprach: „Aber das stimmt doch überhaupt nicht! Warum sollte ich ihr sowas erzählen?“ 

Die junge Frau drückte mir mein Handy in die Hand und schaute mir in die Augen. Das liebevolle Leuchten darin beruhigte mich ein wenig und sie flüsterte: „Vertrau mir einfach, dann wirst du bald wissen, was du für Amy und ihre Familie getan hast! Beeil dich!“ Nach einer kurzen Pause nahm sie meine Hand und fügte noch hinzu: „Und ich bin sehr stolz auf dich, Nadja. Bestimmt komme ich dich bald wieder besuchen und erzähle dir alles.“ 

Sie zwinkerte mir noch einmal zu, dann war sie verschwunden. Keine Ahnung wohin, sie war einfach weg. Nachdenklich wendete ich das Smartphone in meiner Hand und entschied, die Nachricht zu verfassen. Zögernd blickte ich auf das Geschriebene. Sollte ich es wirklich abschicken? Langsam drückte ich auf „Senden“ und hoffte, damit keinen Fehler zu machen.

Amy las die Nachricht recht schnell, doch sie ging direkt wieder offline ohne zurückzuschreiben. Normalerweise hatte sie doch sofort die perfekte Antwort parat! 

Ich war ein wenig enttäuscht über mich selbst, wie hatte ich mich dazu verleiten lassen können, so einen Schwachsinn zu schreiben? Bestimmt war sie genervt, dass ich sie mitten in der Nacht geweckt hatte! Doch eine Stimme in meinem Kopf, die sich verdächtig nach Natalie anhörte, erklärte mir, dass wahre Freunde so etwas nicht übelnehmen. 

Ich dachte nach und musste der Stimme Recht geben. Hätte Amy mich mit einer ähnlichen Story aufgeweckt, hätte ich ihr höchstwahrscheinlich mit einer belustigten Nachricht geantwortet. Andererseits erzählte sie mir auch keine Geschichten, die sich eine junge Frau ausdachte. Ich wusste noch nicht mal woher Natalie kam und was sie von mir wollte!

Gerade wollte ich wieder in einen unruhigen Schlaf fallen, da erhielt ich doch noch eine Antwort meiner Freundin. Als ich sie öffnete, bekam ich einen riesigen Schrecken. 

Abermals las ich die Nachricht durch. Hatte ich mich nicht verlesen? Nein, da stand es noch immer schwarz auf weiß geschrieben: 

„Danke Nadja! Vielen Dank, dass du mich geweckt hast. Ich will gar nicht wissen, was passiert wäre, wenn du mir die Nachricht nicht geschrieben hättest. Mir fiel ein, dass ich ebenfalls vergessen habe, den Ofen auszuschalten. Natürlich bin ich sofort nach unten gerannt, um meinen Fehler zu beheben, aber als ich in die Küche kam war es schon ziemlich heiß und es roch irgendwie komisch. So, als wäre etwas verbrannt, doch soweit ich sehen konnte war es nur erstickend warm. Schnell habe ich das Fenster aufgerissen und dann vorsichtig den Backofen geöffnet. Zunächst schlug mir eine Menge Qualm entgegen und ich habe mich hustend ins Esszimmer verzogen, aber als ich wieder zurück bin… Da habe ich dann die Katastrophe gesehen: Meine Mutter bäckt gerne Brot und wollte den Sauerteig an einem „warmen Ort“ gehenlassen. Als sie die Plastikschüssel dort hineingestellt hat, bemerkte sie offensichtlich nicht, dass der Ofen noch immer eingeschaltet war.

Das Ding war jedenfalls ziemlich angekokelt und hat erbärmlich gestunken, deshalb habe ich die Schüssel samt Inhalt entsorgt. Mama wird not amused sein, dass beides hinüber ist. Aber damit komme ich klar, denn stell dir mal vor, was das für ein Theater gegeben hätte, wenn das Haus am Ende in Flammen gestanden hätte. Oh Gott, ich darf gar nicht daran denken, was alles hätte passieren können... Danke Nadja, du hast echt was gut bei mir! <3...“

Ich dankte Natalie im Stillen dafür, dass sie so geistesgegenwärtig gehandelt und mir klare Anweisungen gegeben hatte. Auf einmal hatte ich das Gefühl, ihre warme Hand lege sich auf meine Schulter. Doch obwohl ich mich umdrehte, konnte ich niemanden sehen. 

