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Kapitel: | 4 | |
Sätze: | 465 | |
Wörter: | 7.174 | |
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Ada ist fünfzehn und der Inbegriff einer rebellischen Jugendlichen. Sie respektiert keine Autorität, ist ständig in Ärger verwickelt, streitet mit ihrer alleinerziehenden Mutter – und sie verspürt einen unwiderstehlichen Drang zum Jagen, egal was. Oder wen. Und sie liebt Fleisch. Auch roh. Und blutig.
Ihre Lehrer haben es längst geahnt: In Ada fließt das Blut eines Drachen. Damit droht ihr das Schlimmste, wie ihre verzweifelte Mutter weiß, denn Drachenblütige werden von der Regierung gejagt.
Eris ist fünfzehn und ein Außenseiter mit ungewöhnlichen Vorlieben, unverstanden von seinen Eltern und Gleichaltrigen. Als er sich eines Tages selbst an die Drachenbehörden ausliefert, gerät sein Leben völlig aus den Fugen – und verbindet sich mit dem von Ada und anderen Jugendlichen und Erwachsenen, die in einer ganz ähnlichen Situation waren wie er. Welche Zukunft haben sie in einer Welt, die allen Drachen feindlich gesinnt ist? Und was sind sie eigentlich? Menschen oder Drachen?
*
Über das Wesen der Drachen (Auszüge)
Drachenwandler – Bezeichnung für einen Menschen, der die Gestalt eines Drachen annehmen kann.
Drachenblütiger – Bezeichnung für einen Menschen, der nachweislich mit mindestens einem Drachenwandler blutsverwandt ist, ohne bisher selbst Drachengestalt angenommen zu haben.
Drachenblütige werden, entgegen der weitverbreiteten Meinung, nicht unweigerlich zu Drachenwandlern, selbst dann nicht, wenn sie typische Verhaltensauffälligkeiten zeigen. Sie können allerdings die entsprechenden Veranlagungen weitervererben und ein wandlungsfähiges Individuum hervorbringen, teils erst viele Generationen später.
Aus: Biologie – Lernen und Verstehen, Ausgabe für Mittelschulen, 11. Auflage
[…] Die Inzidenz für Drachenwandler ist in den meisten Ländern der Welt sehr gering. In Europa liegt sie mit am Niedrigsten aufgrund der starken Bejagung von Drachen im Mittelalter und der frühen Neuzeit.
In afrikanischen Ländern ist sie aufgrund neuzeitlicher Bejagung für den illegalen Handel mit Schuppen, Zähnen und Krallen ähnlich gering, die Gene in der Bevölkerung stammen hauptsächlich aus der Vermischung mit anderen ansässigen Ethnien, allerdings wurden im Lauf der Geschichte auch indigene Drachen beschrieben, über deren Zahl sich keinerlei Auskunft geben lässt.
Australien besitzt keine bekannte indigene Drachenpopulation, die entsprechenden Gene wurden von britischen Siedlern eingeschleppt.
Die höchste Inzidenz für Drachenwandler weltweit haben die Vereinigten Staaten von Amerika, weshalb große Teile von Nationalparks in den Ozarks, Appalachen und Rocky Mountains zu Drachenreservaten umgewandelt wurden. Die enorme Zahl liegt einerseits darin begründet, dass sich die Bevölkerung aus verschiedenen ethnischen Gruppen zusammensetzt, andererseits, dass aufgrund fehlender Eindämmungsmaßnahmen Drachengene über viele Generationen hinweg unbemerkt weitergegeben werden konnten und es keine derartigen Ausrottungsfeldzüge gegen Drachen gab wie in Europa.
In den meisten Ländern des europäischen Festlands wird Personen, die einen bekannten Drachenwandler im Familienstammbaum aufweisen, von einer Schwangerschaft abgeraten. Bestimmte Gensequenzen gelten in einigen Ländern Osteuropas und Russlands als Ausschlusskriterium bei der embryonalen Auslese im Rahmen der Präimplantationsdiagnostik. Diese Sequenzen sind hinsichtlich ihres Vorhersagewertes allerdings stark umstritten.
In vielen asiatischen Ländern gilt das gesellschaftliche Kastensystem, das es Drachenwandlern streng untersagt, Nachkommen mit Nichtwandlern zu zeugen. Betroffene Kinder werden, trotz gesetzlichen Verbots, immer wieder getötet. Erwachsene Abkömmlinge dieser Verbindung werden von der Gesellschaft ausgeschlossen und in weiten Teilen noch heute zwangssterilisiert. Reinblütige Drachenwandler haben in diesen Ländern einen deutlich höheren Stand als in der westlichen Welt und werden als gottgleich betrachtet. Sie zu sehen gilt als Glücksverheißung in der gewöhnlichen Bevölkerung. In China leben alle reinen Drachenwandler in der Verbotenen Stadt, einem mehrere Quadratkilometer umfassenden Stadtstaat mit eigener Rechtsprechung, dessen Zutritt nur ihnen selbst gestattet ist. […]
Aus: Die Welt der Drachen, 5. Auflage
[…] Drachentöter haben in vielen Ländern der Welt Tradition, zum Teil bis in die Neuzeit hinein, wodurch sich erklärt, warum Drachen heute vergleichsweise selten geworden sind, während sie noch vor tausenden von Jahren die Länder der Erde als geschuppte Tyrannen beherrschten. […]
Aus: Geschichte – Lernen und Verstehen, Ausgabe für Mittelschulen, 12. Auflage
[…] Die wohl gefürchtetste Fähigkeit unter Drachen, das Feuerspeien, gilt heute glücklicherweise als verlorengegangen. Das letzte Exemplar, ein Biest von dreißig Metern Länge, wurde um 1860 in Texas getötet. Leider gilt das Skelett heute als verloren gegangen. […]
Aus: Biologie, Wissenschaftsbuchreihe 6, 9. Auflage
[…] Die der Wandlung zugrundeliegende Gensequenz ist derzeit noch unbekannt. Die Wissenschaft geht von einer epigenetischen Grundkomponente aus. Die meisten bisher vermuteten Genkomponenten treten nachweislich sowohl bei Wandlern als auch Blütigen und sogar Nichtblütigen auf. […]
[…] Drachenwandler nehmen ihre Drachengestalt erstmalig meist zwischen dem vierzehnten und fünfundzwanzigsten Lebensjahr an. Ein pubertärer Stimulus wird vermutet. Ist bis zum vollendeten dreißigsten Lebensjahr keine Wandlung erfolgt, kann trotz drachenpositiven Stammbaums davon ausgegangen werden, dass keine Wandlung mehr erfolgen wird und das Individuum als sicher einzustufen ist. Eine weitere Verbringung in einen Sperrdistrikt ist dann nicht mehr obligat. […]
Aus: Humangenetik – Drachengenetik
