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Kapitel: | 24 | |
Sätze: | 931 | |
Wörter: | 14.715 | |
Zeichen: | 86.191 |
„Nein! Das glaub ich nicht! Ich fass es einfach nicht, dass du ihm das wirklich so gesagt hast!“, quietschte meine kleine Schwester Ida begeistert in ihr Handy und zappelte dabei aufgeregt auf der Couch herum. Genervt stöhnte ich auf und versuchte sie mit einer Handbewegung aus meinem Zimmer zu verscheuchen, doch leider interessierte sie das herzlich wenig. Mit einem frechen Grinsen im Gesicht streckte sie mir die Zunge raus und kuschelte sich nur noch tiefer in meine Fließdecke und sämtliche Kissen, die auf dem Sofa verteilt lagen. Doch so leicht würde sie mir nicht davon kommen. Mit zwei schnellen Schritten war ich bei ihr und nutzte den Überraschungseffekt, um ihr das Handy aus der Hand zu ziehen. „Eyyy! Livy, lass das!“, kreischte meine Schwester noch, doch es war schon zu spät. Obwohl ich mir sicher war, das Handy soeben noch fest umklammert zu haben, glitt es mir plötzlich wie von Geisterhand gezogen aus dem Griff. Auch der erstaunlich geschickt erscheinende Auffangversuch Idas konnte das Unausweichliche nicht verhindern. Mit einem lauten Knall schlug das Smartphone auf dem Parkettboden in meinem Zimmer auf und wie in Zeitlupe registrierte ich, wie sich meine Schwester bückte, um ihr Handy umzudrehen und die ganze Bescherung zu begutachten. Ich hielt den Atem an, wagte kaum hinzuschauen und konnte doch nicht wegsehen. Wenn das Display kaputt wäre, dann würde ich ordentlich was zu hören bekommen und das nicht zu unrecht. Doch egal was ich auch befürchtet hatte, mit dem, was geschah, hatte ich nicht gerechnet… Entsetzt keuchten Ida und ich synchron auf, als sich über die Risse, die auf dem Handydisplay zu sehen waren, eine Eisschicht zog. Und sie breitete sich immer weiter aus, bildete einen Ring um Idas Handy und hörte dann bei etwa einem Meter Radius ganz abrupt auf zu wachsen. Ohne es bewusst zu bemerken, waren Ida und ich zurückgewichen und starrten nun mit großen Augen aneinander gedrängt auf das Eis. „Was zum…?“, setzte meine Schwester an und ging so vorsichtig in die Hocke, als hätte sie Angst, eine ruckartige Bewegung könne einen Schneesturm auslösen. Mir hatte es den Atem verschlagen. Ich stand wie festgefroren neben der Couch ohne den Blick von der Stelle abwenden zu können, von der sich der Ring aus gefrorenem Wasser ausgebreitet hatte. Dort, wo Idas Handy unter der Eisdecke nur noch zu erahnen war. Mein Kopf war leer, wie in eine Schneeschicht eingepackt, und ich nahm nichts mehr um mich herum wahr. Ida und der Rest meines Zimmers waren in einem schummrigen Nebel verschwunden aus dem leise ein weihnachtliches Glockenspiel zu hören war, doch das alles schien so weit weg zu sein. Wichtig war nur die Eisschicht, in der ich mein Spiegelbild entdeckte. Mit klopfendem Herzen blickte ich mir in die Augen, als die Eis-Liv ihre Hand nach mir ausstreckte, an deren Fingern Ringe aus Schneekristallen glitzerten. Fasziniert machte ich einen Schritt auf sie zu und wollte bereits meine Hand auf die ihre legen, als Ida an meinem Arm zog und mich damit in die Gegenwart zurückholte. „Livy, was zum Teufel ist hier gerade passiert?“, fragte sie atemlos, noch immer mit vor Staunen aufgerissenen Augen. „Ich weiß es nicht“, gab ich mit einem mulmigen Gefühl im Bauch zu, „Aber hast du auch- Ida, nicht!“ Ich versuchte noch, meine Schwester wegzuziehen, doch es war bereits zu spät. Mit einem beherzten Schritt wagte sie sich aufs Eis und bückte sich, um nach ihrem Smartphone zu greifen. Doch in dem Moment, als sie ihre Hand auf die Stelle legte, unter der ich ihr Handy vermutete, war sie plötzlich spurlos verschwunden.
Ich blinzelte, rieb mir über die Augen, und doch tauchte meine Schwester nicht wieder auf, als sei sie plötzlich unsichtbar geworden. Da bekam ich es nun wirklich mit der Angst zu tun. Das konnte doch nicht sein, das war alles so… unecht. „Ida, wo bist du?“, rief ich besorgt und dann lauter: „Ida, das ist wirklich nicht lustig, komm wieder her!“ Aber nichts geschah. Und dann kam mir endlich der erlösende Gedanke: Ich musste träumen, anders war dieses Chaos hier nicht zu erklären, schließlich konnte das im echten Leben doch nicht passieren! Nur warum fühlte sich das alles dann so lebendig an? Verwirrt kniff ich mir in den Oberarm und zuckte zusammen, als ein zwickender Schmerz die Stelle durchfuhr. Irritiert runzelte ich die Stirn, schüttelte den Kopf und rieb mir über den Arm. Und dann stieß ich ein irres Lachen aus. Wenn ich schon so wirres Zeug träumte, dann wollte ich wissen, was mein Unterbewusstsein mir noch zu bieten hatte. Denn das hier war ein Traum, es konnte nur ein Traum sein, Schmerz hin oder her, da war ich mir todsicher. In einem Anflug von Kühnheit trat ich aufs Eis und imitierte die Haltung meiner kleinen Schwester.
Plötzlich befand ich mich in einem Tunnel aus gefrorenem Schnee. Ein bisschen enttäuschte mich mein Unterbewusstsein schon, hätte der Übergang aus meinem Zimmer nicht etwas spannender sein können? Andererseits war das im Traum doch meistens so, auf einmal war man übergangslos und ohne Vorwarnung in einer anderen Umgebung und niemand schien sich daran zu stören. Ein weiteres Indiz dafür, dass ich bloß luzid träumte.
Erschrocken quietschte ich auf, als sich der Tunnel aus Eis plötzlich um mich herum zu drehen begann. Zunächst langsam, doch dann immer schneller und schneller. Reflexartig kniff ich die Augen zusammen, um nicht vor Schwindel zusammenzubrechen und stellte erleichtert fest, dass sich die Stelle unter meinen Füßen komischerweise keinen Zentimeter vom Fleck zu bewegen schien. Immerhin wurde ich von dieser schier unendlich wirkenden Kraft also nicht ins Weltall geschleudert. Oder wohin auch immer. Als ich nach einigen Sekunden meine Augenlider ein ganz klein wenig öffnete, schien die Drehung aufgehört zu haben. Stattdessen blickte ich auf eine Wand voller kleiner Kristallblumen. Beeindruckt sah ich mich erneut um. Der ganze Tunnel war mit winzigen glitzernden Verzierungen übersäht, die sich nahtlos aneinander reihten. Aha! Mein Unterbewusstsein hatte also doch etwas drauf! Ein kurzer Blick über die Schulter sagte mir, dass sich der Tunnel hinter mir, soweit ich es im Glanz der Kristalle erspähen konnte, bis an den Horizont erstreckte. Woher ich gekommen war wusste ich nicht mehr, mein Zimmer war verschwunden.
Neugierig lief ich los, gespannt was mich als nächstes erwarten würde. Doch bald schon merkte ich, wie mir die Kälte unter die Haut kroch. Zitternd schlang ich die Arme um meinen Oberkörper, doch es nutzte alles nichts, meine Finger fühlten sich wie Eisklötze an und meine Zähne klapperten ohne Unterlass. Ach wie sehnte ich mich jetzt nach einer heißen Schokolade und einer kuscheligen warmen Decke… Apropos Decke, jetzt wäre es vielleicht an der Zeit aufzuwachen, vermutlich war meine Bettdecke nach unten gefallen und meine Füße waren schon eiskalt. Aber warum musste sich das im Traum so echt anfühlen und wieso schickte mich mein Unterbewusstsein an den Nordpol? Und vor allem, weshalb stand ich noch immer hier, in dieser kalten Höhle? So langsam hatte ich die Nase voll! Sollte ich meinen Traum nicht steuern können, jetzt da ich schon einmal luzid träumte?
So in meine Gedanken vertieft, bemerkte ich erst zu spät, wie plötzlich eine bleiche Gestalt aus einem Nebengang trat und mit eiskalten Fingern nach meinem Arm griff…
Ich kreischte auf, als sich der Klammergriff um meinen Unterarm legte, doch mein Schrei wurde von einer behandschuhten Hand gedämpft. Panik ergriff mich und ich tat alles in meiner Macht stehende, um mich zu befreien. Allerdings schien das den Mann nicht zu stören, als würde er die Schmerzen, die ich ihm mit meinen Tritten zufügen musste, nicht spüren. Und auch die Kraft, mit der er mich umklammerte, hätte ich diesem schmächtigen kleinen Kerlchen überhaupt nicht zugetraut. Und doch, oder vielleicht gerade deswegen, hatte er etwas Bedrohliches an sich. Aber im Reich der Träume war ja bekanntlich alles möglich. Leider musste ich gerade jedoch dabei zusehen, wie sich das Ganze in einen Albtraum verwandelte und ich hatte wirklich keine Ahnung, wie ich dieses luzide Träumen beeinflussen konnte oder es wenigstens schaffte, aufzuwachen…
Unser kleiner Kampf dauerte nur wenige Augenblicke und ich musste einsehen, dass mein Widersacher die Oberhand hatte. Er warf mich wie einen Kartoffelsack über seine Schulter und flitzte dann mit einer unglaublichen Geschwindigkeit durch schmale Gänge und nach der dritten Gabelung hatte ich hoffnungslos die Orientierung verloren. Dafür bemerkte ich etwas anderes, etwas, das mich ein wenig verunsicherte, mir jedoch auch erklärte, warum das Männlein eben so leichtes Spiel mit mir gehabt hatte. Meine Körperstatur war samt Kleidung auf die Hälfte meiner ursprünglichen Größe geschrumpft, meine Arme baumelten wie Streichhölzer den schlanken Rücken des Männleins herunter und ich schauderte bei dem Gedanken daran, dass meine Beine vermutlich nicht viel stabiler aussahen...
Nach einer gefühlten Ewigkeit schoss das Kerlchen in einen großen Saal, dessen Wände ebenfalls voller Kristallblumen glitzerten, dann ließ er mich achtlos fallen. Erstaunlicherweise landete ich sanft auf dem Rücken, so als wäre ich in ein Himmelbett gefallen. Wohlig seufzend streckte ich mich und bemerkte dann eine Glaskuppel, durch die ich die Milchstraße so deutlich sehen konnte wie nie zuvor. Die Sterne funkelten um die Wette und ich lag einfach nur da und konnte mich nicht satt sehen an diesem kleinen Wunder.