Ich war mir sicher, dass die junge Frau mich behütete, immer und überall. Wie schaffte sie das bloß? Wahrscheinlich war sie mein Schutzengel oder so. Bei diesem absurden Gedanken musste ich grinsen. Manchmal spielte meine Fantasie wirklich verrückt! Lächelnd schlief ich schließlich doch noch mal ein. 

Als ich am nächsten Morgen erwachte, war ich zwar müde, weil ich kaum geschlafen hatte, aber dennoch freute ich mich auf den Tag. Zum ersten Mal in meinem Leben wurde mir bewusst, wie aufregend es war, nie zu wissen was als nächstes passieren würde.

Als ich mich fertig gemacht hatte, ging ich fröhlich hinaus in den Hof. Überrascht bemerkte ich, dass Amy vor dem Hoftor stand und auf mich wartete. Gemeinsam schlenderten wir den Berg zur Bushaltestelle hinab. 

In der Schule erzählte sie sämtlichen Freunden die Geschichte mit dem Backofen und stellte mich als eine kleine Heldin dar. Und weil Matt nur eine Reihe vor uns saß, war es kein Wunder, dass diese verrückte Story auch an seine Ohren drang. „Na, ich wusste zwar, dass du ein tolles Mädchen bist, aber dass du gleichzeitig den Schutzengel für deine Freundin spielst, war mir nicht bekannt. Wieso kannst du diesen Schutz-Instinkt denn nicht auch bei deinen Unfällen einsetzen?“, neckte er mich in der Pause grinsend. Es war ja klar worauf er anspielte.

Ich lachte ebenfalls und nickte. „Weißt du, ich darf meine Superkräfte nicht für mich selbst einsetzen.“, scherzte ich. Er zog mich in eine Umarmung und murmelte in mein Haar: „Das ist blöd. Aber Nadja, mach so etwas nie wieder. Ich habe mir damals ziemliche Sorgen gemacht.“ Mein Herz hämmerte als wolle es aus meiner Brust springen und ich hatte das Gefühl nicht mehr richtig atmen zu können.

Kurz hielt er mich noch fest, dann klingelte es. In dem Moment fiel mir noch etwas ein, was ich ihm unbedingt sagen musste. „Matt.“, flüsterte ich, „Es war Natalie. Sie hat mir aufgetragen, Amy diese Nachricht zu schreiben!“ Er starrte mich mit großen Augen an: „Sie wusste es?“ Ich nickte und ein kalter Schauer lief mir über den Rücken....

Die nächsten Tage vergingen ungewöhnlich schnell und gestern hatten die Ferien begonnen. Obwohl Natalie mir versprochen hatte bald wiederzukommen, war sie bisher noch nicht aufgetaucht und so langsam wurde ich ungeduldig. Amy und Matt halfen mir dabei, so viele Informationen wie nur möglich über die junge Frau heraus zu finden. Wir hatten keine Lust mehr zu warten bis sie sich irgendwann mal dazu bereit erklärte, mir zu erzählen, wer sie war. Wir wollten es jetzt wissen! 

Aber wir kannten noch nicht einmal ihren Nachnamen. Probehalber fütterte ich die Suchmaschine mit Wörtern wie ‚Natalie Gedanken lesen‘ oder ‚Natalie nächtlicher Besuch‘ oder auch ‚Natalie Beschützer‘, doch wir hatten keinen Erfolg bei unserer Suche. Meine beste Freundin gab sogar den Vornamen in Kombination mit meinem Nachnamen ein, aber auch hierbei konnten wir nichts Brauchbares finden.

Irgendwann wurde uns langweilig und wir begannen, andere Sachen zu googeln. Matt wollte die Bedeutungen unserer Namen wissen und zog meinen Laptop zu sich. Kurz darauf gab er Auskunft. Mein Name heißt ‚Hoffnung‘, ‚Amy‘ kommt aus dem französischen ‚aimer‘, was übersetzt ‚lieben‘ ist und ‚Matthias‘ bedeutet ‚Geschenk Gottes‘. 