[…] Nicht alle Drachenwandler und Drachenblütigen werden auffällig, auch wenn gewisse Verhaltensweisen bei ihnen häufiger auftreten. Sehr oft beobachtet werden ein unwiderstehlicher Zwang, rennenden oder fliegenden Tieren hinterherzujagen sowie eine Abneigung gegen Gemüse bei einer deutlichen Vorliebe für Fleisch, auch ungegartem. Weiterhin sind ein wildes Temperament mit rebellischem Verhalten und Launenhaftigkeit beschrieben worden, insbesondere bei weiblichen Individuen. Einen verlässlichen Prädiktionstest gibt es derzeit nicht. Diskutierte Triggerfaktoren des Gestaltwandels sind vor allem Stress, aber auch Angst und andere starke Erregungszustände. […]
Aus: Zentrale für Drachenaufklärung
[…] Drachenwandler können vollsymptomatisch am Herefordt-Prenson-Syndrom erkranken, einer Krankheit, die umgangssprachlich auch als »Drachenwut« bezeichnet und durch das Herefordt-Virus verursacht wird. Es zeigt sich eine milde Symptomatik bei Drachenblütigen ohne Fähigkeit des Gestaltwechsels mit spontaner Ausheilung bei symptomatischer Therapie der typischen Prodromi Fieber, Gliederschmerzen und Sehstörungen, jedoch eine verheerende bei jenen, die den Wandel mindestens einmal vollzogen haben: Der Gestaltwechsel wird unwiderstehlich getriggert und eine Rückverwandlung unmöglich gemacht, wahnhafte Zustände und der Zwang zur Zerstörung und Tötung sind typisch. Diese schwere Form der Krankheit ist unheilbar und führte vermutlich zu den besonders eindrucksvollen Fällen, in denen einzelne Drachen ganze Menschensiedlungen angriffen. Der Tod tritt nach wenigen Tagen bis Wochen durch Multiorganversagen ein. Es existiert ein Impfstoff seit den 1950er Jahren, der heute eine Schutzrate von bis zu 100% erreicht. Die Durchimpfung von Drachenwandlern ist verpflichtend in allen Teilen des Landes, die von Drachenblütigen ohne erfolgten Wechsel obliegt den einzelnen Staaten. […]
Aus: Infektiologie für Studierende der Human- und Drachenmedizin
[…] Sie vermuten, dass Ihr Kind ein Drache sein könnte? Sie wissen nicht, wie Sie damit umgehen sollen? Sie fürchten sich vor dem, was passieren kann? Rufen Sie uns an! Unter unserer kostenlosen Nummer erhalten Sie die passende Beratung. Wir verweisen Sie an die richtigen Stellen, sollte sich der Verdacht erhärten, denn sämtliche Drachenwandler müssen zu ihrem eigenen Schutz und dem der Bevölkerung in eigens dafür eingerichtete Zonen unter der Leitung von erfahrenem Personal verbracht werden. Fürchten Sie sich nicht vor diesem Schritt – es ist die beste Entscheidung für Ihr Kind! […]
Aus: Hilfetelefon für Eltern von potentiellen Drachenwandlern
Als sie sich an diesem frühlingshaften Morgen aus ihrem Bett kämpfte, hatte Ada noch nicht einmal geahnt, was für eine irrsinnige Wende ihr gesamtes Leben an eben diesem Tag vollziehen würde.
Zunächst schien es ein Tag wie jeder andere zu sein: Gähnende Langeweile versprechend. Ein Donnerstag, kurz vorm Wochenende also, aber immer noch einen ganzen Tag davon entfernt. Der Wecker hatte viel zu früh geklingelt, und doch war sie beinahe zu spät in der Schule angekommen. Noch dazu hatten sie in den ersten zwei Stunden ausgerechnet Mathe. Wer dachte sich bitte so etwas aus, Mathe frühmorgens und dann auch noch zweimal hintereinander?
Jetzt, etliche Stunden später, war Ada auf der Flucht. Sie rannte durch das Gestrüpp und Unterholz des Waldes, der ihre verdammte Kleinstadt einschloss, ohne zu wissen wohin. Es interessierte sie auch nicht, Hauptsache weg. Zum ersten Mal in ihrem Leben war sie froh darüber, in einem so verschlafenen Nest zu leben: In einer Großstadt hätte sie keine Chance gehabt, unbemerkt zu verschwinden. Hier draußen dagegen gab es so einige Versteckmöglichkeiten, und der Gedanke daran, ihnen allen davonzurennen, beflügelte sie im ersten Moment – bis er vom nächsten verdrängt wurde: Sie konnte nicht für immer im Wald bleiben.
Egal, dachte sie grimmig und schob alle Bedenken beiseite. Ich werde rennen, so lange ich kann. Bis ich geschnappt werde oder tot bin. Was blieb ihr schon anderes übrig?
Sie hatte nie ein Problem damit gehabt, erst zu handeln und dann zu überlegen. Nicht immer war sie stolz darauf, das musste sie zugeben, denn meist machte das die Dinge eher schlimmer als besser. Und Ada dachte durchaus nach, über sehr viele Dinge, egal, was die anderen über sie sagten. Die verstanden ohnehin nicht, was in ihr vorging. Nicht einmal sie selbst tat es.
Ada hatte schon früh bemerkt, dass irgendetwas mit ihr nicht stimmte. So richtig nicht stimmte. Dass sie irgendwie anders war als alle anderen, obwohl das irgendwie alle Jugendlichen von sich selbst dachten. Aber bei ihr war es tatsächlich so, eine gesteigerte Form des Andersseins. Sie mochte kein Gemüse. So überhaupt nicht. Als Kind war das noch in Ordnung gewesen – kein Kind mochte Gemüse. Sie aber aß stattdessen ganze Mahlzeiten, die nur aus Fleisch bestanden, und das am Liebsten mehrfach täglich. Ihr Fleischappetit hatte schon als Kind seltsame Blüten getrieben, die nicht mehr erklärlich waren. Manchmal kaufte sie sich im Supermarkt an der Straßenecke Koteletts und aß sie heimlich – roh. Die ganze Packung. Auch das Mark von Suppenknochen mochte sie, und den Suppenknochen selbst, an dem sie nagte, ohne ihn wirklich essen zu können. Und dann war da noch die Sache mit dem Sportunterricht. Der war ihr schon immer schwergefallen – nicht, weil sie dick war wie so viele ihrer Klassenkameraden, sondern weil sie die vielen herum rennenden Schüler verrückt machten. Ada begriff selbst nicht wieso. Irgendwie war sie ständig davon abgelenkt, ihre sich schnell bewegenden Körper zu betrachten. Es war wie ein Zwang, den sie nicht unterdrücken konnte und der dazu führte, dass sie dauerhaft unkonzentriert war, so als ob sich in ihrem Hirn Blitze entluden und ihre Schädeldecke zum Kribbeln brachten. Über diese Dinge hatte sie nie offen mit jemandem gesprochen, nicht einmal mit ihrer einzigen Freundin Sue. Ada wusste nur zu gut, wie das gewirkt hätte, und sie wollte nicht, dass falsche Schlüsse gezogen wurden – doch nun sah es tatsächlich ganz danach aus.