Doch auf einmal zog etwas, oder vielmehr jemand, an meinem Arm. Abermals fuhr ich erschrocken zusammen. Mist! Mein Widersacher war noch immer da! Wie hatte ich jemanden so Gefährliches in dieser zauberhaften Atmosphäre so schnell verdrängen können? Wahrscheinlich hatte ich gehofft, mein Unterbewusstsein würde ihn für mich beseitigen und mir eine kleine Verschnaufspause gönnen. Nur hatte diese vermeintliche Pause nicht besonders lange angehalten, es war mehr so wie die Ruhe vor dem Sturm. Verdammt, ich versank schon wieder in meinen eigenen Gedanken, dabei sollte ich doch so langsam gelernt haben, dass ich die Welt um mich herum etwas mehr im Blick behalten sollte…
Als der Mann mir nun gegenüber stand und mich aus den eisblauen Augen musterte, schauderte ich. „Was wollen Sie von mir?“, fragte ich und hoffte, dass meine Stimme nicht so verzweifelt klang, wie ich mich fühlte, aber das Zittern darin war wohl kaum zu überhören. Da fing der Fremde laut zu lachen an, bis es von den glänzenden Wänden widerhallte. Als er sich beruhigt hatte, legte er mir väterlich eine Hand auf die Schulter: „Ich möchte nichts von dir. Es ist nur so, dass in unsere Welt nur einmal im Jahrtausend ein Eintags-Mensch eintritt und heute waren es schon drei. Und das auf eine sehr… seltsame Art, möchte ich sagen. Aber du bist die Einzige, die wir rechtzeitig finden konnten. Was mit der ersten Person passiert ist wissen wir nicht, vielleicht gab es irgendeine Störung, und die zweite… tja, die Walusaden waren schneller als wir. Und ich fürchte, wir könnten einen Spion unter uns haben.“
„Hä?“, machte ich verwirrt. Seine Worte ergaben überhaupt keinen Sinn und vor allem konnte ich sie in keinen Kontext einordnen. „Wollen Sie mich verarschen?! Eintags-Mensch, ernsthaft? Und Walu- was bitte?“ Ich schnaubte. So albern konnte mein Unterbewusstsein doch wirklich nicht sein! Der Fremde seufzte: „Das hab ich mir gedacht. Du hast noch nie etwas von Fuyumi gehört, oder?“ Irritiert schüttelte ich den Kopf: „Wer soll das jetzt schon wieder sein?“ „Fuyumi“, antwortete der Mann geheimnisvoll, „das ist das Land der winterlichen Schönheit. Alles, was du hier siehst, das ist Fuyumi.“ Mit einer ausholenden Geste unterstrich er seine Worte und ließ seinen Blick durch den Saal schweifen. Dann erhob er sich und verschwand durch eine Tür, die so sehr mit der Wand verschmolz, dass ich sie nicht bemerkt hätte, wäre sie nicht vor meinen Augen geöffnet worden. Und selbst so fiel es mir schwer, darin mehr zu erkennen als eine undurchdringliche Mauer aus Eis. Doch einen Moment später kehrte der Fremde durch dieselbe Öffnung zurück und hielt mir eine etwas überdimensionierte Schneekugel entgegen. Ehrfürchtig griff ich danach, immer darauf bedacht, sie nicht aus Versehen fallen zu lassen. „In dieser Kugel siehst du das Land der winterlichen Schönheit, wie es zu seinen besten Zeiten gedieh.“, setzte er zu einer Erklärung an, „Heute hat Fuyumi nur noch einen Bruchteil seiner ursprünglichen Größe, seines einstigen Prestiges. Und selbst um dieses letzte Stück, was uns noch geblieben ist, bangen wir jeden Tag ums Neue. Die Walusaden haben uns umzingelt, von allen Seiten angegriffen, uns verwundbar gemacht. Das Land, was einst uns gehörte, ist zerstört, wir nennen es „Melting Heart“. Nichts ist mehr übrig von der ursprünglichen Schönheit des Winters. Ein trister grauer Nebelvorhang überschattet dort die Weite, schottet uns von der Außenwelt ab. Und das bisschen Schnee, was vielleicht noch übrig geblieben ist, ist eine matschige braune Suppe. Allein die Vorstellung daran schmerzt, aber es mit eigenen Augen zu sehen… Das ist… grausam.“ Seine Stimme brach und eine Gänsehaut breitete sich auf meinen Armen aus, aber diesmal nicht wegen der Kälte, sondern weil mich seine Geschichte tief berührte. „Wow“, hauchte ich andächtig, „So viel Fantasie hätte ich meinem Unterbewusstsein gar nicht zugetraut! Was ein kurioser Traum!“ „Traum? Vergiss es Kind, das hier ist die hässliche und doch so wunderschöne Realität, die man das Leben nennt.“, schnaubte der Mann halb belustigt, halb verärgert. Dann machte er eine ausschweifende Armbewegung durch den Raum, während er fortfuhr: „Mag sein, dass dir das alles hier gänzlich unmöglich erscheint, aber nur weil du es nicht kennst, heißt es nicht, dass es nicht wahr wäre. In diesem Leben steckt so viel mehr, als wir uns zu erträumen wagen!“ Stirnrunzelnd dachte ich über seine Worte nach, entschied jedoch, nicht schon wieder ins Grübeln zu verfallen und stattdessen im Hier und Jetzt zu leben.
„Ich bin übrigens Logan, man nennt mich auch den Hüter der Schneehöhlen.“, erklärte der Fremde schließlich, „Ich hätte mich vielleicht ein wenig früher vorstellen sollen, aber dort draußen waren die Bedingungen… nun, sagen wir nicht gerade optimal, und danach ist es wohl einfach untergegangen. Und dein Name ist?“ „Liv“, antwortete ich automatisch, „Freut mich, äh, Sie kennenzulernen.“ Nachdenklich nickte der Mann und murmelte dann langsam vor sich hin: „Liv, Liv wie Schutz und Verteidigung. Ja das passt!“ Irritiert musterte ich Logan und wollte schon nachhaken, was er damit meinte, als er unwillkürlich aufsprang und diesmal energisch befahl: „Komm mit Liv, ich muss dir etwas zeigen. Und uns bleibt nicht besonders viel Zeit!“
Der Mann führte mich zu der gleichen Öffnung, durch die er eben verschwunden war, schirmte sie mit seinem Körper jedoch so ab, dass ich nicht sehen konnte, wie er sie aufmachte. Mit einem etwas unguten Gefühl starrte ich auf Logans Rücken und dachte darüber nach, was mich dort drinnen wohl erwarten mochte. Was, wenn das alles eine Falle war? Wenn er mich bloß hier hinein locken wollte? Andererseits hätte er da wohl auch einfachere Möglichkeiten gehabt. Schaudernd erinnerte ich mich an den Moment zurück, als er mich auf dem Gang aufgegabelt und wie einen Kartoffelsack über seine Schulter geworfen hatte, als wäre ich so leicht wie eine Feder.
Nachdem die Tür sich endlich geöffnet hatte, folgte ich dem Mann vorsichtig über die Schwelle und was ich sah raubte mir den Atem. Die Schönheit hier war noch um ein Vielfaches faszinierender als in dem großen Saal, jedoch ohne protzig oder angeberisch zu wirken. Im Gegenteil, die filigranen Verzierungen an den Wänden und die handgeschnitzten Engelchen aus Eis, die an den sonst eher schlichten Säulen angebracht waren, hätten nicht natürlicher wirken können. Doch das Schönste in dem Raum war die glitzernde Glaskugel, die auf einem Tisch in der Mitte stand und fast drei Meter in die Höhe reichte. Von ihr ging ein sanftes Leuchten aus, sodass alles in ein warmes Licht getaucht wurde und ich spürte, dass dieser Ort voller Geheimnisse war.
Ehrfürchtig schritten Logan und ich über einen Teppich aus Eisblumen in Richtung dieser Kugel, die mich magisch anzog. „Das“, erklärte mein Begleiter andächtig, „ist der Kessel der Weisheit“. „Kessel der Weisheit?“, wiederholte ich flüsternd, „Und was kann der so?“ Der Mann lächelte wehmütig: „Einst beschützte er unser Land. Ähnlich wie in der Schneekugel, war auch hierin ganz Fuyumi zu sehen, nur viel viel größer. Doch wenn von irgendeiner Stelle Gefahr ausging, in welcher Form auch immer, dann flackerte diese hell, sodass wir gewarnt waren und uns verteidigen konnten. Aber eines Tages, von einer Sekunde auf die andere, wurde die Glaskugel plötzlich trüb, als hätte sich ein Schleier über unser Land gelegt. Das waren die Walusaden, die nicht nur von einer Seite angriffen, sondern uns umzingelten. Wohin man auch sah, sie waren überall und rückten immer näher. Wir mussten uns zurückziehen, schafften es aber wenigstens, einen kleinen Teil Fuyumis zu beschützen. Nun leben wir jeden Tag in der Angst, uns könnte auch dieser letzte Bruchteil genommen werden und trotz der Jahrtausende, die seit diesem Angriff vergangen sind, sind wir noch immer sehr geschwächt. Ja, das Leben hier hat sich wirklich stark verändert; anstatt in Freiheit zu leben, verstecken wir uns hier, wie auf einer Festung. Doch so lange auch nur ein Fleckchen von Fuyumi existiert, gibt es noch Hoffnung.“ „Das ist ja schrecklich“, krächzte ich tonlos. „Und was ist dann mit dem Kessel der Weisheit geschehen?“ „Der Nebel in der Kugel verdichtete sich immer mehr, bis nur noch eine milchig trübe Suppe darin zurückblieb. Jahrtausendelang regte sich darin nichts mehr. Doch heute, etwa zu der Zeit, als das erste von euch Eintags-Menschen in unsere Welt eingetreten ist, wurde die Kugel plötzlich wieder glasklar. Ich bin mir sicher, dass das irgendwie miteinander zusammenhängt. Und dass wir nur dich aufgabeln konnten, bereitet mir große Sorgen.“
Ohne zu wissen wieso, streckte ich bei Logans Worten meine Hand nach der Kugel aus. „Nein Liv, tu das nicht!“, hörte ich den Mann gerade noch panisch rufen, doch ich überwand bereits wie von selbst den letzten Meter zwischen mir und dem Kessel der Weisheit. Als meine erhitzte Haut auf das kühle Glas traf, entluden sich plötzlich helle Blitze, die mir die Kraft aus meinem Körper zu entreißen drohten.
Verkrampft versuchte ich, die Verbindung zu kappen, doch es gelang mir nicht. Die Energie war zu groß, viel zu groß. Wie aus weiter Ferne hörte ich Logans überraschtes Aufkeuchen, dann meinen Namen, aber meine gesamte Konzentration war auf den Kessel der Weisheit gerichtet.
Und dann erloschen die Blitze auf einmal genauso schnell, wie sie gekommen waren; stattdessen erkannte ich um mich herum eine Wand aus Glas. Schlagartig wurde mir bewusst, dass ich irgendwie in die Kugel hinein geraten war. Erschrocken drehte ich mich im Kreis, doch obwohl man von außen durch den Weisheitskessel hindurchschauen konnte, konnte ich Logans zierliche Gestalt hinter der Scheibe nur wage erahnen. Prompt fiel mir die Entführung wieder ein und seine grobe Art, mich hierher zu bringen. Sollte es nun doch eine Falle gewesen sein? Aber wie passte das dann mit der Geschichte zusammen, die er mir erzählt hatte, und seiner Warnung, als ich die Kugel berührt hatte? Nein, da musste mehr dahinterstecken, als ein bloßes Kidnapping.
„Liiiiivyyy! Hilfe!“, hörte ich da plötzlich einen angstverzerrten Schrei hinter mir. Eiskalt lief es meinen Rücken hinunter, als ich die Stimme erkannte, noch bevor ich mich ganz umgedreht hatte. Ida.
In der Mitte des Kessels der Weisheit stand ein Eisblock, in jede Richtung etwa einen Meter lang; und dort drinnen erkannte ich meine Schwester in Miniatur-Format in einer Höhle. Ich sah grade noch, wie sie, an Händen und Füßen gefesselt, durch eine Öffnung geschleift wurde, die sich unmittelbar hinter ihr wieder verschloss, als wäre sie bloß meiner Fantasie entsprungen. Irgendwas an dem Bild, das sich mir nun bot, kam mir seltsam vertraut vor, doch ich konnte nicht sagen, was es war. Die Höhle, die mit ihren rauen, schmucklosen Wänden im krassen Kontrast zu den detaillierten, glitzernden Wandverzierungen Fuyumis stand, weckte in mir eine grobe Erinnerung, doch ich bekam den Gedanken nicht zu fassen. Es war auch nicht der hohle Raum an sich oder die trostlosen Mauern, die dieses Déjà-vu-Gefühl hinterließen, sondern irgendwas anderes, etwas Unscheinbares, das ich unterbewusst aufgenommen hatte. Doch je mehr ich darüber nachdachte, desto mehr entglitten mir die Bilder.
Verzweifelt kniete ich mich vor den Eisblock, in dem die Aufnahme der Höhle nun verblasste, und flehte meine Schwester an, noch einmal zurückzukommen, mir einen Hinweis zu geben, wo ich sie finden konnte, um ihr zu helfen. Doch nichts rührte sich, diesmal blieb alles still, bis ich in dem Eisblock nur noch meine eigene Spiegelung sah. Eine bleiche ausgelaugte Gestalt, deren Haare ihr in feuchten Strähnen zerzaust über die Schultern hingen. Dann eine einzelne Träne, die sich aus ihrem Auge stahl, über ihre Wange hinab kullerte und auf halben Weg erfror. Ihr folgten weitere gefrierende Tränen, bis sich ein ganzer Strom über sie ergoss und sie in Eis einmauerte.
