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Kapitel: | 6 | |
Sätze: | 906 | |
Wörter: | 15.107 | |
Zeichen: | 87.442 |
Diese Bewegungen, diese Gestalt… Sie war für mich so natürlich wie ein Atemzug, den ich nicht brauchte. Und doch fühlte es sich fremd an, als ich meine göttliche Gefilde verließ und lautlos einen Fuß auf den Boden setzte, der sanft schimmerte. Natürlich war ich Licht gewohnt. Leben. Ohne Licht konnte kein Schatten existieren und so war es auch meine Pflicht, ihm den Raum in meinem Reich einzugestehen den es hatte. Getragen von Menschen. Erleuchtet von Sternen, die sich ihre Nester in meinem Firmament bauten. Es störte mich nicht, denn ich war unendlich und es gab genug Platz. Nacht für Nacht erlaubte ich Zerthys dieses Leuchten und Tag für Tag zog ich meine Schatten zurück, damit die Sonne unserer Herrscherin sie nicht verbrannte.
Doch es mussten schon viele Jahrtausende vergangen sein, seit ich das Pantheon betreten hatte. In einer Machtgestalt, die den Sterblichen so ähnelte, denen wir mit unserem Tun dienten und die sie doch niemals sehen durften. Aber diese Hände, dieser Mund und diese Gestalt machten es einfacher, mit den anderen Göttern zu sprechen.
Natürlich war ich nicht nervös, als ich durch die Hallen schritt, ohne dass auch nur ein Laut meine Ankunft ankündigte. Dennoch war ich froh um den weiten, lichtschluckenden Umhang und die Kapuze, die mich vor den hellsten Strahlen schützte, als die anderen Götter feindselig zischend vor mir zurückwichen. Langsam senkte ich den Blick. Es waren meine Augen, so dunkel wie die Nacht und so finster wie der Tod, über den ich herrschte, die Unbehagen bei ihnen auslösten. So bemühte ich mich niemanden aus diesem Kreise anzusehen – besonders nicht die geisterhaften Diener, die sich um ihre Götter kümmerten. Sie waren so zerbrechlich. Noch ein Schritt war es, der mich von meinem seit Jahrtausenden verlassenem Sitz am Kreise des Pantheons trennte, doch ich führte ihn nicht zuende, als sich mir jemand in den Weg stellte.
„Du bist hier nicht erwünscht, Dunkler.“, zischte eine Stimme. Sie erklang nicht direkt, sondern füllte den Raum meiner Gedanken mit seiner Präsenz. Ein weiterer Weg, um die Geistwesen zu schützen, den ich beinahe vergessen hätte. Die Schatten in meiner Gesellschaft hatten weder Augen noch Ohren und so konnte ich in meinem Reich sprechen, wie ich es wünschte. Hier jedoch besann ich mich auf meine eigene Gedankenstimme, wispernd, leise und tragend, als ich Veythor antwortete.
„Ich hörte, am heutigen Tag sprecht ihr über mein Reich, die Ruhestatt der Toten. Und doch erhielt ich keine Einladung. Ist es da nicht mein Recht, für das Wohl der mir anvertrauten Seelen zu sprechen? Wenn ich befürchten muss, dass ihr ohne mich Entscheidungen trefft?“
Ein Raunen erfüllte den Raum, als hätten sie nicht erwartet, je wieder meine Stimme zu hören. Zerthys war es, der seinem Bruder im Blute beschwichtigend die Hand auf die Schulter legte.
„Lass es ruhen“, sprach der Sternenträger auf seinen impulsiven Bruder ein und zog ihn mit einer seiner Ruhe widersprechenden, unterwürfigen und von Feindseligkeit durchtränkten Verbeugung aus meinem Weg. Mehr brauchte ich nicht zu tun, mehr nicht zu sagen. Als einer der Ältesten unter den Göttern besaß ich eine natürliche Autorität – doch auch den Hass jener, die den Pantheon mit mir teilten. Sie konnten nicht anders und ich verübelte es ihnen nicht, lag es doch in der Natur der Dinge, Fremdartigkeit und Finsternis abzustoßen. Lieber badeten sie im Licht der reinen Wahrheit, das unsere Herrscherin Cahaya auf uns scheinen ließ. Jenem Licht, dem ich schon immer ausgewichen war. Mein Wesen barg zu viele Geheimnisse in seinem Schatten, die dieses Licht noch nie erblickt hatten. Nur heute, geschützt von einem Artefakt meines klugen jüngeren Freundes und dem Mantel der Nacht, würde ich vor der Sonne sprechen.
Noch immer konnte ich das Gemurmel hören, die Blicke spüren, während ich an meinen Platz trat und das Amulett umfasste. Doch nicht alle waren feindselig. Sytharis, der sich heute für seine männliche Gestalt entschieden hatte, schien sich sogar über meine Anwesenheit zu freuen und schickte eine kleine, rot getigerte Lichtkatze in meine Richtung. Die Katze, die ich nun neugierig betrachtete, setzte sein Pfötchen auf meinen Arm und hinterließ einen Abdruck, bevor sie in einem Flimmern verging.
Natürlich fiel der Abdruck wie Staub von meinem Mantel ab, doch die Geste brachte mich zum Lächeln. Ein ungewöhnliches Zeichen der Zuneigung, das ich so nicht erwartet hatte. Natürlich sah der Gott das Lächeln nicht - die Kapuze meines Mantels verhüllte mein Antlitz - aber ich wandte den Kopf in seine Richtung und nickte ihm langsam zu, bevor ich wieder meinen Arm betrachtete. Wie schade, dass es sich nur um einen so kurzlebigen Zauber gehandelt hatte. Ich war die Finsternis, das Firmament und der Tod, dennoch erkannte ich Schönheit, wenn sie vor mir stand. Aber hoffentlich war Sytharis sich bewusst was es bedeutete, wenn er offen bekannte, dass er mir nicht ablehnend begegnete. Er würde sich den Anderen gegenüber erklären müssen, nicht wahr? Ich konnte nur hoffen, dass es ihm nicht schadete. Doch was machte ich mir eigentlich Sorgen? Sytharis, der Gott der Liebe, Poesie, Schönheit und noch so vielem mehr hatte ein überaus einnehmendes Wesen und würde sich sicher nicht so schnell unterkriegen lassen. Erneut zuckte ein Lächeln über meine Lippen, als besagter zweigeschlechtlicher Gott - jetzt als Frau - damit fortfuhr, die Stimmung zu lockern und die Götter um sie herum in ihren Bann zu ziehen. So leicht war es, meine Anwesenheit zu vergessen, dass die Zeit bis zur Ankunft unserer Herrscherin wie im Fluge verging.
Es begann mit einem Brüllen.
Das Rauschen mächtiger Flügel durchschnitt die Luft und wir Götter hoben die Köpfe, als ein roter Schimmer über uns erschien. Wieder brüllte der Drache, kündigte an, was wir bereits alle erwartet hatten, und ich senkte den Blick in dem Moment, in dem das Licht auf seinem Rücken sichtbar wurde. So konnte ich nur hören und spüren, wie der rot gefiederte Amphitere sich in die offene Halle stürzte und seinen schlangengleichen Leib auf den Boden setzte, auf dem wir alle wandelten. Jeder kannte den Begleiter der Herrscherin. Das einzige mystische Wesen, das gottberührt war und das Himmelreich betreten konnte. Doch ich hatte ihn bisher immer nur aus der Ferne gesehen und betrachtete mit gesenktem Kopf das schöne Gefieder, das ich von hier aus sehen konnte. Es schimmerte in den Farben des Feuers - ich konnte Rot erkennen, aber auch Weiß, Gold und Schwarz. Eine Farbenpracht, die ich bewunderte. Meine eigene Schwärze schimmerte nur subtil, nicht so kraftvoll wie diese schöne Kreatur, und so versank ich einen Moment lang in der Betrachtung ihres Begleiters.
Bis ich den Kopf abwenden musste, weil ein viel helleres Licht sich nun näherte. Um mich zu schützen, zog ich die Kapuze tiefer in mein Gesicht und umfasste erneut das Amulett, das mich vor ihrem Schein bewahrte.
“Willkommen”, sprach eine ruhige Stimme und ich wusste, dass es sich dabei um unsere Herrscherin handeln musste, denn ich hatte sie noch nie vernommen. Cahaya sprach mit einer Kraft, die den ganzen Raum erhellte, und wo ihr Licht hinfiel, erwärmte sich die Luft. Als wäre die Sonne persönlich herabgestiegen und hätte sie mit ihrer Anwesenheit in ihr Licht gebadet, und doch schien sie weniger hell zu strahlen als ich angenommen hatte. Zügelte sie ihre Macht? Von Fern hatte ich sie bereits sehen können, und ihr Strahlen hatte den ganzen Himmel erfüllt. Vielleicht tat sie es, um uns Anderen die Gelegenheit zu geben, uns mit ihr verständigen zu können.
“Und Willkommen, Schatten. Ich habe es zwar nicht erwartet, aber es ist schön, dass Du uns beiwohnst.” Überrascht drehte ich leicht den Kopf und verstärkte meinen Griff um das Amulett, bevor ich in ihre Richtung nickte, ohne den Blick zu heben. Sie klang nicht, als würde meine Anwesenheit sie stören. Als würde meine Finsternis ihr Licht nicht beleidigen, sondern als wäre ich ein Teil dieser Runde. Als würde ich hierher gehören. Ich konnte natürlich ihre Überraschung hören, doch sie hielt sich auch subtil.
“Hab Dank”, erwiderte ich schlicht und konnte schon von hier das leise Zischen hören, weit hinten in meinem Kopf. Den anderen Göttern gefiel es nicht, dass ich ihr gegenüber das Wort ergriffen hatte.
“Mir wurde zugetragen”, fing die Sonnengöttin nun an und beendete damit sowohl das kleine Zwiegespräch, als auch den Unmut unseres Kreises, “dass es Unruhen an der Grenze zum Menschenreich gegeben hat. Zerthys, Du hast als Erster davon berichtet. Was können die Sterne uns erzählen?” Zerthys, jener Gott, der seine Sternbilder in meinem Firmament verteilte, erhob sich und legte die Hand über der mitternachtsblauen Robe über sein Herz. Leicht deutete er eine Verneigung in ihre Richtung an und hob dann den Blick, um zu unserer Herrscherin aufzusehen. Etwas, das ich niemals wagen würde.
“Die See ist unruhig, Große Sonne. Die Menschen richten ihren Blick nicht mehr in den Himmel, um sich zu orientieren, und die Gebete an meine Wenigkeit werden rarer. Sie fürchten sich vor etwas, aber ich konnte noch nicht ausmachen, worum es sich dabei handelt.” Seine Antwort war klar und er sprach wahr, dennoch konnte ich für einen kurzen Moment spüren, dass sein Blick auf mir ruhte. Der Nächste, der das Wort ergriff, war allerdings nicht ich. Stattdessen erhob sich nun Tylion. Der Gott des Meeres und der Fruchtbarkeit, der Heilung und der Gnade.
“Ich spürte vor wenigen Tagen in der Zeitrechnung der Menschen die Ankunft einer fremden Kreatur in meinem Reich, oh Leuchtende. Unsere Gläubigen haben Angst. Es versenkt ihre Schiffe und scheint sich der Insel zu nähern.” Mit jedem der Worte ergriff mich dieselbe Unruhe, die ich auch bei den anderen Göttern spüren konnte. Fremde Kreaturen im Meer? Und sie näherten sich jenem Ort, den kein Gott je betreten durfte? Daher also hatten sie mich nicht zu dieser Unterredung eingeladen. Sie fürchteten, ich könnte mich gegen sie gewandt und den Wesen des Totenreichs Zugang zu den Sterblichen ermöglicht haben. Eine alberne Vorstellung aus meiner Sicht, doch nicht abwegig für diejenigen, die bereits seit Äonen ihre Meinung über mein Reich gefestigt hatten. Es war gut, dass ich hier war. In dem Moment, in dem die zehn Götter des Pantheons - zwölf, zählte man mich und die Herrscherin mit, doch wir beide blieben still - zu diskutieren begannen und immer öfter mein Wirken als Idee unter ihnen herumging, erklang meine Stimme in ihren Köpfen.