Es war Gordons Schuld. Alles. Er sollte jetzt gejagt werden und nicht sie! Dieser kleine Mistkerl hatte sie bloßgestellt vor allen anderen. Wegen ihres Verschlafens war sie nicht zum Frühstücken gekommen, hatte hungrig in den zwei Stunden Matheunterricht gesessen und Gordon musste in der Pause ausgerechnet vor ihrer Nase herumrennen. Er hatte sein Mathebuch im Klassenraum liegenlassen, sein verdammtes Mathebuch. Ada hatte sich nicht beherrschen können, die einzelnen Blitze in ihrem Hirn hatten vor lauter Hunger und Gerenne einen Gewittersturm erzeugt – sie war ihm plötzlich nachgerannt, schneller als er, und dann hatte sie ihn zu Boden geworfen und sich so fest in seinem Nacken verbissen, dass er blutete.
Gordon hatte geschrien, und natürlich hatten alle im Raum sofort auf sie gestarrt und ihre Essenstabletts fallengelassen. Aber Ada war unfähig gewesen, sich von ihm zu lösen. Die ganze Welt war zu einem schmalen Tunnel zusammengeschrumpft, in dem nur noch Platz für Gordon und sie war. Sein entsetztes Geschrei und Gezappel machte sie nur noch wilder und hatte sogar ihren Speichelfluss angeregt. Für einen Augenblick war Gordon ihre Beute gewesen, dazu bestimmt, ihren leeren Magen zu füllen.
Ada erinnerte sich nicht mehr daran, wie die Situation ausgegangen war. Sie hatte sich das Hirn zermartert auf der Suche nach irgendeiner Erinnerung, von der sie wusste, dass sie da sein musste. Stattdessen fand sie nur zusammenhanglose Fetzen; die entsetzten Gesichter von Jennifer und Elizabeth; der fassungslose Ausdruck von Miss Hemsworth, die der Ohnmacht nahe schien. Der angeekelte Blick in den Augen von Brian, dem Footballspieler, der plötzlich gar nicht mehr so tough aussah wie sonst. Dann weitere Gesichter, von Lehrern und Schülern, älter und jünger als sie, die ineinander überzugehen schienen. Entsetzen, Fassungslosigkeit, Abscheu, Angst. Das Erste, an das sie sich wieder ganz klar erinnern konnte, war das erschütterte Wort aus dem Mund eines Schülers, den sie nicht sah, sondern nur hörte: »Drache!«
Dann gab es furchtbares Geschrei, in welchem Ada von irgendjemandem gepackt und weggezogen wurde. Sie blickte auf Gordons blutigen Nacken, der sich aufrappelte, und bemerkte den metallischen Geschmack auf ihrer Zunge. Ruhe kehrte ein, als sich plötzlich die Tür zum nächstbesten Raum hinter ihr schloss, in dem sie allein zurückblieb.
Ada atmete tief durch, sowohl ihr vergangenes Ich als auch ihr gegenwärtiges. Sie war plötzlich wieder im Wald und stand vor einer Grotte, umgeben von hohen Sträuchern und Bäumen. Der Boden wirkte trocken und steinig und bot ihr ein annehmbares Versteck, auch wenn es sie davor graute, die Nacht hier draußen verbringen zu müssen. Auch egal, das ist besser, als geschnappt zu werden.
Sie schob sich hinein, stellte fest, dass das Innere größer war als es von außen den Anschein hatte, und verbarg sich vor den Augen ungebetener Gäste.
Der Strudel aus Erinnerungen und Emotionen entwirrte sich, sowie sie sich sicher und unbeobachtet fühlte, und ließ den ersten klaren Gedanken zu, seit sie aus der Schule getürmt war: Sue. Und dann: Lance.
Ada hatte Sue nicht auf ihrem Platz im Pausenraum gesehen, wusste nicht einmal, ob sie heute überhaupt in der Schule gewesen war. Vielleicht war sie ja krank und hatte nichts von all dem mitbekommen. Aber Ada verwarf den Gedanken sofort wieder. Die Nachricht würde sich in ihrer Kleinstadt ganz gewiss ausbreiten wie ein Lauffeuer.
Ada Grayson, der Drache. Das ist doch völlig verrückt…
Wie konnte irgendjemand allen Ernstes glauben, dass sie ein Drache war? Ja, sie liebte Fleisch, auch rohes, sehr sogar, und sie hatte das Bedürfnis, ihren rennenden Mitschülern hinterherzujagen, aber das allein bedeutete doch noch gar nichts.
Oder?
Andererseits: Wie konnte ein vernunftbegabter Mensch glauben, dass Lance ein Drache war? Trotzdem hatten sie ihn weggeholt, aus ihrem Leben herausgerissen und an einen unbekannten Ort gebracht. Ihren besten Freund neben Sue, der beinahe wie der Bruder war, den Ada nie gehabt hatte.
Wut und Trauer ergriff sie bei der Erinnerung. Sie hatte sich vor der Sache mit ihm nie wirklich mit dem Thema Drachen befasst. Diese gehörten in den Geschichtsunterricht, der sogar noch langweiliger war als Mathe. Drachen waren Menschen, so hieß es jedenfalls, mit dem Unterschied, dass sie die Gestalt einer großen, schuppigen Bestie annehmen konnten – und das ohne es zu wollen oder kontrollieren zu können. Im Mittelalter existierten ganze Clans von Drachen, die die Dörfer und Städte Europas terrorisierten, und Drachentöter hatten sie zu abertausenden hingeschlachtet, mal, um die Menschen zu schützen, mal, um Ruhm und Ehre zu erlangen und mal, weil sie glaubten, Drachen seien die Brut des Teufels, die im Namen Gottes vernichtet werden musste. Es gab Hexenverbrennungen von Frauen, die im Verdacht standen, mit Drachen im Bunde zu sein, und Enthauptungen von Männern, die angeblich unschuldige Menschen mittels schwarzer Magie in Drachen verwandeln konnten. Noch heute war sich die christliche Gemeinschaft nicht einig, ob Drachen nun Menschen waren oder nicht. Und wenn sie keine waren, was waren sie dann? Dämonen? Monster? Auch, wenn ihre Tötung in den meisten Teilen der Welt mittlerweile verboten war, wusste man noch immer nicht, wie man mit ihnen umgehen sollte. Drachenblütigen wurde der Zutritt zu christlichen Gotteshäusern oft verweigert, und erst kürzlich war irgendwo ein Priester in die Schlagzeilen geraten, weil er beinahe die dreizehnjährige Tochter einer Familie bei einer Dämonenaustreibung getötet hätte – sie alle glaubten, das Mädchen trüge den Drachen in sich.