Zitternd versuchte ich, mich wieder aufzurichten, doch ich war zu schwach. Meine Beine waren taub und mein Körper fühlte sich an, als wäre er bloß noch ein Schatten seiner selbst. Eine leere, leblose Hülle ohne Gefühle oder Gedanken, ohne eine Persönlichkeit. Verstaubt in einer Ecke, in die keiner mehr schaut, weil dort nur noch altes Gerümpel wartet, Erinnerungen, die schon tief begraben sind. Widerstandslos gab ich auf, kauerte mich auf den Boden und rollte mich dicht an den Eisblock geschmiegt zu einer Kugel zusammen, um Ida wenigstens für ein paar Sekunden noch einmal nahe zu sein…
Ich lag einfach nur da, Kälte umfing mich und ich spürte, wie mir nach und nach der Lebenswille entglitt. Wie sich eiskalte Arme um mich legten und mir quälend langsam das Leben ausgehaucht wurde. Keine Ahnung, wie lange ich bereits da gelegen hatte, als hinter mir plötzlich ein lautes Knirschen und Splittern ertönte. Unfähig mich zu rühren, blieb ich am Boden liegen, doch ich bemerkte überrascht, wie die eisige Kälte Stück für Stück vor mir zurückwich. Und auf einmal landeten Glaskristalle auf meiner Haut. Ich sah, wie eines davon einen blutigen Schnitt in meine Hand riss, aber es schmerzte nicht, als geschähe das Ganze in einer anderen Dimension.
Meine Augen fielen mir zu und ich bekam gerade noch mit, wie ich von warmen, schützenden Händen vorsichtig aufgehoben wurde, bevor ich in einen tiefen Schlaf fiel.
Irgendwann, vielleicht waren nur Sekunden vergangen, vielleicht waren es aber auch mehrere Monate gewesen, ich hätte es nicht sagen können, wurde ich von einem süßlichen Geschmack nach Schokolade im Mund geweckt. „Mmmmh“, seufzte ich wohlig, „Noch mehr bitte!“ Ein leises Lachen erklang, dann hörte ich die mir nun schon so vertraute Stimme Logans schmunzeln: „Du kannst deine Augen öffnen Liv und dich aufsetzen. Und dann könntest du die Tasse vielleicht selbst in die Hand nehmen, ich bin noch nicht so geübt darin, Eintags-Menschen zu füttern.“ Irritiert fuhr ich hoch: „Warte, was-? Wieso-? Wo bin-? Was um alles in der Welt ist los mit mir? Mit allem hier? Und wo verdammt nochmal ist Ida?“ „Hier, trink das erstmal und wärm dich ein bisschen auf, in dem Zustand bist du uns keine Hilfe. Und deine Wunden müssen auch noch versorgt werden.“, sagte der Mann ruhig und drückte mir den Becher heiße Schokolade in die Hand. „Moment, Wunden? Ich hab doch gar keine Schmerzen. Wieso-? Oh Gott, wie sehen meine Hände aus!?“ „In Fuyumi gibt es keinen körperlichen Schmerz.“, erklärte Logan mir mitfühlend, „Das ist zwar oft recht praktisch, kann aber auch gefährlich werden. Denn der Körper leidet trotzdem, wie in deiner Welt auch, verstehst du? Wenn ich hier meine Hand auf den Herd lege, merke ich nicht, dass ich mich immer schlimmer verbrenne. In deiner Welt, würdest du die Hand sofort zurückziehen, nicht wahr? Und das ist nur ein einfaches Beispiel, was ist mit inneren Verletzungen? So etwas kann schnell lebensbedrohlich werden.“ So hatte ich darüber noch gar nicht nachgedacht, aber Logans Sätze ergaben Sinn. Und es erklärte auch, wieso ihn meine Tritte und Bisse während meiner Entführung so wenig gestört hatten.
Einige Minuten später, nachdem ich die Tasse heiße Schokolade schweigend geleert hatte, forderte der Mann mich auf, aufzustehen. Ich fühlte mich wie neu, als ich einen Fuß vor den anderen setzte, doch ich behielt meine heimliche Vermutung, dass Logan irgendein heilsames Wundermittel unter das Getränk gemischt hatte, für mich. Nachdem dieser sich mit eigenen Augen davon überzeugt hatte, dass ich fit genug war, führte er mich durch eine Tür in den großen Saal mit der Glaskuppel, die sich der Milchstraße entgegen streckte. Doch nun stand in der Mitte des Raums ein Halbkreis aus neun Stühlen aus Eis, einer schöner als der andere. Wenige Augenblicke später ließen sich neun ernst dreinschauende Gestalten darauf nieder. Die Frau, die in der Mitte saß, ergriff zuerst das Wort: „Schwere Zeiten liegen hinter uns, schwere Zeiten liegen vor uns. Doch es gibt auch Hoffnung. Hoffnung, die heute, hier und jetzt vor uns steht.“ Gebannt folgte ich den Worten der Frau, als sich auf einmal alle Blicke auf mich richteten.
„Ich- Was? Moment mal!“, stotterte ich verwirrt, als Logan mich sanft vor die Gestalten schob. Es fühlte sich an, als stünde ich in einem Gerichtssaal, in dem fremde Menschen, die ich noch nie zuvor gesehen hatte, über mein zukünftiges Schicksal richten sollten. Anscheinend war mir meine Besorgnis durchaus anzusehen, denn die Frau in der Mitte setzte nun ein mitfühlendes Lächeln auf, was allerdings nicht wirklich zu meiner Beruhigung beitrug, eher im Gegenteil. Nervös knetete ich meine Finger, als diesmal der Mann am äußersten Ende die Stimme erhob: „Ida, die Seherin, das ist deine Schwester oder?“ „Wieso, was ist mir ihr? Und warum die Seherin?“, fragte ich verwirrt und prompt fiel mir der Eisblock in der Glaskugel wieder ein. Oh Gott! Wie hatte ich das Erlebte so schnell verdrängen können? Mit weit aufgerissenen Augen starrte ich sie an, als mir klar wurde, dass hier irgendetwas ganz und gar faul war. „Ida- ist sie in Gefahr?“, brachte ich flüsternd hervor und meine Gedanken überschlugen sich. Das alles war so surreal, wie war ich in diese Fantasy-Horrorstory hineingeraten?
„Wir wissen es nicht.“, antwortete Logan und wandte sich mir zu: „Wir wissen nur, dass sie eine besondere Gabe hat, so wie du unser Schutz, unsere Verteidigung bist, ist sie eine Seherin. Aber wenn wir mit unserer Vermutung richtig liegen, dass sie von den Walusaden aufgegriffen wurde, ja, dann könnte es für sie durchaus gefährlich werden. Deshalb ist es wichtig, dass du uns sagst, was dir der Kessel der Weisheit verraten hat.“ Nun wurde es ganz still, sogar die leise Musik, die im Hintergrund gelaufen war, verstummte und alle Blicke richteten sich erneut erwartungsvoll auf mich. Zuerst starrte ich nur mit gerunzelter Stirn zurück, doch dann gab ich nach und nickte. Alleine konnte ich Ida nicht helfen und ich hatte keine Ahnung, was diese Eisblock-Vision zu bedeuten hatte. Irgendjemandem musste ich vertrauen und bisher hatten sie mir keinen Grund dazu gegeben, das nicht zu tun. Also fing ich an zu erzählen. Ich redete und redete ohne unterbrochen zu werden, die ganze ungeteilte Aufmerksamkeit lag auf mir. Erst als ich meinen Bericht mit folgenden Worten schloss, brach ein lauter Tumult aus: „Aber da war noch irgendetwas. Ich werde das Gefühl einfach nicht los, dass ich etwas übersehen habe und mir fällt einfach nicht ein, was es war. Aber vielleicht, wenn ich nochmal in die Glaskugel gehe, vielleicht spricht sie dann mit mir.“ Die heftigen Diskussionen, die auf einmal losbrachen, verstummten genauso plötzlich, wie sie begonnen hatten, als die Frau in der Mitte zweimal laut in die Hände klatschte und es von den kristallenen Wänden zurück hallte. „Nein.“, sagte sie schlichtweg, „Du kannst diese Kugel nicht nochmal betreten. Hast du vergessen, wie knapp du dem Tod entkommen bist, wie viel Energie dich das alles gekostet hat? Tot hilfst du uns auch nicht weiter und außerdem, der Kessel der Weisheit ist zerstört.“ „Zerstört?“, hauchte ich betroffen. „Zerstört.“, bestätigte Logan, „Ich wusste auf die Schnelle nicht, wie ich dich sonst aus der Kugel rausholen sollte und die Zeit war sowieso ganz schön knapp.“ Mit Blick auf die Männer und Frauen, die im Halbkreis vor uns saßen fügte er noch hinzu: „Es tut mir wirklich unfassbar leid.“ Der Mann am rechten Ende sog scharf die Luft ein und die Stimmung änderte sich merklich, als eine Frau auf der linken Seite zu einer Antwort ansetzte.
„Wir hatten wahnsinniges Glück, dass du den Kessel der Weisheit zerstört hast. Die Vermutung, wir hätten einen Spion unter uns, war nur halb richtig. Er steckte in der Glaskugel.“ „In der Kugel?“, keuchten Logan und ich gleichzeitig. „Ja“, bestätigte die Frau, „Als du uns von dem Zwischenfall mit Liv erzählt hast, haben unsere Experten Verdacht geschöpft. So viel Energie hätte ihr eigentlich nicht entzogen werden dürfen. Der Kessel der Weisheit ist mächtig, ja, aber nicht bösartig. Also haben wir die Reste ins Labor gebracht. Die Untersuchungen haben ergeben, dass einige Informationsstränge gestrichen, hinzugefügt oder sogar falsch miteinander verknüpft wurden. Daten wurden kopiert und gestohlen, aber alles war so unauffällig arrangiert, dass wir nicht stutzig werden konnten. Bis jetzt. Wir gehen davon aus, dass die Walusaden die Kugel manipuliert haben. Wie das passieren konnte, ist Gegenstand der derzeitigen Untersuchungen. Die Spuren wurden allerdings ausgesprochen gut verwischt.“ „Okayyy…“, meinte ich gedehnt, „Und was ist dann jetzt mit all dem, was ich im Weisheitskessel gesehen habe?“ „Das wissen wir auch nicht so genau.“, antwortete ein Mann auf der rechten Seite, „Es ist möglich, dass die Walusaden dir diese Vision gesendet haben, um dich irgendwohin zu locken oder falsche Spuren zu legen. Ich, als ehemaliger Forscher, halte das aber für eher unwahrscheinlich. Meiner Meinung nach, ist bei eurem Eintritt nach Fuyumi etwas geschehen, womit auch die Walusaden nicht rechnen konnten, außer sie hätten bereits zuvor Informationen bekommen, die uns vorenthalten wurden. Davon gehe ich zurzeit aber nicht aus, denn ansonsten wärst du wahrscheinlich auch nicht hier, sondern von den Walusaden in Empfang genommen worden. Wenn meine Theorie stimmt, habt ihr der Kugel neue Macht verliehen. Diese könnte es ihr ermöglicht haben, von innen heraus gegen sich selbst zu kämpfen und damit gegen die Walusaden. Das würde auch die wahnsinnige Energie erklären, die bei deiner Berührung entwichen ist und auch warum sich der trübe Nebel im Innern der Kugel bei eurem Eintritt nach und nach in Luft auflöste. In dem Fall wäre es allerdings wahrscheinlich, dass deine Schwester wirklich in Gefahr schwebt. Ob die Walusaden von dem Hilferuf wissen, kann ich nicht sagen, genauso wenig, was dein gefrierendes Spiegelbild am Ende in dem Eisblock zu suchen hatte. Aber ich möchte ehrlich zu dir sein. Es könnte sein, dass der Kessel dich vor irgendetwas zu warnen versucht, oder aber, dass unsere Widersacher die Kontrolle in dem Moment zurück erlangten und versuchten, dich unschädlich zu machen. In jedem Fall schwebst du in akuter Gefahr. Wir können von Glück reden, dass Logan es rechtzeitig geschafft hat, die Verbindung zu kappen und dich aus der Kugel zu befreien. Nicht auszudenken, was alles hätte passieren können!“
Müde sackte ich in mich zusammen. Erst jetzt fiel mir auf, wie sehr mich das alles erschöpfte. Erst die Sache mit dem Kessel der Weisheit, die ich noch immer nicht so richtig verarbeitet hatte. Und jetzt die ganzen Erklärungen, die doch nichts erklären konnten und mir nur noch mehr Angst machten. Aber die meisten Sorgen bereitete mir meine Schwester. Wie sollte ich sie finden, wenn ich noch nicht mal mit Sicherheit wusste, ob die Vision eine Falle oder ein Hilferuf gewesen war? Oder vielleicht sogar beides. Aber eins konnte ich mit Sicherheit sagen. Ich würde Ida nicht alleine irgendwo krepieren lassen. Wer wusste schon, was die Walusaden mit ihr anstellten. Wenn irgendjemand sterben musste, dann sollte ich es sein, immerhin war ich Schuld am ganzen Schlamassel. Hätte ich doch nicht das Handy meiner Schwester geklaut. Hätte ich es doch nicht fallen gelassen. Hätte ich Ida davon abgehalten, aufs Eis zu gehen. Hätte, hätte, hätte.