“Cahaya”, richtete ich das Wort leise an unsere Herrscherin und sorgte damit dafür, dass sämtliche Anwesenden verstummten vor Schreck. Wie konnte ich es wagen, erneut mit ihr zu sprechen? Keine Demut in der Stimme zu tragen, sondern nur einen sanft erklingenden Respekt? Noch immer hob ich den Kopf nicht zu ihr hinauf, wagte es nicht, in ihr Antlitz zu blicken oder meines zu enthüllen, doch ich wandte mich in ihre Richtung. “Bist Du ebenfalls der Meinung, ich käme meinen Aufgaben nicht nach?” Natürlich erfüllte ich meine Pflicht. Das Reich der Toten war versiegelt und nur ich kannte den Weg hinein, führte ich doch zahllose Wesen durch diese Tore. Was darin lauerte, durfte das Licht der sterblichen Welt oder die himmlischen Gefilde niemals berühren und es war meine Aufgabe, dafür zu sorgen. Doch die anderen Götter konnten das Ausmaß dieser für sie fremden Welt nicht erfassen, ebenso wenig, wie ich das Ausmaß ihrer Macht sehen konnte. Sollte unsere Herrscherin den Sorgen der Götter also Glauben schenken, konnte ich es ihr nicht nachsehen und würde mich einer Strafe fügen. Denn sie war die Macht, die uns alle zusammenhielt. Der Ursprung unserer Welten, die Mutter des Schicksals. Es gab nichts, was ich ihr hätte entgegensetzen können oder wollen. Dennoch harrte ich in der Stille gebannt aus, wartete schon beinahe besorgt auf ihre Antwort. Doch das Schweigen zog sich, die Göttin schien über meine Worte und die des restlichen Pantheons genau nachzudenken. Immer mehr kroch die Furcht in mein Herz. Was würde mit mir geschehen, sollte sie zu meinem Verderben urteilen? Was würde mit der Finsternis geschehen, mit den Schatten, die ich beschützte? All die Geheimnisse der Sterblichen würden ans Licht gezerrt werden. Jene Dinge, die sie nur den beruhigenden Umarmungen der Nacht anvertrauten. Ich sorgte mich um meine Gläubigen, doch auch um den Rest der Menschheit, reichte mein Einfluss doch weiter als meine Kirche. Doch natürlich würde Die Leuchtende nicht zulassen, dass ihnen etwas zustieß. Vielleicht war es Zeit für einen neuen Schatten. Da sie noch immer schwieg, schloss ich langsam die Augen und hob den Kopf in Erwartung ihrer Strafe.
“Ich glaube dir, Schatten.” Diese Worte waren so überraschend wie erlösend, dass ich beinahe ihren Blick gekreuzt hätte. Doch so schnell ich auch die Augen öffnete, so sehr blendete mich auch ihr Licht und ich senkte sofort wieder den Kopf. “Die Sterblichen bleiben weiterhin in Gefahr. Wir wissen nun, dass das Reich der Toten weiterhin verschlossen ist, doch wir müssen diese Kreatur finden. Es ist nicht der Tod, der mir Sorgen bereitet. Es sind jene Dinge, die sich auf der Insel befinden. Unser Schutz hält das Wesen noch zurück, doch für wie lange?” Sorge sprach aus der Herrscherin, während ich noch mit der Erleichterung zu kämpfen hatte. Ich fürchtete den Tod nicht. Wie könnte ich, wenn ich sein Wächter war? Doch ich fürchtete den Käfig, und dieses Schicksal nun nicht zu ereilen war beruhigend. Aber ich hörte ihrer einzigartigen Stimme auch aufmerksam zu, denn sie hatte recht. Es musste etwas geschehen, bevor es zu spät war. Veythor war es, der sich als nächstes erhob. Flüssig klang seine Stimme, verführerisch glatt wie der weiche Nektar der Jahrtausendblüten. Keine Spur der Verachtung lag mehr in seinem Tonfall, den er zuvor noch mir zugedacht hatte.
“Mir scheint, wir sollten jemanden auf die Erde schicken, Große Sonne. Jemand, der sich dieser Kreatur annehmen und sie ins Himmelreich bringen kann, damit wir ihren Ursprung finden können”, sprach er und verbeugte sich derweil. “Ich biete an, mich selbst auf diese Reise zu begeben. Als Wesen des Wassers werde ich sie schneller ausfindig machen können als die Gestalten, die der Rest des Pantheons auf der Erde annimmt.” Erneut brach Gemurmel unter den Anwesenden aus. Götter, die zufrieden mit diesem Angebot waren und jene, die besorgt den Ereignissen lauschten.
“Mit Verlaub, Bruder”, erklang nun der erste Protest und ich drehte den Kopf in Zerthys Richtung, der sich leise räusperte. “Doch diese Kreatur hat das Reich Tylion’s invasiert. Sicher wäre es nur recht und billig, wenn er sich dieser Bedrohung annimmt, ist er doch weitaus gewandter im Umgang mit solchen Gefahren als Du.”
“Recht hat er”, stimmte Tylion zu, und auch andere Götter taten ihre Zustimmung dazu kund. “Meine Zähne werden das Biest besser verwunden können als deine Flossen.” Mein Kopf war noch immer gesenkt, doch die zur Faust geballte Hand konnte ich erkennen und Veythor verneigte sich erneut, bevor er sich wieder setzte. Zum Schweigen gebracht von seinem Bruder, war seine Wut bis hierhin spürbar und Sytharis in weiblicher Gestalt legte ihm beschwichtigend eine Hand auf seinen Arm. Wäre sie nicht gewesen, würde dieser Kreis viel schneller in Streit ausarten, den Cahaya mit ihrer Autorität hätte unterbinden müssen.
“Ich danke Dir für das Angebot, Veythor”, sprach Die Leuchtende nun und mir war, als könne ich das Lächeln in ihrer Stimme hören. “Tylion ist gewandter in seinem Element, doch ich möchte auch nicht, dass er sich allein dieser Gefahr stellt. Wir sind Götter, doch auch wir sind sterblich, sollten die richtigen Waffen uns finden. Bitte begleite das Krokodil, auf das er nicht einsam durch die Gezeiten streifen möge.” Besänftigt durch Sytharis’ Geste und Cahaya’s Worte, neigte Veythor den Kopf und auch Tylion fügte sich ihrem Willen. Es war beeindruckend, wie unsere Sonne den Raum allein mit ihrer Stimme zu beherrschen vermochte und auch ich fand mich gefangen im Bann ihrer Macht wieder. Vielleicht war das der Grund, aus dem ich mir wünschte, diese göttliche Versammlung möge noch weiter anhalten. Doch mein Wunsch, so unüblich wie unangebracht, wurde nicht erhört und die Große Sonne beendete das Treffen rasch, nachdem diese Lösung vorgebracht und akzeptiert worden war. Ebenso lautlos wie zu meiner Ankunft erhob ich mich von meinem Platz, neigte vor den anderen Göttern, aber besonders vor der Sonnengöttin Cahaya respektvoll den Kopf und hüllte mich in meinen schützenden Mantel, während die anderen es mir gleichtaten. Beinahe konnte ich den Seufzer der Erleichterung spüren, der den Raum erfüllte, als meine Anwesenheit sich dem Ende zuneigte und ich die Halle verließ. Nur eine Stimme ließ mich noch innehalten, als ich bereits den Korridor betreten hatte und dabei war, die Schatten meiner Selbst um mich zu sammeln.
“Bitte wartet noch, Schatten.”
Keuchend holte ich Luft, während ich mich eher reflexartig als aktiv gesteuert in meinem Bett zum Sitzen aufrichtete. Mehrmals musste ich blinzeln, um mein Zimmer richtig wahrzunehmen. Es war so… dunkel hier. Dunkel trotz der Sonne, die bereits aufgegangen war und das Zimmer mit Licht einhüllte. Aber mein Traum war so hell gewesen, dass mir erstmal alles dunkel vorkam. Noch immer in einer Zwischenwelt zwischen dem Traum und der Wirklichkeit gefangen, blickte ich verwirrt auf meinen eigenen Arm, der überraschend falsch aussah. Obwohl ich diesen Arm mein Leben lang anschaute, war er heute Morgen so wenig am Leuchten. Eben gerade war er noch blendend hell gewesen.
„Ayana?“, riss mich ein Klopfen gefolgt von meinem Namen aus der verwirrten Starre und mit dem zucken meines Kopfes zur Tür, verschwand auch der letzte Rest des Traumes – oder war es eine Vision gewesen?
„Ähm. Ich bin gleich soweit.“; rief ich zurück und schlug die Decke vollständig zurück, die durch mein Aufsetzen schon zur Hälfte gefallen war.
„Denk an die richtige Gewandung, der Sonnenpriester wird mit uns speisen heute“, rief Elaria durch die Tür und dann hörte ich wie ihre Schritte wieder verschwanden. Der Sonnenpriester persönlich würde also mit uns speisen. Wie aufregend. Doch ich hatte das bereits erwartet. Seit einer Woche waren wir nun im Hauptsitz der Kirche des Lichts und es war nur eine Frage der Zeit gewesen, bis das Oberhaupt der Kirche sich selbst ein Bild von mir machen wollen würde. Von der Gesegneten.
Normale Gesegnete wurden nicht sofort den hohen Autoritäten ihrer Kirchen vorgeführt, aber normale Kirchen hatten schließlich auch mehrere Gesegnete. Und wenn man, wie ich, die erste gottesberührte Person seit mehreren hundert Jahren war, dann war es wohl verständlich, dass alle hohen Tiere in der Kirche sich selbst von der Echtheit meiner Zeichnung überzeugen wollten.
Mit zügigen Bewegungen wusch ich mich, zog meine Unterkleider an und bürstete durch mein langes, braunes Haar, um es dann routiniert zu einem langen Zopf zu flechten. Seit sechs Jahren war ich nun schon die einzige Gesegnete der Heiligen Cahaya. Seit sechs Jahren wurde ich regelrecht von der Kirche des Lichts gefangen gehalten. Natürlich stimmte das nicht. Sie schützten mich und nutzten dafür alle Ressourcen, die sie hatten und ich sollte dankbar sein und meistens war ich das auch. Meistens konnte ich über die Behandlung wie eine Prinzessin und den Schutz hinwegsehen und die fehlende Entscheidungsfreiheit ausblenden.
Über meinen Unterkleidern trug ich für gewöhnlich eine schlichte weiße Robe, mit dem Symbol der Göttin auf der Brust und einer Kordel als Gürtel. Doch für den Sonnenpriester würde ich das festliche Gewand anziehen. Jede Kirche hatte Gewänder für Gesegnete, doch normalerweise war man mit solchen Kleidern nicht einzigartig wie ich nun in meinem weit ausschweifenden weißen Kleid aus mehreren Lagen Stoff, von denen die oberste Lage in langen Streifen am Rock herabfiel und entlang der ganzen Länge in kleinen und großen Kreisen das Symbol der Göttin mit goldenem Band eingestickt worden war.
Ich sah aus wie eine Prinzessin. Oder wie eine Braut. Genau in dem Moment, als ich die weißen Armbänder anzog, die den herunterhängenden weißen Tüll mit der Schulterpartie verbanden, klopfte es nochmal.
„Ayana? Bist du fertig?“, fragte Elaria nun deutlich weniger entspannt als eben noch. Als Adeptin traf man wohl nicht jeden Tag das Oberhaupt der eigenen Kirche. Ich öffnete die Tür von innen und wäre fast mit ihr zusammengestoßen, als ich sie anlächelte.
„Ich bin soweit“, antwortete ich ihr unnötigerweise, da sie mich bereits mit großen Augen anstarrte.
„Ich hoffe das ist so alles richtig?“ fragte ich, um ihr aus dem Staunen zu helfen. Ich wusste, wie man dieses Kleid korrekt trug, aber so hatte sie die Gelegenheit ihr Wissen anzuwenden. Sie musterte mich fachmännisch und nickte dann. „Perfekt.“ Auch sie erlaubte sich ein Lächeln.
„Nun dann, Gesegnete der Göttin des Lichts?“, fragte sie und nutzte absichtlich meinen ‚Titel‘.
„Der Sonnenpriester wartet nicht gern.“ Sie nickte mit ihrem Kopf einladend und ging dann vor mir weg, während ich ihr im Abstand von einem Schritt folgte.
Ich kannte mich hier noch immer nicht aus. Eine Woche hatte nicht gereicht, um mich in den vielen Zimmern im Hauptsitz der Kirche zurechtzufinden. Die Tempel und Kirchen, in denen ich zuvor länger untergebracht gewesen war, waren deutlich kleiner und hatten sich schnell wie eine Art zuhause angefühlt. Doch hier? Alles war pompöser, größer und verwinkelter. Als wäre das absichtlich so konstruiert worden.
Vor einer großen Flügeltür aus dunklem Holz mit schweren Metallnieten blieb Elaria stehen. Sie drehte sich um, lächelte kurz, senkte dann den Blick und trat mir aus dem Weg. Göttin, war ich dankbar, dass Elaria mit uns hergekommen war.
Ich atmete einmal tief durch, hob den Blick, richtete meinen Zopf und öffnete dann die Tür.