Die Meinungen zu Drachen gingen auch auf der weltlichen Seite auseinander. Manche sagten, es war schon damals ganz und gar falsch, Drachen einfach zu töten, ganz egal, ob sie Menschen getötet hatten oder nicht. Andere beharrten darauf, dass Drachen gefährlich waren und die Menschheit bedrohten, solange sie existierten. Und dann gab es noch jene, die hofften, alle Drachen würden eines Tages einfach aussterben durch das konsequente Wegsperren von Blütigen in Reservate fernab der Zivilisation. Zumindest das würde vermutlich nie eintreten: Drachen hatten nicht zuletzt deshalb bis in die heutige Zeit hinein überlebt, weil die Gene mehrere Generationen überspringen konnten, bevor sich ein Wandler zeigte, vor allem dann, wenn sich gewöhnliche Menschen in den Stammbaum mischten. Es konnten viele unauffällige Generationen kommen und gehen, bevor einer auftauchte, der zum Drachen wurde.
Lance war einer von jenen, die Zeichen der Drachenblütigkeit aufwiesen, als einziger in seiner Familie. Auf keinen Fall aber würde er jemals zu einem Drachen werden, das wusste Ada. Der schüchterne, unsichere Lance, der früher so oft geweint hatte, konnte unmöglich ein solches Monster sein. Er war zu unrecht eingesperrt worden, während die Autoritäten darauf warteten, dass er sich verwandelte. Wenn sie dann irgendwann merkten, dass sie einen Fehler begangen hatten, würde Lance freikommen in eine ungewisse Zukunft, ohne Schulabschluss und Ausbildung, um am Rand der Gesellschaft vor sich hin zu vegetieren. Es war ein furchtbares Los, egal, wie es ausging. Das Leben war danach verwirkt.
Ada wusste nicht einmal, wohin sie ihn gebracht hatten. Sie hoffte einfach, dass er an einen halbwegs guten Ort gekommen war, wo die echten Wandler von den harmlosen Blütigen getrennt wurden. Diese Reservate gab es überall in den Vereinigten Staaten. Drachenblütige wurden dort eingesperrt, bis sie alt genug waren, um sicher ausschließen zu können, dass sie Drachengestalt annahmen und der Bevölkerung gefährlich wurden. Aber niemand wusste, ob die, die nicht zurückkehrten, wirklich weiter in den Reservaten lebten. Man sagte, in anderen Ländern, insbesondere Asien, herrsche reger Handel mit Körperteilen von Drachen: Schuppen, Knochen, Zähne, sogar ganze Organe wie das Herz. Aus ihnen konnten angeblich traditionelle Arzneimittel oder Schnaps hergestellt werden, welche Heilkräfte besaßen. Auch Sues Vater hatte davon gesprochen und gemeint, dass man schon sehr naiv sein müsste zu glauben, Drachen würden auf Kosten des Staates ihr Leben lang in den Reservaten durchgefüttert werden, bis sie irgendwann im hohen Alter starben – zumal die Reservate auch irgendwann voll wären. Das klang ganz schlüssig, wie Ada zugeben musste. Sie war damals erst sieben Jahre alt gewesen und hatte tatsächlich geglaubt, Drachen würden frei in den Reservaten leben, so, wie man es ihnen in der Schule erklärte, aber sie hatte es natürlich nicht zugegeben vor Mr. Lincoln – sie wollte nicht naiv sein, was auch immer das bedeutete. Es klang zumindest wie etwas, die man lieber nicht sein wollte.
Jetzt, da sie in der kühlen Grotte mitten im Wald saß, empfand Ada eine irrationale Wut auf Mr. Lincoln und hoffte inständig, er würde doch unrecht haben. Sie wollte nicht in so einem Reservat verschwinden. Niemand sollte das.
Ihre Schule hatte zweifellos längst die Behörden informiert, die für Drachenangelegenheiten zuständig waren. Diese würden zu ihrem Elternhaus fahren, ihre Mutter und die Lehrer befragen, wohin sie geflüchtet sein könnte. Und dann würden sie nach ihr suchen, um sie ebenfalls einzusperren.
Ich bin kein Drache. Ich kann keine Drachengestalt annehmen. Niemand in meiner Familie kann oder konnte das.
Sie versuchte, gedanklich ihren Stammbaum zu rekonstruieren. Die erste Generation waren ihre Eltern, die zweite ihre Großeltern – da stockte sie schon. Ihre Großeltern waren gestorben, als sie noch klein war. Sie hatte sie nie wirklich gekannt, geschweigedenn die dritte und vierte oder fünfte Generation vor ihnen. Was, wenn ihre Großeltern, Urgroßeltern oder Ururgroßeltern wirklich Drachen gewesen waren? Oder vielleicht ihr früh verstorbener Vater, über den ihre Mutter nie sprach? Aber hätte ihre Mutter es ihr nicht gesagt, wenn irgendjemand in ihrer Familie ein Drache gewesen wäre? Dann fiel ihr ein, dass jeder von ihnen blütig gewesen sein könnte, ohne es selbst zu wissen.
Vor dem Reservat würde sie ein makelloser Stammbaum gewiss auch nicht retten. Erst, wenn sie dreißig Jahre alt wurde, ohne sich verwandelt zu haben, würde sie in die Gesellschaft zurückkehren können. Das war noch einmal so lange, wie sie bisher gelebt hatte. So lange konnte sich nicht einmal Ada Grayson im Wald in einer Grotte verstecken.
Wenn ich wirklich ein Drache wäre, dann könnte ich im Wald leben, dachte sie, und für einen Moment gab sie sich wilden Ideen hin. Sie richtete sich auf und versuchte, sich Kraft ihrer Gedanken Flügel wachsen zu lassen, sich lebhaft vorzustellen, wie sie aus ihrem Rücken aufstiegen, lange, ledrige Schwingen, fähig, sie in die Lüfte zu tragen, fort von denen, die sie einfangen wollten, vielleicht in ein einsames Gebirge. Doch natürlich passierte nichts. Es war seltsam und absurd, sich vorzustellen, einfach eine andere Gestalt anzunehmen als die, die man schon immer gehabt hatte.
Ada überlegte. Sie konnte vielleicht auf der Straße leben. Viele Jugendliche waren Straßenkinder, ob nun drachenblütig oder einfach so abgehauen. Bestimmt würde sie sich irgendwie durchschlagen können, und vielleicht war das ja sogar ganz cool, so ein Leben ohne Erwachsene. Allerdings brauchte sie dazu erst etwas Zuessen, woran sie ihr knurrender Magen unweigerlich erinnerte.
Essen. Ich muss etwas essen.
