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Bewertung
Statistik
Kapitel: | 4 | |
Sätze: | 149 | |
Wörter: | 2.492 | |
Zeichen: | 14.697 |
„Nein! Das glaub ich nicht! Ich fass es einfach nicht, dass du ihm das wirklich so gesagt hast!“, quietschte meine kleine Schwester Ida begeistert in ihr Handy und zappelte dabei aufgeregt auf der Couch herum. Genervt stöhnte ich auf und versuchte sie mit einer Handbewegung aus meinem Zimmer zu verscheuchen, doch leider interessierte sie das herzlich wenig. Mit einem frechen Grinsen im Gesicht streckte sie mir die Zunge raus und kuschelte sich nur noch tiefer in meine Fließdecke und sämtliche Kissen, die auf dem Sofa verteilt lagen. Doch so leicht würde sie mir nicht davon kommen. Mit zwei schnellen Schritten war ich bei ihr und nutzte den Überraschungseffekt, um ihr das Handy aus der Hand zu ziehen. „Eyyy! Livy, lass das!“, kreischte meine Schwester noch, doch es war schon zu spät. Obwohl ich mir sicher war, das Handy soeben noch fest umklammert zu haben, glitt es mir plötzlich wie von Geisterhand gezogen aus dem Griff. Auch der erstaunlich geschickt erscheinende Auffangversuch Idas konnte das Unausweichliche nicht verhindern. Mit einem lauten Knall schlug das Smartphone auf dem Parkettboden in meinem Zimmer auf und wie in Zeitlupe registrierte ich, wie sich meine Schwester bückte, um ihr Handy umzudrehen und die ganze Bescherung zu begutachten. Ich hielt den Atem an, wagte kaum hinzuschauen und konnte doch nicht wegsehen. Wenn das Display kaputt wäre, dann würde ich ordentlich was zu hören bekommen und das nicht zu unrecht. Doch egal was ich auch befürchtet hatte, mit dem, was geschah, hatte ich nicht gerechnet… Entsetzt keuchten Ida und ich synchron auf, als sich über die Risse, die auf dem Handydisplay zu sehen waren, eine Eisschicht zog. Und sie breitete sich immer weiter aus, bildete einen Ring um Idas Handy und hörte dann bei etwa einem Meter Radius ganz abrupt auf zu wachsen. Ohne es bewusst zu bemerken, waren Ida und ich zurückgewichen und starrten nun mit großen Augen aneinander gedrängt auf das Eis. „Was zum…?“, setzte meine Schwester an und ging so vorsichtig in die Hocke, als hätte sie Angst, eine ruckartige Bewegung könne einen Schneesturm auslösen. Mir hatte es den Atem verschlagen. Ich stand wie festgefroren neben der Couch ohne den Blick von der Stelle abwenden zu können, von der sich der Ring aus gefrorenem Wasser ausgebreitet hatte. Dort, wo Idas Handy unter der Eisdecke nur noch zu erahnen war. Mein Kopf war leer, wie in eine Schneeschicht eingepackt, und ich nahm nichts mehr um mich herum wahr. Ida und der Rest meines Zimmers waren in einem schummrigen Nebel verschwunden aus dem leise ein weihnachtliches Glockenspiel zu hören war, doch das alles schien so weit weg zu sein. Wichtig war nur die Eisschicht, in der ich mein Spiegelbild entdeckte. Mit klopfendem Herzen blickte ich mir in die Augen, als die Eis-Liv ihre Hand nach mir ausstreckte, an deren Fingern Ringe aus Schneekristallen glitzerten. Fasziniert machte ich einen Schritt auf sie zu und wollte bereits meine Hand auf die ihre legen, als Ida an meinem Arm zog und mich damit in die Gegenwart zurückholte. „Livy, was zum Teufel ist hier gerade passiert?“, fragte sie atemlos, noch immer mit vor Staunen aufgerissenen Augen. „Ich weiß es nicht“, gab ich mit einem mulmigen Gefühl im Bauch zu, „Aber hast du auch- Ida, nicht!“ Ich versuchte noch, meine Schwester wegzuziehen, doch es war bereits zu spät. Mit einem beherzten Schritt wagte sie sich aufs Eis und bückte sich, um nach ihrem Smartphone zu greifen. Doch in dem Moment, als sie ihre Hand auf die Stelle legte, unter der ich ihr Handy vermutete, war sie plötzlich spurlos verschwunden.