In den Empfangssaal, in dem sonst sehr wenig Möbel standen, war eine Tafel aufgebaut worden, mit acht Stühlen an dem länglichen Tisch und allerhand Speisen aufgereiht. Fisch, Eier, Brot, sogar Beeren in kleinen Schalen konnte ich sehen und einer meiner Mundwinkel zuckte leicht. Erst auf den zweiten Blick bemerkte ich die anwesenden Personen. Von allen Kirchenbediensteten fiel vor allem der Mann auf, den ich sofort als Sonnenpriester erkannte, auch wenn wir uns noch nie begegnet waren.
Zielsicher ging ich also auf den ganz in weiß gekleideten Mann zu, dessen Gottheitszeichen auf einer um den Hals gelegten Stoffbahn gezeigt wurde und dessen ganzes Gewand mit allerhand Edelsteinen und Gold- und Silberstoffen bestickt worden war. Dass er beim Gehen nicht klimperte war ein Wunder. Er lächelte warm, bereitete die Arme aus, als ich vor ihm stand und seine Stimme war tiefer, als ich sie erwartet hatte.
„Da ist sie ja! Herzlich Willkommen im Haupttempel der Kirche des Lichts, Ayana, Gesegnete der Göttin.“ Seine Hände fanden mein Gesicht und er umfasst es mit beiden Händen, während er mir direkt in die Augen sah. Ein wenig merkwürdig, aber ich hatte mich inzwischen daran gewöhnt.
„Ihr“, seine Stimme war voller Pathos, „Seid der Hoffnungsschimmer, auf den wir seit Jahrhunderten gesetzt haben, mein Kind.“ Erst dann ließ er mein Gesicht los. „Wir werden euch schützen, über euch wachen und euer Geschenk würdigen und ehren. Hell leuchte das Licht!“
„Denn dann leuchtet sie in dir.“; antwortete ich routiniert gemeinsam mit sieben weiteren Stimmen in diesem Raum. Der Leitsatz der Kirche. „Ich freue mich sehr, euch kennenzulernen Sonnenpriester. Es ist eine große Ehre.“ Ich hatte geübt was es zu sagen galt, aber ich meinte es durchaus so. Die Oberhäupter der Kirchen waren mächtig und auch wenn die Kirche des Lichts an Macht eingebüßt hatte, so konnte dieser Mann Wunder vollbringen, da war ich mir sicher.
„Lasst uns speisen“, lud Sonnenpriester Aetherion den Raum und auch mich ein und deutete auf die Tafel, zu der nun auch der Rest der Gruppe ging. Ich lächelte Elaria kurz zu, hegte aber keine Hoffnung während dem Essen mit ihr sprechen zu können. Und ich wurde nicht enttäuscht. Natürlich wurde ich neben Aetherion platziert, gegenüber von Hohepriesterin Lythira, die auf seiner anderen Seite Platz genommen hatte. Eine kühle Frau, zurückhaltend für diese Kirche, die sehr auf die Regeln bedacht war.
Dieses Kleid war für das Stehen und hübsch Aussehen geschneidert worden und ganz gewiss hatte niemand auch nur einen Gedanken daran verschwendet, wie man darin aß. Ich hatte sehr große Mühe damit mit den Stoffbahnen, die überall lose an mir herabhingen, nichts umzustoßen, oder den reinen Stoff zu ruinieren, weshalb ein entspanntes und angenehmes Essen nicht denkbar war. Trotzdem sagte ich nichts, sondern versuchte der inhaltslosen Gesprächsführung zu folgen.
„Wir bemühen uns sehr, dass eure Anwesenheit hier besser geheim gehalten wird als in Falwyth.“, wurde mir versichert. „Nicht einmal die königliche Familie wird von euch erfahren. Ich selbst werde mich darum kümmern. Habt ihr eure Lehrer mitgebracht? Gerade hier in der Hauptstadt wäre ein Universalgelehrter wohl nur in der Kirche Silvans zu finden und so sehr ich den Gott der Wissenschaft schätze, so fürchte ich zählt Verschwiegenheit nicht zu seinen primären Tugenden.“ Er runzelte die Stirn, während Lysandor – ein Priester des Tempels – auf meiner anderen Seite „Oder zu den sekundären, oder zu überhaupt irgendwelchen“, murmelte und ich ganz kurz Schmunzeln musste.
„Ich habe keine Lehrer, aber ich lerne sehr gut aus Büchern, Erhabener Glanz“, antwortete ich ihm, während ich mich darauf konzentrierte, ein Stück Forelle unfallfrei in meinen Mund zu befördern. „Und Bücher haben wir zwar einige mitgenommen, aber Priester Lysandor war so freundlich mich in die Bibliothek einzuweisen.“ Ich nickte dem jungen Mann neben mir freundlich zu und er errötete und fand plötzlich sein Frühstück viel interessanter, als auch Aetherion ihn musterte.
„Vielleicht fällt mir noch eine bessere Lösung ein, mein Kind“, dachte er laut nach, während ich ein genervtes Zucken mit dem Augenlid vermeiden musste. Ich hasste es, ‚mein Kind‘ genannt zu werden. Verniedlichend, herabwürdigend, als würde man mich nicht ernst nehmen.
Offizielle Essen wie dieses hatten die Angewohnheit, für alle Beteiligten anstrengend zu sein. Und ich war nicht die Einzige die erleichtert war, als die Tafel aufgehoben und dieser offizielle Termin für beendet erklärt wurde. Zum Abschied versicherte mir der Sonnenpriester noch, ich könne mich jederzeit an ihn wenden, wenn ich nur irgendeinen Wunsch hätte, dann wuselte er in Begleitung seiner Schreiber und Assistenten hinaus.
Elaria begleitete mich zurück zu meinem Zimmer und diesmal wirkte sie weniger verschwiegen als heute Morgen. „Ist er nicht beeindruckend?“ fragte sie mich schwärmend, während sie zum dritten Mal meinen Rock hochhob, weil ich Gefahr gelaufen war darauf zu laufen. „So einfühlsam, so nett und hilfsbereit.“ Fast hätte ich die Augen verdreht. Aetherion war mir auch durchaus sympathisch gewesen, aber musste sie sich deswegen benehmen wie ein verliebtes Schulmädchen?
Plötzlich hatte ich eine Hand von ihr in meinem Haar. „Ist das ein grauer Ansatz?“, fragte sie mich amüsiert. „Ist es so anstrengend gesegnet zu sein, Ayana?“, scherzte sie weiter, während wir gemeinsam mein Zimmer betraten. Ich machte eine wegwischende Handbewegung, ohne selbst nachzusehen. Ich wollte nur raus aus diesem Kleid, vielleicht würde das endlich diesem Unwohlsein entgegenwirken, was sich seit dem Aufwachen aus diesem merkwürdigen Traum in mir ausbreitete. Wenn ich mich doch nur erinnern könnte. „Bei dem ständigen Ortswechsel ist es ein Wunder, dass ich noch Haare habe, die nicht grau sind“, antwortete ich ihr grinsend, während ich mich schon aus den ersten Lagen des Stoffes schälte. Elaria fing den weißen Stoff auf, ehe ich ihn unsanft zu Boden werfen konnte. „Du bist nun Mal was Schützenswertes“, sagte sie beschwichtigend und am liebsten hätte ich mit den Augen gerollt. Es musste viel leichter sein, all diese Entscheidungen zu akzeptieren, die stets über uns und nicht mit uns getroffen wurden, wenn man so einen reinen und festen Glauben an die Leuchtende hatte, wie Elaria ihn besaß.
Es gab nicht mehr viele Anhänger der Kirche des Lichts. Nicht mehr, seit die Göttin vor sehr langer Zeit verschwunden war. Weg war sie natürlich nicht – jeden Morgen beim Sonnenaufgang bewies sie das – doch das machte es für die damaligen Anhänger sogar noch schlimmer. Die niemals fehlende Präsenz ihrer Göttin zu spüren und gleichzeitig zu merken, wie wenig Cahaya noch bereit war auf die Welt der Menschen einzuwirken. Nicht so wie die anderen Götter, allen voran der Schatten. Die Kirche des Lichts wurde schwächer, die des Schattens stärker – viele hielten das für eine gefährliche Entwicklung.
Und die Experten und Forscher wiederholten seit Hunderten von Jahren, es drohe keine neue Apokalypse und auch wenn die Macht der Lichtgöttin abnahm, sei das nicht bedenklich. Nun und daher waren wir nun hier. In einer der wenigen Tempel der Lichtgöttin, der noch gepflegt wurde. Mit den Kirchenämtern und Priestern, die geblieben waren. Und viele waren es nicht. Die große Universität in der Stadt – der Haupttempel von Wissenschaftsgott Silvan – hatte mehr Mitglieder und Kirchenbedienstete als alle Tempel der Cahaya im ganzen Reich gemeinsam. Gesegnete von Silvan waren fast alltäglich. Und bestimmt wurden sie nicht vor der Öffentlichkeit versteckt und verehrt wie ein lang ersehntes Wunder. Ich seufzte.
„Haben wir zufällig heute frei?“, fragte ich Elaria, während ich in die deutlich bequemeren Kleider schlüpfte, mit denen ich auch auf der Straße nicht aufgefallen wäre – also so lange nicht, bis sie mir den weißen Überrock überstreifte, auf den das Symbol der Göttin gestickt war. Dezent, aber immer noch eine Art Erkennungszeichen.
„Guter Scherz.“
„Hätte ja sein können.“; seufzte ich spielerisch. Ich hatte nichts gegen den Unterricht einzuwenden, auch wenn er mir seit einiger Zeit vorkam, als würde ich nichts wichtiges mehr lernen. Reichlich arrogant vielleicht und gewiss stimmte das auch nicht, aber meine Gefühlswelt war im Moment ohnehin durcheinander.
„Priester Lysandor bereitet gleich den Gottesdienst für den Sonnentag vor und bittet um meine Hilfe und deine Anwesenheit.“ Elaria war sehr diplomatisch und nur unsere langjährige Bekanntschaft verriet mir den Frust in ihrer Stimme. „Weihrauch schwenken, Bücher halten und Kerzen anzünden für dich, also?“ Meine Stimme war mitfühlend und spiegelte eine Spur ihres Frustes. Sie warf die Hände in die Luft. „Ja!“ rief sie aus und schob schmollend ihre Unterlippe vor. „Seit 3 Jahren bin ich keine Novizin mehr. Trotzdem mache ich überwiegend Novizen-Aufgaben.“
„Das ist wirklich doof.“, stimmte ich ihr mitfühlend zu. „Wenn du magst kann ich kritisch nachfragen, warum du nicht auch einen Teil vom Gottesdienst machen kannst?“ fragte ich sie, halb in dem Willen, sie möge nein sagen. Es war zwar möglich auf diese Art die Kirchenstrukturen zu beeinflussen, aber häufig langwierig und letztes Mal hatte ich mir damit einen Vortrag von Hohepriester Aleric eingehandelt, der mich höflich und dringend bat mich nicht in die Hierarchie einzumischen.
Doch Elaria lächelte schon wieder. „Nein, aber danke“, sagte sie, steckte mir eine goldene Haarspange in Form einer Sonne ins Haar, die sofort anfing zu leuchten als sie meine Kopfhaut berührte, und nahm meine Hand. „Du setzt dich brav in die Kirchenbank und hörst dir die Gebete an. Vielleicht nimmt die Göttin Kontakt zu dir auf.“
Sechs Jahre. Seit sechs Jahren wohnte ich Gottesdiensten bei in der Hoffnung, Cahaya würde mich erleuchten oder etwas Derartiges. Seit sechs Jahren vergeblich. Trotzdem nickte ich. Elarias Hoffnungen in die Göttin war ohnehin nicht erschütterbar und das wollte ich auch gar nicht. Schließlich hatte sie mich gesegnet, oder? Es war also nicht unmöglich, dass sie nochmal mit mir in Kontakt treten würde. Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich sagen sie versuchte es durch Träume.
„Nicht immer war die Leuchtende verbannt, müsst ihr wissen. Nicht immer war sie dazu verdammt aus der Ferne über uns zu wachen“, begann der Priester in einem sanften, friedlichen und doch predigenden Tonfall, während er in der Mitte des Stuhlkreises stand und beide Hände in dem weißen Gewand gen Himmel gestreckt hatte, Gesicht und Blick ebenso. Ich hielt auf der einen Seite Elarias Hand und auf der anderen Seite die eines Gläubigen, der nicht im Kirchendienst stand, aber am Gottesdienst teilnahm. Wir schauten ebenfalls gen Himmel und das inzwischen so vertraute Bild des brennenden Phönix in der bunten Sonne hatte eine beruhigende Wirkung auf mich. Als würde ich nach Hause kommen.
„Früher, so lehrt uns die heilige Forterzählung, konnte auch die Leuchtende angerufen werden, wie alle Götter. Sie konnte uns mit einem Besuch beehren, war greifbar.“ Ich hatte den Text so oft gehört, dass ich selbst dieses Gebet hätte leiten können. Doch natürlich war das verboten.