Sue hatte den bisherigen Tag im Bett verbracht, ehe sie trotz ihres übel verstauchten Knöchels aufsprang, als sie über Social Medin von den jüngsten Ereignissen in ihrer Schule erfuhr. Da ist man einmal nicht da und die ganze Welt dreht durch.
Ihre Mutter war noch an der Arbeit, ihr Vater saß unten in seinem Büro beim Home Office. Sie humpelte die Treppe hinunter und riss die Tür auf. »Dad! Ada ist aus der Schule geflüchtet! Jen hat gerade geschrieben, sie hätte Gordon attackiert und blutig gebissen. Jetzt glauben alle, dass sie ein Drache ist!«
»Was?« Ihr Vater nahm die Brille ab, die er stets zum Schreiben trug, und drückte seinen Drehstuhl vom Tisch weg. »Wo ist sie jetzt?«
»Keiner hat sie seit dem Vorfall gesehen, aber die Schule hat die Behörden eingeschaltet. Ich schätze, sie suchen bereits nach ihr.« Sue war völlig außer sich, fühlte sich hilflos und verzweifelt. Was, wenn sie sie fanden?
Ihr Dad rieb sich übers Gesicht. »Hast du sie schon angerufen?«
»Sie geht nicht ran und reagiert nicht auf Nachrichten. Sicher hat sie das Handy weggeworfen, um nicht geortet zu werden.«
»Vermutlich. Allerdings können wir nichts für sie tun, wenn wir nicht wissen, wo sie ist.«
»Vielleicht kommt sie ja hier her«, meinte Sue nach einem Augenblick und warf ihrem Vater dabei einen verstohlenen Blick zu. Wie würde er reagieren, wenn ein gesuchter mutmaßlicher Drachenwandler bei ihnen auftauchte? Sie wusste es nicht, obwohl sie ihren Vater gut kannte.
»Glaubst du das?«, fragte er völlig neutral, als würden sie sich über etwas so Triviales wie das Wetter unterhalten.
»Ich bin Adas beste Freundin. Wohin sollte sie sonst gehen?«
»Zu ihrer Mutter«, erwiderte ihr Dad, aber er klang selbst nicht überzeugt davon.
»Du weißt, was sie damals mit Lance gemacht hat«, gab Sue zu bedenken, und ihr Vater schwieg, sah sie einfach nur an. Jeder wusste es, aber niemand sprach darüber. So, wie man üblicherweise auch nicht über Drachen sprach.
Lance Carmichael war wie ein Bruder für Ada gewesen. Sie waren zusammen aufgewachsen, seit Ada fünf und Lance sieben Jahre alt waren. Er hatte in der Nachbarschaft gewohnt, das einzige und ungewollte Kind seiner alleinerziehenden, überforderten, alkoholabhängigen Mutter. Wann immer sie sich betrank, war Lance zu Ada und ihrer Mutter gekommen, hatte bei ihnen geschlafen und etwas Zuessen bekommen, ganz selbstverständlich, als ob er zu ihrer Familie gehörte. Sie hatten für ihn sogar Schulutensilien gekauft und waren mit ihm zum Arzt gegangen. Mrs. Grayson hatte stets Mitleid mit dem alleingelassenen Jungen gehabt. Aus irgendeinem Grund war es nie dazu gekommen, dass man ihn seiner leiblichen Mutter wegnahm. Vielleicht hatte Lance das nicht gewollt und versucht, die Vernachlässigung zu verheimlichen. Kinder hingen oft unerklärlicherweise an ihren Eltern, selbst wenn diese es nicht gut mit ihnen meinten.
Er war vierzehn, als es schließlich geschah. Bei der Schuluntersuchung hatte er die Ärztin gebissen, vorgeblich, weil diese eine frische Wunde an der Hand gehabt hatte. Die Schüler dagegen hatten getuschelt, dass die Frau ihre Periode hatte und Lance das Blut roch. Der Bursche besaß eine ausgesprochen beunruhigende Affinität zu Blut: Wann immer seine Mutter eins ihrer Hühner schlachtete, fing er an zu geifern. Wie alles andere auch, was ihren Sohn betraf, hatte sie das nie wirklich interessiert. Wenn er sich dagegen an dem rohen Fleisch vergriff, prügelte sie ihn, und zwar heftig. Lance hatte irgendwann angefangen, sich selbst zu beißen und seine Gelüste zu verheimlichen. Aber das sorgte bekanntermaßen nicht dafür, dass sie verschwanden.
Der Auftritt bei der Schuluntersuchung hatte Lance’ Schicksal schließlich besiegelt: Die Schule wollte ihn noch vor Ort durch die Behörden abholen lassen. Ada war zusammen mit ihm Nachhause geflüchtet, sie hatten sich in ihrem Zimmer eingeschlossen, verzweifelt und überfordert mit der Frage, was sie jetzt tun sollten. Dann hatte Ada ihre Mutter angerufen, die bestimmt wusste, was zu tun war. Aber statt ihnen zu helfen, hatte sie Lance ausgeliefert.
Sue war sich bis heute nicht sicher, ob Ada zu recht wütend auf ihre Mutter sein durfte. Lance stellte vielleicht wirklich eine Gefahr dar, wo er sich doch nicht unter Kontrolle hatte, und er hätte sich immerhin nicht ewig in ihrem Zimmer verstecken können. Zudem schien Ada zu dem Zeitpunkt völlig zu verdrängen, dass Lance wirklich ein Drache sein könnte. Und Drachen frei herumlaufen zu lassen ging ja nun wirklich nicht. Sie selbst hatte es erst auch nicht glauben wollen, dass Lance ein Drachenwandler sein sollte – aber wer konnte das schon so genau sagen?
Andererseits hätte es vielleicht mehr Möglichkeiten gegeben. Sue wusste, dass in Kanada weniger strikte Maßnahmen gegen Drachenblütige und sogar Wandler verhängt wurden. Vielleicht hätten sie Lance zur Flucht über die Grenze verhelfen können. Aber Adas Mutter war mit der Situation wohl nicht weniger überfordert gewesen. Vermutlich hatte sie keinen Ausweg gesehen und die Konsequenzen einer Beihilfe zur Flucht gefürchtet. Oder sie hatte wirklich geglaubt, das Richtige zu tun.
Nun war Lance schon seit drei Jahren fort, verschluckt von irgendeinem Reservat im Nirgendwo, und niemand wusste, wie es ihm seit her ergangen war oder ob er überhaupt noch lebte.
Sue wurde aus ihren Gedanken gerissen, als es plötzlich an der Tür klopfte – klopfte, nicht klingelte, und zwar an der Hintertür. Sie war trotz ihrer Verletzung schneller als ihr Vater, öffnete und stand unvermittelt Ada gegenüber.
»Sue! Du musst mir helfen! Ich… ich…!«, begann sie aufgewühlt, schrie dabei fast.