Erschrocken fuhr ich zusammen, als ein Schatten, der um meine Beine strich, mich aus meinen trüben, sinnlosen Gedanken holte…
Als ich sah, dass es bloß eine weiße Katze gewesen war, die mich so in Schrecken versetzt hatte, musste ich unwillkürlich lächeln. Gedankenverloren fuhr ich sanft über ihr weiches Fell. „Wo kommst du denn her, meine Süße?“, wollte ich wissen und zuckte irritiert zusammen, als mir ein leises Stimmchen in meinem Kopf in einem weichen Sing-Sang antwortete:
„Dort, wo einst Schnee und Eis das Lang überzog,
Dort, wo sich die alte Fichte im Winde bog,
Dort, wo Eiszapfen von den Zweigen hingen,
Und heute die Walusaden ihre Lieder singen.
Dort gehet heut noch vor Geisterstund‘ hin,
Um den Sieg davonzutragen, der verloren schien.
Doch seid gewarnt:
Schafft ihr es nicht,
So erlischt das Licht.“
Überrascht riss ich die Augen auf, als das Kätzchen sich schüttelte und streckte und anschließend einfach mitten durch die Wand davon stolzierte. „Moment mal!“, rief ich verwirrt, „Was war das?“ „Was war was?“, hörte ich da auf einmal Logans vertraute Stimme hinter mir. Ich blinzelte, als ich auf einmal wieder all die Menschen um mich herum wahr nahm, die noch immer in einem Halbkreis vor mir saßen. „Die Katze, die gerade durch die Wand dort verschwunden ist.“, antwortete ich und mir wurde noch im gleichen Moment bewusst, wie bescheuert das alles klang. Prompt wurde ich zweifelnd, ungläubig und verwirrt, aber auch neugierig angeschaut. „Eine Katze also.“, sagte die Frau in der Mitte langsam, „Und was war so besonders an dieser Katze? Ich meine, diese Tiere gibt es hier genauso wie in eurer Welt und es wird wohl kaum das erste Mal gewesen sein, dass du eines gesehen hast. Warum bist du dann aber so aufgewühlt?“ Unruhig verlagerte ich mein Gewicht von einer Seite auf die andere, als ich antwortete. Jetzt würden mich wohl alle für vollkommen durchgeknallt halten: „Naja, erstens hat offensichtlich keiner von Ihnen die Katze gesehen, sondern nur ich. Und ich habe Sie ebenfalls komplett ausgeblendet. Zweitens ist das Tierchen einfach durch die Wand gelaufen. Ich meine, ich weiß, dass das eigentlich nicht funktionieren dürfte, aber ich weiß auch, was ich gesehen habe. Und drittens-“, ich schluckte, jetzt kam der bescheuertste Teil, „Drittens hat sie mit mir geredet. Also ihre Stimme war in meinem Kopf, aber irgendwie wusste ich, dass sie es war, die gesprochen hat.“ Ohje, ich hätte wohl lieber nichts gesagt, wenn ich nicht für vollkommen verrückt abgestempelt werden wollte. Denn genau so schauten mich die Männer und Frauen mir gegenüber an. Nur Logan runzelte ernst die Stirn und fragte leise: „Und was genau hat dir diese Katze gesagt?“
„Ich weiß nicht mehr genau.“, antwortete ich verblüfft, „Auf jeden Fall irgendwas, wo wir heute noch vor Mitternacht hingehen sollen. Und es kam eine Kiefer darin vor, oder war es eine Fichte? Und von singenden Walusaden hat sie etwas gesagt. Und das wir gewinnen müssen, weil ansonsten das Licht ausgeht. Aber wobei wir siegen sollen und welches Licht sie meint, davon hat sie nichts gesagt.“
Auf einmal schien auch bei den anderen das Interesse wieder geweckt zu sein. Logan sog scharf die Luft ein, als sich die Frau in der Mitte gerade aufrichtete und sichtlich nervös wissen wollte: „Die alte Fichte? Und die Alienor, unser Lebenslicht?! Himmel, Liv, wie hättest du davon wissen können? Und Logan, was zur Hölle weißt du über diese verdammte Katze?“
„Viel weiß ich nicht.“, antwortete Logan ruhig, „Nur, dass es eine Legende gibt, die von einer weißen Katze handelt und die besagt, dass diese Fuyumi vor so sechzigtausend Jahren vor einem großen Höhlenungeheuer gerettet haben soll. Ich habe das alles immer für ein Kindermärchen gehalten, das wir Hüter der Höhlen unseren Kindern erzählen, aber jetzt… Die Geschichte von Liv passt gut damit zusammen. Auch damals soll sich die Katze nur wenigen Auserwählten gezeigt haben, auch damals soll sie genauso plötzlich aufgetaucht wie verschwunden sein und auch damals soll sie in Rätseln gesprochen haben. Ich weiß selbst wie bescheuert das klingt, aber ich glaube, das könnte ein Zeichen gewesen sein…“
Keiner sagte etwas, niemand ging auf das ein, was Logan gerade erzählt hatte. Jeder schien in seine eigenen Gedanken versunken, versuchte sich einen Reim auf das zu machen, was passiert war. Und ich stand daneben und war sprachlos. Wie war es möglich, dass hier alle seelenruhig herum saßen und über irgendeine Legende diskutierten, während meine Schwester womöglich in Lebensgefahr schwebte? Entschlossen erhob ich meine Stimme: „Entschuldigen Sie, hat vielleicht einer von Ihnen eine Idee, wie ich Ida helfen könnte? Ich würde sie ja alleine da rausholen, aber ich kenne mich hier einfach längst nicht so gut aus wie Sie.“
„Die Chancen, dass sie noch lebt, stehen nicht gerade gut.“, brummte ein Mann in langem Mantel und ich sah, wie sein Nachbar ihn mahnend mit dem Ellenbogen in die Seite stieß. „Liv…“, unterbrach auch Logan ihn hilflos: „Wenn wir das wüssten, hätten wir schon längst einen Suchtrupp losgeschickt. Aber uns fällt einfach keine halbwegs sichere Methode ein, wie wir deine Schwester befreien könnten. Glaub mir, wir haben mit unseren besten Leuten an der Lösung dieses Problems gearbeitet, aber es scheint einfach keinen Ausweg zu geben. Es tut mir so leid…“
„Nein!“, schrie ich jetzt schon fast, „Nein, das ist mir egal. Wenn Sie mir nicht helfen wollen, dann werde ich es eben ohne Sie schaffen! Ida ist meine Schwester und ich werde sie sicher nicht im Stich lassen, wenn sie mich am meisten braucht! Alles ist möglich, wenn man es nur lang genug versucht. Ich werde sie finden und wenn es mich das Leben kostet, darauf können Sie wetten!“ Ich wusste selbst, wie kindisch mein Verhalten war, als ich mich wutschnaubend umdrehte und zur Tür lief. Jedenfalls dorthin, wo ich die Tür vermutete. Mist, ich hatte bei meinem dramatischen Abgang ganz vergessen, dass die Ausgänge hier mit den Wänden verschmolzen! „Bitte, öffnen Sie mir die Tür.“, fügte ich nun ein klein wenig höflicher hinzu. „Liv, es reicht.“, meldete sich nun die Frau in der Mitte sanft, aber bestimmt, zu Wort, „Du verrennst dich hier gerade ein bisschen. Wie willst du deine Schwester finden, wenn du nichtmal weißt, wohin all die Gänge führen, geschweige denn, was für Gefahren hinter den Ecken lauern. Und die Walusaden werden ebenfalls kurzen Prozess mit dir machen, es besteht immerhin noch die Möglichkeit, dass das alles eine Falle ist. Ich verspreche dir, dass unsere Experten ihr Bestes geben werden, doch noch einen Plan zu entwerfen, um ihr zur Hilfe zu kommen, aber so lange brauchen wir dich hier. Du bist die Einzige, die die sagenumwobene Höhlenkatze gesehen und sogar mit ihr gesprochen hat. Du bist der Schlüssel zur Rettung Fuyumis, Liv.“ Wütend fauchte ich zurück: „Ihnen geht es doch nur um sich selbst und Ihr verdammtes Fuyumi! Ida ist Ihnen egal, Sie geben sich nicht einmal Mühe, das zu verbergen! Das ist sowas von… widerlich!“
Mein Puls beschleunigte sich automatisch noch ein wenig mehr, als sich eine Hand auf meine Schulter legte. Logan. „Sieh es mal so“, meinte er erstaunlich einfühlsam, „Wenn wir die Walusaden besiegen, können wir deine Schwester hoffentlich zurück holen.“
„Und was, wenn es bis dahin zu spät ist?“, flüsterte ich verzweifelt. Das Schweigen, das daraufhin folgte, legte sich wie ein Eisblock um mein Herz. Es durfte einfach nicht wahr sein, es musste eine Lösung geben, um Ida zu befreien.
„Komm Liv, wenn du zu Idas Rettung beitragen willst, stelle ich dich am besten unseren Experten vor. Wir müssen ihnen sowieso noch die Nachricht vom Auftauchen der Höhlenkatze überbringen.“, durchbrach Logan die Stille nach einigen Minuten, die mir wie eine Ewigkeit vorkamen. Wie hypnotisiert folgte ich dem Hüter der Höhlen zu einem kleinen Ausgang rechts von mir, den ich alleine niemals entdeckt hätte. Nebeneinander liefen wir durch ein Wirrwarr aus Gängen, sodass ich schon bald nicht mehr wusste, in welche Richtung wir uns bewegten.
Kurz darauf klopfte Logan mit dem Fingerknöchel einen kurzen Rhythmus auf eine unscheinbare Tür aus Eis. Kaum hatte er das getan, da öffnete sie sich schon wie von Geisterhand mit einem leisen Knirschen. Nacheinander betraten wir einen mittelgroßen Raum, in dem sich sämtliche merkwürdige Geräte stapelten. In der Mitte saßen vier Gestalten über eine Karte gebeugt, alle mit der gleichen merkwürdigen goldenen Brille auf der Nase. Mein Begleiter räusperte sich vernehmlich, woraufhin die Köpfe dieser ulkigen Gestalten wie aus Trance gerissen synchron nach oben flogen und ich ein leises Lachen unterdrücken musste. „Liv, darf ich dir Hep, Klep, Schnep und Wep, unsere erfahrensten und in ganz Fuyumi geschätzten Forscher vorstellen?“ Die Vier verbeugten sich übertrieben mit einem kurzen „Sehr erfreut!“ und reflexartig versuchte ich mich an einem Knicks, der mir allerdings ziemlich misslang.
Oh je, ich kam mir vor wie im falschen Film, wenn das hier diese so hoch gelobten Experten sein sollten, dann wusste ich auch nicht weiter. Mit gerunzelter Stirn beobachtete ich, wie sie sich gleichzeitig umdrehten und erneut über die Karte beugten, als wären sie nie unterbrochen worden. Logan räusperte sich abermals und wieder sahen die Vier ein wenig verwirrt auf. „Hep, Klep, Schnep und Wep, das hier ist Liv, der Eintagsmensch, von dem ich euch erzählt habe.“ „Ach, die Chaos-Verursacherin!“, warf einer ein und die anderen drei kicherten, als hätten sie noch nie etwas Lustigeres gehört. „Ich möchte nicht, dass ihr sie noch einmal so bezeichnet! Sie trägt keine Schuld an dem Durcheinander hier und wurde selbst ungefragt mit hinein gezogen.“, erwiderte mein neuer Freund streng und fuhr dann ungerührt fort, „Bitte zeigt ihr alles, was ihr bereits herausfinden konntet und konzentriert euch dabei besonders auf Livs Schwester Ida.“
Ein aufgeregtes Kribbeln durchlief meine Magengrube. Vielleicht würden mir jetzt endlich ein paar Antworten auf die Fragen gegeben werden, die mir seit meinem Eintreffen hier haltlos im Kopf herumschwirrten und sich exponentiell vermehrten. Neugierig versuchte ich auf die Karte zu spähen, als die vier Experten gleichzeitig seufzten und wiederwillig nickten.
Wep, oder vielleicht war es auch Hep, ich hatte den Überblick verloren, breitete nun endlich die Karte vor mir aus und ich konnte einen Blick auf die scheinbar willkürlich gezeichneten Striche und kryptischen Zeichen werfen. „Die Karte zeigte einmal Fuyumi wie es einst in seiner vollen Pracht erstrahlte.“, erklärte einer der Vier - ich tippte auf Schnep - mit belegter Stimme.