„Jahrtausendelang war sie eine freie Göttin.“ Lysandor machte eine Pause, während ich gemeinsam mit der Gemeinde „Und sie wird es wieder werden“ antwortete. Das klang ehrfürchtig im Chor und ich spürte das erste Kribbeln, dass ich immer spüren konnte, wenn diese Geschichte gebetet wurde.
„Vor dem Verrat des Pantheons an ihr. Ein Verrat aufgrund einer Besessenheit, die heilbar gewesen wäre. Immer schon war die Leuchtende als mächtigste aller Götter für Sonne, Sommer, Licht und Wärme zuständig. Sie schenkt uns Freude, Helligkeit, Kerzenschein, Sonnenaufgang, Dämmerung, den kommenden, warmen Sommer und einen großen Teil des Frühlings. Schon seit Anbeginn der Zeit wurde sie darin gestört. Gestört vom Schattenhaften.“ Ich hörte knirschende Zähne, wütendes Scharren mit den Füßen auf den großen Natursteinplatten und spürte, wie meine Hände auf beiden Seiten etwas fester gedrückt wurden. Eine übliche Reaktion an dieser Stelle. Die Kirche der Leuchtenden und die des Dunklen standen in einem kampflosen Krieg zueinander. Ihr Hass war beispiellos und nur durch die radikalen Auswüchse der Sekten übertroffen. Meine eigene Wut wurde von dem erneut aufkeimenden Verlangen unterbrochen, dass ich seit dem Traum hatte und das zunehmend stärker zu werden schien. Mit einem leichten Kopfschütteln schüttelte ich diese unpassende Emotion ab und konzentrierte mich auf die Wut auf den Dunklen. Auf den Verräter an der Lichtgöttin. Als ich Lysandor wieder zuhören konnte, war er schon einige Zeilen weiter im Gebet.
„Man munkelt, damit er überhaupt in der Lage ist unserer heiligen Sonne entgegen zu treten. Die Macht ist stark, auf beiden Seiten meine Freunde. Doch denkt daran, unsere Göttin hat unser Flehen erhört. Eine Gesegnete weilt unter uns und auch wenn dunkle Zeiten kommen, wird sie als Licht für uns leuchten.“ Ich hörte leises Murmeln und runzelte die Stirn. Dieser Text war abgewandelt worden. Natürlich kam ich normalerweise nicht im Gebet vor, doch Lysandor hielt sich hier nicht an den traditionellen Text. Ich blickte zu ihm und bemerkte, dass auch er mich offen ansah, in meine Augen blickte und lächelnd den Glaubensschwur ans Ende des Gebets setzte.
„Hell leuchte das Licht“, die Gemeinde nahm wie immer den Ball an und antwortete im Chor. „Denn dann leuchtet sie in dir.“ Nur diesmal war ich bei diesem Satz stumm geblieben.
Überraschung zeichnete sich auf meinen Zügen ab, auch wenn sie nicht zu sehen waren. Doch natürlich folgte ich der Bitte unserer Großen Sonne und wartete still, bis sie mich eingeholt hatte. Auch ihre Füße verursachten keinen Laut, während sie durch den Korridor schritt und ich nur anhand der Wärme spüren konnte, wie sie sich näherte. Anhand des heller werdenden Scheins, der dafür sorgte, dass ich erneut nach dem Amulett um meinen Hals griff. Ich fürchtete Cahaya nicht. Doch die Schatten in mir, die mein Sein ausmachten, würden in ihrem Licht verbrennen und ich wollte sie beschützen.
“Wie kann ich Dir helfen, Leuchtende?” erklang meine leise Stimme in ihren Gedanken und ich drehte mich in ihre Richtung, lenkte den Blick jedoch gen Boden. Doch sie ließ sich mit ihrer Antwort Zeit, wie schon zuvor in der Halle des Pantheons, und schritt stattdessen näher.
“Du verbirgst dein Antlitz vor mir”, erwiderte sie stattdessen auf meine Frage und ich hörte die Neugierde deutlich heraus. “Wieso?” Langsam entließ ich den Atem, den keiner von uns brauchte, und ein Lächeln huschte über mein Gesicht.
“Ich bin der Schatten dieser Welt, Cahaya. Dein Licht strahlt so hell, dass ich darin vergehen würde.” Eine simple Antwort, doch sie barg eine Wahrheit in sich - oder zumindest war das eine Tatsache, dessen Wahrheitsgehalt ich noch nie riskiert hatte herauszufinden. Wie auch? Ich war der Großen Sonne noch niemals begegnet und diese Gestalt vor mir leuchtete bereits jetzt so sehr, dass ich es nicht einmal wagte, den Kopf zu heben. Es war kein Schimmer, der sie umgab wie die Coronasphäre einer Sonne. Es war ihre Haut, die von einem inneren Leuchten erfüllt war, das nach Außen strahlte. Und ich konnte nur einen kurzen Blick darauf erhaschen, bevor ich die Augen schließen musste.
Ich war der Schatten dieser Welt, doch ich erkannte Schönheit, wenn ich sie sah.
“Bist Du Dir dessen sicher, Schatten?” Die leisen Worte hätten nicht gereicht, dass ich den Kopf hob, doch die Wärme näherte sich und so zuckte ich kurz zurück. Ich konnte sie nicht sehen, doch die Finger und ihre Wärme spüren, die am Rand meines Gesichtes entlangstrichen und die Kapuze streiften.
“Was tust Du, Leuchtende?” fragte ich alarmiert und wich zurück, um ihrer Hand auszuweichen. Ich wollte es nicht testen. Ich wollte nicht riskieren, dass der Schutz von Silvan’s Amulett vielleicht nicht ausreichte.
“Deinen Schatten wird nichts geschehen. Hab keine Angst”, war die Antwort, die ich vernahm und die ich doch nicht glauben konnte. Dabei war sie nicht nur die Sonne, sondern auch die Wahrheit in ihrer reinsten Form - Cahaya log nicht. Und nur dieser Umstand war es, der mich dieses Mal nicht zurückzucken ließ. Wieder spürte ich diese allumfassende Wärme, sah das Licht selbst durch meine geschlossenen Augen und fühlte, wie die Finger unserer Herrscherin die tief hinuntergezogene Kapuze meines Umgangs zu fassen bekamen. Lautlos glitt der Stoff von meinem Kopf, den ich noch immer gesenkt hielt. Wo der Schutz verschwand, zischten und fauchten meine Schatten und zogen sich zurück, flüchteten tief in mein Innerstes. Doch sie hatte Recht. Ihnen wäre selbst dann nichts geschehen, hätten sie sich nicht versteckt. Cahaya hielt einen so großen Teil ihrer Macht zurück, dass das brennende Licht der Sonne nun mehr einem sanften Schimmer glich, der den Korridor schwach erhellte.
“Siehst du? Es ist nichts schlimmes geschehen. Bitte, heb den Kopf und lass mich deine Augen sehen, habe ich doch schon so viel von ihnen gehört.” Die Neugierde und leichte Belustigung in ihrer Stimme ließ mich aufhorchen. Die Leuchtende steckte mich mit ihrer Neugierde an. Wie wohl ihre Augen aussahen? Wie bei jedem der Götter dieses Himmelreiches war es nicht die Gestalt, die ihn ausmachte. Wir suchten sie uns nicht aus, sie war ein Produkt der Macht, die wir in unseren Gefilden zurückließen, wenn wir einen anderen Ort aufsuchten. Nur die Augen zeigten unser wahres Ich und so sehr ich mich dagegen sträubte, den Blick zu heben, so sehr wollte ich das ihre sehen. Schließlich waren es dieser Wunsch und die Bitte Cahaya’s, die meine Vorsicht bezwangen und mich ihr fügen ließen.
Und ich wünschte mir augenblicklich, ich hätte den Kopf nie gesenkt.
Das merkwürdige Gefühl begleitete mich noch den Rest des Tages und selbst als ich an diesem Abend wieder allein in meinem Zimmer saß und auf die Stadt hinunterblickte, kämpfte dieses Unbehagen und dieses inzwischen nervige Verlangen in mir.
Ich hatte gewusst, dass meine reine Existenz die Kirche verändern würde. Doch irgendwie fühlte sich dieser Fokus auf mir nicht gut an. Alle setzten ihre Hoffnung in mich. Hoffnungen, die schon vor Jahrhunderten aufgegeben worden waren, von so unglaublich vielen. Konnte ich es ertragen so viele zu enttäuschen? Denn das würde ich. Bisher hatte ich keinerlei Kräfte gezeigt, die die Göttin mir auf den Weg gegeben hatte. Ja, ich trug ihr Zeichen, ja goldene Gegenstände begannen an meiner Haut zu leuchten und mir war immer warm und niemals kalt, aber mehr war da nicht. Ich trug genau so viel göttliche Macht in mir, dass unzweifelhaft klar war, dass ich gesegnet wurde. Und genau so wenig, dass ich damit nichts tun konnte.
Einem Impuls folgend öffnete ich das Fenster und atmete die kühle Nachtluft ein. Ich sollte mich wohl mächtiger fühlen. Selbstbewusster, erhabener. Aber das waren keine Gefühle, die man einfach so anstellen konnte. Ich zumindest konnte das nicht. Ich seufzte in die Nacht hinein und drehte die goldene Haarspange in der Hand, die in dem sanften Licht bei meiner Berührung leuchtete. Wie gern würde ich mal für einen Tag nicht so angesehen werden. Dieses Gefühl und das noch immer stärker werdende Verlangen danach auf die Suche nach dem zu gehen, was mir fehlte, ohne dass ich sagen konnte, was genau das war, motivierte mich schließlich zu dieser eher dummen als durchdachten Entscheidung.
Es war nur ein ganz kurzer Fall und schon berührten meine Schuhe den Grasboden unter meinem Fenster im Außenbereich des Tempels. Alles hier war erleuchtet. Viel zu hell. Quasi weißglühend und sollte ein beliebiger Bewohner dieser Gebäude nun in den Garten blicken, würde er mich sofort sehen. Doch in meinem ungeplanten und verbotenen Ausflug kam mir einmal zugute, dass ich Gesegnet in der Kirche war, die die wenigsten Bedienstete hatte. Leise schlich ich zum Ausgang des Tempels und ließ die Haarspange in die Tasche meines Kleides gleiten. Zum Glück hatte ich den weißen Oberrock nicht an und würde so wie eine gewöhnliche Bürgersfrau aussehen.
Und dann war auch auf den Straßen von Calyn. Mitten in Calyndor, dem Größten der Königreiche und zum ersten Mal völlig allein. Mein Herz machte einen Hüpfer und ich biss mir auf die Unterlippe, als das Kribbeln der Erregung sich in mir breitmachte. Sofort merkte ich, wie das Verlangen mit der Suche anzufangen geringer wurde. Mit der rechten Hand umfasste ich mein linkes Handgelenk und ärgerte mich sofort über mich selbst, dass ich nichts mitgenommen hatte, um dieses leuchtende Symbol zu überdecken. Es würde mich sofort verraten und auch meine Existenz preisgeben. Genau genommen gefährdete ich gerade alles, was die Kirche in sechs Jahren für mich aufgebaut hatte, aber für diesen einen Moment war es mir egal.
Ich ging zögerlich die Straße entlang, beobachtete einen Laternenanzünder dabei, wie er seiner Arbeit nachging und die Straße nach und nach in schummeriges Kerzenlicht tauchte. Ich beobachtete, wie die letzten Karren über die Straße gezogen wurden, wie die Stadt langsam, aber sicher gemeinsam die Arbeit für heute einzustellen schien.
Was tat man in den Städten, wenn der Abend eingebrochen, aber noch keine Zeit zum Schlafen gekommen war? Ich blickte mich um und sah viele Menschen einfach in ihre Häuser zurückkehren, einige ihre Drachen und anderen Tiere versorgen und sah auch einige Tavernen. Die Taverne reizte mich, doch ich konnte mir einfach kein einziges Szenario vorstellen, bei dem ich dort unbemerkt hinein und hinaus käme. Irgendjemand würde mein Mal sehen, würde das Leuchten sehen oder die Wärme spüren und außerdem hatte ich kein Geld bei mir. Einerseits, weil die Kirche sich um alle meine Bedürfnisse kümmerte und andererseits weil Gold nunmal diese Angewohnheit hatte bei Berührung mit mir zu leuchten – was einen beim Kaufen von Dingen sofort verriet.
Ich konnte einige jüngere Männer sehen, die lachend aus dem Universitätsgebäude kamen. Einer von ihnen trug ein leuchtendes Symbol am Oberarm. Ganz offen und ohne es zu verstecken. Silvan, der Gott der Wissenschaft, hatte so viele Gesegnete, dass er es nicht verstecken musste, sondern mit Stolz in die Welt tragen konnte. Ich seufzte.