Ich blinzelte, rieb mir über die Augen, und doch tauchte meine Schwester nicht wieder auf, als sei sie plötzlich unsichtbar geworden. Da bekam ich es nun wirklich mit der Angst zu tun. Das konnte doch nicht sein, das war alles so… unecht. „Ida, wo bist du?“, rief ich besorgt und dann lauter: „Ida, das ist wirklich nicht lustig, komm wieder her!“ Aber nichts geschah. Und dann kam mir endlich der erlösende Gedanke: Ich musste träumen, anders war dieses Chaos hier nicht zu erklären, schließlich konnte das im echten Leben doch nicht passieren! Nur warum fühlte sich das alles dann so lebendig an? Verwirrt kniff ich mir in den Oberarm und zuckte zusammen, als ein zwickender Schmerz die Stelle durchfuhr. Irritiert runzelte ich die Stirn, schüttelte den Kopf und rieb mir über den Arm. Und dann stieß ich ein irres Lachen aus. Wenn ich schon so wirres Zeug träumte, dann wollte ich wissen, was mein Unterbewusstsein mir noch zu bieten hatte. Denn das hier war ein Traum, es konnte nur ein Traum sein, Schmerz hin oder her, da war ich mir todsicher. In einem Anflug von Kühnheit trat ich aufs Eis und imitierte die Haltung meiner kleinen Schwester.
Plötzlich befand ich mich in einem Tunnel aus gefrorenem Schnee. Ein bisschen enttäuschte mich mein Unterbewusstsein schon, hätte der Übergang aus meinem Zimmer nicht etwas spannender sein können? Andererseits war das im Traum doch meistens so, auf einmal war man übergangslos und ohne Vorwarnung in einer anderen Umgebung und niemand schien sich daran zu stören. Ein weiteres Indiz dafür, dass ich bloß luzid träumte.
Erschrocken quietschte ich auf, als sich der Tunnel aus Eis plötzlich um mich herum zu drehen begann. Zunächst langsam, doch dann immer schneller und schneller. Reflexartig kniff ich die Augen zusammen, um nicht vor Schwindel zusammenzubrechen und stellte erleichtert fest, dass sich die Stelle unter meinen Füßen komischerweise keinen Zentimeter vom Fleck zu bewegen schien. Immerhin wurde ich von dieser schier unendlich wirkenden Kraft also nicht ins Weltall geschleudert. Oder wohin auch immer. Als ich nach einigen Sekunden meine Augenlider ein ganz klein wenig öffnete, schien die Drehung aufgehört zu haben. Stattdessen blickte ich auf eine Wand voller kleiner Kristallblumen. Beeindruckt sah ich mich erneut um. Der ganze Tunnel war mit winzigen glitzernden Verzierungen übersäht, die sich nahtlos aneinander reihten. Aha! Mein Unterbewusstsein hatte also doch etwas drauf! Ein kurzer Blick über die Schulter sagte mir, dass sich der Tunnel hinter mir, soweit ich es im Glanz der Kristalle erspähen konnte, bis an den Horizont erstreckte. Woher ich gekommen war wusste ich nicht mehr, mein Zimmer war verschwunden.
Neugierig lief ich los, gespannt was mich als nächstes erwarten würde. Doch bald schon merkte ich, wie mir die Kälte unter die Haut kroch. Zitternd schlang ich die Arme um meinen Oberkörper, doch es nutzte alles nichts, meine Finger fühlten sich wie Eisklötze an und meine Zähne klapperten ohne Unterlass. Ach wie sehnte ich mich jetzt nach einer heißen Schokolade und einer kuscheligen warmen Decke… Apropos Decke, jetzt wäre es vielleicht an der Zeit aufzuwachen, vermutlich war meine Bettdecke nach unten gefallen und meine Füße waren schon eiskalt. Aber warum musste sich das im Traum so echt anfühlen und wieso schickte mich mein Unterbewusstsein an den Nordpol? Und vor allem, weshalb stand ich noch immer hier, in dieser kalten Höhle? So langsam hatte ich die Nase voll! Sollte ich meinen Traum nicht steuern können, jetzt da ich schon einmal luzid träumte?