Verwirrt starrte ich auf das Pergament. Nichts daran sah aus wie eine Landkarte. „Sie ist erloschen, als die Walusaden unser Land einnahmen, ähnlich wie der Kessel der Weisheit.“, erklärte einer der ulkigen Männlein mit trauriger Stimme, als hätte er meine Gedanken gelesen,„Nichts konnten wir der Karte mehr entnehmen, kein einziger Strich war übrig geblieben. Natürlich haben wir versucht, sie aus dem Gedächtnis nachzuzeichnen, doch es waren eher klägliche Versuche. Fuyumi ist ein sehr verwinkeltes Reich und so gut wir uns hier auch auskennen, die Aufregung, die das Erlöschen der Karte auslöste, hat nicht gerade zu unserer Konzentrationsfähigkeit beigetragen. Erst heute, als Logan den Kessel der Weisheit zerstört hat, um dich zu befreien, sind einige der Striche wieder aufgetaucht. Es ist zwar nicht einmal die Hälfte der ursprünglichen Linien und Zeichen wieder auferweckt worden, aber es ist allemal besser als nichts. Trotzdem bleibt es uns ein Rätsel, wieso die Karte ausgerechnet jetzt, nach so vielen Jahrtausenden, wieder aus ihrem tiefen Schlaf erwacht ist - naja, zumindest teilweise.“ Eine Gänsehaut lief mir über den Rücken, als Logan sich einmischte: „Das sind wirklich bizarre Neuigkeiten, Klep. Wie hängt das alles nur miteinander zusammen?“ Ungeduldig trat ich von einem Fuß auf den anderen. „Und vor allem, was hat das alles mit meiner Schwester zu tun?“, hakte ich nach und prompt wurden mir vier genervte Blicke von den Forschern entgegen geschleudert.
Seufzend erhob sich einer der Männlein: „Liv, wir vermuten, deine Schwester ist von den Walusaden gefangen genommen worden. Wir wissen weder wo sie ist, noch wie wir sie befreien könnten. Genau genommen haben wir nichtmal eine Ahnung, ob sie noch lebt.“ Mein Magen krampfte sich zusammen und ich fühlte mich wie vor den Kopf gestoßen, als der Entdecker genau das aussprach, was ich die ganze Zeit befürchtet, jedoch aus meinen Gedanken verdrängt hatte. Denn es durfte einfach nicht wahr sein! Wenn Ida etwas Schlimmes zugestoßen war, würde ich mir das nie verzeihen! „Logan hat gesagt, Sie könnten mir helfen, Ida zu finden!“, stieß ich unter Tränen hervor. „So, hat er das?“, knurrte Klep mit einem genervten Blick auf Logan, den seine drei Kollegen augenblicklich übernahmen. „Wir haben ja nichtmal genügend Informationen.“ Als sei mit diesen Worten alles gesagt, beugten die vier sich wieder synchron über ihre Karte ohne uns noch eines Blickes zu würdigen. „Hey, was soll das? Meine Schwester ist in Gefahr und Sie interessiert nur Ihre blöde Karte! Ist ein Menschenleben denn gar nichts mehr wert?“ Wütend wollte ich mit der Hand vor den Gesichtern dieser affigen Forscher herumfuchteln, doch Logan hielt mich mit strengem Blick zurück. „Wir haben neue Informationen.“, erklärte er nun leise an die vier Männlein gewandt, die sich ebenso schnell wieder zu uns umdrehten, wie sie sich eben noch abgewandt hatten. „Und das sagt ihr uns erst jetzt?“, „Wir müssen sofort alles wissen, aber auf der Stelle!“, riefen die vier mit aufgeregten hellen Stimmen durcheinander, doch als der Hüter der Höhlen das Wort ergriff, verstummten sie sofort und lauschten ihm gebannt.
„Die weiße Katze, die vor vielen tausend Jahren unser Land gerettet hat, ist Liv erschienen. Sie meint, unsere Alienor wäre bedroht. Liv, kannst du uns die Prophezeiung noch einmal sagen? Versuch sie doch bitte genauso wiederzugeben, wie sie dir überbracht wurde.“ Angestrengt versuchte ich, den genauen Wortlaut zwischen all den Fragen in meinem Kopf zu finden, als die sanfte Stimme der Katze in meinem Kopf flüsterte:
„Dort, wo einst Schnee und Eis das Lang überzog,
Dort, wo sich die alte Fichte im Winde bog,
Dort, wo Eiszapfen von den Zweigen hingen,
Und heute die Walusaden ihre Lieder singen.
Dort gehet heut noch vor Geisterstund‘ hin,
Um den Sieg davonzutragen, der verloren schien.
Doch seid gewarnt:
Schafft ihr es nicht,
So erlischt das Licht.“
Meine Lippen bewegten sich wie von selbst, während ich das soeben gehörte wiederholte und Hep, Schnep, Wep und Klep mich mit jedem Wort alarmierter ansahen.
Dann brach Chaos aus. „Wir müssen sofort zur alten Fichte!“, rief einer - ich hatte nun endgültig den Überblick verloren, welcher Name zu wem gehörte - aufgeregt. „Aber wie können wir unsere Alienor retten? Wenn sie erlischt, ist es auch mit uns vorbei!“, schrie ein anderer verzweifelt. „Deswegen müssen wir ja gerade zur alten Fichte!“, brüllte der andere zurück. Reflexartig presste ich die Hände auf meine Ohren, doch es war unmöglich, das Geschrei auszublenden. „Wir können doch nicht einfach so mir nichts, dir nichts bei den Walusaden auftauchen! Die hacken uns streichholzklein! Ihr habt doch wohl nicht vergessen, dass bei der alten Fichte nun die Walusaden ihr Hauptquartier haben?!“, rief ein Dritter dazwischen.
Als plötzlich ein ohrenbetäubender Pfiff den Streit unterbrach, kehrte Ruhe ein und die vier Experten wandten sich Logan zu, von dem das Geräusch gekommen zu sein schien. „Jetzt reißt euch aber mal zusammen!“, schimpfte mein neuer Freund und ich konnte ihm da nur voll und ganz zustimmen. „Die Prophezeiung ist eindeutig! Wir müssen heute noch vor Mitternacht zu den Walusaden reisen. Es gibt nichts, was da noch dran vorbeiführt, wenn wir die Alienor, und damit unser Leben, retten wollen. Ihr müsst sofort einen Trupp losschicken!“
„Ein Selbstmordkommando oder was? Und was genau sollen die dann noch ausrichten, bevor sie kurz und klein gehackt werden?“, giftete einer der Männlein verächtlich zurück. „Das weiß ich doch auch nicht Klep, aber wenn wir nicht bald aufbrechen, schaffen wir es nicht mehr rechtzeitig. Pläne können wir auch noch auf dem Weg schmieden.“, seufzte Logan und fügte dann mit fester Stimme hinzu: „Ich biete mich freiwillig an, mitzukommen.“, doch ich konnte die Angst, die er in Wahrheit vor dieser Reise verspüren musste, in seinen Augen sehen.
Bevor ich mich anders entscheiden konnte, warf ich ein: „Ich komme auch mit!“. Verwirrt drehten die vier Männlein ihre Köpfe zeitgleich mit einem irritierten „Was?“ zu mir. „Das kannst du auf keinen Fall tun!“, rief einer von ihnen noch entrüstet. „Genau das werde ich aber tun, es geht hier schließlich auch um meine Schwester! Und ich werde alles dafür tun, Ida unversehrt zurückzuholen!“, antwortete ich bestimmt. So weit kam es noch, dass diese ach so bewundernswerten Forscher mir vorschrieben, was ich zu tun oder zu lassen hatte. Und zu meinem Erstaunen setzte Logan sich sogar für mich ein: „Wir brauchen Liv, sie ist die Einzige, die die Höhlenkatze gesehen hat.“
Wep, Hep, Schnep und Klep schnappten kurz nach Luft, drehten sich von uns weg und steckten ihre Köpfe zusammen. Es war unmöglich, das Getuschel, was daraufhin folgte, zu verstehen und ich atmete erleichtert auf, als die Vier sich mit einem etwas milderen Gesichtsausdruck wieder uns zuwandten und verkündeten: „Nun gut, dann geht ihr beide zusammen mit Aline und Tino, unseren abenteuerlustigsten Kriegern, zur alten Fichte. Aber behauptet nicht, wir hätten euch nicht gewarnt, wenn ihr nie mehr zurückkehrt! Wir werden euch wohl oder übel die Karte von Fuyumi mitgeben, vielleicht kann sie euch trotz der wenigen vorhandenen Striche und Symbole von Nutzen sein. Aber gebt gut auf sie Acht!“ Mit diesen mehr oder weniger widerwilligen Worten drehten sich die Experten nun endgültig von uns weg. Das schien unser Zeichen zu sein, das Labor zu verlassen, denn Logan griff nach meinem Arm und zog mich mit eiligen Schritten hinter sich her, so schnell, als könne er es nicht erwarten aufzubrechen.
Wahrscheinlich konnte er das auch nicht. Und ich stolperte mit ungutem Gefühl hinter ihm her.
Etwa zwei Stunden später machten wir uns auf den Weg. Logan hatte mir einen riesigen Pelzmantel geliehen, der mir bis zu den Füßen reichte und unter dem ich meine Hände wärmen konnte. Dann kuschelte ich mich zwischen meinen neuen Freund und Aline, die ich als eine der Frauen aus dem Halbkreis wiedererkannte, auf die Rückbank eines Gefährtes, das wie eine Mischung aus Schlitten und Auto aussah. Tino kletterte unterdessen auf den Fahrersitz und erklärte: „Unsere Slitos sind hervorragend für schnelle und möglichst unauffällige Fahrten geeignet, allerdings taugen sie recht wenig zum Kämpfen. Es könnte also durchaus sein, dass wir ihn im Falle einer Verteidigung zurücklassen müssen.“ „Moment, was?“, erwiderte ich ein wenig panisch, „Kämpfen?!“ Dass die Walusaden gefährlich waren und die Reise nicht einfach werden würde, hatte ich mir bereits gedacht, aber dass ich mich mit ihnen anlegen sollte, davon war nie die Rede gewesen. „Ich weiß es nicht.“, antwortete Tino ruhig, „Aber wir müssen mit allem rechnen. Ich habe nicht vor, dir zu verheimlichen, dass die Wahrscheinlichkeit zu überleben nicht gerade hoch ist. Es ist deine Entscheidung, ob du mitkommen möchtest, noch kannst du aussteigen und hier in Sicherheit bleiben.“ „In Sicherheit, na klar“, schnaubte Aline ironisch neben mir, doch Logan warf ihr einen warnenden Blick zu und sie verstummte.
Kurz überlegte ich, das Angebot wirklich anzunehmen und mich in dem großen Saal zu verschanzen, doch dann übermannte mich wieder die Sorge um Ida. Wenn ich hier bleiben würde, könnte ich gar nichts mehr für sie tun. Dieser Suchtrupp hier war meine einzige Chance. Zögerlich schüttelte ich den Kopf und meinte: „Wir können los.“ Als sei das die Bestätigung gewesen, die er gebraucht hatte, drückte Tino einen runden Knopf und der Slito schoss nach vorne.
Einige Augenblicke später döste ich weg. Die Müdigkeit zerrte an meinen Kräften und auch wenn es nicht der gemütlichste Ort war, hoffte ich, dass mir die Ruhe etwas Energie zurückgeben würde. Doch es war ein unruhiger Schlaf mit wirren Träumen. Erst meine Schwester, die mich verfluchte, während sie von monsterartigen Gestalten in Stücke gerissen wurde. Dann Schnep, Hep, Klep und Wep, die höhnisch über mich lachten und mir entgegen schrieen, dass ich keine Chance gegen die Walusaden hatte und einen qualvollen Tod erleiden würde. Und schließlich die schneeweiße Geisterkatze, die um meine Beine strich und mir etwas mitteilen zu wollen schien. Seufzend folgte ich ihr ohne wirklich auf den Weg zu achten, dem wir folgten. Als das Kätzchen plötzlich abrupt stehen blieb, wäre ich fast in sie hineingelaufen. Ich wollte schon fragen, was los sei, als sie eine geschmeidige Kopfbewegung in den Raum hinein machte. Irritiert schaute ich mich im Gang um. Irgendetwas war hier anders, als im restlichen Teil Fuyumis, aber ich brauchte ein paar Sekunden, bis ich erkannte, was es war. Hier fehlten die Wandverzierungen, die kleinen Eisblumen und -kristalle. Ich stand in der Höhle, in der ich bei meinem Eintreffen in Fuyumi gelandet war, bevor sich der Raum zu drehen begonnen und mich zu Logan katapultiert hatte. Kurz hegte ich die Hoffnung, ich könnte von hier nach Hause zurückkehren, doch dann viel mir Ida wieder ein, die womöglich in großer Gefahr war. „Warum hast du mich hierher gebracht?“, wollte ich von der Katze wissen, als mein Blick auf ein kleines Zeichen fiel, unscheinbar und klein im Schatten verborgen und doch rückte auf einmal ein Puzzleteil an die richtige Stelle. Mit stockendem Atem ging ich darauf zu.