Ich schlenderte routiniert weiter, zu unsicher, um ein Gebäude zu betreten und zu neugierig, um umzukehren. Sonst war ich immer nur in geschlossenen Kutschen in der Stadt gewesen. Mit vorgezogenen Vorhängen und allen Sicherheitsvorkehrungen, die die Kirche aufbringen konnte. So frei wie jetzt gerade hatte ich mich seit Jahren nicht gefühlt.
„Na, was haben wir denn da?“ hörte ich eine schnarrende Männerstimme. Jetzt erst bemerkte ich, dass es nahezu menschenleer inzwischen auf den Straßen war. Ich drehte mich um, spürte sofort meinen Puls hochgehen und ein Schaudern ging über meinen Körper. Zwei Männer. Groß, breit gebaut und offensichtlich in aktuell tiefer Verbundenheit zu Veythor – dem Gott des Alkohols. „Was macht denn eine so hübsche Frau alleine auf den Straßen, hm?“ fragte der andere und es war schwer seine Worte klar zu verstehen. Ich runzelte die Stirn, warf einen Blick zur Seite und schluckte. Der einzige Weg von diesen beiden Männern weg wäre der direkte Weg zurück. Auch wenn ich mir sicher war, dass ich schneller rennen konnte als die beiden, würde ich das wohl kaum schaffen, ohne mein göttliches Mal loszulassen und dann wäre es um meine Tarnung geschehen. „Ich bin auf dem Heimweg“, versuchte ich es also mit ruhiger Stimme und machte langsam und hoffentlich ungesehen einige Schritte rückwärts.
„Ohhhh, wir köen dr bstimmt hlfen.“ Der größere der beiden konnte sich kaum auf zwei Beinen halten und der Gestank nach scharfem Alkohol war inzwischen selbst zu mir durchgedrungen.
„Nein, danke“, erwiderte ich und beschloss nun doch etwas offensichtlicher wegzulaufen. Beim Umdrehen fiel die Haarspange aus meiner Tasche, doch da ich die Männer beschleunigen hörte – beziehungsweise sie ihre Nilpferdmassen von Körpern schneller als zuvor in Bewegung setzten und es sich fast wie ein Erdbeben anfühlte – konnte ich nicht stehenbleiben, um sie aufzuheben.
Leider stellte sich sehr schnell heraus, dass Rennen mit einem umfassten Handgelenk nicht gerade die leichteste Übung war, und außerdem waren die Schuhe hohe Schuhe, die von einem dünnen Band an meinem Fußgelenk gehalten wurden, welches jetzt nach dem dritten hektischen Schritt riss.
Für die Männer musste ich ein bemerkenswert ungeschicktes Bild abgeben und zum ersten Mal in diesem Moment war ich froh, dass die beiden betrunken waren. Während Scham, Angst und Schreck mir die Röte ins Gesicht trieb, bemerkte ich zu spät, dass ich für den Sturz mein Handgelenk freigelegt hatte.
„Was… is das?“, hörte ich erstaunt hinter mir und als plötzlich eine andere, viel klarere Stimme vor mir ertönte erschreckte ich mich so sehr, dass ein leiser Schrei von meinen Lippen kam.
„Komm mit“, sagte der komplett in schwarz gehüllte Mann und streckte mir eine Hand entgegen, während die Männer hinter mir noch immer näher kamen, wenn auch so langsam wie erwartet. Ich schluckte und starrte einen Moment auf das unscheinbare Leuchten, was deutlich sichtbar in der Dunkelheit von meinem Handgelenk ausging, dann schluckte ich erneut und beschloss mich später mit diesem Fehler auseinanderzusetzen. Dann griff ich nach der helfenden Hand und zog mit der anderen Hand die Schuhe von meinen Füßen.
Barfuß und nüchtern waren wir viel schneller als die Betrunkenen und als wir einige Gassen weiter waren, ließ mich der Umhang los und drehte sich zu mir um, ohne sein Gesicht zu zeigen.
„Wer bist du?“ fragte ich und versteckte sofort beide Hände hinter meinem Rücken, wo sich meine vor Angstschweiß nassen Handflächen an den Schuhen festhielten.
„Gern geschehen“, antwortete er junge Mann sarkastisch und nahm seine Kapuze ab.
Zum Vorschein kam ein hoch gewachsener Mann mit hellblonden Locken, einem stolzen Bart und Augen so schwarz wie die Nacht. Ich sah ihn fragend an.
„Ah ich dachte, deine Frage ist die merkwürdige Art mir zu danken“, sagte er mit einem leichten Anflug eines Grinsens, während er auf und abzugehen begann. „Vor allem, wenn ich es definitiv nicht hätte tun sollen, Gesegnete.“ Das klang fast schon wütend und ich machte einen weiteren Schritt zurück, bis ich die Ziegelwand in meinem Rücken spüren konnte.
„Ich…woher…“, begann ich die Frage und stoppte mittendrin. Natürlich hatte er mein Handgelenk gesehen.
„Es ist nicht zu übersehen“, antwortete er trotzdem fauchend und die Röte in meinem Gesicht wurde noch intensiver, als ich realisierte, in welchen Schwierigkeiten ich steckte. Sie würden so wütend sein. Und das völlig zurecht. Und warum der Mann so wütend war, war mir auch noch nicht klar.
„Ich sollte dich auf der Stelle töten“, knurrte er und betrachtete seine eigenen Hände, als würde das reine Betrachten dieser Körperteile eine Waffe dort erscheinen lassen. Mein Atem stockte. „Was?“ fragte ich ihn zitternd. Und dann fiel es mir wie Schuppen von den Augen. Natürlich. Ein schwarzer Umhang, keine sichtbaren Farben an der Kleidung oder am Schmuck. Keine Götterzeichen. Er war ein Nachtwolf. Ein Anhänger des Dunklen, vielleicht sogar im Kirchendienst. Ich schluckte nochmal, obwohl mein Mund staubtrocken war.
„Es sollte dich nicht geben.“ Noch immer wirkte er nicht, als würde er mit mir sprechen. „Und doch bin ich hier“, antwortete ich sofort und ging in Gedanken meine Möglichkeiten durch. Ich könnte schreien. Doch dann würden eventuell noch weitere unangenehme Gestalten auf uns aufmerksam werden und noch mehr würden mein Mal sehen. Ich könnte rennen, doch er hatte feste Lederschuhe an und würde mich schneller einholen, als ich an der Hauptstraße wäre. Keine Chance. Ich blickte schüchtern hoch in seine definierten Wangenknochen und vor Wut und… Unsicherheit verzogenen Gesichtszüge. Worüber dachte er nach?
„Ich bin Ayana“, versuchte ich es damit mich für ihn menschlicher zu machen, damit es schwerer für ihn war mich zu töten. Aus irgendeinem Grund war ich nicht in der Panik, in der ich sein sollte. Als wäre es beruhigend einen Nachtwolf um mich zu haben. Oder war es dieser Nachtwolf? Nein, das war albern. Ich kannte ihn nicht. Trotzdem wusste ich und das plötzlich mit absoluter Überzeugung, dass er mich nicht töten würde. Vielleicht waren solche Momente jene, bei denen ich doch göttliche Eingebungen empfing.
Sein Blick zuckte zu mir. „Du bringst mich in eine sehr unangenehme Situation, Ayana“, sagte er und fasste sich an die tiefen Furchen in seiner Stirn. „Ich muss dich melden und dann werden sie fragen, warum ich dich nicht getötet habe.“ Wieder ging er nervös auf und ab. „Aber ich kann doch kein unschuldiges Mädchen töten. Du hast nicht mal eine Waffe.“ Plötzlich sah er mich scharf an. „Warum hast du keine Waffe?“
Ich legte verwirrt den Kopf leicht schief. Was war das denn für eine komische Frage. „Ein wenig pessimistisch, immer damit zu rechnen angegriffen zu werden, oder? Ich rechne mit dem Guten in Menschen und erwarte nicht, jeden Abend von Nachtwölfen erstochen zu werden“, erwiderte ich etwas schnippischer als ich vielleicht sollte.
Er schnaubte laut. „Naiv. Wie alle Sonnenlichter.“ Er schnaubte nochmal. „Aber so zu tun, als hätten wir uns nicht getroffen kann ich wohl auch schlecht, wenn ich damit das unmögliche verschweige.“
Nun runzelte ich die Stirn. „Warum?“ Vielleicht gab es einen kleinen Hoffnungsschimmer, dass ich mit meinem dummen Fehler doch nicht alles zerstört hatte. Wenn ich ihn nur dazu kriegen könnte, es nicht zu melden…
„Sie glauben dir das vermutlich ohnehin nicht. Warum unnötig Ärger bekommen? Ist ja nicht so, als würde eine Gefahr von mir ausgehen.“ Und dass von ihm auch keine ausging, sollte ich vielleicht nicht so deutlich zeigen. Das Geheimnis der göttlichen Macht und so.
Er lachte kalt auf. „Das würden sie wohl nicht, nein.“ Er lehnte sich erschöpft an die gegenüberliegende Steinmauer und betrachtete mich mit verengten Augen. „Okay, Ayana.“ Merkwürdig, dass er meinen Namen so häufig wiederholte.
„Du gehst zurück zu dem Tempel am Rande der Zivilisation, wo du hingehörst. Und wir werden beide kein Wort über diese Begegnung verlieren.“ Er hob einen Zeigefinger. „Und wenn doch, dann werde ich dich finden und dann ist es mir egal, ob du eine Waffe dabeihast oder nicht. Klar?“ Er zog beide Augenbrauen hoch und hastig nickte ich zustimmend. Ich hatte weiß die Göttin nicht vor es irgendjemandem zu erzählen und musste meine Freude zurückhalten, dass er es offenbar auch vorerst für sich behalten würde.
„Findest du den Weg?“, fragt er schließlich resignierend, als er sich schon halb auf den Weg gemacht hatte und blieb stehen, um mich zu mustern.
„Natürlich!“ rief ich empört aus, verschränkte die Arme ineinander und ging an ihm vorbei, nur um an der Straßenkreuzung desorientiert nach links und rechts zu schauen. Ich würde es schon ohne einen Mann zurück zum Tempel schaffen, der mich nur nicht umgebracht hatte, weil ich waffenlos unterwegs war. Verdammt nochmal.
Ich stiefelte nach rechts und warf keinen Blick mehr zurück, als ich ein entnervtes – anders war es nicht zu deuten – Seufzen hörte. „Beim heiligen Schatten“, flüsterte er und sofort wusste ich, dass ich wohl in die falsche Richtung ging. Mit erhobenem Kopf warf ich doch einen Blick über die Schulter. „Komm jetzt. Ich habe nicht den ganzen Abend Zeit.“ Er nickte in die andere Richtung der Straße und auch wenn ich kurz mit dem Gedanken spielte aus Prinzip weiter in meine Richtung zu gehen, wollte ich wirklich dringend zurück nach Hause. Oder zu dem, was einem Zuhause am Ehesten nahekam.
„Das man euch gar nichts beibringt im Tempel“, murrte er, während wir schnell und leise durch die Straßen schlichen und er im Schatten fast nicht zu erkennen war. Gruselig.
Nach wenigen Kreuzungen waren wir zurück am Eingang des Tempels und er verschränkte die Arme. „Rein da. Auf dass wir uns nie wieder sehen, Ayana“, sagte er bestimmt und nickte zum Eingang. Ich zögerte. „Wer bist du?“ fragte ich ihn. „Du hast komische Arten dich zu bedanken, wirklich.“ Sarkastischer Blödmann. Ich verdrehte die Augen und drehte mich um. „Ist egal“, knurrte ich noch leicht und wollte gerade gehen. „Jaro“, sagte er und als ich mich ruckartig zu ihm umdrehte zuckte ein schiefes Lächeln über sein Gesicht. „Und jetzt will ich dich nie wieder sehen, Gesegnete“, wiederholte er seine Worte. Ich schenkte ihm ein lächelndes Nicken, ehe ich mich in den Garten schlich, in der Hoffnung, dass mein Zimmerfenster noch immer geöffnet sein würde. Zum Glück war es das und entgegen meiner Erwartung konnte ich ungesehen zurück in mein Zimmer schlüpfen. Kopfschüttelnd blieb ich für einen Moment einfach nur stehen. Was war das denn für ein merkwürdiger Abend gewesen. Jaro. Hoffentlich hielt er sich an seine Worte. Ich hoffte es sehr. Denn sonst würden tatsächlich dunkle Zeiten auf mich zukommen.
„Vergib mir, Leuchtende“, murmelte ich gen Zimmerdecke und ließ den Moment des Gebets wirken, ehe ich meine zerstörten Schuhe unter mein Bett warf. Plötzlich überkam mich eine starke Müdigkeit und mit dem Gähnen bemerkte ich auch, dass das Verlangen nach der Suche wiedergekehrt war. Das war wohl von nun an mein stetiger Begleiter.