Wie wahr einfache Namen gewählt sein konnten! Meine Freundin zum Beispiel musste man einfach liebhaben und Matt, wie hätte man ihn besser beschreiben können als eine Gabe des Himmels? Aber was war mit mir? Wenn ich länger darüber nachdachte, stimmte auch die Übersetzung. Ich sah fast immer die positiven Dinge, auch in bescheuerten Situationen glaubte ich fest daran, dass irgendwann alles gut sein würde und mein Lebensmotto lautete: ‚Die Hoffnung stirbt zuletzt.‘

Wir gaben noch die Namen anderer Mitschüler ein und sahen Parallelen zu ihren Charakterzügen. Dann hatte Amy eine Idee: „Lasst uns mal nach ‚Natalie‘ suchen, vielleicht finden wir da irgendwas heraus.“ Und tatsächlich, das war äußerst interessant: Der Name bedeutet ‚die zu Weihnachten geborene‘!

Gleichzeitig warf unsere Entdeckung aber auch neue Fragen auf: Wurde sie wirklich an Weihnachten geboren? Hieß sie deshalb so? Und wer waren ihre Eltern?

Obwohl Amys Tante ebenfalls Natalie hieß und ihren Geburtstag im Mai feierte, hatte ich das sichere Gefühl richtig zu liegen. Aber das brachte uns auch nicht weiter. Insgeheim gab ich die Grübelei schon auf und beschloss, Natalie bei nächster Gelegenheit auszufragen, doch wann würde sich das ergeben? So langsam aber sicher verzweifelte ich an dem Geheimnis der jungen Frau und meine Freunde bemerkten meinen Unmut natürlich sofort. 

Matt legte seinen Arm um meine Schultern und beschwor mich, nicht so schnell aufzugeben: Die Hoffnung stirbt zuletzt. Seufzend stimmte ich zu und legte meinen Kopf auf seine Schulter. Einen Moment schwiegen wir alle, dann hatte Amy eine gute Idee: „Wie wäre es, wenn wir mit dem Grübeln morgen weiter machen? Lasst uns ein Gesellschaftsspiel spielen.“ Ich schaute sie an. Ja, das war wirklich ein schöner Einfall. 

Entschlossen mir meine gute Laune der letzten Tage nicht verderben zu lassen stand ich auf und entschied: „Kommt wir gehen nach unten und fragen, ob Mama und Papa mitspielen möchten!“ Da meine beiden Freunde einverstanden waren, liefen wir gemeinsam die Treppe herunter und setzten uns zu meinen Eltern an den Wohnzimmertisch. 

So wurde es doch noch ein wunderschöner Nachmittag und ich wurde meine Sorgen endlich einmal los! Erneut wurde mir bewusst, dass Freunde und Familie die wertvollsten und allerschönsten Geschenke sind. Mit leuchtenden Augen schaute ich mich im warmen, hell erleuchteten Zimmer um. Am Kamin lag meine geliebte Katze Minka, täuschte ich mich oder hatte sie in den letzten Wochen stark zugenommen? Nein, sie war wirklich dick geworden, aber in meinen Gedanken um Natalie hatte ich das gar nicht mitbekommen! 

Um mich herum waren meine Eltern und meine zwei besten Freunde versammelt. Niemals würde ich einen von ihnen verlieren wollen...

Mitten in der Nacht wurde ich von einem Flüstern geweckt: „Nadja, Nadja!“ Die Stimme klang verdächtig nach Natalie und vorsichtig öffnete ich ein Auge: 

Tatsächlich, dort drüben stand sie: neben meinem Stuhl am Schreibtisch. Als sie bemerkte, dass ich aufgewacht war, zog sie ihn zu mir ans Bett und ließ sich darauf nieder.