Ihre Freundin zog sie bereits nach drinnen, bevor sie jemand sah oder hörte. »Ada! Ich weiß, ich weiß!«, unterbrach sie sie hektisch, und Ada verstummte, als Mr. Lincoln an sie beide herantrat.
»Kind, ist es wahr? Hast du diesen Jungen… gebissen?«
Ada leckte sich über die Lippen, nickte und sah dabei aus, als wolle sie jeden Moment in Tränen ausbrechen. So verletzlich hatte Sue sie schon lange nicht mehr gesehen – zuletzt, als sie Lance weggebracht hatten.
»Verdammt, ich wollte das doch nicht! Es… ist einfach passiert!«, platzte es aus ihr heraus. »Ich hatte solchen Hunger!«
»Gütiger…« Mr. Lincoln rieb sich mit der Hand übers Gesicht. So verunsichert hatte Sue ihren Vater noch nie erlebt, und das machte ihr noch mehr Angst, als sie ohnehin schon hatte. Es machte ihr bewusst, wie schlecht es um Ada stand.
»Weiß deine Mutter, dass du hier bist?«, fragte er Ada nach einem Moment.
»Natürlich nicht! Die würde mich doch sofort den Behörden übergeben!«
»Sie ist deine Mutter«, erwiderte Mr. Lincoln und sah sie ernst an. »Auch, wenn ihr eure Differenzen habt, die völlig normal in deinem Alter sind…«
»Sie hat Lance wegbringen lassen!«, schrie Ada völlig verzweifelt. »Sie haben selbst gesagt, wie in den Reservaten mit Drachen umgegangen wird! Wer weiß, was sie mit Lance getan haben! Und was sie mit mir tun, wenn sie mich schnappen!« Nun brach Ada tatsächlich in Tränen aus – all die Emotionen, Wut, Angst und Verzweiflung, gemischt mit dem üblichen Cocktail an Hormonen, brachen aus ihr heraus wie eine unaufhaltsame Flutwelle.
Mr. Lincoln war da, um sie zu stützen, und er begleitete beide Mädchen nach oben ins Wohnzimmer, wo sie sich alle drei auf die Couch setzten. »Ruhig, Liebes. Wir wissen nicht, was mit Lance geschehen ist. Er wäre… ich meine, er ist jetzt wie alt? Siebzehn? Ja, siebzehn. Vielleicht hat er noch keine Gestalt angenommen und kommt wieder frei.«
In dreizehn Jahren, wenn ihn hier niemand mehr kennt und er keine Zukunft mehr hat, dachte Sue unweigerlich.
Es waren leere Worte, und das machte sie selbst wütend. Wenn es jemals einen Jugendlichen in ihrem Ort gegeben hatte, der sich wirklich auffällig drachenhaft verhielt, dann war es wohl Lance, so schwer es ihr auch fiel, das zuzugeben. Wer sollte zum Leibwechsler werden wenn nicht er? Und in der Pubertät verwandelten sich immerhin bis zu fünfundsiebzig Prozent aller Drachen.
Jetzt sollte das, was ihm widerfahren war, auch Ada zustoßen? Ihrer Kindheitsfreundin, die immer mit ihr gespielt hatte? Das konnte sie nicht zulassen. Sie würde es nicht zulassen.
»Du bleibst erst einmal hier, bis uns etwas eingefallen ist. Bestimmt hast du Hunger«, sagte Mr. Lincoln, und Sue liebte ihren Vater dafür, ihnen beizustehen. Es war alles, was sie im Moment für sie tun konnten. Tatsächlich hatte Sue keine Ahnung, wie sie sie den Behörden vorenthalten sollte. Sie würden in der ganzen Nachbarschaft nach ihr suchen, bei all ihren Klassenkameraden und Lehrern. Aber anfangen würden sie gewiss bei ihrer Mutter, und diese wusste glücklicherweise nichts von ihrem derzeitigen Aufenthaltsort. Auch sie konnten einfach so tun, als wüssten sie von nichts, wenn sie zu ihnen kamen. Und dann mussten sie abwarten, bis die Behörden die Suche auf die weitere Umgebung ausweiteten.
Sue brachte Ada die Reste ihres Mittagessens: Nudeln in Tomatensauce ohne Fleischeinlage. Ada war so hungrig, dass sie alles hinunterschlang, ohne zu zögern. Sue entging nicht das leise Knurren, das dabei aus ihrem Körperinnern heraufwallte und leicht für Magenknurren gehalten werden konnte. Man hörte es nur, wenn man genau darauf achtete. Sue schluckte schwer. Mit einem Mal fragte sie sich beklommen, was sie tun sollten, wenn Ada wirklich zum Drachen wurde. Mitten in ihrem Haus. Würde sie ihre Freundin noch erkennen? Oder sie für den Nachtisch halten?
Sue hatte sich seit dem Vorfall mit Lance auch abseits der Schule ein bisschen mit Drachen beschäftigt. So wie die meisten Menschen hatte sie noch nie einen echten gesehen. Die Wandler blieben weiterhin Menschen, irgendwo tief in ihrem Innern, und sie konnten auch wieder Menschengestalt annehmen, aber in ihrer Drachengestalt verloren sie die Fähigkeit zu sprechen und zu denken. Es war umstritten, ob sie sich in diesem Zustand überhaupt noch ans Menschsein erinnerten oder voll und ganz zur wilden Bestie mutierten, die alles angriff, was sich bewegte. Sie erinnerte sich unweigerlich an den Spruch, der in ihrer Kirche direkt über dem Altar zu lesen war: »Der Drache ist die personifizierte Erbsünde, ein gottloses und menschenfeindliches Ungeheuer, der Verschlinger der Welt und Diener des Teufels.« Die Rückverwandlung zu einem Menschen setzte ebenso unwillkürlich ein wie die Verwandlung zum Drachen und ließ den menschlichen Körper nackt und ohne Erinnerung an alles, was dazwischen lag, zurück. Der eigentliche Prozess, über den nicht viel in Erfahrung zu bringen war, war Gegenstand wissenschaftlicher Forschung, faszinierend und verstörend zugleich.
Sue bemerkte, dass Ada ihr Mahl beendet hatte und sie anstarrte. Damit kehrten ihre Gedanken in die Realität zurück. »Was soll ich jetzt tun?«, fragte Ada und klang so kindlich, dass Sue alle Furcht verwarf, die plötzlich über sie gekommen war.
»Ich weiß es nicht, Ada. Du bleibst heute Nacht erst einmal hier, und dann… sehen wir weiter.«
»Gibt es keinen Ort, zu dem ich gehen und bleiben könnte? Irgendeine… Absteige?«, fragte sie.