Noch ehe meine Augen völlig geschlossen waren, glitt ich schon in den Traum über, der scheinbar den ganzen Tag darauf gewartet hatte, endlich für mich zu erscheinen.
Heiß. Eine so wohlige Hitze, dass es kaum möglich war etwas anderes wahrzunehmen, doch ich verbrannte nicht. Jeder Atemzug breitete die Kribbelnde Hitze weiter in mir aus, berührte meinen Körper, entzündete meine Haut, meine Seele und vermochte es für einen ganz kurzen Moment dieses unmenschliche Verlangen zu befriedigen. Blind, unfähig etwas anderes als die Wärme und die Gesellschaft wahrzunehmen, war es ein sehr angenehmes Gefühl, ein sehr angenehmer Moment. Und dann war der Moment vorbei. Als wäre es gerade zu schön gewesen, als wäre seine Anwesenheit – von der ich nicht wusste, dass ich sie gebraucht hatte und die ich doch nie wieder missen wollen würde – zu perfekt gewesen, als dürfe es solch ein Glück nicht geben. Meine Arme waren mit einem Schlag leer und die Hitze, die mit seiner Gegenwart noch angenehm und wohlig warm gewesen war, wurde sofort heiß, brennend und unangenehm. Dabei war Hitze für mich niemals unangenehm. Wut. Sorge. Verzweiflung und Verlangen brandete in mir auf und hektisch sah ich mich um. „Was tut ihr?“, hörte ich eine fremde Stimme, auch wenn ich dieselbe Frage hatte. „Nein!“, ein Ruf mit einer Inbrunst einer Mutter, der man das Neugeborene wegnehmen will, durchbrach die rote, weiße und brennende Hitze, während er, die Welt, die Erde und alles um mich herum immer kleiner wurde. Kleiner, immer kleiner, bis ich alles überblicken konnte, bis ich die Welt von oben sah und allein mein Blick, meine Augen, meine Aufmerksamkeit diese Hitze ausstrahlten und das Licht.
„Neeeeeeein!“ Zum zweiten Mal in dieser Woche wachte ich schweißgebadet und schreiend auf, während ich mich aus reinem Reflex aufsetzte und meine bereits tränennasse Wange von weiteren Tränen des Kummers benetzt wurden. Das Verlangen war noch stärker. „Nein!“ schluchzte ich und erst, als eine Hand meine Hände umfasste, zuckte ich zusammen und bemerkte, dass ich nicht allein war. „Gesegnete.“ Die Stimme des Sonnenpriesters war vor Sorge durchtränkt.
Cahaya war die Erste gewesen. Geboren aus einem Stern hatte sie das Nichts mit ihrem Schein erleuchtet – einsam und allein, viele Äonen lang. Es musste eine ungemein lange Zeit gewesen sein, in der sie niemanden um sich gehabt hatte, keine Gesellschaft, kein fremdes Leben, keinen anderen Gott. Und doch hatte sie niemals damit aufgehört. Nicht einmal dann, als unter ihrem Licht Elyndra entstand, Mutter Erde und Hüterin des Lebens auf ihrem Boden, wandte sie ihr Antlitz ab. Stattdessen hieß sie ihre jüngere Schwester willkommen und empfing sie mit offenen Armen. Nichts ahnend, dass bei dieser Begrüßung etwas ganz anderes entstand. Etwas fremdartiges, dunkles und kaltes, gegenteilig zu ihrem Licht und ihrer Wärme. Sie konnte es nicht sehen, denn es verbarg sich immer vor ihrem Blick. Der erste Schatten war geboren, so anders als sie oder Elyndra, dass es niemand hätte vorhersehen können. Schon in diesem Moment vor so vielen Jahrtausenden hatte ich mich vor ihr versteckt und seither niemals damit aufgehört. Cahaya war die Sonne, das Licht, die Hitze und die Wahrheit. Ich hingegen war die Dunkelheit, die unter ihren kalten Schwingen des Todes tiefe Geheimnisse barg. Sie war zu hell, zu heiß und zu mächtig, als dass ich mich ihr hätte zeigen können. Und als ich nun vor ihr stand und das erste Mal seit Millennien in ihr Antlitz blickte, begriff ich diese instinktive Furcht auf eine Weise, wie ich sie niemals hätte verstehen dürfen.
Doch es war mir gleich. Denn bei ihr war ich zuhause.
Niemals zuvor hatte ich etwas Schöneres gesehen als sie. Ehrfürchtig glitt mein Blick über ihre schon beinahe zierliche Gestalt, gehüllt in ein feines, weißes Gewand. Ihre Haut wirkte durchscheinend wie Glas und war von einem inneren Leuchten erfüllt, dass mir schon zuvor flüchtig aufgefallen war, dem ich jedoch nicht genug Beachtung geschenkt hatte. Cahaya sah unbeschreiblich zerbrechlich aus, als könnte die kleinste Berührung ihre Hülle zerstören und jenen Schein freilegen, der in ihr wohnte. Doch ein einziger Blick in ihre Augen widerlegte diese flüchtige Annahme.
Es war, als würde ich in das Herz der Sonne selbst blicken.
War ich zuvor noch vorsichtig und besorgt gewesen, zog mich diese brennende Kraft in ihrem Blick nun mehr an als alles andere und meine Befürchtungen verflogen, als hätten sie nie existiert. Natürlich, ich kannte die Leuchtende. Ich war ihr nie zuvor begegnet, doch ich kannte jeden der Götter, wusste, in welchen Reichen sie lebten und welchen Aufgaben sie nachgingen. Es war ein allumfassendes Wissen, das jeder von uns besaß und das niemand infrage zu stellen brauchte - so wie ein Mensch bei seiner Geburt instinktiv verstand, wie man ein- und ausatmen musste. Doch etwas zu wissen und der Inkarnation der Wahrheit selbst ins Gesicht zu sehen, sich von ihren Augen gefangen nehmen zu lassen und wirklich zu begreifen, wer sie war, war etwas vollkommen anderes. Ich sah Stärke, ich sah Macht. Wahrheit und Licht. Doch ich sah auch eine unendliche Güte in ihrem Blick, ein brennendes Feuer und die Entschlossenheit, ihr Leuchten mit den Menschen zu teilen und sie zu beschützen. Sie war einzigartig. Anders als alle Götter, denen ich bisher jemals in die Augen gesehen hatte.
Und sie war wunderschön.
Wie lange wir hier standen und mit dem Herzen begriffen, wer unser Gegenüber war, wusste ich letztendlich nicht. Es mochten Tage in der Menschenwelt vergangen sein, doch vielleicht auch weniger - das erste Mal seit meiner Entstehung war es mir gleich. Wie konnte etwas anderes wichtiger sein als diese Göttin? Sie war so rein, dass es mich abschrecken sollte, doch das tat es nicht. Niemals würde ich ihr Licht abschwächen. Je heller Cahaya strahlte, desto dunkler wurde mein Schatten. Wir waren Gegensätze, doch ihr Sein zog mich an, als hätte es nie etwas anderes getan. Es waren keine Worte notwendig, doch irgendwann streckte ich die eigene Hand aus und berührte ihre Wange, als könnte sie wie ein Traum einfach verschwinden und ich müsste sichergehen, dass sie echt war. Cahaya lehnte sich meiner Berührung entgegen, und in diesem Moment geschah etwas mit uns. Etwas, das mir den Atem geraubt hätte, würde ich ihn brauchen. Ich wusste, dass es ihr ebenso erging, als ein Schauder über meinen Rücken kroch und mir klarmachte, dass ich genau sie jetzt brauchte. Dass sie es war, die mir fehlte - obwohl ich bisher nicht einmal geahnt hatte, dass mir etwas fehlte. Es war so viel mehr als nur ein Verständnis. Ich begriff instinktiv und mit einer untrüglichen Sicherheit, dass Cahaya jene war, die ich an meiner Seite haben wollte, ob es mir nun schadete oder nicht. Für jetzt und für immer.
Fest drückte sie Sytharis die Hand auf den Mund, damit sie ja kein Geräusch von sich gab. Dabei war sie sich nicht einmal sicher, ob es nötig war - Cahaya und der Schatten waren so sehr in ihrer eigenen Welt gefangen, dass sie nicht einmal ihre eigene Anwesenheit verbergen musste. Doch sie wollte die beiden auf keinen Fall unterbrechen. Wann immer zwei Götter sich fanden, verknüpften sich auch ihre Reiche miteinander und schon seit Tagen war die Sonne nicht mehr richtig untergegangen. Sie war verborgen hinter einem Schleier der Dunkelheit und strahlte nicht mit voller Kraft, doch sie näherte sich nur noch dem Horizont, ohne tatsächlich dahinter zu versinken. Und die Weißgekleidete spürte, dass das noch nicht das Ende sein würde. Die Zeit für die Götter verging anders. Mal schneller, mal langsamer. Äonen zogen innerhalb weniger Augenblicke davon, während sie an anderen Momenten länger verharrten als zuvor. Sicherlich wusste keiner der beiden dort, wie lange sie nun schon voreinander standen, doch sie behielt immer einen Überblick über die Geschehnisse des Himmels und der Erde. Sie sah so viel mehr als die Anderen, hatte einen Sinn für die leichtesten Veränderungen und überwachte die Reiche mit einem Blickwinkel, der selbst unter Ihresgleichen besonders war. Entsprechend besorgt zeigte sich nun auch eine steile Falte zwischen ihren Augenbrauen in einer typisch menschlichen Geste, während sie Sytharis davon abhielt, Cahaya und den Schatten zu stören. Natürlich konnte sie auch die Aufregung spüren, die die Göttin der Liebe erfasst hatte. In weiblicher Gestalt klammerte sie sich an den Arm der anderen Göttin und ihr Körper schien vor unbändiger Freude zu beben. Und wie auch nicht? Sie verkörperte all das, was die Große Sonne und der Gott des Todes gerade empfanden, und selbst unter den Göttern des Himmelreiches war es etwas besonderes, wenn sich zwei von ihnen fanden.
Doch diese zwei hätten sich niemals finden dürfen.
Schon jetzt konnte sie die Folgen dessen erkennen, was sich vor ihr entfaltete. Das Reich der Götter war in Aufruhr. Noch hatten nicht viele von ihnen bemerkt, was vor sich ging - selten mischten sie sich in die Angelegenheiten anderer Götter ein, um Chaos zu vermeiden - doch das würde sich bald ändern und sie konnte sich bereits ausmalen, was das bedeuten würde. Trotzdem würde sie die beiden nicht voneinander trennen, nicht jetzt. Sie brauchten Zeit, um die Geschehnisse in ihren Herzen zu begreifen und wieder zu sich selbst zu finden, bevor ein Wort zu ihnen würde durchdringen können. Erst dann durften Schritte eingeleitet werden, um dieses starke Band zu zerschneiden. Und das musste geschehen. Leicht zogen sich ihre Augenbrauen zusammen, dann wanderte ihr Blick durch den Korridor, in dem sie sich befanden, und legte sich auf den Ausgang. Die göttlichen Gefilde zu verlassen war für sie ein leichtes, wie für jeden von ihnen. Doch zu gehen, während das neue Götterpaar jeden ihrer Schritte bemerken könnte, war etwas anderes. Besonders mit Sytharis am Arm, die sie unter keinen Umständen loslassen würde. Streng hob sie eine Augenbraue, als sie der Göttin der Liebe ansah, und führte einen Finger an ihre Lippen. Ihre Gedankenstimme würden die beiden wahrnehmen können, so musste sie sich also auf eine weniger auffällige Weise fortschleichen und zog Sytharis unwirsch mit sich. Die Säulen boten ihnen guten Schutz, sie huschten von Stein zu Stein. Noch einmal warf sie einen Blick zurück zu den Liebenden. Der Schatten und Cahaya neigten sich einander entgegen und lehnten ihre Stirn in einer Geste der unendlichen Zuneigung aneinander. Erneut runzelte sie die Stirn und ihre Lippen verzogen sich zu einer dünnen Linie. Sie hatte den Schatten schon einige Male gesehen, doch sein Gesicht hielt er sonst immer verborgen. Jetzt war die Kapuze fort und die sanften Züge sprachen von einem Glück, das nicht von dieser Welt sein konnte.
Rasch und grob schob sie Sytharis aus dem Korridor und packte ihren Arm, um sie weiter zu zerren. Was dort vor sich ging musste ein Ende haben. So bald wie möglich. Finstere, bittere Dinge spielten sich bereits vor ihrem inneren Auge ab. Ihre Liebe war ein Frevel, eine Ungeheuerlichkeit, die niemals hätte geschehen dürfen.