Ich riss sofort den Mund auf, um meine Fragen stellen zu können, doch Natalie unterbrach mich mit ihrer weichen Stimme: „Langsam, Kleine! Du hast wohl nicht mehr daran gedacht, dass ich deine Gedanken lesen kann. Ich kenne deine Fragen.“ „Willst du sie mir also bitte beantworten?“, fragte ich, etwas härter als beabsichtigt und fügte dann entschuldigend hinzu: „Ich bin so neugierig!“ 

Die junge Frau lächelte: „Das merkt man und ich kann dich verstehen. Eigentlich wollte ich dich erst in zwei Tagen, an Weihnachten, besuchen, um dir mein Geheimnis zu verraten. Aber ich sehe doch wie sehr es dich quält so unwissend zu sein! Deshalb werde ich dir heute schon ein bisschen über mich erzählen.“

Als sie mit ihrer Geschichte anfing, hing ich wie gebannt an ihren Lippen: „Nun, ich weiß nicht, wo ich beginnen soll. Es wird das Beste sein, wenn ich dir einige deiner Fragen beantworte, dann verstehst du das Ganze hoffentlich einigermaßen. Du und deine zwei Freunde, ihr hattet mit eurer Vermutung, dass ich an Weihnachten geboren sei, tatsächlich Recht. Und auch der Name kommt daher, ja. Aber ich glaube nicht, dass das so wichtig ist. Was eure anderen Vermutungen betrifft: Meistens lagt ihr gar nicht so weit daneben. Du hast neulich beispielsweise überlegt, ob ich dein Schutzengel sei. Ich weiß, dass du das nicht wirklich ernst meintest, aber so etwas ähnliches bin ich schon. Nur, dass ich persönlich es eher ‚Beschützerin‘ nenne, denn ein Engel bin ich nicht. Meine Gaben sind bloß recht ähnlich.“ 

Sie machte eine kurze Atempause und ich unterbrach sie lächelnd: „Also warst du wirklich meine Retterin?“ Natalie nickte etwas verlegen und ich strahlte sie an: „Vielen, vielen Dank!! Ohne dich wäre ich jetzt tot und läge nicht in meinem gemütlichen Bett! Das war echt nett von dir und vor allem mutig, dich einfach vor das Auto zu stellen.“ 

Natalie schaute mich lange an, bevor sie antwortete: „Aber Nadja, das habe ich doch gern getan, genau das ist ja meine Aufgabe als Beschützerin. Außerdem weiß ich nicht, was ich ohne dich machen würde.“ 

Ich weiß, ich hätte sie fragen sollen, weshalb nicht, denn wir kannten uns doch erst seit ein paar Wochen. Genauer gesagt seit meinem Unfall. Aber ich wollte etwas ganz anderes wissen, etwas, dessen Antwort ich tief in meinem Herzen schon kannte: „Warst du der Schatten, den ich gesehen habe, als Amy mich abgeholt hat, um gemeinsam zum Bus zu gehen? Und du warst auch auf der Schlittschuhbahn, nicht wahr?“

„Ja natürlich, ich habe doch die Aufgabe, auf dich aufzupassen.“, erwiderte Natalie und als ich gerade eine weitere Frage stellen wollte, fügte sie schnell hinzu: „Du, Nadja, ich muss jetzt wirklich gehen, tut mir leid. Weißt du, ich werde gerufen und dein Wecker wird in wenigen Minuten klingeln. Aber wir sehen uns übermorgen ja wieder. Eigentlich schon morgen, denn wir haben jetzt 5:48 Uhr.“ 

Als der Wecker zwölf Minuten später klingelte, öffnete ich die Augen und tatsächlich stand neben mir der Stuhl, der am Abend noch am Schreibtisch gestanden hatte...

Ich schälte mich müde aus meiner warmen Bettdecke heraus, denn auch in den Ferien wollte meine Katze Minka pünktlich gefüttert werden. Die Kleine lag neben mir auf dem Bett und sah mich aus ihren treuen Augen erwartungsvoll an. Als ich sie vorsichtig zur Seite schieben wollte, um aufstehen zu können, bemerkte ich, dass sie tatsächlich ziemlich dick geworden war. Mit einem Mal ging mir ein Licht auf: War sie etwa trächtig?! Wenn dem so wäre, würde es bis zur Geburt der Kitten nicht mehr lange dauern. 

Voller Euphorie rannte ich zu meinen Eltern ins Schlafzimmer, die nicht sehr begeistert waren, schon zu so einer frühen Morgenstunde geweckt zu werden. Aber als sie in meinem Zimmer neben der Katze standen, die ungeduldig auf ihr Fressen wartete, stimmten sie in meine Aufregung mit ein.