So in meine Gedanken vertieft, bemerkte ich erst zu spät, wie plötzlich eine bleiche Gestalt aus einem Nebengang trat und mit eiskalten Fingern nach meinem Arm griff…
Ich kreischte auf, als sich der Klammergriff um meinen Unterarm legte, doch mein Schrei wurde von einer behandschuhten Hand gedämpft. Panik ergriff mich und ich tat alles in meiner Macht stehende, um mich zu befreien. Allerdings schien das den Mann nicht zu stören, als würde er die Schmerzen, die ich ihm mit meinen Tritten zufügen musste, nicht spüren. Und auch die Kraft, mit der er mich umklammerte, hätte ich diesem schmächtigen kleinen Kerlchen überhaupt nicht zugetraut. Und doch, oder vielleicht gerade deswegen, hatte er etwas Bedrohliches an sich. Aber im Reich der Träume war ja bekanntlich alles möglich. Leider musste ich gerade jedoch dabei zusehen, wie sich das Ganze in einen Albtraum verwandelte und ich hatte wirklich keine Ahnung, wie ich dieses luzide Träumen beeinflussen konnte oder es wenigstens schaffte, aufzuwachen…
Unser kleiner Kampf dauerte nur wenige Augenblicke und ich musste einsehen, dass mein Widersacher die Oberhand hatte. Er warf mich wie einen Kartoffelsack über seine Schulter und flitzte dann mit einer unglaublichen Geschwindigkeit durch schmale Gänge und nach der dritten Gabelung hatte ich hoffnungslos die Orientierung verloren. Dafür bemerkte ich etwas anderes, etwas, das mich ein wenig verunsicherte, mir jedoch auch erklärte, warum das Männlein eben so leichtes Spiel mit mir gehabt hatte. Meine Körperstatur war samt Kleidung auf die Hälfte meiner ursprünglichen Größe geschrumpft, meine Arme baumelten wie Streichhölzer den schlanken Rücken des Männleins herunter und ich schauderte bei dem Gedanken daran, dass meine Beine vermutlich nicht viel stabiler aussahen...
Nach einer gefühlten Ewigkeit schoss das Kerlchen in einen großen Saal, dessen Wände ebenfalls voller Kristallblumen glitzerten, dann ließ er mich achtlos fallen. Erstaunlicherweise landete ich sanft auf dem Rücken, so als wäre ich in ein Himmelbett gefallen. Wohlig seufzend streckte ich mich und bemerkte dann eine Glaskuppel, durch die ich die Milchstraße so deutlich sehen konnte wie nie zuvor. Die Sterne funkelten um die Wette und ich lag einfach nur da und konnte mich nicht satt sehen an diesem kleinen Wunder.
Doch auf einmal zog etwas, oder vielmehr jemand, an meinem Arm. Abermals fuhr ich erschrocken zusammen. Mist! Mein Widersacher war noch immer da! Wie hatte ich jemanden so Gefährliches in dieser zauberhaften Atmosphäre so schnell verdrängen können? Wahrscheinlich hatte ich gehofft, mein Unterbewusstsein würde ihn für mich beseitigen und mir eine kleine Verschnaufspause gönnen. Nur hatte diese vermeintliche Pause nicht besonders lange angehalten, es war mehr so wie die Ruhe vor dem Sturm. Verdammt, ich versank schon wieder in meinen eigenen Gedanken, dabei sollte ich doch so langsam gelernt haben, dass ich die Welt um mich herum etwas mehr im Blick behalten sollte…
Als der Mann mir nun gegenüber stand und mich aus den eisblauen Augen musterte, schauderte ich. „Was wollen Sie von mir?“, fragte ich und hoffte, dass meine Stimme nicht so verzweifelt klang, wie ich mich fühlte, aber das Zittern darin war wohl kaum zu überhören. Da fing der Fremde laut zu lachen an, bis es von den glänzenden Wänden widerhallte. Als er sich beruhigt hatte, legte er mir väterlich eine Hand auf die Schulter: „Ich möchte nichts von dir. Es ist nur so, dass in unsere Welt nur einmal im Jahrtausend ein Eintags-Mensch eintritt und heute waren es schon drei. Und das auf eine sehr… seltsame Art, möchte ich sagen. Aber du bist die Einzige, die wir rechtzeitig finden konnten. Was mit der ersten Person passiert ist wissen wir nicht, vielleicht gab es irgendeine Störung, und die zweite… tja, die Walusaden waren schneller als wir. Und ich fürchte, wir könnten einen Spion unter uns haben.“