“Höre mir gut zu, Sytharis”, zischte sie und drückte die Göttin in eine Ecke. Die himmelblauen Augen Sytharis’, deren Ausdruck stets Freundlichkeit und die Liebe zu allen Lebewesen zeigte, weiteten sich bei dem Tonfall eine Spur. “Das hier ist sehr wichtig. Du darfst nichts tun, das das Gleichgewicht nun gefährden wird, verstanden? Die Sonne und der Schatten dürfen nicht erfahren, dass wir sie gesehen haben. Und solltest du es ihnen doch verraten...” Ihr Blick verfinsterte sich, dunkle Schatten zogen über ihre Gestalt und ein schmutzig-lilaner Schimmer breitete sich um sie herum aus. Die Göttin, sonst so edel und sanftmütig, schien auf einmal ein Gefühl der Bedrohung auszustrahlen, dessen sich Sytharis nicht entziehen konnte. Angst breitete sich in der zweigeschlechtlichen Gottheit der Liebe aus und sie nickte. Auch ohne, dass ihr Gegenüber den Satz beendete, verstand sie die Drohung.
Wie lange war es nun her? Ich hatte es vergessen. Die Zeit auf der Menschenwelt verging so anders. Hektisch und schnell. Die Sonne verschwand, noch ehe ich bereit war, sie für die Nacht gehen zu lassen und so blieb mir nur ein einsames Geheul, sobald sie hinter den Horizont tauchte. Cahaya, meine Sonne. Mein Licht. Nicht einmal deine Gesegnete zu finden war mir vergönnt. Die Abendröte schimmerte auf meinem Fell, als ich den Kopf hob und meinen Schmerz in diese verfluchte Welt hinausrief.
Ich hatte sie gespürt. Ihre Macht war unverkennbar, das Licht für mich wie ein Leuchtfeuer. Und so war ich an jenem Tag vor sechs Jahren dem Sog gefolgt und hatte den ganzen Kontinent bereist, um dieses Fragment zu finden. Den Menschen zu finden, den sie berührt hatte. Hatte sie ihren Käfig verlassen können? Ich war noch in meinem gefangen, gebunden an diese Gestalt und an die Gesetze der Sterblichen und ihrer Welt. Aber wenn sie dort oben nicht mehr eingesperrt war, sondern frei sein konnte, war das für mich ein Trost. Doch es heilte nicht mein Herz. Sehnsüchtig war ich also gelaufen, doch ich war zu spät gekommen. Ihre Kinder hatten die Gesegnete mitgenommen und verbargen sie vor meinem Blick.
Und wieder blieb mir nur die Einsamkeit.
Doch ich gab nicht auf. Kein Mensch würde sich mir in den Weg stellen können, wenn ich mein Licht erst gefunden hatte. Wenn nötig, riss ich es dieser Gesegneten eigenhändig aus dem Körper. Mit gebleckten Zähnen verließ ich den Wald und genoss einen Moment lang die letzten Sonnenstrahlen, bevor ich die große Stadt umkreiste. Die kleineren Tempel des Lichts hatte ich bereits abgesucht, nun blieb mir nur noch dieser Ort. Doch ich konnte die Gesegnete nicht spüren, nicht mehr seit dem Tag, an dem sie berührt worden war - sie war zu weit entfernt. Ich musste mich auf meine Priester verlassen, ohne dass ich sie wissen ließ, wonach ich suchte. Ich konnte sie nur lenken. Und auch die Stadt würde meiner Gestalt verwehrt bleiben, die ich nun umkreiste. Calyn. Der letzte Tempel der Lichtgöttin befand sich hier, doch die Menschen fürchteten meine Anwesenheit zu sehr, als dass ich mich unter ihnen bewegen könnte. So konnte ich nur ziellos die Felder bereisen, bis die Nacht hereinbrach und das letzte Licht meinen Schatten wich. Erneut ertönte mein Geheul. Wenn sie hier wäre, dann hätte ich sie spüren müssen. Ich hätte wissen müssen, wo sie zu finden war.
Calyn war nicht der richtige Ort, und so zog ich mich wieder in den Wald zurück.
Ich blinzelte die Tränen aus meinen Augen, damit meine Sicht wieder klarer wurde und blickte Aetherion an.
„Es…“, begann ich, noch immer nicht völlig Herr meiner Selbst. Dieser Schmerz war so real gewesen. Als hätte jemand mein Herz aus meiner eigenen Brust gezogen, es zerquetscht und dann so weit von mir entfernt fallen lassen, dass es außerhalb meiner Reichweite lag. „…war nur ein Traum“, beendete ich den Satz, spürte aber wie die kalten Hände meine fürsorglich drückten. Sofort spürte ich einen unangenehmen Stich der Unwahrheit, der mich überraschte. Als würde ich mir selbst nicht glauben, obwohl die Wahrheit dieser Worte so offensichtlich war. Ich war schließlich hier in meinem Bett und soeben von einem Alptraum aufgewacht.
„Ayana.“, Aetherions Stimme war noch immer besorgt, tief und ruhig. „Ihr schreit seit einigen Minuten und wart nicht wach zu bekommen.“ Ich sah mich blinzelnd um bei diesen Worten und sah Elaria, die die Hände vor dem Mund zusammengeschlagen hatte und der ebenfalls Tränen über die Wangen liefen und auch einige andere Kirchenangestellte in meinem Zimmer.
Der Druck auf meiner Brust wurde noch einen Tick stärker. Ich wollte nicht auch noch anderen in meiner Umgebung wehtun. Es reichte schon völlig aus, dass mir nicht klar war, was gerade in mir geschah.
Ich schloss kurz die Augen, sah dann den obersten Diener der Kirche des Lichts an und zwang mich zu einem Lächeln.
„Alpträume, mehr nicht, erhabener Glanz“, sagte ich und war mir diesmal immerhin sicher die Wahrheit zu sagen. Da steckte zwar irgendwas dahinter, aber es waren bisher nur Alpträume. Kurz musterte er mich, dann ließen seine Hände die meinen los.
„Nun denn. Wenn diese Träume bleiben, dann meldet euch bitte bei mir. Ich habe Kräfte, die euch in diesem Punkt vielleicht entlasten können. Und sollte ich euch nicht helfen können, so habe ich auch gute Kontakte in die Kirche des Schlafes.“ Er blickte nachdenklich an mir vorbei und stand dann abrupt auf. „Wir sollten gehen, sodass ihr euch ankleiden könnt. Adeptin Elaria? Du bleibst hier. Der Rest geht seinen alltäglichen Pflichten nach.“ Das war ein Befehl und hatte genau die Wirkung, die Befehle innerhalb der Kirchen hatten. Ein mehrstimmiges „Ja, Sonnenpriester“ kam aus den Mündern aller Anwesenden und plötzlich waren Elaria und ich allein.
Sie weinte nicht mehr, doch die Sorge auf ihrem Gesicht sprach Bände. Sie war nur wenige Jahre älter als ich und doch hatte sie etwas derartig fürsorgliches an sich, dass sie mich an manchen Tagen sehr an meine Mutter erinnerte. Ich konnte mich nicht an meine Mutter erinnern – wie auch an nichts anderes vor der Segnung – doch ich mochte mir manchmal einreden, meine Mutter hätte mich ähnlich sorgenvoll und fürsorglich angeblickt. Vielleicht jedoch war das auch einfach der tiefe Bund der Freundschaft, der uns seit sechs Jahren miteinander verband.
„Ich träume immer wieder davon, dass mir etwas fehlt, weißt du?“, begann ich plötzlich zu sprechen, ohne dass ich die Absicht gehabt hatte, ihr von meinem Traum zu erzählen. „Aber diesmal…“ Ich holte zitternd Luft, während mein Körper das vergangene Weinen Stück für Stück verarbeitete und zum Normalzustand zurückkehren wollte. „Diesmal habe ich geträumt, wie es mir weggerissen wird. Ich hatte etwas… jemanden bei mir und mit Gewalt wurde er mir entzogen. Das war sehr schmerzhaft.“ Das Gefühl überrollte mich ein weiteres Mal und ich schluckte gegen den erneut aufkommenden Kloß im Hals an.
Elaria kam auf mich zu, ließ sich auf dem kleinen Hocker neben meinem Bett nieder und blickte mich mit einer Weisheit an, die nicht zu einer Achtzehnjährigen Adeptin passte. Da war mehr, so viel mehr.
„Dir wurde ein neues Leben geschenkt, Ayana“, sagte sie flüsternd. „Vielleicht verarbeitet dein Geist auf diese Art dein neues Leben?“
Ich runzelte nachdenklich die Stirn. „Es fühlt sich irgendwie nicht nach einer Vergangenheit an und gleichzeitig schon. Ich habe auch wenn ich wach bin, so ein Bedürfnis danach etwas zu suchen. Aber ich weiß nicht, wonach ich suche, weil ich nicht weiß, was fehlt.“
„Das muss frustrierend sein.“
„Oh, ja. Es ist schwer sich auf etwas anderes zu konzentrieren.“
„Und wenn wir suchen gehen?“
Verwirrt schaute ich Elaria an bei dieser Antwort. „Suchen nach etwas, das ich nicht kenne und während ich den Tempel nicht verlassen darf?“ fragte ich und hob eine Augenbraue. „Das geht doch nicht.“
Sie hingegen hatte ebenfalls nachdenklich den Kopf schief gelegt, wodurch ihre langen und pechschwarzen Haare, die einen so auffallenden Kontrast zu ihrem weißen Oberkleid bildeten, über ihr Schulter fielen. „Ich wollte eh mal einen Priester oder Hohepriester fragen, ob wir einen Weg finden dich mal hier herauszuholen. Wir können dich ja verkleiden, einen Verband um dein Handgelenk machen und ich bleibe immer bei dir. Aber du kannst doch nicht dein Leben lang in Tempeln eingesperrt leben. Wir sind in Calyn, Ayana. Das musst du dir ansehen!“
Eine Welle der Zuneigung für meine beste und meine einzige Freundin überrollte mich. Kein anderer Kirchenbediensteter hatte bisher gefragt, was ich mir wünschte – abgesehen davon nicht erkannt zu werden natürlich – sondern sie hatten immer nur für mich und über mich entschieden. War das vielleicht damals verständlich, schließlich war ich erst zehn Jahre bei der Segnung gewesen, so fühlte ich mich langsam in einem Alter, bei dem dieses ständige Bevormunden mir sauer aufstieß.
„Das wäre… wirklich großartig.“ Meine Augen leuchteten und für einen ganz kurzen Moment vergaß ich sogar das innere Verlangen danach, diesen ganzen verdammten Kontinent auf den Kopf zu stellen, bis ich endlich gefunden hatte, wonach ich suchte – was das auch immer war.
Es blieb uns jedoch keine Zeit, diesen Plan näher zu besprechen, denn es klopfte lautstark gegen meine Tür. „Der König ist auf dem Weg hierher!“ rief eine männliche Stimme durch die Holztür und klopfte nochmal. „Und er weiß, dass wir eine Gesegnete hier haben. Ihr müsst euch angemessen ankleiden, Ayana, schnell!“
Für zwei Sekunden starrten Elaria und ich in absoluter Stille zur Tür, dann sprangen wie beide auf.
„Der König?“, fragte ich bestürzt, während ich zum Kleiderschrank hastete. „Ich dachte, Aetherion wollte es geheim halten?“
Elaria war bereits auf dem Weg zum Frisiertischchen und griff sich eine Bürste. „Geheimhaltung steht entgegen seinem Eid“, antwortete sie sofort. „Ich dachte mir schon, dass es früher oder später jemand herausfinden wird. Wir sind die Kirche der Leuchtenden, nicht die des Schattens.“ Die letzten Worte sagte sie mit dem üblichen wütenden Unterton. Noch während ich die Kleider heraussuchte, begann sie meine Haare zu entwirren und hielt nach einigen Sekunden inne.
„Hier ist inzwischen ein sichtbarer Teil der Strähne weiß“, sagte sie und hielt mir die Haare vor mein Gesicht, damit ich auch schauen konnte. Merkwürdig. Ich schob den Gedanken dazu allerdings nach hinten. Damit würde ich mich später beschäftigen. „Kannst du es so einflechten, dass man es nicht sieht?“ fragte ich sie und sie nickte zustimmend.
Eine Viertelstunde später hatten wir mich gemeinsam vorzeigbar hergerichtet. Von der weinenden und schweißgebadet aus einem Alptraum aufgewachten Ayana war nichts mehr zu erkennen und ich gefiel sogar mir selbst, als ich einen Blick in den Spiegel warf. Zum Glück hatte ich Elaria zu den formellen Schuhen überreden können, damit ich nicht auch noch jetzt erklären musste, was mit meinen normalen Schuhen passiert war und wir waren schon fast auf dem Weg hinunter in den Empfangssaal, als Elaria mir einen weißen Schleier ins Haar steckte und diesen über mein Gesicht zog.