„Das kann doch nicht sein!“, rief meine Mutter aus, „Wieso hat das denn niemand mitbekommen? Schaut sie euch doch an, die Geburt könnte jeden Tag so weit sein!“ „Also hatte ich Recht mit meiner Vermutung?“, wollte ich wissen. Mein Vater nickte: „Ja es sieht ganz danach aus, so viel kann sie unmöglich gefressen haben. Apropos, sie hat bestimmt Hunger Nadja, vielleicht gibst du ihr jetzt erst mal etwas Nassfutter. Deine Mutter und ich polstern unterdessen einen Wäschekorb mit zwei kuscheligen Decken aus und stellen ihn neben dein Bett. Ich bin mal gespannt, wie viele Kitten es werden. Auf jeden Fall mehr als zwei...“ 

Entsetzt sah meine Mutter ihn an: „Um Himmels willen, was sollen wir denn mit den ganzen Jungtieren machen? Wir können doch keine 20 Kätzchen im Haus herumwuseln lassen!“ Da musste ich lachen: „Aber Mama!“, rief ich, „Das werden nie im Leben so viele Babys! Ach, ist es nicht einfach toll, dass wir bald ganz jungen Nachwuchs haben werden? Ich freue mich schon so! Du bist eine ganz wundervolle Katze Minka!“ „Na ja, hätte ich geahnt, dass sie uns Familiennachwuchs schenken würde, hätten wir sie wohl eher kastrieren lassen, aber darüber hat wohl keiner nachgedacht…“, brummte mein Vater und verschwand dann im Keller, um den Wäschekorb zu holen.

Die Kleine verschlang eine ordentliche Portion an Fressen. Kein Wunder, denn wer wusste schon, wie viele Mäulchen sie noch zu stopfen hatte? 

Als es um 16:00 Uhr klingelte, schreckte ich zusammen. Wer mochte das nur sein? Und dann fiel es mir wie Schuppen von den Augen: Ich hatte Matt und Amy für den Nachmittag eingeladen! 

Aufgeregt öffnete ich die Tür und begann sofort von Minka und ihrem ungeduldig erwarteten Nachwuchs zu erzählen. Meine Freunde hörten mir ungläubig zu und ihre Augen begannen begeistert zu leuchten. „Ich hätte so furchtbar gerne auch eine Katze!“, seufzte Matt und Amy stimmte ihm zu: „Oh ja, das wäre herrlich!“ 

Wir wollten uns gerade auf den Weg in mein Zimmer machen, als meine Mutter uns entgegenkam. „Die Geburt geht los!“, verkündete sie ein wenig ängstlich. Dann musterte sie uns kurz, entschied aber, dass wir unten bleiben sollten bis alles vorbei war. Minka brauchte Ruhe und wir würden sie angeblich nur stören, obwohl meine besten Freunde mittlerweile schon fast zu ihrem Alltag gehörten. 

Nervös tigerten wir im Wohnzimmer herum, während wir auf die Entwarnung meiner Eltern warteten. Hoffentlich würde es keine Komplikationen geben. War es normal, dass das so lange dauerte? 

Nach einer gefühlten Ewigkeit hörten wir meinen Vater endlich rufen. Alles war gut gegangen und wir durften nach oben kommen, um die kleinen Fellbündel zu bewundern. Zuerst streichelte und lobte ich Minka und fuhr dann behutsam mit dem Finger über den flauschigen Pelz der Jungen. Es waren insgesamt fünf.

„Wie wollt ihr die Kleinen nennen?“, wollte meine beste Freundin sofort wissen. Ich zuckte mit den Schultern, doch dann kam mir eine Idee: „Wie wäre es, wenn sich jeder von uns den Namen für eine Katze ausdenkt? Wen willst du benennen?“

Gemeinsam überlegten wir, wie der junge Nachwuchs heißen sollte. Ein kleines, schwarz-weißes Kätzchen wurde von Amy ‚Pünktchen‘ genannt, während zwei schwarze Kitten mit weißem Bauch, die einander zum Verwechseln ähnlich sahen, von Matt und meiner Mutter ‚Bilou‘ und ‚Morli‘ getauft wurden. Ein weiteres Schwarz-Weißes nannte mein Vater ‚Fridolin‘ - er war sich sicher, dass es männlich war, obwohl er dafür noch keine Beweise hatte…

Für mich blieb also nur noch Eines übrig: Es war ein faszinierendes Tier, dessen Schwanz komplett schwarz war, während es sonst, bis auf zwei schwarze Flecken am Kopf, eine weiße Fellfarbe hatte. Ich gab dem Tier, in Anbetracht der weißen Schönheit, den Namen „Neige“. Aus dem Französischen ins Deutsche übersetzt bedeutet es „Schnee“. 