Das war es! Wieso war mir das nicht früher eingefallen? Ein Strich in der Mitte und auf jeder Seite ein Halbmond! Genau das gleiche Zeichen hatte ich in meiner Vision im Kessel der Weisheit gesehen; in der Höhle, in die Ida verschleppt worden war! Aufgeregt streckte ich meine Hand nach dem Symbol aus, als die Katze neben mir warnend maunzte und plötzlich jemand an meiner Schulter rüttelte. Ich versuchte das Gefühl auszublenden und mich nur auf die Halbmonde zu konzentrieren, doch es gelang mir nicht. Unsanft erwachte ich aus dem Traum und fand mich zwischen Logan und Aline wieder, die mich beide seltsam musterten. „Mann! Musste das sein?!“, fuhr ich sie an, doch keiner der beiden ging darauf ein. Logan, mit seiner besonnenen Art, legte mir sanft eine Hand auf die Schulter und fragte ruhig: „Was hast du gesehen?“ „Ich weiß es wieder!“, entfuhr es mir aufgeregt. „Was weißt du wieder?“, wollte Aline verwirrt wissen. In ihrer Stimme lag jedoch ein Unterton, den ich nicht wirklich deuten konnte.
Ich versuchte ruhig zu bleiben, während ich nervös erzählte: „Die Katze ist mir wieder erschienen. Sie hat mich in diesen glatten Tunnel ohne die Verzierungen geführt, von wo aus ich hierher in eure Welt gekommen bin. Und da habe ich dieses Zeichen gesehen. Es war genau das gleiche Symbol wie eines, das ich auch in meiner Vision im Kessel der Weisheit gesehen habe. In der Höhle, wo meine Schwester entführt wurde. Das war es, was ich die ganze Zeit zuvor übersehen hatte!“ Meine Begleiter warfen sich über meinen Kopf hinweg einen Blick zu, bevor Logan meinte: „Kann es sein, dass du diesmal nur geträumt hast, Liv?“ „Ob es nun ein Traum war oder nicht, ich weiß doch, was ich im Eisblock gesehen hab!“, schnaubte ich frustriert, „Da bin ich mir ganz sicher. Es muss einfach irgendetwas mit Ida zu tun haben!“
Nach einigen Sekunden des Schweigens, fragte Aline gedehnt: „Und was war das für ein Zeichen?“ Ich griff in die Tasche meines Hoodies, in der noch mein Lieblingskulli von zu Hause steckte. Dann malte ich das Symbol, so gut es in dem etwas wackeligen Slito ging, auf meine Handinnenfläche. „Ein Strich mit zwei Halbmonden. Hat einer von euch eine Idee, was das bedeuten könnte?“ Logan schüttelte nachdenklich den Kopf und auch Aline murmelte nur „Nee, nie gesehen“, doch irgendwie nahm ich das den beiden nicht so ganz ab.
Also wandte ich mich ab und hing meinen eigenen Gedanken nach. Ich bekam das Gefühl nicht mehr los, dass es den beiden nur um die Rettung ihres eigenen Landes ging, ich schien nur Mittel zum Zweck zu sein. Auch wenn sie das Gegenteil behaupteten, schien Ida ihnen egal zu sein. Und ich Idiotin hatte ihnen auch noch vertraut. Aber wenn sie mir nicht halfen, dann würde ich sie auch nicht unterstützen, darauf konnten sie wetten.
Doch plötzlich fühlte ich ein leises Zwicken in meiner rechten Hand und dann eine sonderbare Hitze, die sich in meine Haut einzubrennen schien und mich doch nicht verletzte. Ich öffnete vorsichtig meine Faust und stellte entsetzt fest, dass das Zeichen, das ich auf meine Hand gezeichnet hatte, rot-orange zu glühen begonnen hatte…
„Was zum Teufel-?!“, entfuhr es mir erschrocken und sofort fuhren Aline und Logan zu mir herum. Reflexartig presste ich meine linke Hand auf die glühende Stelle und spürte plötzlich, wie mich eine unsichtbare Kraft wegzureißen drohte. Mir wurde schwindelig, während ich versuchte, mich an meinen Begleitern festzuhalten, um nicht am Ende wieder in einer anderen Welt zu landen, vielleicht noch weiter von Ida entfernt. Als der Schwindel endlich nachließ, erkannte ich, dass wir angehalten hatten. Logan schien mich von der Bank runter gezogen zu haben und ich kniete nun auf dem Boden, während er neben mir stand und meine Hand in den Schnee auf dem angenehm kühlen Boden presste. „Danke!“, keuchte ich erschöpft, „Was ist da gerade mit mir passiert?“ „Das Symbol, was du auf deine Haut gemalt hast, hat irgendwie angefangen zu brennen.“, antwortete Logan schulterzuckend, als sei so etwas ganz normal, doch ich sah ihm an, dass ihn diese Tatsache mehr beunruhigte, als er zugeben wollte. „Ihr könnt jetzt aufhören so zu tun, als hätte ich das alles nur geträumt und das Zeichen keinerlei Bedeutung. Ich meine, ihr habt den Beweis hier vor euch.“, schnaubte ich ein wenig verärgert, „Und nur das das klar ist, ich glaube euch nicht, dass ihr dieses Symbol noch nie gesehen habt.“
„Liv, hör zu.“, seufzte Aline, die auf einmal hinter mir stand, und dabei genauso müde klang, wie ich mich fühlte, „Dieses Zeichen markiert das Gebiet, das die Walusaden erobert haben. Ich glaube allerdings nicht, dass das speziell etwas mit deiner Schwester zu tun hat. Was mir eher Sorgen macht, ist, dass die weiße Katze dich dorthin gebracht hat. Was könnte sie dir damit gezeigt haben wollen?“ „Warum habt ihr mir das verschwiegen?“, wollte ich, nun doch ein wenig sauer, wissen, ohne auf ihre Frage einzugehen. Meine zwei Begleiter warfen einander mal wieder einen dieser merkwürdigen Blicke zu, bevor Logan langsam antwortete: „Das mit deiner Schwester… Du reitest dich da ein bisschen zu sehr rein. Dass du das Symbol auch in der Vision der Höhle gesehen hast ergibt Sinn, schließlich war das ebenfalls walusadisches Gebiet.“ „Das hättet ihr mir aber doch auch schon vorher genauso sagen können!“, meinte ich misstrauisch und sah die beiden aus zusammengekniffenen Augen an. „Liv.“, seufzte Aline halb verzweifelt, halb genervt, „Zu viel Wissen ist gefährlich. Sieh doch nur, wohin dieses Zeichen geführt hat!“ „Und schau dir nur Hep, Klep, Schnep und Wep an, was aus den vier geworden ist!“, fügte Logan mit einem Zwinkern hinzu und entlockte mir damit tatsächlich ein kleines Lachen.
Doch dann wurde ich wieder ernst. „Wenn ihr wollt, dass ich euch helfe, dann müsst ihr ehrlich mit mir sein. Und wenn ich euch behilflich sein soll, dann möchte ich, dass ihr mich auch bei der Suche nach meiner Schwester unterstützt. Ich weiß, dass es euch hierbei ausschließlich um die Rettung Fuyumis geht und ihr mich nur wegen der weißen Katze mitgenommen habt, aber mir geht es um die Suche nach Ida. Nur deswegen bin ich mitgekommen.“ Meine Begleiter warfen sich einen vielsagenden Blick zu, als hätten sie diese Worte bereits geahnt. So langsam nervte mich diese Art der stillen Kommunikation ein wenig. Aber dann nickten die beiden und Logan meinte langsam: „Ich habe eine Idee, wie wir Ida retten können, aber das funktioniert nur, wenn wir es schaffen unser Land zu befreien.“
„Okay.“, antwortete ich ruhig, „Verrate mir deinen Plan und ich bin dabei.“ „Nein Liv, das funktioniert nicht.“, antwortete Logan im selben Tonfall, „Wenn ich zu viele Details verrate, könnte das alles kaputt machen. Und du willst schließlich auch nicht, dass wir uns am Ende selbst verraten und in irgendeinem Kerker der Walusaden landen- oder Schlimmeres, stimmt’s? Vertrau mir einfach.“
Und genau da lag das Problem. Als wir im Labor dieser ulkigen Forscher gestanden hatte, hatte ich nicht gezögert, Logan in Gedanken einen Freund zu nennen. Ich hatte wirklich geglaubt, er wolle mir helfen Ida zu finden, als wir uns auf diese Reise begeben hatten, aber jetzt, da wir hier waren… Wie sollte ich ihm vertrauen, wenn er mich offensichtlich nur zu seinen eigenen Zwecken dabei haben wollte? Wenn meine Schwester für ihn vielleicht nur Mittel zum Zweck war, damit ich mich mit ihm gegen seine Feinde verbündete? Und umso länger ich darüber nachdachte, desto mehr Gründe fielen mir dafür ein, mich von ihm zu distanzieren. Nur leider war das in der Praxis unmöglich, ich hatte gar keine andere Wahl, als darauf zu hoffen, dass sein Plan wirklich existierte und er mir das Ganze nicht nur vorflunkerte. Denn das würde ich ihm definitiv zutrauen.
Seufzend nickte ich und stieg wortlos wieder in den Slito, schließlich konnte ich alleine in dieser Kälte in irgendeinem Labyrinth aus Gängen, in dem ich mich sofort verlaufen würde, auch nichts ausrichten. Kurz gesagt, ich war machtlos.
Einige Augenblicke später hatten sich auch Aline und Logan rechts und links von mir platziert, wie zwei Wächter, die mich am Weglaufen hindern wollten. Ein kleiner Schauder lief meinen Rücken hinunter, als mir dieser Gedanke durch den Kopf schoss. Doch entschlossen wischte ich ihn beiseite, als Timo das Gefährt wieder zum Laufen brachte.
Minutenlang vegetierte ich einfach nur vor mich hin. Mein Kopf war leer und ich hätte nicht bemerkt, wenn wir einfach stehen geblieben wären. Müdigkeit überfiel meine Glieder und mein Kopf sackte nach vorne. Dann noch ein Stück und noch eins, bis meine Stirn mit der Lehne von Timos Sitz kollidierte. Und endlich bemerkten meine Begleiter, das irgendetwas nicht mit meinem Körper zu stimmen schien. Verzweifelt versuchte ich, mich wieder aufzurichten, doch mein Kopf gehorchte mir nicht. Wie gelähmt saß ich da und bekam nur noch halb mit, wie Logan in Panik zu geraten schien.
„Schnell, tu irgendwas! Das ist genau die Vision, von der sie gesprochen hat! Sie erfriert!“, hörte ich wie durch Watte jemanden rufen. Da bekam ich es nun endgültig mit der Angst zu tun. Geschockt versuchte ich immer wieder, mich zu bewegen, doch wer auch immer da gesprochen hatte, hatte Recht gehabt: meine Glieder gehorchten mir nicht mehr, sie waren wie erstarrt. Mein Puls pochte wild, während mich meine Energie - mal wieder - verließ. Doch gerade, als ich glaubte, das Bewusstsein zu verlieren, war da die weiße Katze. Auf magische Art und Weise, schien ihr Schnurren mich zu beruhigen und mein Blutdruck senkte sich merklich, als das knuffige Tierchen das Köpfchen gegen meinen Arm rieb.
„Konzentriere dich auf das walusadische Zeichen,
Um deine Freiheit wieder zu erreichen.
Du trägst das Feuer noch in dir,
Zu Kämpfen gegen die innere Kälte, glaube mir.“
Plötzlich wusste ich, was ich tun musste. Mit aller Macht konzentrierte ich mich auf das Zeichen, das ich mir auf die Haut gemalt hatte. Tatsächlich, irgendetwas regte sich auf meiner Handinnenfläche, es fühlte sich an, als würde jemand die Kulli-Striche nachfahren. Und dann, endlich, wurde ein hitziges Feuer in meinem Innern entfacht. Das Eis, das mich einschließen wollte, barst und ich konnte endlich wieder durchatmen. Vorsichtig entsandte ich einen Schwall Wärme in mein rechtes Bein und bemerkte erstaunt, wie Hitze und Kälte mir gleichermaßen gehorchten. Sie vertrieben einander und vereinten sich, bis das Kribbeln in meinem Bein nachließ und ich es endlich wieder frei bewegen konnte. Aus einem Gefühl des Triumphs heraus tat ich das Gleiche nach und nach für den Rest meines Körpers. Endlich war ich nicht mehr auf die Hilfe Logans angewiesen. Ich hatte es geschafft, ich war frei!