„Was…?“ setzte ich zur Frage an und wollte das Stück Stoff schon wieder wegschieben, denn ich konnte hierunter wirklich kaum etwas sehen. „Die Monarchie und die Kirche sind parallel existierende Mächte. Wir werden versuchen deine Identität trotz allem geheim zu halten. Er will die Gesegnete sehen, Ayana, nicht dich. Mit etwas Glück ist er genauso arrogant wie alle Monarchen, die sich auf ihre bestandene Prüfung der Kriegsgöttin so viel einbilden, dass ihnen Persönlichkeiten wichtig sind und nicht Personen.“ Sie lächelte mich an. „Und dann kann er sich darüber freuen, dass er die Gesegnete der Leuchtenden kennengelernt hat und wird nicht mal merken, dass das nicht stimmt.“
Ich lächelte anerkennend. Sie war gut. Mein Handgelenk war frei, das Symbol in meiner Haut strahlte sein übliches Leuchten aus und vielleicht war das alles, was dem König als Beweis reichte.
Im Empfangssaal selbst wurde Elarias Vorschlag mit dem Schleier überwiegend positiv aufgenommen. Lediglich Aetherion wirkte nicht begeistert, widersprach jedoch auch nicht und somit war der Plan beschlossene Sache. Vermutlich fühlte es sich für den Sonnenpriester wie eine Art Unehrlichkeit an, dabei spielten wir ja nur die Charaktereigenschaften des Herrschers von Calyndor selbst gegen ihn aus.
Aetherion saß in dem thronähnlichen Stuhl in der Mitte des Raumes und mich hatten sie auf einem Stuhl neben ihm positioniert. Wie eine Prinzessin sitzen würde, wäre das hier eine Monarchie statt einer Kirche.
Die Ankunft des Königs war überraschend unscheinbar. Zwei Leibwächter, einige Diener und ein Sekretär begleiteten den dicklichen und sichtbar von einigen Schlachten gezeichneten älteren Mann. Ganz in Purpur gekleidet ließ nichts außer seinen Narben darauf schließen, dass es sich hierbei um einen Mann handelte, der die Prüfung der Kriegsgöttin bestanden hatte. Doch das hatte er. Wie alle Monarchen auf dem ganzen Kontinent hatte auch er eine Weihung von Alea erhalten. Und sie weihte nur jene, die den fast unmöglichen Weg zu ihren beiden Haupttempeln überlebten. Einer im Süden – wo einen eine wochenlange Reise durch unbewohnte Sumpfländer erwartete, mit so einigen Monstern auf dem Weg, unter denen die drei Meter hohen Höhlenspinnen noch die harmlosesten waren, und einer im Norden, wo man nicht durch Sümpfe musste, dafür aber wochenlang durch unbewohnte Wüste reiste, von Nomadenstämmen als leichte Beute betrachtet wurde und wo man durchaus auch mal auf einen Mantikoren oder Schlimmeres treffen konnte.
Ich stand auf, gemeinsam mit Aetherion und senkte unter dem Schleier den Kopf so, dass für den König ersichtlich sein würde, dass ich respektvoll den Kopf geneigt hatte und auch so, dass ich noch alles sehen konnte.
„Seine Majestät König Aleric von Calyndor“, kündigte der Sekretär mit einer viel zu lauten Stimme für diesen leeren Raum an. Es hallte und ich hatte das Gefühl, noch mehrere Sekunden nach dem Ende dieser Ankündigung die Worte spüren zu können. Hinter dem König, der gerade mit augenscheinlich willkommen heißend ausgebreiteten Armen auf den Sonnenpriester zuging huschte noch ein deutlich jüngerer Mann hinein, in einem Lederwams, dass nicht aussah, als hätte es schon echte Kampfhandlungen abbekommen und mit einer Miene, als sei er gerade aufs persönlichste beleidigt worden.
„Und seine königliche Hoheit, Prinz Valdrin von Calyndor“, fügte der Sekretär mit weniger Inbrunst in der Stimme hinzu. Der Prinz sah bei der Vorstellung noch ein wenig wütender drein und der Blick, mit dem er seinen Ankündiger bedachte, war zum Davonlaufen. Der König hingegen scherte sich nicht darum, dass er offensichtlich seinen Sohn zu diesem Treffen zwang und kam weiter auf Aetherion zu.
„Sonnenpriester“, sagte Aleric mit einer subtilen Spur von Spott in der Stimme, der mich aufhorchen ließ. Ich musterte den alten und dicklichen Mann, der den jüngeren und hochgewachsenen nun mit einem Händeschütteln begrüßte, nachdem Aetherion sich leicht verneigt hatte.
„Majestät. Es ist eine Ehre, Euch hier in unserer heiligen Stätte begrüßen zu dürfen.“ Der Sonnenpriester war erstaunlich diplomatisch und mit keiner Kleinigkeit konnte ich ihm ansehen, dass er den Ton des Königs gehört hatte. Und gewiss hatte er das. Konig Aleric war nicht der Einzige Monarch, der über die Kirche des Lichts hinter vorgehaltener Hand lachte. Für Männer wie ihn zählte Macht. Etwas, was unsere Kirche vor Jahrhunderten verloren hatte. Wertlos waren wir für ihn und nur der Tatsache, dass Göttin Cahaya durch den täglichen Sonnenaufgang an ihre Existenz erinnerte, verdankten wir die beibehaltene Anerkennung als eine der zwölf Pantheon-Religionen. Da war ich mir sicher.
„Nun, als mir meine Berater gestern mitteilten, dass es doch tatsächlich eine Gesegnete der Göttin des Lichts geben soll, konnte ich es kaum erwarten mich mit eigenen Augen dazu von überzeugen“, sagte Aleric frei heraus und lachte sogar einmal herzlich auf, als hätte er nicht gerade offen zugegeben die Kirche zu bespitzeln. Ich schluckte, erinnerte mich daran, dass ich von Politik und Diplomatie ‚wirklich so gar nichts‘ verstand, wie eine meiner früheren Lehrerinnen zu sagen pflegte und blieb wie verabredet stumm. Der Blick des Königs war zu mir gezuckt und nicht zum ersten Mal ließ er seinen Blick musternd meinen Körper entlang gleiten. Mein Gesicht konnte er nicht sehen und als ich sein Stirnrunzeln sah, während er meinen Kopf musterte, dachte ich kurz, dass Elaria ihn zu schnell eingeschätzt hatte und unsere Tarnung auffliegen würde.
„Wir haben, wie Ihr gewiss verstehen könnt Majestät, ein großes Interesse daran, dass diese Information keine großen Kreise schlägt“, sagte Aetherion, während die beiden Männer sich sehr langsam in meine Richtung wandten.
„Selbstverständlich“, erwiderte der König unbeschwert und nur halb auf das Gespräch konzentriert. Er hatte mein Handgelenk gesucht und gefunden und nun war sein Blick wie hypnotisiert auf mein leuchtendes Symbol geheftet. „Du bist es also? Göttin Cahayas erste Gesegnete seit mehreren hundert Jahren, Mädchen?“ fragte er nun mich direkt und machte zwei aktive Schritte auf mich zu, wodurch er nun vor mir stand. Ich machte einen Knicks, ein nicht gerade leichtes Unterfangen in diesem Kleid, und nickte. Wie besprochen reichte ich ihm meine linke Hand und wie zu erwarten gewesen war, griff er meine Hand fest und drehte meinen Arm bestimmend so um, dass das Mal ihm hell entgegenleuchtete und sein Gesicht von unten anstrahlte. Ein kurzer Anflug von Verlangen zuckte über die Gesichtszüge des Mannes. Ich entzog mich ihm nicht, auch wenn ich das Gefühl hatte, dass der Griff fester wurde und mein Arm auch ein kleines Stück zu ihm gezogen wurde.
„Prinz Valdrin“, wurden wir von der tiefen Stimme Aetherions unterbrochen. Als ich hochschaute, konnte ich gerade noch sehen, wie er seinen Blick von dem König abwandte und den Prinzen mit einer einladenden Handbewegung heran bat. „Gewiss seid auch ihr neugierig und möchtet unser Wunder kennenlernen?“
Wenn ich Valdrins Gesichtsausdruck richtig deutete, und normalerweise gelang mir das, dann würde er aktuell lieber höchstpersönlich und splitterfasernackt durch einen Tempel von Veythor spazieren unter der Auflage sofort und ohne Betäubung kastriert zu werden, wenn sich auch nur eine Spur von Erregung zeigen würde, als die paar Meter im leeren Empfangssaal bis zu mir zu überbrücken, doch nach einigen Momenten des Schweigens schien er sich zu überwinden und kam eher stampfend zu uns und stellte sich neben seinen Vater.
„Ja. Eine Gesegnete. Wie großartig, gedankt sei der Göttin und so weiter.“ Er betrachtete mich nicht. Weder mein Mal noch mich selbst und seine Stimme triefte vor Sarkasmus. „Vater, können wir nun gehen?“ fragte er drängend seinen Vater. „Du drückst dieser super wertvollen jungen Frau nämlich das Blut aus dem Arm“, fügte er hinzu, als der König ihn komplett ignoriert hatte. Erst jetzt schreckte er hoch, ließ den inzwischen schmerzenden Griff um meinen Arm los und blinzelte mehrmals, ehe er seinen Sohn betrachtete.
„Nein“, sagte er schnarrend und ich hatte das Gefühl, dass die beiden dieses Gespräch vielleicht lieber privater hätten führen sollen. „Du begleitest mich heute zu meinen Kirchenbesuchen, Valdrin“, sprach der König vollkommen schamlos direkt vor dem Sonnenpriester und mir weiter. Ich spürte Schamesröte in mein Gesicht steigen und war zum ersten Mal wirklich froh über diesen Schleier, an dem der Blick des Prinzen nun klebte. „Und du wirst daraus lernen tapfer bis zuletzt zu kämpfen, wie es sich für einen Prinzen gehört.“
Nun war ich nicht mehr die Einzige, die rot im Gesicht wurde und der Prinz starrte seinen Vater nun mit demselben Todesblick an, den zuvor der Sekretär abbekommen hatte. „Warum trägt sie einen Schleier?“ fauchte er nun stattdessen Aetherion an, während sein Blick zurück auf meinen Schleier zuckte.
„Eure königliche Hoheit?“, begann Aetherion sanft und mit deutlich mehr Ruhe in der Stimme. „Nur Mitglieder der Kirche kennen bisher ihr wahres Gesicht.“ Ich erlaubte mir – aufgrund meiner partiellen Unsichtbarkeit – ein Lächeln, ob dieser Wahrheit in einer Lüge. „Und ihr wollt dieses Geheimnis auch vor eurem König hüten?“ zischte der Prinz angriffslustig, woraufhin der König eine Hand auf die Schulter seines Sohnes legte. „Das ist das Recht einer jeden Kirche, Valdrin. Hüte dich.“
„Ach, Vater. Ich war nur fälschlicherweise davon ausgegangen, dass hier sei die Kirche der Wahrheit. Doch wir scheinen falsch abgebogen zu sein auf dem Weg hinaus aus der Stadt und sind doch bei einer Zweigstelle des Gottes der Geheimnisse gelandet, wie mir scheint.“
Ich musste ein empörtes Husten unterdrücken, ob dieser infamen Unterstellung, doch ich wurde von einer unglaublich starken Welle von Sehnsucht überrollt. Von dem Bedürfnis genau JETZT mit der Suche zu beginnen. Mich fortzureißen, zu rennen und einfach nur zu suchen, bis ich IHN gefunden hatte. Wer oder was auch immer er war.
Aetherion setzte zum Sprechen an, doch wurde vom König unterbrochen. „Ich scheine meinen Sohn zu seiner Gouvernante zurück bringen zu müssen.“ Einmal mehr nutzte ich aus, dass mich niemand sah und grinste unverhohlen breit über diesen groben Seitenhieb gegen Valdrin und meinte auch, ich könnte ein ähnlich belustigtes Grinsen auf dem Gesicht des Sonnenpriesters erkennen, ehe er vollkommen ohne Spott oder Hohn nickte. „Wie schade, dass euer Besuch nur so kurz war, Majestät. Gern seid Ihr und auch Eure Familie jederzeit willkommen im Tempel des Lichts.“ Er nickte beiden Männern zu. Und ich wurde Zeugin davon, wie der König seinen Sohn mit einer Hand am Oberarm fast aus dem Raum zerrte. „Es war mir eine Freude euch kennenzulernen, Gesegnete“, sagte er noch an der Tür und dann war die königliche Gesellschaft auch schon fort und ich atmete aus. Ich hatte nicht bemerkt, wie angespannt ich die ganze Zeit gewesen war.
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Kapitel: | 6 | |
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