 

Endlich war Heilig Abend gekommen, der schönste Tag im Jahr. Als ich erwachte, blieb ich noch kurz liegen und lief dann zu dem Katzenkörbchen, um Minka und ihre Jungen zu begrüßen. „Fröhliche Weihnachten!“, flüsterte ich und musste unwillkürlich lächeln, als die Mutter der Kleinen begann, meine Hand abzuschlecken.

Neige und die zwei schwarzen Kätzchen saugten die Muttermilch und stritten sich dabei hell quiekend um den besten Platz. Fridolin und Pünktchen lagen friedlich schlafend zwischen ihren Geschwistern und schienen sich nicht daran zu stören, dass diese immer wieder über sie kugelten. 

Gerade hatte ich beschlossen das Zimmer zu verlassen und meine Eltern zu wecken, da legte sich eine Hand sanft auf meine Schulter. „Das sind ja prächtige Kitten!“, hörte ich die mir nun schon so vertraute Stimme Natalies. 

Glücklich drehte ich mich um und da stand sie vor mir, noch hübscher als sonst. „Fröhliche Weihnachten, oh äh und alles Gute zum Geburtstag!“, sagte ich feierlich und die junge Frau freute sich: „Wie süß von dir, dass du daran gedacht hast, danke! Ich wünsche dir natürlich auch ein frohes Fest.“ 

„Vielen Dank!“, antwortete ich und legte erwartungsvoll den Kopf schief. Würde sie mir nun endlich verraten, was es mit ihrem plötzlichen Auftauchen und dem ständigen Verschwinden auf sich hatte? Viel zu lange hatte ich nun schon darauf warten müssen, ihr Geheimnis zu erfahren und sie hatte schließlich versprochen, dieses an Weihnachten zu lüften. Aber zählten zu ‚Weihnachten‘ nicht vielleicht auch der erste und der zweite Feiertag?

Natürlich kannte sie meine Gedanken und setzte sich auf mein Bett. Als ich mich neben ihr niedergelassen hatte, begann sie endlich zu erzählen und ich hing wie gebannt an ihren Lippen…

 

Fröhliche Weihnachten!!!

„Es war an einem schönen, verschneiten Heiligabend vor 22 Jahren, da wurde ich geboren. Meine Eltern hast du nie kennengelernt, aber sie sind mit dir verwandt. Unsere Mütter sind eineiige Zwillingsschwestern, sie haben sich geliebt wie nichts anderes auf der Welt. Früher, als sie noch Kinder waren, da haben sie alles gemeinsam gemacht, sie haben sich geholfen und aufeinander aufgepasst.“

Ich unterbrach die junge Frau: „Aber das kann nicht sein Natalie, das muss ein Missverständnis sein. Meine Mutter hat keine Geschwister!“ „Doch,“ widersprach sie mir, „du dachtest bloß, sie sei ein Einzelkind gewesen. Aber hast du sie jemals danach gefragt?“ 

Verständnislos schüttelte ich den Kopf: „Nein, ich bin einfach davon ausgegangen. Sie hätte mir wohl gesagt, wenn ich eine Tante hätte!“ 

Natalie sah mich lange an, und schüttelte dann traurig den Kopf: „Nein, Nadja. Mama und Papa sind kurz nach meiner Geburt bei einem Autounfall ums Leben gekommen, deshalb haben deine Eltern mich als Pflegekind aufgenommen. Sie liebten mich, als wäre ich ihre eigene Tochter. Deine Mutter war zutiefst traurig über den Tod ihrer geliebten Zwillingsschwester und ich war das Einzige, was von ihr blieb. Vermutlich war ich für sie wie ein Teil ihrer Schwester und sie waren für mich wie echte Eltern. Meine hatte ich ja kaum kennengelernt. Als du dann geboren wurdest, warst du für mich wie ein echtes Geschwisterchen, das ich mir immer gewünscht habe. Ich habe mich so gut ich konnte um dich gekümmert, bis ich, naja, bis ich selbst an Krebs starb.“ 

Jetzt war ich restlos verwirrt, denn schließlich stand Natalie hier vor mir. „Aber, aber...“, stieß ich hervor, doch mehr brachte ich nicht über die Lippen. Und das war auch gar nicht nötig, denn sie kannte meine Gedanken ja.