»Was meinst du damit?«
»Ich weiß auch nicht… könnte ich nicht einfach auf der Straße leben? Mich irgendwie allein durchschlagen? Wir haben in der Schule doch mal so einen Film gesehen: In Nepal leben Kinder auf den Straßen und keinen interessiert es. Vielleicht könnte ich auch in so einem baufälligen Hochhaus wohnen. Wer würde mich dort schon finden? Ich brauche nur Hilfe dabei, an so einen Ort zu kommen.«
Sue schüttelte den Kopf. »Was soll das für ein Leben sein? Verwahrlost in einem Hochhaus… was tust du im Winter?«
Ada stützte das Gesicht in die Handfläche. »Ich weiß es doch auch nicht! Ich weiß nur eins: Dass ich auf keinen Fall in so ein Reservat gehe. Auf gar keinen Fall! Lieber sterbe ich!«
Sue schluckte, dann sagte sie aus voller Überzeugung: »Wir finden eine Lösung. Das verspreche ich dir.« Auch wenn sie keine Ahnung hatte, wie diese aussehen sollte.
Hannah Grayson zitterte, als es schließlich an der Tür klingelte.
Sie hatte die Behörden erwartet, nicht erst, nachdem die Schule angerufen und sie über den Vorfall mit Ada in Kenntnis gesetzt hatte. Schon lange vermutete sie es, lebte in ständiger Angst davor, dass es jeden Tag so weit sein konnte. Trotzdem erschrak sie nun, als der Moment gekommen war, fühlte sich völlig unvorbereitet, und war zum wohl ersten Mal in ihrem Leben glücklich darüber, nicht zu wissen, wo Ada steckte. Lauf, dachte sie grimmig und unterdrückte ein Schluchzen, lauf weg und versteck dich. Komm nicht raus, zeig dich niemandem.
Ada hätte wohl eher geglaubt, dass ihre Mutter eine vom Himmel herabgestiegene Gottheit in Menschengestalt war, als dass sie auf ihrer Seite stand, und genau diese Gewissheit schmerzte Hannah. So sollte es nicht sein zwischen Mutter und Kind. Wann hatte sie sie verloren?
Du weißt genau wann und wie, schalt sie sich selbst und schluckte schwer.
Der Gang zur Tür kam ihr wie eine Ewigkeit vor. Ihre Gedanken rasten, probten alle möglichen Schreckensszenarien durch, wie die Begegnung ablaufen und was sie sagen würde. So wie damals, als sie Lance holten. Sie erinnerte sich unweigerlich daran, was für ein niedlicher, unschuldiger Junge er gewesen war. Wie er ihr einmal Blumen gebracht hatte und sich freute, wenn er umarmt wurde. Wie er sie anlächelte. Wie er weinte und sich schutzsuchend an sie schmiegte. Seine eigene Mutter hatte ihm nie die Zuwendung geschenkt, die er gebraucht hätte.
Und dann war ausgerechnet sie es gewesen, die ihn ausgeliefert hatte. Weil sie glaubte, das Richtige zu tun. Sie hatte ihn verraten. Das durfte kein zweites Mal geschehen. Sie würde Ada beschützen, ganz gleich, was es sie kostete. Niemand würde ihr ihre Tochter wegnehmen. Ich hasse mich selbst für das, was ich getan habe, Ada. Ich würde es rückgängig machen, wenn ich könnte. Wir würden Lance irgendwo verstecken, den Behörden sagen, dass er in die Wälder geflüchtet ist.
Hannah öffnete nicht, sondern fragte an der Freisprechanlage: »Wer ist da?« Ihre Stimme klang fest, und das verlieh ihr unverhoffte Kraft.
»Guten Tag, Mrs. Grayson. Ich wurde von der Behörde für Drachenangelegenheiten zu Ihnen geschickt«, meldete sich eine männliche Stimme, erstickend freundlich. Hannah kam die Galle hoch.
»Und was wollen Sie? Ich bin beschäftigt.«
»Ich denke Sie wissen, was ich will.« Fast war Hannah, als könne sie das Lächeln dieses Mistkerls durch die Freisprechanlage hindurch sehen. »Die Drachenbehörde klingelt nur aus einem Grund bei Anwohnern: Wenn es um Drachen geht.«
»Ich habe mir nichts zu Schulden kommen lassen.«
»Deshalb stehe ja auch ich hier und nicht die Polizei. Sie werden sich freuen, mich zu sehen. Hoffe ich zumindest.«
Das verwunderte sie nun doch. Seit wann hatten die Behördenmitarbeiter Humor? Und warum kam ihr diese Stimme so vage bekannt vor?
»Hören Sie, ich habe keine Zeit für ein Gespräch mit den Behörden. Versuchen Sie es morgen noch einmal, so gegen vier Uhr nachmittags.« Das sollte ihr ausreichend Zeit verschaffen, nach einer Lösung zu suchen – und nach Ada.
»Und wie wäre es mit einem Gespräch zwischen Familienmitgliedern? Hast du dafür Zeit?«
Nun hielt sie inne, schaltete die Freisprechanlage aus und öffnete die Tür.
Hannah blinzelte verblüfft. Konnte dieser absolut gewöhnlich aussehende, dunkelhaarige Mann mit den runden Brillengläsern wirklich der sein, für den sie ihn hielt? »Hank? Bist du das?«
Er lächelte äußerst einnehmend. »Hannah Grayson. Es ist so schön, dich wiederzusehen.«
»Hank!« Sie fiel ihm um den Hals, während ihr tausend Fragen gleichzeitig durch den Kopf schossen. Sie alle verbanden sich zu einem einzigen atemlosen Wort: »Wie?«
»Ein Drache in dieser Gegend und dann fiel auch noch der Name Grayson. Wie hätte ich da zögern können?«
Sie ließ von ihm ab, um ihn anzusehen. »Hank, ich… ich weiß nicht, was ich tun soll…!« Nun kam doch das Schluchzen aus ihr heraus, das sie seit dem Klingeln unterdrückt hatte.
»Hey«, er hob ihr Kinn mit dem Finger an und blickte ihr in die Augen, welche sich mit Tränen füllten. »Dafür bin ich ja jetzt da, und ich habe dir sogar noch jemanden mitgebracht.« Ein zweiter Mann stieg aus dem grünen Geländewagen ohne Schriftzug, der vor dem Haus parkte. Sie erkannte den dunkelhäutigen jungen Burschen nicht, bis er nähergekommen war und schließlich direkt vor ihr stand. Ein schüchternes »Hallo, Mrs. Grayson« kam über seine Lippen – und nun brach sie endgültig in Tränen aus.
»… Lance!«
*
»Ich tue jetzt mal so, als würde ich dich streng darüber ausfragen, wo deine Tochter abgeblieben ist«, begann Hank gelassen, derweil er sich auf der Couch zurücklehnte. Lance trank von dem Kakao, den Hannah ihm gemacht hatte – er mochte ihn immernoch so gern wie früher.
Hannah schüttelte den Kopf. »Ich weiß wirklich nicht. Sie ist aus der Schule geflüchtet und seitdem nicht mehr aufgetaucht, das ist mein letzter Stand. Zu mir wird sie wohl auch nicht kommen. Sie hat mir nie verziehen, was ich damals getan habe.« Ihre Augen fielen auf Lance, der den Blick verwirrt erwiderte.