„Hä?“, machte ich verwirrt. Seine Worte ergaben überhaupt keinen Sinn und vor allem konnte ich sie in keinen Kontext einordnen. „Wollen Sie mich verarschen?! Eintags-Mensch, ernsthaft? Und Walu- was bitte?“ Ich schnaubte. So albern konnte mein Unterbewusstsein doch wirklich nicht sein! Der Fremde seufzte: „Das hab ich mir gedacht. Du hast noch nie etwas von Fuyumi gehört, oder?“ Irritiert schüttelte ich den Kopf: „Wer soll das jetzt schon wieder sein?“ „Fuyumi“, antwortete der Mann geheimnisvoll, „das ist das Land der winterlichen Schönheit. Alles, was du hier siehst, das ist Fuyumi.“ Mit einer ausholenden Geste unterstrich er seine Worte und ließ seinen Blick durch den Saal schweifen. Dann erhob er sich und verschwand durch eine Tür, die so sehr mit der Wand verschmolz, dass ich sie nicht bemerkt hätte, wäre sie nicht vor meinen Augen geöffnet worden. Und selbst so fiel es mir schwer, darin mehr zu erkennen als eine undurchdringliche Mauer aus Eis. Doch einen Moment später kehrte der Fremde durch dieselbe Öffnung zurück und hielt mir eine etwas überdimensionierte Schneekugel entgegen. Ehrfürchtig griff ich danach, immer darauf bedacht, sie nicht aus Versehen fallen zu lassen. „In dieser Kugel siehst du das Land der winterlichen Schönheit, wie es zu seinen besten Zeiten gedieh.“, setzte er zu einer Erklärung an, „Heute hat Fuyumi nur noch einen Bruchteil seiner ursprünglichen Größe, seines einstigen Prestiges. Und selbst um dieses letzte Stück, was uns noch geblieben ist, bangen wir jeden Tag ums Neue. Die Walusaden haben uns umzingelt, von allen Seiten angegriffen, uns verwundbar gemacht. Das Land, was einst uns gehörte, ist zerstört, wir nennen es „Melting Heart“. Nichts ist mehr übrig von der ursprünglichen Schönheit des Winters. Ein trister grauer Nebelvorhang überschattet dort die Weite, schottet uns von der Außenwelt ab. Und das bisschen Schnee, was vielleicht noch übrig geblieben ist, ist eine matschige braune Suppe. Allein die Vorstellung daran schmerzt, aber es mit eigenen Augen zu sehen… Das ist… grausam.“ Seine Stimme brach und eine Gänsehaut breitete sich auf meinen Armen aus, aber diesmal nicht wegen der Kälte, sondern weil mich seine Geschichte tief berührte. „Wow“, hauchte ich andächtig, „So viel Fantasie hätte ich meinem Unterbewusstsein gar nicht zugetraut! Was ein kurioser Traum!“ „Traum? Vergiss es Kind, das hier ist die hässliche und doch so wunderschöne Realität, die man das Leben nennt.“, schnaubte der Mann halb belustigt, halb verärgert. Dann machte er eine ausschweifende Armbewegung durch den Raum, während er fortfuhr: „Mag sein, dass dir das alles hier gänzlich unmöglich erscheint, aber nur weil du es nicht kennst, heißt es nicht, dass es nicht wahr wäre. In diesem Leben steckt so viel mehr, als wir uns zu erträumen wagen!“ Stirnrunzelnd dachte ich über seine Worte nach, entschied jedoch, nicht schon wieder ins Grübeln zu verfallen und stattdessen im Hier und Jetzt zu leben.
„Ich bin übrigens Logan, man nennt mich auch den Hüter der Schneehöhlen.“, erklärte der Fremde schließlich, „Ich hätte mich vielleicht ein wenig früher vorstellen sollen, aber dort draußen waren die Bedingungen… nun, sagen wir nicht gerade optimal, und danach ist es wohl einfach untergegangen. Und dein Name ist?“ „Liv“, antwortete ich automatisch, „Freut mich, äh, Sie kennenzulernen.“ Nachdenklich nickte der Mann und murmelte dann langsam vor sich hin: „Liv, Liv wie Schutz und Verteidigung. Ja das passt!“ Irritiert musterte ich Logan und wollte schon nachhaken, was er damit meinte, als er unwillkürlich aufsprang und diesmal energisch befahl: „Komm mit Liv, ich muss dir etwas zeigen. Und uns bleibt nicht besonders viel Zeit!“
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