Sie suchte nach den richtigen Worten: „Weißt du Nadja. Ich lebe jetzt in einer anderen Welt. In einer Welt, die auch du eines Tages kennen lernen wirst. Keine Sorge, es ist wunderschön dort, aber ich darf nichts Genaueres darüber preisgeben. Außerdem möchte ich, dass du noch lange lebst. Du hast noch viel Zeit vor dir und ich werde immer bei dir sein, egal was passiert. Wenn du möchtest, darfst du mich einen Schutzengel nennen, auch wenn ich das nicht bin. Es gibt sie durchaus auch, aber ihre Eigenschaften unterscheiden sich ein wenig von den meinen. So kennen sie beispielsweise die Gedanken und Gefühle jeder beliebigen Person, haben aber nicht die Gabe, sich sichtbar zu machen. Deshalb würde ein Schutzengel auch niemals mit dir reden, so wie ich es gerade tue. Sichtbar oder unsichtbar, ich war immer bei dir. Einige Menschen haben solche Beschützer, deine Mutter wird beispielsweise von ihrer Schwester behütet, auch wenn sie nichts davon weiß.“ 

In unser Gespräch vertieft vergaß sogar die sonst so aufmerksame Natalie die Welt um uns herum und wir schraken zusammen, als plötzlich meine Tür aufgezogen wurde. 

„Fröhlichaaaaaaaaaaaaaahhhh!“, schrie meine Mutter und bekam schreckensweite Augen. Mein Vater trat hinter sie und als er die Person in meinem Zimmer erblickte, fing auch er an zu kreischen. Ich war so erschrocken, dass ich in ihr Geschrei mit einfiel und prompt hielt sich die junge Frau die Ohren zu. 

Es war eine so absurde Situation, dass ich lachen musste und auch meine Eltern beruhigten sich ein wenig. „Wer ist das?“, wollte mein Vater in scharfem Ton wissen, da erkannte meine Mutter sie endlich. „Natalie?“, fragte sie vorsichtig, und dann rief sie etwas lauter: „Natalie, wie kann das sein? Wie schön dich wiederzusehen!“ Sie lief zu meiner Cousine und umarmte sie, als wolle sie ihr verstorbenes Pflegekind nie wieder loslassen. Doch irgendwann befreite sich die junge Frau aus der Umklammerung und erklärte: „Ja, ich bin es, aber ich weile seit meiner Krankheit nicht mehr unter den Lebenden.“ 

Nachdem Natalie ihre Geschichte nochmal erzählt hatte, zeigte sich endlich auch ihre Mutter, die ihrem Zwilling aufs Haar genau glich. Ein Wiedersehen hätte nicht ausgelassener sein können und meine Mutter lachte, wie ich sie noch nie hatte lachen gehört. Es klang wie das eines Kindes, ohne Sorgen oder Ängste und voller Glück und Lebensfreude. 

Da fiel mir noch etwas ein: „Sag mal, Natalie. Wieso kannst du eigentlich in die Zukunft schauen?“ „Wie kommst du denn darauf?“, fragte meine Cousine überrascht. „Naja,“, ich zögerte, „weil du mir wegen Amy Bescheid gesagt hast.“ 

Die junge Frau fing an zu lachen und hörte nicht wieder auf. „Aber Nadja!“, japste sie, „Ich kann doch nicht hellsehen! Nachdem du schlafen gegangen bist, habe ich einfach mal bei deinen Freunden vorbeigeschaut. Und da habe ich das eben mitbekommen.“ „Oh...“, ich wurde rot, auf die Idee hätte ich ja auch selbst kommen können. 