Als ich zum Schluss meinen Kopf wieder zum Leben erweckte und mit einem irren Grinsen zu meinen Begleitern blickte, starrten mir drei fassungslose Gesichter entgegen. Aline rückte ein Stück von mir ab, der Ausdruck des Entsetzens war nicht zu übersehen. Timo hingegen schien eher fasziniert. „Was um Himmelswillen geht hier vor sich?“, wollte er sichtlich aufgeregt wissen. „Liv, wie hast du das geschafft?!“, fragte auch Logan, der unbewusst nach meinem Arm gegriffen hatte und mich anstarrte, als hätte er mich noch nie zuvor gesehen.
Sanft befreite ich mich aus seinem Klammergriff, bevor ich, noch immer lächelnd, erklärte: „Tja, der weißen Katze scheint wohl etwas an meinem Leben zu liegen“. Den leisen Vorwurf, der in meinen Worten mitschwang, konnte ich allerdings nicht so ganz aus meiner Stimme vertreiben.
„Livy“, seufzte Logan und beim Klang des Spitznamens, den mir meine Schwester gegeben hatte, krampfte sich mein Magen schmerzhaft zusammen, „Du bist uns auch wichtig, wir hätten alles dafür getan, dir zu helfen. Wir sind doch Freunde, wir brauchen dich noch!“ „Das ist nur die halbe Wahrheit.“, antwortete ich mit gerunzelter Stirn, „Ihr würdet viel tun, um mir das Leben zu retten, ja, aber genau aus dem Grund, weil ihr mich braucht. Wenn ich euch nicht mehr nützlich sein kann, dann bin ich nur eine zusätzliche Last, die es zu tragen gilt. Freundschaft ist das nicht, höchstens eine Zweckgemeinschaft. Ein wahrer Freund würde mich immer unterstützen, ihm wäre es genauso wichtig Ida zu finden, einfach, weil es mir wichtig ist.“
Aline nickte langsam. „Ja, ich verstehe deine Position, Liv. Ich weiß, wie das alles auf dich wirken muss. Aber du wirfst uns etwas vor, was du genauso tust. Du sagst, wir begleiten dich nur, weil wir uns etwas von dir erhoffen. Dass du zur Rettung Fuyumis beitragen kannst. Und wahrscheinlich hast du auch Recht, doch wir könnten dir das Gleiche vorwerfen. Du bist nur mitgekommen, um deine Schwester zu finden, ob wir dabei unser Land retten können, ist dir egal.“ „Das stimmt nicht!“, wollte ich ausrufen, doch die Worte blieben mir im Hals stecken. Denn genauso war es. Wie konnte ich von ihnen verlangen, sich genauso um meine Schwester zu sorgen, wenn ich selbst kaum einen Gedanken daran verschwendet hatte, Fuyumi aus der Schreckensherrschaft der Walusaden zu befreien?
Mit gesenktem Kopf nickte ich. „Es stimmt, was du sagst, Aline. Tut mir leid.“ „Uns tut es auch leid.“, meinte Logan leise und legte mir seine Hand auf die Schulter.
Als wir weiterfuhren, bemerkte ich, dass Timo das Tempo des Slitos ganz schön gedrosselt hatte und auch meine Begleiter schienen noch stiller und angespannter zu sein als zuvor. Es war wie die Ruhe vor dem Sturm, als würden sie nur darauf warten, dass etwas Schlimmes passierte. Die Farbe war aus ihren Gesichtern gewichen und bei jedem Knacken zuckte jemand zusammen. Ich schloss daraus, dass wir dem Hoheitsgebiet der Walusaden unausweichlich näher rückten. Und tatsächlich, nach und nach lösten sich Schnee und Eis in eine matschige triste braune Pampe auf. Während Aline, Logan und Timo bei diesem Anblick vermutlich in ihre Gedanken über die bevorstehende Auseinandersetzung mit ihren Erzfeinden vertieft waren, konnte ich die Worte der schneeweißen Katze nicht aus meinem Kopf verdrängen. Sie hatte davon geredet, die Kälte mit Feuer zu vertreiben. Das was wir hier vorhatten, war genau das Gegenteil. Für das Eis, aber gegen die Wärme. Logans Plan und die herbeigesehnte Vernichtung der Walusaden waren genauso grausam wie diese einst gegen die Bewohner Fuyumis gehandelt hatten. Und auch wenn man das hier als reine Notwehr ausgab, wusste ich doch, dass in ihnen allen Rachegelüste tobten. Und damit waren sie keinen Deut besser als ihre Erzfeinde.
„Anhalten.“, rief ich zu niemand Bestimmtem aus einer spontanen Eingebung heraus. Prompt wurde ich von allen Seiten verwirrt, vielleicht sogar ein wenig misstrauisch, angesehen, doch zu meiner Überraschung hielt der Wagen. „Was ist?“, knurrte Timo, während Aline sich nervös in der Gegend umsah, als erwarte sie, dass plötzlich von irgendwoher ein bösartiges Monster auftauchen und uns zerfleischen würde.
„Habt ihr schonmal darüber nachgedacht, dass das hier vielleicht nicht die richtige Methode ist, um einen Konflikt zu lösen?“ Logan seufzte theatralisch: „Kind, das ist nicht der richtige Zeitpunkt für moralische Belehrungen! Hast du vergessen, was sie deiner Schwester angetan haben?“ Das war ein wunder Punkt und ich musste zugeben, darüber hatte ich nicht mehr nachgedacht. Andererseits… „Vielleicht ist das alles nur ein doofes Missverständnis. Ich meine, der Kessel der Weisheit war manipuliert und eine kaputte Uhr zeigt auch nicht die richtige Zeit an.“, überlegte ich laut. „Ach Liv“, meldete sich nun auch Aline zu Wort, „Ich wünsche mir auch, dass es so wäre, aber das bringt uns nicht weiter. Dir steigt vermutlich die Angst zu Kopfe, das verstehe ich, doch lass uns uns lieber erhobenen Hauptes den Walusaden entgegenstellen. Denn du hast Recht, der Kessel war manipuliert, aber das zeigt uns doch erst recht die kühle Berechnung unserer Feinde. Denn wer außer ihnen hätte ein Interesse daran, unser wichtigstes Instrument zu verfälschen. Oder überhaupt die Möglichkeit und die Macht dazu?“
Ich biss mir auf die Unterlippe, damit hatte sie nicht ganz unrecht. Doch so einfach wollte ich mich diesmal nicht abspeisen lassen: „Ich weiß nicht. Irgendwie habe ich gerade ein ganz doofes Gefühl bei dieser Aktion.“ „Das haben wir alle.“, bestätigte Timo mir, was ich bereits geahnt hatte. „Dann lasst es uns nicht durchziehen.“, erwiderte ich ruhig, „Versteht mich nicht falsch, ich will euch nicht im Stich lassen. Im Gegenteil, ich möchte euch einen Gegenvorschlag machen.“ Meine drei Begleiter sahen mich erwartungsvoll an, als ich die Worte aussprach, mit denen sie vermutlich am wenigsten gerechnet hätten: „Lasst uns den Walusaden ein Freundschaftsangebot machen.“
„Ein Freundschaftsangebot, bist du verrückt?“, höhnte Timo belustigt, „Die Walusaden hacken dir den Kopf ab, bevor du piep sagen kannst!“ Logan hingegen sah mich nachdenklich an. „Wie bist du eigentlich auf die Idee gekommen? Ich meine, vorhin warst du doch selbst noch total wütend wegen all dem, was sie deiner Schwester womöglich angetan haben.“, wollte er wissen.
„Du sagst es ja schon. Was sie vielleicht gemacht haben. Wenn sie Ida auch nur ein Haar gekrümmt haben, werde ich ihnen das nie verzeihen, aber ich habe doch noch überhaupt keinen sicheren Beweis dafür.“, antwortete ich und fügte noch hinzu: „Außerdem, als die Katze mir geholfen hat, mich aus dem Eis zu befreien, da hatte ich so eine Vorahnung.“ „Was für eine Vorahnung?“, wurde nun auch Aline neugierig. „Als das Zeichen der Walusaden auf meiner Haut angefangen hat zu brennen, da habt ihr intuitiv meine Hand in den Schnee gesteckt, um es zu löschen. Ähnlich hat es sich nun umgekehrt verhalten. Als ich bemerkte, dass die Prophezeiung in Erfüllung geht, bin ich in Panik geraten, doch die weiße Katze hat mir geholfen, den Fokus nicht zu verlieren. Sie hat mich angeleitet, die Wärme des Zeichens wieder herauf zu beschwören und damit die Kälte ein wenig zu vertreiben, ohne die Hitze übermächtig werden zu lassen. Versteht ihr? Ich habe das innere Gleichgewicht zwischen Wärme und Kälte gefunden, denn ich brauche beides, um zu existieren.“
Eine Weile sagte niemand etwas, dann meldete Timo sich wieder zu Wort: „Im Prinzip ergibt das, was du sagst, Sinn. Aber wir werden unsere ärgsten Feinde niemals davon überzeugen können, friedlich Seite an Seite mit uns zu leben. Sie haben den Großteil unseres Gebietes eingenommen und haben aktuell die größere Macht, warum sollten sie sich auf einen Freundschaftspakt mit uns einlassen? Selbst wenn wir es wollten, du glaubst doch nicht ernsthaft, dass die Walusaden zustimmen würden?!“ „Und außerdem wäre da noch unser verletzter Stolz.“, gab Aline zu bedenken, „Jahrelang haben wir wenigstens noch einen Teil unserer Würde behalten, unseren wichtigsten Zufluchtsort verteidigt. Wir können uns doch jetzt nicht einfach so den Walusaden unterwerfen.“ „Ihr sollt euch ja nicht unterwerfen!“, erklärte ich geduldig, „Es geht darum, dass ihr miteinander leben könnte, ohne Hass und Hetze, Angst und Schrecken, sondern in Freiheit.“ „Liv, das ist utopisch.“, erwiderte Timo allerdings nur und nahm die Fahrt mit dem Slito wieder auf, als sei das Thema damit für ihn erledigt. Genervt verdrehte ich die Augen, als auch Aline sich abwandte, doch wenigstens Logan meinte so leise, dass nur ich es hören konnte: „So schlecht finde ich deinen Ansatz eigentlich gar nicht…“
Etwas später hielt der Wagen ein wenig versteckt zwischen zwei grünen Büschen. Der Schneematsch war fast vollständig verschwunden und in der Ferne konnte ich leuchtend grüne Wiesen erspähen. Wir waren an der Grenze zum Walusaden-Land angekommen. Etwa hundert Meter von uns entfernt standen die ersten Holzhäuser, die mich ein wenig an die idyllischen Farmen erinnerten, die ich in den Bergen schon so oft gesehen hatte. Ihre Balkone waren mit leuchtend bunten Blumen geschmückt und der Geruch nach blühendem Holunder lag in der Luft. Verzückt schloss ich die Augen, um einmal tief durchzuatmen, als mich plötzlich eine feindselige Stimme zusammen schrecken ließ: „Was wollt ihr hier?“
Erschrocken drehte ich mich um. Ein kleiner Mann mit langem weißen Bart und einer Mistgabel in der Hand schaute uns aus zusammen gekniffenen Augen feindselig an. Obwohl er die gleiche mickrige Größe hatte wie wir, wirkte er ungeheuer angsteinflößend und selbstbewusst.
Nach einer kleinen Schreckenssekunde hatten sich Aline und Timo jedoch vor dem kleinen Mann aufgebaut und schnaubten ihn wutentbrannt an: „Wir sind gekommen, um uns unser Land zurückzuholen, was ihr uns unrechtmäßig geraubt habt! Wir werden euch zerstören, um endlich wieder sicher und in Frieden leben zu können!“.