»Hm?«
»Dass ich dich den Behörden übergeben habe«, sagte sie leise. »Ich habe es so sehr bereut… ich dachte… manchmal dachte ich… vielleicht…«
Lance wirkte immer verwirrter. »Was dachten Sie?«
»Dass wir schlimme Dinge mit dir tun«, kam Hank ihr zuvor und trank von seinem Tee. »Es tut mir sehr Leid, dass du so lange in dieser Angst leben musstest. Ich habe dir geschrieben, aber anscheinend wurde der Brief nicht zugestellt. Das passiert immer wieder, ich habe den Grund nicht eruieren können, gehe aber von Vorsatz aus. Man will die Kommunikation mit den Reservaten unterbinden, denn Briefe, die ans Reservat adressiert sind und von der Drachenbehörde stammen, kommen immer an.«
»Warum sollten sie schlimme Dinge mit mir tun? Was für schlimme Dinge?«, hakte Lance nach.
Seine Naivität ließ ihr das Herz noch schwerer werden.
»Es herrscht vielerorts der Glaube, in allen Reservaten würde es brutal zugehen«, erklärte Hank. »Deshalb hat wohl auch Ada Angst davor, gefunden und dorthin gebracht zu werden.«
»Also ich finde es sehr schön«, versicherte Lance. »Ich liebe die Berge und Wälder. Dort fühle ich mich richtig frei, anders als hier, wo alles so… beengt ist. Auch wenn ich natürlich die meiste Zeit über studieren muss.«
»Du studierst?«, fragte Hannah ungläubig. »Im Reservat?«
»Wir haben keine Hochschulen, aber Fachlektüre über so ziemlich alles, was die Schüler interessiert. Bildung darf schließlich nicht zu kurz kommen, sie sind ja eine lange Zeit bei uns, manche ihr Leben lang. Und gerade Drachen lieben es zu lernen. Ihr Geist muss ebenso gefordert werden wie ihr Körper«, sagte Hank. Hannah erinnerte sich, dass das Reservat inmitten der Great Smoky Mountains lag. Endlose Wälder und Berge, Flüsse zum Baden und Tiere zum Jagen. Es war der perfekte Ort für Drachen, sie entwickelten sich prächtig in dieser Umgebung. So hatte es ihr zumindest Samuel beschrieben, Adas Vater. Der Mann, den sie nie kennengelernt hatte und über den Hannah niemals sprach. »Ada wird es an nichts fehlen. Ich würde nicht immer noch dort sein, wenn es mir nicht gefiele«, erwiderte Hank.
Hannah zögerte. »Warum erzählt man sich dann diese Dinge über die Reservate?«
Hank zuckte mit den Schultern. »Die Leute erzählen sich über alles mögliche schreckliche Dinge. Die größte Angst des Menschen ist die Angst vor dem Unbekannten, und kaum jemand weiß, wie es in den Reservaten zugeht, weil sie von der Öffentlichkeit abgeschottet sind.«
»Und du glaubst, das ist das Richtige für Ada?«, fragte sie.
»Ja.«
»Gib mir keine einsilbige Antwort!«, fauchte Hannah und ließ ihn damit überrascht aufsehen. »Du verlangst von mir, dass ich mein einziges Kind weggebe, ins Ungewisse, vielleicht für immer! Was geschieht dort mit ihr?«
Hank sammelte sich für die Antwort. »Sie wird einer privaten Unterkunft zugeteilt, in die sie sich zurückziehen und die sie nach Belieben einrichten kann. Die Schlafplätze teilen sich mehrere Drachen – erfahrungsgemäß schlafen sie in Gesellschaft am Besten. Sie kann an gemeinsamen Mahlzeiten teilnehmen oder sich eigenständig versorgen, denn es gibt einzelgängerische Exemplare, auch wenn die meisten sehr sozial sind. Sie wird in ihrem Alter noch unterrichtet, später wird sie dabei helfen, die Gemeinschaft zu unterhalten. Diesen Auftrag übernehmen die erwachsenen Drachen gemeinsam. Eine angemessene medizinische Versorgung wird selbstredend auch sichergestellt.«
»Kann ich sie dort besuchen?«, stellte Hannah schließlich die Frage, die sie am Meisten umtrieb.
»Ich werde dich so gut es geht auf dem Laufenden halten. Mittlerweile haben wir Satellitentelefone und Satelliteninternet, auch, wenn es nicht immer funktioniert.«
Hannah zögerte, einen Stein im Magen fühlend. Hank beugte sich vor. »Kannst du uns zumindest einen Anhaltspunkt geben, wo sie sein könnte?«
»Vielleicht, nur vielleicht, bei Sue, ihrer Freundin.«
Hank nickte, und Lance erhob sich mit ihm. »Dann sehen wir zuerst dort nach.«
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Sabienchen • Vor 19 Stunden und 35 Minuten • Mit 3. Kapitel verknüpft | |||
Ich mag Mr. Lincoln :) nur ob er am Ende mit Sue eine Lösung finden oder er Ada ehrlich nicht als Gefahr ansieht. Aber ihre Mutter ist ja eigentlich kein schlechter Mensch, ich denke, sie war mit der Situation mit Lance überfordert gewesen oder hatte einfach nur angst gehabt. Daher bin ich auch gespannt, wie Ada Mutter jetzt Handelt, besonders da es um ihre Tochter handelt :/ Aber ich glaube, sie müssen jetzt schnell Handeln oder eine Lösung finden, da die Behörde auch nicht dumm sind :/ |
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Sabienchen • Vor 2 Tagen, 22 Stunden und 8 Minuten • Mit 2. Kapitel verknüpft | |||
Ada Situation ist alles andere als rosig, besonders da sie die Situation nicht ganz versteht und auch nicht ganz versteht warum sie jetzt weglaufen muss :/ Mit Lance hört sich auch nicht schön an, da bin ich gespannt, ob sie sich vielleicht wieder sehen werden. Ich kann auch Ada Gedankengänge verstehen, besonders an ihre Freunde und ob sie, sie wieder sieht. Ich glaube, der Hunger ist alles andere als gut, da sie in nicht Kontrollieren kann :/ Dann hoffe ich, das sie jetzt nur Tiere Jagt und dadurch etwas sicher ist. Bis sie weiß, was sie jetzt machen soll. Mehr anzeigen |
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Sabienchen • Vor 2 Tagen, 22 Stunden und 39 Minuten • Mit 1. Kapitel verknüpft | |||
Hallo Abiogladius Ich finde, den Anfang schonmal interessant gestaltet und bekommt dadurch auch einige gute Informationen ^^ |
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Kapitel: | 4 | |
Sätze: | 465 | |
Wörter: | 7.174 | |
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