Dann grinste ich. Was war denn schon schlimm daran, diese Frage zu stellen? Jeder stand mal auf dem Schlauch und auf dem Weihnachtsmarkt hatte ich doch gelernt, dass es nur dumme Antworten gab. Ich hatte ein wunderschönes Leben in Freiheit, was wollte ich mehr? Liebevoll umarmte ich meine Familie und wir redeten bis wir plötzlich ein Klingeln vernahmen. 

Verwundert schauten wir uns an. Wer mochte das sein? Schnell lief ich zur Tür, öffnete sie und vor mir stand kein anderer als: „Matt!“, rief ich voller Freude und umarmte ihn schwungvoll. In dem Moment war ich so glücklich, dass ich am liebsten die ganze Welt umarmt hätte.

Matthias legte mir die Arme um den Hals und dann küsste er mich. Seine Augen strahlten und mit klopfendem Herzen erwiderte ich seinen Kuss. Als wir uns endlich voneinander lösten, flüsterte er: „Nadja, ich liebe dich!“. Ich lächelte und antwortete ebenso leise: „Ich dich auch, Matt.“ 

Von da an wusste ich: Heute war der beste Tag meines Lebens. Jetzt trat auch noch Amy in die Tür. Gemeinsam liefen wir in mein Zimmer und redeten, als hätten wir uns jahrelang nicht mehr gesehen. In der Zwischenzeit war so viel geschehen, dass uns der Gesprächsstoff nicht ausging, denn natürlich wollten die beiden alle Details über Natalie erfahren.

Kurz bevor die beiden um die Mittagszeit wieder nach Hause gehen mussten, gab ich ihnen noch ein kleines Weihnachtsgeschenk: Amy bekam von mir eine neue Mütze, die ich selbst gestrickt hatte und für Matt hatte ich einen Schal in seinen Lieblingsfarben gemacht. Sie freuten sich riesig. Auch mir machten beide eine große Freude: meine beste Freundin schenkte mir Spielzeuge und Leckerlies für die Katzen, während mein Freund für mich eine Kette mit Herz-Anhänger dabeihatte. Sehr süß! 

Am Nachmittag ging ich mit meiner Familie in die Kirche. Dort traf ich auch Amy und Matt noch einmal. Nach dem Gottesdienst schlenderten wir gemeinsam die Straße hinunter, bis unsere Familien verschiedene Wege nahmen.

Abends hatte ich es mir mit meiner Familie unter dem Tannenbaum gemütlich gemacht, genoss den Kerzen- und Tannenduft und verteilte meine Gaben. Mama und Papa freuten sich riesig über die Honigwachskerzen, die ich mit Matt auf dem Weihnachtsmarkt gekauft hatte. 

Auch die Geschenke für mich waren toll, aber am schönsten war es hier zu sitzen. Ich dachte an Minka mit ihren Jungen, an meine Familie und natürlich an meine Freunde.

Was für ein Glück ich hatte von so vielen Menschen geliebt zu werden. Dafür konnte ich nur von Herzen ‚DANKE!!!‘ sagen.

 

 

Übrigens: Amy und Matt bekommen die Kitten Pünktchen und Bilou, wenn die Kleinen alt genug sind. Nadja behält Neige und natürlich Minka, während der Kater Fridolin und das Kätzchen Morli bei einer engen Freundin der Familie ihr neues Zuhause finden.  

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Autor

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Kapitel: 26
Sätze: 758
Wörter: 10.822
Zeichen: 63.439

Kurzbeschreibung

Nadja, ein vierzehnjähriges Mädchen, liegt nach einem schweren Unfall im Krankenhaus, als plötzlich die 21-jährige Natalie auftaucht. Doch was hat es mit dieser geheimnisvollen Person auf sich? Und dann ist da auch noch Matt, der dem Mädchen nicht mehr aus dem Kopf geht. Gemeinsam mit ihm und Nadjas bester Freundin Amy versucht sie, dem Rätsel um die junge Frau auf die Spur zu kommen. Werden sie es schaffen das Geheimnis zu lösen? Eine fesselnde Geschichte über Liebe, Freundschaft und Familie! Dies ist eine Adventskalendergeschichte mit 26 Kapiteln, sodass jeden Tag vom 1. Dezember bis zum 2. Weihnachtsfeiertag ein Kapitel gelesen werden kann.

Kategorisierung

Diese Story wird neben Freundschaft auch in den Genres Liebe, Mystery, Familie gelistet.