Panisch sah ich, wie der Walusade die Mistgabel erhob und meine zwei Begleiter fixierte. Ich warf Logan einen Blick zu, in der Hoffnung, er würde eingreifen, doch der Hüter der Höhlen starrte nur mit aufgerissenen Augen wie versteinert auf die Rücken seiner Mitstreiter. Na toll, dann war es wohl an mir, die zwei Trottel vor dem sicheren Tod zu bewahren. Ich nahm all meinen Mut zusammen, trat ebenfalls nach vorne und zischte Aline und Timo zu: „Jetzt reicht es aber! Habt ihr den Verstand verloren?!“, Dann wandte ich mich dem kleinen Mann zu, der mich angewidert, aber auch mit einer gewissen Neugier betrachtete. Ich zwang mich, seinem Blick stand zu halten, als ich diplomatisch erklärte: „Entschuldigen Sie das Aufbrausen der beiden. Eigentlich sind wir nämlich in Frieden hier, wir würden gerne ein paar Dinge mit Ihnen klären.“
„Du bist nicht von hier“, antwortete mein Gegenüber in einem Tonfall, den ich nicht ganz einordnen konnte. Perplex starrte ich ihn an, mit so einer Antwort hatte ich nun wirklich nicht gerechnet. Zum Glück schien Logan sich nun wieder im Griff zu haben, denn er kam mir zur Hilfe. „Nein, das ist sie nicht. Aber das spielt gerade keine Rolle. Liv hat Recht, wir sind gekommen, um einige Angelegenheiten mit Ihnen zu klären. Das Mädchen hat mit einer besonderen Katze gesprochen. Eine schneeweiße Katze, die ihr prophezeit hat, wir müssten uns zusammen schließen, um durchzuhalten.“
Bei Logans letztem Satz horchte der Walusade auf: „Moment, sie hat mit einer Katze gesprochen?“ Als ich nickte und hinzufügte: „Ja, und meine Schwester Ida müsste hier auch noch irgendwo bei Ihnen sein.“, winkte der kleine bärtige Mann uns zu sich. „Na gut, also kommt mit. Ich werde euch dem Rat der Walusaden präsentieren. Die werden dann entscheiden, was sie mit euch machen. Aber zu Fuß, euer komisches Gefährt bleibt an der Grenze stehen. Und macht ein bisschen hinne!“ „Das ist ein Slito und kein komisches Gefährt“, hörte ich Timo noch leise hinter mir murren, aber ansonsten hielten sich die beiden glücklicherweise weitestgehend im Hintergrund.
Nach einem halbstündigen Marsch über saftige Wiesen und Felder waren wir endlich vor einer prächtigen Villa angelangt, die imposant in den wolkenlosen blauen Himmel ragte. Nacheinander traten wir ein und wurden dabei von den Wächtern, die uns die Türen aufhielten, misstrauisch beäugt. Der kleine Mann, der sich inzwischen als Zwetschgola vorgestellt hatte, führte uns in einen großen Saal, in dem bereits eine kleine Versammlung stattzufinden schien. „Ihr habt Glück, der Rat der Walusaden hat sich heute bereits zur Feier der Sommersonnenwende zusammengefunden.“, zischte Zwetschgola uns zu, und bestätigte damit meine Hypothese, wer diese Männer und Frauen waren. Danach huschte er zu einer kleinen Frau, die in der Mitte einer großen Tafel saß, und flüsterte ihr etwas zu.
„Also gut, tragt uns euer Anliegen vor!“, seufzte sie und schaute uns unverwandt an. Als Logan mir eine Hand auf den Rücken legte, wusste ich, dass ich diejenige war, die nun reden musste. Nachdem ich meine Geschichte erzählt und die Walusaden zunächst eher zurückhaltend, schließlich jedoch etwas interessierter, zugehört hatten, wurden wir hinausgeschickt, damit der Rat über das weitere Vorgehen ungestört diskutieren konnte. Der Ausdruck des Misstrauens war jedoch noch nicht aus den Gesichtern gewichen.
Aline tigerte unruhig durch den Raum, Logan starrte unbeweglich aus dem Fenster und Timo und ich hatten es uns mit einem mulmigen Gefühl im Bauch auf einem gemütlichen kleinen Sofa bequem gemacht. Die Wartezeit machte uns alle nervös und kam mir nun schon wie eine halbe Ewigkeit vor. Dann, endlich, öffnete sich die Tür. Gespannt blickten wir alle zu der Person, die hereinkam, doch es dauerte zwei Sekunden bis ich sie erkannte. Ida, eine ziemlich apathisch wirkende Ida, aber doch meine Schwester. „Livyyy!“, quiekte auch sie auf, als ihr Blick auf mich fiel. Sofort hatte sie sich in meine Arme geworfen und hielt mich so fest, als wolle sie mich nie wieder loslassen. „Weinst du?“, fragte ich, als ich das unterdrückte Schluchzen bemerkte, das ihren Körper erzittern ließ, „Es ist alles gut, ich bin jetzt bei dir, die Walusaden können dir nichts mehr tun. Was haben sie bloß mit dir angestellt?“ „Wieso denn die Walusaden?“, meine Schwester hob irritiert den Kopf und sah aus tränennassen Augen zu mir auf, „die waren doch ganz lieb zu mir! Es ist nur… Ich hab mir so Sorgen um dich gemacht. Mir wurde gesagt, die Bewohner Fuyumis seien gefährlich, man wisse nicht, was mit dir passiert sei.“ Sie warf einen entschuldigenden Blick zu meinen Begleitern, bevor sie fortfuhr: „Und dann hat die weiße Katze mit mir gesprochen und irgendwas von den vier Jahreszeiten prophezeit.“ „Was?! Sie hat auch dich aufgesucht?“, unterbrach Timo sie aufgeregt, „Das kann nun wirklich kein Zufall sein!“ Verwirrt sah Ida von ihm zu mir und wieder zurück. Seufzend schob ich sie in Richtung Sofa und erzählte meine Geschichte zum zweiten Mal an diesem Tag…
Als ich gerade fertig geworden war, kam Zwetschgola zur Tür hinein. „So, meine verehrten Gäste, man erwartet euch. Folgt mir bitte.“, verkündete er. Ich hob eine Augenbraue. Das klang nun doch schon um einiges versöhnlicher, als unser erstes Aufeinandertreffen an der Grenze. Erleichtert stand ich auf und Hoffnung machte sich in mir breit. Vielleicht würde doch noch alles gut werden.
Erst als ich mich aufrichtete, schien der Walusade meine Schwester zu bemerken. „Ida, wo kommst du denn her?“, fragte er kopfschüttelnd, „Alle suchen nach dir, um das Wiedersehen mit deiner verlorenen Schwester zu feiern und ihr sitzt hier zusammen, als wärt ihr nie voneinander getrennt gewesen. Eieiei, was ein Durcheinander!“
Im großen Saal angekommen, ging auf einmal alles sehr schnell. „Wir haben uns euer Angebot durch den Kopf gehen lassen.“, verkündete die Frau in der Mitte, „Und es erscheint uns fair. Ein Leben in Frieden und Freiheit, in Freundschaft und Zusammenarbeit mit den Ureinwohnern Fuyumis. Was einst unmöglich schien, scheint nun in greifbarer Nähe. Auch wenn natürlich längst noch nicht alles geklärt ist. Aber die Wünsche der weißen Katze müssen respektiert werden. Wie ihr vermutlich noch nicht wusstet, hat sie auch unserem Land einst als Seherin gedient, doch als wir unter der Führung Halisus Fuyumi angriffen, wandte sie sich von uns ab. Dieser ist jedoch glücklicherweise vor etlichen Monaten verschwunden, sodass wir unser Land nun endlich in Gerechtigkeit führen können. Der Hass und das Misstrauen gegenüber euch, die hinter der Grenze leben, sind noch ein Überbleibsel aus der Zeit Halisus. Und gerade deswegen wollen wir einen Neuanfang wagen.“ Timo und Aline fielen fast die Augen aus dem Kopf, als sie das hörten und ich musste mir das Lachen verkneifen. Dann meldete sich Ida zu Wort: „Die weiße Katze hat auch mit mir gesprochen. Sie sagte etwas von Jahreszeiten. Immer abwechselnd Sommer wie hier bei euch und Winter, wie in Fuyumi. Die Übergänge dazwischen nennen wir in unserer Welt Frühling und Sommer. Vielleicht wäre so etwas auch ein Kompromiss für euch, mit dem alle zufrieden sind. Also wenn das überhaupt so funktioniert…“
Obwohl nun doch eigentlich alles ziemlich gut ausgegangen war, schien Ida immer noch mit ihren eigenen Gedanken beschäftigt. Nervös spielte sie an einer Haarsträhne herum und schaute besorgt aus dem Fenster. Leise wollte ich wissen: „Alles in Ordnung?“ Erschrocken bemerkte ich, wie sie zusammen zuckte und dann in Tränen ausbrach. Schnell zog ich sie an mich und hielt sie so lange fest, bis sie es schaffte, einige Wörter herauszubekommen. „Billie, sie ist einfach an der alten Fichte eingefroren. Wir konnten nichts mehr für sie tun.“, schluchzte meine Schwester verzweifelt. „Wer ist Billie?“, fragte Logan, der sich, genauso wie die Frau, die offensichtlich die Präsidentin des Rates der Walusaden war, zu uns gesellt hatte. „Ihre beste Freundin, Ida hat mit ihr telefoniert, als ich ihr Handy fallen gelassen habe.“, erklärte ich - und fühlte mich mal wieder ziemlich schuldig. „Der dritte Eintagsmensch“, rief Aline, die nun auch mit Timo zu uns gekommen war, aufgeregt. „Aber wie konnte das passieren?“
Einige Sekunden sagte keiner etwas, während wir uns nur perplex anstarrten, als plötzlich ein lautes Rufen hinter uns ertönte. Ich drehte mich um und sah, wie Zwetschgola aufgeregt winkend zu uns gerannt kam. „Ida, deine kleine eisige Freundin! Beeilt euch, das müsst ihr sehen! Kommt schnell zur alten Fichte, Billie hat angefangen zu Leuchten!“, keuchte er. Sofort brach Chaos aus und in unser Grüppchen kam Bewegung. Wir liefen so schnell wie nur möglich hinter dem Walusaden her, meine Schwester allen voran.
Und tatsächlich, bei der alten Fichte konnten wir das Wunder bestaunen. Andächtig stellten wir uns um die Eisstatue herum, die einst die so lebensfreudige Billie gewesen war, um ihr die letzte Ehre zu erweisen. Als irgendjemand von irgendwoher noch eine Kerze hervor zauberte und sie Idas bester Freundin zu Füßen abstellte, kamen auch mir die Tränen. Da griff Logan, der neben mir stand, nach meiner rechten Hand und ich streckte die Linke Aline entgegen. Auch die anderen reichten einander stillschweigend die Hand, bis wir, Walusaden, Eintagsmenschen und Bewohner Fuyumis vereint, einen Kreis um Billie gebildet hatten.
Da, plötzlich, wurde das Leuchten intensiver, bis das Strahlen noch weit entfernt zu sehen sein musste. Und dann knackte es. Erschrocken stoben wir auseinander, als das Eis bröckelte und schließlich ganz brach. Mit weit aufgerissenen Augen starrte ich auf die Stelle, wo eben noch die Statue aus Eis gestanden hatte und nun ein Mädchen mit braunen Locken und funkelnden Augen aus den Überresten trat. Billie. Auch die anderen rührten sich nicht vom Fleck, auch sie schienen das Atmen zu vergessen. Nur Ida quietschte begeistert auf und fiel ihrer besten Freundin um den Hals. „Wie ist das geschehen?“, hauchte die Präsidentin des Rates der Walusaden ungläubig, als mir der zündende Gedanke kam: „Ich glaube, ihr musstet euch mit den Bewohnern Fuyumis vereinen, damit das Licht des Lebens weiter scheinen kann. Als wir alle gemeinsam um Billie trauerten, haben wir ihr genügend Macht gegeben, dass sie sich aus dem Eiskäfig befreien konnte.“ „Das hatte die Prophezeiung also zu bedeuten!“, rief Logan aus, „Na dann ist jetzt ja alles klar!“ „Da gibt es aber noch eine Sache, die ich noch nicht verstanden habe. Was hatte die schreckliche Vision von Ida im Kessel der Weisheit zu bedeuten?“, wollte ich wissen. Die Walusadin schaute mich nachdenklich an, bevor sie antwortete: „Ich denke der Kessel war noch aus der Zeit Halisus manipuliert. Er hat sich an deinen schlimmsten Befürchtungen bedient und sie dir dann als Vision reproduziert.“ „Das ist ja echt übel!“, meinte ich und fuhr mir über meine Arme. Noch jetzt, wenn ich nur daran dachte, lief mir ein kalter Schauer über den Rücken.
Auf einmal zupfte jemand an meinem Pulli. „Livy, wie kommen wir jetzt eigentlich wieder heim?“, wollte meine Schwester wissen und ich biss mir auf die Lippe. Darauf hatte ich auch keine Antwort. Doch Logan, der Idas Frage gehört hatte, antwortete bereits: „Steigt in den Slito und fahrt immer in Richtung Süden. Dann gelangt ihr zurück in eure Welt. Aber jetzt wird erstmal gefeiert, auf die Rückreise könnt ihr euch danach immer noch begeben!“
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Kapitel: | 24 | |
Sätze: | 931 | |
Wörter: | 14.715 | |
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