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Spiegelbilder

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03.11.25 08:57
16 Ab 16 Jahren
Fertiggestellt

Sie stand auf der Brücke. Unter ihr, irgendwo in der Dunkelheit, war der Fluß, dessen Inhalt schon lange keine Berechtigung mehr hatte, sich 'Wasser' zu nennen. Mit einer Hand umklammerte sie das kalte Metallgeländer, in der anderen hielt sie ihren zugeklappten Schirm.

Der Nieselregen verdichtete sich zu großen, kalten Tropfen, die ihr auf Gesicht und Haare fielen. Im Zwielicht der Straßenlaterne sah sie, wie sie große, dunkle Flecken auf ihrem Mantel hinterließen.

Minutenlang starrte sie in die Dunkelheit, beachtete weder den Regen, noch die wenigen nächtlichen Passanten, die schnell vorübergingen.

Vor zwei Tagen hatte in der Zeitung gestanden, daß ein junger Mann im Zoo in den Raubtierkäfig gestiegen war, um sich zerfleischen zu lassen. Andere verbrennen sich, stürzen sich von Hochhäusern oder Türmen in die Tiefe, einige überleben...

Etwas veranlaßte sie, den Kopf zu drehen, und sie sah eine hellgekleidete Gestalt, die etwa drei Meter von ihr entfernt stand, eine Hand am Geländer.

Die Gestalt stand dort, ein wenig in sich zusammengesunken, mit langem dunklem Haar, das in nassen Strähnen herunterhing, so wie ihr eigenes.

Es war ganz ruhig geworden. Nur das beständige Rauschen des Regens, das Pladdern der Tropfen war zu hören. Sie strich sich die Haare aus dem Gesicht und bemerkte, daß die Gestalt die Geste wiederholte.

Die Frau ihr gegenüber hielt ein Schwert, dessen Klinge funkelte, als sie das spärliche Licht der Straßenlaterne einfing. Sie trug einen hellen Umgang, darunter war sie dunkel gekleidet. Das Gesicht der Frau wirkte streng, die Augenbrauen ein wenig zusammengezogen, die Lippen aufeinander gepresst. Sie straffte die Schultern, als sie merkte, daß sie beobachtet wurde und sie folgte dem Beispiel.

*


Sie faßte das Geländer fester, das ihre einzige Verbindung zur Realität zu sein schien.

Die Frau ihr gegenüber schaute sie verwundert an, vielleicht sogar ein wenig ängstlich, die Augen geweitet, der Mund leicht geöffnet, die Gesichtszüge wie erstarrt. Das Ding in ihrer Hand hatte eine Metallspitze, die im Licht der trüben Lampe glänzte, war aber kein Schwert.

Sie öffnete die Hand, das Schwert entglitt ihr und fiel mit einem seltsam dumpfen Klang zu Boden.

Sie schaute über das Geländer, die Schwärze war jedoch undurchdringlich.

Ihre Rüstung zog sie nach unten, und sie ließ sich ziehen. Eine kalte, bittere Flüssigkeit füllte ihren offenen Mund...

*


Sie warf den Regenschirm beiseite und beugte sich weit über das Brückengeländer. Von der Frau war nichts mehr zu sehen, die giftige Schwärze des Flusses hatte sie lautlos verschluckt.

Das Schwert lag auf dem Bürgersteig. Sie hob es auf und fuhr mit dem Zeigefinger über die stumpfe Seite der Klinge. Der Stahl glänzte im Licht der Laterne bläulich.

Wieviel würde ein Museum wohl für dieses Schwert geben?

Genug, um die Schulden abbezahlen zu können, die Miete, das Studium wieder aufzunehmen, ein Kleid kaufen, essen gehen, mit ihrem Freund ins Kino, die Eltern anrufen, den Kater füttern...

Sie fiel zu Boden, als das Schwert sie durchbohrt hatte. Ihre Hände verkrampften sich vor Schmerz um das Heft...

* * *

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islagraces Profilbild
islagrace Vor 31 Minuten
Hey du! 👋 Deine Geschichte war echt toll zu lesen ich konnte sie mir total gut als Comic vorstellen!
Ich bin Comic und Auftragskünstlerin, und dein Schreiben hat mich wirklich inspiriert.
Wenn du jemals neugierig bist oder Lust auf eine Zusammenarbeit hast, sag einfach Hallo! 💫
Discord: islagrace_24 | Insta: @lizziedoesitall

Autor

Elisabeths Profilbild Elisabeth

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Sätze: 22
Wörter: 530
Zeichen: 3.087

Kurzbeschreibung

Wo das Gefüge zwischen den Welten dünn wird... Trigger: Selbsttötungsabsichten